Zwischen Ethik und Politik – Chancen und Gefahren

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Markus Zimmermann-Acklin
Zwischen Ethik und Politik –
Chancen und Gefahren einer Politisierung der Bioethik
»…dass Philosophen Könige werden, ist nicht
zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen; weil
der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.«
(Kant 1991, 228)
»In öffentlichen Ämtern hören Intellektuelle
auf, Intellektuelle zu sein.«
(Habermas 2004, 67f)
»Der Sinn von Ethikkommissionen kann
jedoch nicht der sein, dass man die Moral an
Experten delegiert und sich damit ein gutes
Gewissen verschafft.«
(Pieper 1998, 81)
»In addition, the critical, independent voice of
the 1960s philosopher involved as a citizen in
medical debates has been submerged in the
increasingly official discourse of bioethics practitioners.«
(Koch 2003, 337)
»La vie n’appartient pas aux politiques«, frei übersetzt: Das Leben gehört
nicht in den Machtbereich des Politischen. – Mit dieser abgrenzenden Geste
reagierte der französische Premierminister Jean-Pierre Raffarin im September 2003 auf die Bitte des schwer behinderten Vincent Humbert, der Staat
möge ihm das Recht auf Suizidbeihilfe zugestehen. Die symbolisch aufgeladene Aussage Raffarins – schließlich kennt Frankreich ein dichtes Netz
gesetzlicher Regelungen zum Umgang mit dem menschlichen Leben, neben
mehreren Bioethik-Gesetzen (Maio 2005, 127–144) beispielsweise auch ein
Verbot der aktiven Sterbehilfe und der Suizidbeihilfe – unterstreicht den
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Willen zum Machtverzicht in einem Bereich, der sich letztlich einer allgemeinen staatlichen Regulierung entzieht, da er individuelle Vorstellungen
von einem gelungenen Leben (und Sterben) betrifft (Schmidt-Jortzig 2002,
20–27).
Die anti-biopolitische Äußerung des hohen französischen Politikers
steht gegenwärtigen Tendenzen der Politisierung und Verrechtlichung vieler
biomedizinischer Praktiken, die den Umgang mit dem (menschlichen)
Leben betreffen, diametral entgegen.1 Der thematische Bogen spannt sich
von der Stammzell- und Embryonenforschung über die Reproduktionsmedizin, die pränatale und insbesondere Präimplantationsdiagnostik, die genetische Diagnostik und die Transplantationsmedizin bis hin zur Regelung von
schwierigen Entscheidungen am Lebensende.
Diese staatlichen Regulierungsbestrebungen führen auch zu einer stärkeren Politisierung der Bioethik bzw. zu einem näheren Zusammenrücken von
Ethik und Politik. Öffentlich wahrgenommen und diskutiert wird dies beispielsweise in Bezug auf die Aufgaben und Entscheidungsbefugnis von
nationalen Ethikkommissionen: Obgleich ihre Mitglieder nicht selten von
Regierung oder Parlament ernannt werden, sind sie ohne demokratische
Legitimation und haben deshalb zu Recht ausschließlich beratende Funktion. Nicht zufällig geraten sie aber immer wieder unter den Verdacht, politischen Einfluss und Macht auszuüben.2 Ähnlichen Vorwürfen sehen sich
Standesorganisationen ausgesetzt, die wie die Schweizerische Akademie der
Medizinischen Wissenschaften (SAMW) mit ihren medizinisch-ethischen
Richtlinien de facto großen Einfluss auf Gesetzgebungsprozesse ausüben
(Campagna 2000, 291–295 und Rütschi 2004, 1222–1225).
Angesichts dieser Tendenzen sieht sich die Bioethik mit zunehmender
Kritik von Außen und auch selbstkritischen Stimmen aus den eigenen Reihen konfrontiert. Die Kritiken weisen insbesondere auf zwei Abgrenzungsprobleme hin. Zum einen wird der Vorwurf an die Bioethiker erhoben, sie
ließen sich durch die Politik instrumentalisieren: Was nach Außen als Bedarf
nach politischer Beratung deklariert werde, sei in Wirklichkeit zielgerichtete
Machtpolitik im Sinne einer Akzeptanzbeschaffung für die jeweiligen moralischen oder politischen Ziele der Politiker und Parteien. Beispiele zur
Untermauerung dieses Vorwurfs lassen sich leicht ausmachen, besonders
beeindruckend war die Entscheidung der Administration Bush im Jahr 2004,
mit Elizabeth Blackburn und William F. May zwei unbequeme Mitglieder
des ›President’s Council on Bioethics‹ kurzerhand durch linientreue Kommissionsmitglieder (nämlich Kritiker der Stammzellforschung und des
1 Vgl. Körtner 2005; Reiter 2004; dagegen: Gerhard 2004; zur Problematik der Verrechtlichung
vgl. Campagna 2000.
2 Vgl. z.B. den Vorwurf der Bildung neuer Formen von Subpolitik bei Körtner 2005, 173f.
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Forschungsklonens) zu ersetzen, um die Empfehlungen des Bioethikrats auf
gewünschtem Kurs zu halten (Blackburn 2004, 1379f). Auch die Einsetzung
und großzügige finanzielle Ausstattung des Nationalen Ethikrats in
Deutschland war nicht über jeden Verdacht der politischen Inszenierung –
im Sinne der Schaffung eines Gegengewichts zur Enquetekommission des
Bundestags für Recht und Ethik in der Medizin – und Instrumentalisierung
erhaben. Zum andern wird der Vorwurf der Korrumpierbarkeit und
Käuflichkeit von Ethik bzw. Ethikerinnen und Ethikern erhoben, der sich
nach Außen unter dem Deckmantel notwendiger Praxisnähe und Praxisrelevanz der Ethik verstecke. Dieser Vorwurf hat beispielsweise zur Folge, dass
ein international tätiges Pharmaunternehmen in der Schweiz trotz mehrmaligem Versuch keine Ethiker zur Mitarbeit in einer internationalen Ethikkommission bewegen kann, da das (unbezahlte) Engagement in firmeneigenen Ethikkommissionen gegenwärtig mit einem öffentlichen Glaubwürdigkeitsentzug verbunden ist. Dieser bewirkt, dass die betroffenen Ethiker
nur noch als Interessensvertreter des jeweiligen Unternehmens wahrgenommen werden.
Dass die Bioethik seit einigen Jahren tatsächlich in ein neue Phase getreten ist – nach der Entstehungs-, Etablierungs-, Selbstbesinnungsphase
gleichsam eine vierte Phase der Politisierung und der gleichzeitigen Wiederentdeckung der Bedeutung kultureller Hintergrundtheorien (ZimmermannAcklin 2000) – zeigt auch ein Blick in das ›Lexikon der Bioethik‹ von 1999:
Während in diesem 2’500 Seiten umfassenden Werk Artikel zu den Stichworten »Politik«, »politische Ethik«, »Öffentlichkeit«, »Recht«, überdies
auch zur »Biopolitik« und selbst zur »Bioethik« fehlen (Honecker 2000,
360), rückte der Biopolitik-Begriff spätestens mit den Debatten um die
Stammzell- und Embryonenforschung ins Zentrum der Aufmerksamkeit.3
War er bis Ende der neunziger Jahre – analog und in nicht eindeutiger
Abgrenzung zum Begriff der Biomacht – noch maßgeblich durch die Foucaultschen Diskursanalysen bestimmt,4 hat er sich nun im Bereich der
bioethischen Auseinandersetzungen etabliert und steht als Zeichen sowohl
für ein verändertes Selbstverständnis der Bioethik als auch für eine Ungewissheit in Bezug auf ›die Natur‹ des Menschen (Thomä 2002, 61). Die beiden Tendenzen der Politisierung und Verrechtlichung einerseits und der
intensiven Beschäftigung mit Menschenbildern (Hintergrundtheorien bzw.
komplexen Wirklichkeitsdeutungen5) andererseits sind gleichsam zwei Seiten einer Medaille: Verunsicherungen in Hinblick auf einen angemessenen
Umgang mit dem Lebendigen führen dazu, dass gleichzeitig Pflöcke in
3 Vgl. Geyer 1992; daneben: Zeitschrift für Biopolitik 1 (2002).
4 Vgl. Foucault 1993; Ders. 1983.
5 Vgl. Lesch 2002.
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Form rechtlicher Verbote eingeschlagen werden und die kulturhermeneutische Verständigung über Hintergrundtheorien gesucht wird.6 Beim bislang
gescheiterten Versuch der UNO, ein internationales Klonierungsverbot
durchzusetzen, kamen beide Anstrengungen zusammen; dass dabei der Iran
im Namen der Islamischen Konferenz versucht hat, zwischen Vertretern aus
Costa Rica, den USA und dem Vatikan einerseits und Vertretern aus Belgien,
Singapur und Großbritannien andererseits zu vermitteln, zeigt die nach wie
vor diffuse Verständigungssituation auf internationaler Ebene.
Im Anschluss an die Schilderung einiger Erfahrungen aus dem schweizerischen Kontext werde ich zunächst auf das Selbstverständnis der Bioethik
eingehen. Auf dieser Grundlage findet dann eine Auseinandersetzung mit
kritischen Kommentaren zum Projekt der Bioethik und ihrer Rolle in
Gesellschaft und Politik statt, bevor ich einige Schlussfolgerungen formuliere. Obgleich dabei die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit
unterschiedlichen Werthaltungen, Lebensentwürfen und Menschenbildern
stets im Hintergrund steht, werde ich nicht unmittelbar auf Pluralismustheorien eingehen, sondern mich im Sinne einer »Ethik der Bioethik« bzw.
einer »Ethikfolgenabschätzung« (Ach/Rutenberg 2002, 211f) auf Selbstverständnis und Verantwortung der Bioethik selbst beschränken. Mit EveMarie Engels gehe ich allerdings davon aus, dass die Bioethik als Disziplin
selbst ein Kind dieser gesellschaftlichen Differenzen ist und darum das Pluralismusproblem beim Nachdenken über das Selbstverständnis der Bioethik
stets präsent bleibt (Engels 2001, 362).
Erfahrungen im schweizerischen Kontext
Konkrete Erfahrungen mit der Politisierung und Verrechtlichung der
bioethischen Debatten sind maßgeblich von nationalstaatlichen Kontexten
geprägt und bereits in Mitteleuropa sehr verschieden, wie beispielsweise der
unterschiedliche Verlauf der Stammzelldebatten mit den entsprechenden
gesetzlichen Regelungen belegt (Walters 2004, 3–38).
In der Schweiz werden umstrittene politische Entscheidungen durch
Volksabstimmungen bestätigt oder abgelehnt. Politische Veränderungen sind
dadurch zwar schwierig zu erreichen, sind sie hingegen einmal akzeptiert,
werden sie anschließend kaum mehr in Frage gestellt. Das gilt auch für ›biopolitische‹ Entscheidungen wie die Ablehnung der Genschutz-Initiative, die
1998 eine restriktive Handhabung der Gentechnik im Human- und
Außerhumanbereich durchsetzen wollte, die Ablehnung einer Volksinitiative
6 Vgl. Schicktanz/Tannert/Wiedemann 2003; Roetz 2004; Joung 2004.
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für menschenwürdige Fortpflanzung von 2000, welche die Einführung des
neuen Fortpflanzungsmedizingesetzes zu verhindern suchte, oder auch die
Ablehnung der Initiative gegen das neue Stammzellforschungsgesetz im Jahr
2004, welche die gesetzliche Regelung der Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen inklusive der Forschung an so genannten ›überzähligen‹
Embryonen zu Fall bringen wollte. Ob der Vorwurf zutrifft, »das Volk«
werde in plebiszitären Kampagnen »immer neu erfunden«, um »Politik als
mediale und emotionalisierte Veranstaltung zu inszenieren« (Körtner 2005,
175), wie Ulrich H. J. Körtner zu den Instrumenten partizipativer Demokratie aufgrund seiner Erfahrungen mit Volksbefragungen in Österreich
desillusionierend meint, möchte ich in dieser Pauschalität aus schweizerischer Sicht in Frage stellen. Die traditionell verankerte Basisdemokratie trägt
in der Schweiz maßgeblich dazu bei, trotz großer kultureller und sprachlicher Differenzen neben den stark föderalistischen Strukturen auch gesamtstaatliche Einigungsprozesse zu ermöglichen. Mit U. H. J. Körtner wäre
überdies zu fragen, ob nicht auch die parlamentarischen Formen der Demokratie manchmal den Eindruck von ›medialisierten und emotionalisierten
Inszenierungen‹ erwecken, womit eine grundlegende Debatte um Möglichkeiten und Grenzen der Politik im medialisierten Zeitalter eröffnet wäre.
Die beiden bestehenden eidgenössischen Ethikkommissionen, die
›Ethikkommission für die Gentechnik im außerhumanen Bereich‹ und die
›Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin‹, wurden im Vorfeld der Volksabstimmungen quasi als Zugeständnis an die Skeptiker und
Unentschlossenen eingeführt und gesetzlich verankert. Hinsichtlich der Zusammensetzung der Kommissionen hat sich in der Schweiz ein pragmatisches Vorgehen ergeben: Da die Geschlechter, Sprachregionen und die
verschiedenen Sachgebiete repräsentativ vertreten sein sollten, bleiben die
Auswahlmöglichkeiten gewöhnlich auf wenige Expertinnen und Experten
begrenzt, so dass kaum ideologische Konflikte entstehen. Tatsache ist aber,
dass beispielsweise in Bezug auf die Fragen der Embryonenforschung und
Sterbehilfe in der lateinischen Schweiz anders und liberaler geurteilt wird als
in der deutschsprachigen Schweiz. Über eine Veränderung der Zusammensetzung der Kommissionen wäre es deshalb möglich, die Ausrichtung der
Empfehlungen zu verändern. Für die Ethikerinnen und Ethiker in den
Kommissionen stellt sich daher die Frage, inwieweit sie ihre persönlichen
Hintergründe (konfessionelle und kulturelle Herkunft, favorisierte Ethiktheorien etc.) einbringen sollen. Traditionellerweise werden kulturell bedingte Konflikte in der Schweiz pragmatisch, d.h. durch Schließung von
Kompromissen, gegenseitige Toleranz, Föderalismus und, wenn nicht
anders möglich, den Einsatz von Mehrheits- und Minderheitsvoten und
damit durch Zeitverzögerung gelöst.
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Zu einer Volksdemokratie gehört auch der Einsatz der Aufsplitterungstaktik bei schwierigen Entscheidungen, um schrittweise durchzusetzen, was als Gesamtpaket abgelehnt würde. Ein Beispiel bot jüngst der
Bundesrat (die siebenköpfige Regierung), als er einen Tag nach der aus seiner
Sicht erfolgreichen Volksabstimmung über das Stammzellforschungsgesetz
mitteilte, dass er nun neu auch für eine Öffnung des Verbots der Präimplantationsdiagnostik (PID) eintrete. (Ackermann 2005, 111–126) Eine entsprechende Medienmitteilung einige Tage vorher hätte womöglich die Annahme
des neuen Gesetzes gefährdet, insofern Kritiken sich maßgeblich um die Instrumentalisierung menschlicher Embryonen konzentrierten, eine Problematik also, die ebenfalls bei der PID im Zentrum steht. Haben einige
Parlamentarier im Zusammenhang mit dem Stammzellforschungsgesetz
noch beschworen, es gehe lediglich um die Gewinnung humaner embryonaler Stammzellen aus den so genannten »überzähligen« Embryonen, die
ohnehin nicht zu retten wären, haben dieselben Politiker bereits kurz nach
der Abstimmung und beflügelt von der hohen Zustimmung eine gesetzliche
Freigabe des Forschungsklonens verlangt. Dieses Vorgehen macht die Beteiligung für Ethiker an den politischen Auseinandersetzungen insbesondere
vor Abstimmungen sehr schwierig, zumal differenzierte ethische Überlegungen in einem Klima von pro und contra kaum gehört werden.
Auch die ethische Politikberatung bleibt von diesen Mechanismen nicht
unberührt. »Die Referendumsmöglichkeit rücken die Politikberatung über
das Fachliche hinaus in die Nähe des Abtastens des politisch Möglichen«
(Lendi 2003, 14), schreibt der Rechtswissenschaftler Martin Lendi in einem
Beitrag über die schweizerische Politikberatung, und weiter in Auseinandersetzung mit dem deutschen Verständnis: »Für Deutschland ist die
Definition gegeben: Politikberatung dient dem Vermitteln wissenschaftlich
erhobener Erkenntnisse an die politischen Entscheidungsinstanzen. Problematisch daran ist die scharfe Trennung zwischen Wissenschaft und Politik;
hier das methodisch gesicherte Fachwissen, dort das Politische. Diese Sicht
reicht für die Schweiz nicht hin. Neben den sachlichen Anforderungen geht
es immer auch um die vertretbaren, politisch gewichteten Dosierungen bzw.
Differenzierungen. Zudem ist Bürgernähe angesagt. Sie sollen von Anfang
an mitbedacht sein.« (Lendi 2003) – Damit berührt er einen Punkt, den
Jürgen Habermas in ›Faktizität und Geltung‹ einmal dahingehend negativ
kommentierte, dass »im Gedränge des parlamentarischen Betriebs moralische und ethische Fragen in verhandelbare, d.h. kompromissfähige Fragen
umdefiniert«7 würden. Diese Gefahr besteht in einer Volksdemokratie in
7 Habermas 1992, 295, hier zitiert nach Campagna 2000, 302; Campagna fügt hinzu: In der
Sprache Dworkins würden nicht selten »matters of principle« zu »matters of policy«, was
sehr problematisch und in einigen Fällen auch illegitim sei.
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besonders hohem Maße, insofern bereits während der ethischen Auseinandersetzungen an mögliche Volksreferenden und die politische Umsetzbarkeit gewisser Regulierungen gedacht wird. Die Gefahr einer Vermischung
von ethischen und politischen Argumenten sollte darum im Problembewusstsein der Bioethiker besonders stark verankert sein.8 Da biopolitische Themen auch innerhalb der etablierten politischen Parteien sehr kontrovers beurteilt werden und die Differenzen quer durch alle Parteilager bestehen, ist
es im Bereich bioethischer Themen allerdings durchaus möglich und auch
erwünscht, unter Ausschluss der Öffentlichkeit grundsätzliche und differenzierte Ethik-Beratungsgespräche zu führen. In der Regel stehen dann
die Klärung der eigenen Standpunkte und die Entwicklung eines gemeinsamen und konsistenten Parteiprofils im Vordergrund, was angesichts des
parteiinternen Pluralismus nicht einfach ist.
Noch nicht abzusehen sind die Folgen der gegenwärtigen Kommerzialisierung der Ethikberatung in der Schweiz. Da die Ethikinstitute an den
Universitäten nur wenig Anstellungsmöglichkeiten bieten (an den theologischen Fakultäten werden sie gegenwärtig sogar abgebaut, während die medizinischen Fakultäten neue Stellen schaffen), kommt es zur Gründung von
Ethikberatungsfirmen, welche im Unterschied zu den universitären Institutionen auf lukrative Aufträge und Sponsoring angewiesen bleiben. Eine
bereits jetzt wahrzunehmende Veränderung besteht darin, dass Ethikberatung aktiv angeboten bzw. beworben wird, was sich aller Voraussicht nach
mittelfristig auch auf die Beratungsinhalte auswirken dürfte.
Zum Selbstverständnis der Bioethik
Um die kritischen Anfragen an die Bioethik besser einordnen zu können,
möchte ich in kurzen Zügen auf das Selbstverständnis der relativ jungen
Bioethik-Disziplin eingehen.9 Die zögerliche Verwendung des BioethikBegriffs im deutschsprachigen Raum hängt wohl entscheidend damit zusammen – und das erklärt auch einen nicht geringen Teil der massiven
Ablehnung –, dass die ›Bioethik‹ als Äquivalent für ganz bestimmte präferenzutilitaristische Ethikansätze galt und teilweise noch immer so verstanden und bekämpft wird. Um sich davon zu distanzieren, wird im deutschen
8 Vgl. die kritische Stellungnahme zu einem auf politische Akzeptabilität reduzierten Ethikansatz (»public policy approach«) in Hinblick auf die Beurteilung der Präimplantationsdiagnostik von Ashcroft 2003; diese Stellungnahme bezieht sich auf Robertson 2003; auch Maio
2005, 144, wirft der französischen Regelung des Embryonenschutzes vor, es werde nicht klar
genug zwischen politischen (intuitiven) und ethischen Argumenten unterschieden.
9 Einen guten Einblick bieten Ach/Runtenberg 2002.
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Sprachraum auf Begriffe wie ›Lebensethik‹, ›biomedizinische Ethik‹ oder
›medizinische Ethik‹ ausgewichen, obgleich unter diesen Bezeichnungen
genau das betrieben wird, was in der Regel dem Begriffsbereich der Bioethik
zugeordnet wird (ein Beispiel dafür bietet die ›Zeitschrift für medizinische
Ethik‹). Bioethik meint in diesem Sinne den Bereich der Ethik, der sich mit
der richtigen Handlungsweise gegenüber dem Lebendigen oder der Natur
befasst10, wobei bislang der gesamte Bereich der ökologischen Bioethik im
Unterschied zur biomedizinischen Bioethik (noch) kaum in diesem Sinne
konnotiert wird.
Aus ethischer Sicht bestehen zentrale Herausforderungen der Bioethik
heute weniger in der Vielfalt der ethischen Theorien und Ansätze, mit deren
Hilfe die zur Debatte stehenden Fragen durchaus unterschiedlich angegangen werden, sondern vielmehr in den beiden bereits angedeuteten Aspekten,
nämlich:
Erstens in der methodischen Umsetzung der Interdisziplinarität in
bereichsethischen Fragen: Wie können Philosophen oder Theologinnen
zusammen mit Ärzten, Biologinnen, Pflegenden, Soziologinnen, Ökonomen, Juristen und nicht zuletzt Politikern auf gute Weise zusammenarbeiten? – Darin enthalten sind schwierige moraltheoretische Fragen: Wie bzw.
auf welchem Weg kommen wir von komplexen natur-, human- oder sozialwissenschaftlichen Wirklichkeitsbeschreibungen zu normativ verbindlichen
Aussagen? In welchem Verhältnis stehen intuitiv verankerte Einstellungen
zu ethisch durchdachten Argumenten?
Zweitens wird in einer zunehmend globalisierten Welt der Umgang mit
kulturellen Differenzen zu einer zentralen Herausforderung an die Bioethik:
Führen hermeneutische und kulturtheoretische Ansätze hier weiter, oder
erschweren sie zusätzlich die Einigung auf ein Grundset von normativen
Regeln? Konkret: Warum sind in Belgien und Großbritannien das Forschungsklonen, die Embryonenforschung und die PID erlaubt, während sie
in der Schweiz und in Deutschland unter schwerer Strafandrohung verboten
sind? Wie könnte auf der Ebene des Europarates ein Kompromiss in Bezug
auf die Regelung der aktiven Sterbehilfe und der Suizidbeihilfe aussehen?
Sollten in diesem Bereich überhaupt Kompromisse gesucht werden?
Die mediale Inszenierung der Geburt eines gesunden Mädchens im Mai
2005 in der Schweiz, das in Brüssel mittels IVF gezeugt und über PID nach
passendem HLA-Typus ausgewählt bzw. selektiert wurde11, bietet ein treffendes Beispiel für diese Herausforderungen; de facto dürfte dieser Vorgang
dazu beigetragen haben, dass sich der parlamentarische Widerstand gegen
eine Freigabe der PID in der Schweiz deutlich verringert hat, so dass es nur
10 Vgl. Siep 1998, 16.
11 Vgl. Meili/Puntas Bernet 2005, 1; dazu: Puntas Bernet 2005, 21.
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noch eine Frage der Zeit sein dürfte, bis die PID auch in der Schweiz legalisiert wird.12
Hilfreich zur Klärung des Selbstverständnisses ist zudem die Unterscheidung der vier bioethischen Arbeitsbereiche, die Daniel Callahan seinem
›Bioethics‹-Artikel in der ›Encyclopedia of Bioethics‹ zugrunde legt und die
auch bei der Strukturierung der Ausbildung zum ›European Master in
Bioethics‹ herangezogen worden sein dürfte. Er unterscheidet die Theoretische Bioethik als den Bereich, der sich mit der moralphilosophischen und
-theologischen Grundlegung und unterschiedlichen Ethiktheorien befasst,
die Hermeneutische Bioethik, welche Hintergrundtheorien und kulturelle
Deutungsmuster untersucht, die Klinische Bioethik, die sich schwerpunktmäßig mit der Entscheidfindung im klinischen Alltag befasst und schließlich
die Regulatorische oder Politische Bioethik, welche die politischen und
rechtlichen Aspekte reflektiert (Callahan 1995, 247–256). Wichtig scheint
mir insbesondere die Integration der ›Politischen Bioethik‹ in ein umfassenderes Gesamtkonzept der Bioethik zu sein, welches dann in Erinnerung zu
rufen ist, wenn sich eine einseitige Politisierung der Bioethik ergibt. Dass die
Reflexion und Begleitung der politischen Debatten und rechtlichen Regulierungen der biomedizinischen Praxisfelder jedoch zum Kernbereich der
Bioethik dazugehören, war im Selbstverständnis der Disziplin von Beginn
an unbestritten.
Schließlich sei noch die Frage nach der spezifischen Expertise von
Bioethikerinnen und Bioethikern gestellt. Was haben sie beispielsweise im
Bereich der politischen Beratung konkret einzubringen?13
Zunächst sollten sie aufgrund ihrer Ausbildung in der Lage sein, Diskussionen kritisch zu begleiten, d.h. zur Schaffung von Transparenz, Konsistenz
und der nötigen Differenzierung in der Argumentation beizutragen. Dazu
gehört auch die Fähigkeit, allgemeine Einsichten auf Fallbeispiele anzuwenden, Analogien zu ähnlichen Problemstellungen herzustellen und auf vergessene Themen oder gesellschaftliche Interessen aufmerksam zu machen.
Weiterhin sollten sie gewisse Grundhaltungen wie Empathie, Distanz zu
eigenen Emotionen und Intuitionen und Klugheit eingeübt haben, um in
den Debatten auf unterschiedliche Positionen eingehen und diese auch
systematisch zuordnen zu können. Überdies sollten sie Gewicht auf eine
integrative bzw. transdisziplinäre Perspektive legen. Ich meine damit vor
allem die Idee (das Selbstverständnis, die Perspektive) und nicht so sehr
12 Nachdem der Nationalrat (die große Kammer) eine Aufhebung des seit 2001 geltenden
PID-Verbots bereits zweimal abgelehnt hatte, hat er im Juni 2005 zusammen mit dem Bundesrat eine Motion unterstützt, welche die Freigabe der PID in gewissen Ausnahmefällen
anstrebt, vgl. Ackermann 2005.
13 Vgl. Ach/Runtenberg 2002, bes. 170–182; Birnbacher 1999.
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einen inhaltlichen Anspruch, der angesichts der Komplexität und der unerhört raschen Veränderungen in den unterschiedlichen Bereichen der Biomedizin heute, wenn überhaupt, dann nur sehr bedingt einzulösen ist. Die
Ethikerin steht für den Blick auf das Ganze, während andere Experten sich
eher auf einzelne Fachbereiche oder Einzelperspektiven konzentrieren. Eine
ihrer Aufgaben besteht darin, die anderen Experten dazu anzuhalten, ihre
Überlegungen so verständlich zu formulieren, dass sie auch von den Vertretern der jeweils anderen Disziplinen (und damit auch von ihr) verstanden
und in ihre Überlegungen integriert werden können. In diesem Sinne vertritt
sie in einem Expertenkreis oder in der Politikberatung auch die Bürgerinnen
und Bürger, die sich regelmäßig an der Urne über bioethische Fragen zu
äußern haben und steht für die vernunftoptimistische Annahme, dass Bürgerentscheidungen nicht nur auf intuitiven, sondern auch auf rationalen
Gründen beruhen. Die Ethikerin sollte durchaus auch ihre persönliche Meinung einbringen, diese allerdings als solche deklarieren und in den eigenen
Hintergrundtraditionen (Menschen- und Weltbildern) verorten. Das setzt
ein hermeneutisches Bewusstsein voraus, welches in der zeitlich aufwendigen Beschäftigung mit unterschiedlichen Herangehensweisen und Interpretationen ausgebildet werden kann.
Kritik an der (Politisierung der) Bioethik
Beginnen möchte ich mit Überlegungen von Jürgen Habermas zum Amt des
Intellektuellen in der politischen Öffentlichkeit und Annemarie Piepers
Gedanken über die Rolle von Ethikkommissionen in der Gesellschaft. Beiden sind sowohl die Demokratie, die zur eigenständigen Urteilsbildung
befähigten Bürger als auch das gesellschaftliche Moralbewusstsein elementare Anliegen, beide äußern sich – wie auch Immanuel Kant – skeptisch ablehnend gegenüber der platonischen Idee des Philosophenkönigs oder der
Führung der Regierungsgeschäfte durch ein Expertengremium (eine ›Ethikkommission‹).14
Für Habermas ist es wichtig, dass sich der Intellektuelle als Bürger von
sich aus, d.h. ohne öffentlichen Auftrag, zu Wort meldet, um sein professionelles Wissen öffentlich einzubringen: »Ohne unparteiisch zu sein, soll er
sich im Bewusstsein seiner Fallibilität äußern. Er soll sich auf relevante Themen beschränken, sachliche Informationen und möglichst gute Argumente
beisteuern, er soll sich also bemühen, das beklagenswerte diskursive Niveau
öffentlicher Auseinandersetzungen zu verbessern. (…) Er verrät seine Auto14 Vgl. Habermas 2004 und Pieper 1997,1998.
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rität nach beiden Seiten, wenn er nicht sorgfältig seine professionelle von seiner öffentlichen Rolle trennt. Und er darf den Einfluss, den er mit Worten
erlangt, nicht als Mittel zum Machterwerb benutzen, also ›Einfluss‹ nicht
mit ›Macht‹ verwechseln. In öffentlichen Ämtern hören Intellektuelle auf,
Intellektuelle zu sein« (Habermas 2004, 67–68). Auch wenn er mit den Intellektuellen nicht speziell die Philosophen, sondern alle möglichen Spezialisierungen als Schriftsteller, Physikerin, Soziologe, Biologin etc. versteht,
lassen sich seine Überlegungen durchaus auf die Rolle von Bioethikern im
politischen Diskurs beziehen. Zentral ist ihm die Unterscheidung zwischen
gesellschaftlicher Einflussnahme und der Ausübung eines politischen Mandats: Vermutlich würde er in diesem Zusammenhang auch die Politikberatung durch Ethikkommissionen oder einzelne Ethiker skeptisch beurteilen,
insofern diese nicht selten auf einem offiziellen Mandat beruht und es dabei
genau um das geht, was er als Aufgabe der Intellektuellen – nämlich sachliche Information geben und gute Argumente beisteuern – ansieht.
Meiner Erfahrung nach trifft es durchaus zu, dass die Verbindung von
Ethik und offiziellem Mandat oder Amt durch Institutionen aller Art die
Freiheit und Unabhängigkeit des persönlichen ethischen Urteils einschränkt. Ethiker, die an einem Universitätsspital, einer staatlichen Verwaltungsbehörde oder einem kirchlichen Institut angestellt sind, sind in ihrer
öffentlichen Meinungsäußerung weitgehend an ihre anstellende Behörde
gebunden. Die Vorstellung einer eindeutigen Trennung zwischen Profession
und öffentlichem Diskurs beruht hingegen auf einem Ideal, das bezogen auf
die Rolle von Ethikkommissionen von A. Pieper folgendermaßen beschrieben wird: »Ethikkommissionen sind letztlich ein Notbehelf. Sie erübrigen
sich, würde jedes Individuum (…) von Kind an daran gewöhnt, sich in ein
Ethos einzuüben und moralisch-praktische Urteilskraft zu erwerben.«15 In
diesem Sinne warnt sie zu Recht vor einer »Auslagerung des Gewissens«,
relativiert die Arbeit von Ethikkommissionen, hält diese aber angesichts der
real existierenden Gesellschaft trotzdem für notwendig; deren Aufgabe sieht
sie insbesondere darin, als Platzhalter und Anwälte für das Ganze (verstanden wohl im Sinne des Gemeinwohls und im Unterschied zu den Individualinteressen), für das heute im Zeitalter des Individualismus niemand
mehr Verantwortung übernehmen wolle, öffentlich einzutreten. Otfried
Höffe hält das nachhaltige Interesse an den Bereichsethiken, weniger moralisierend als A. Pieper, dagegen schlicht für eine Folgelast der Aufklärung.16
15 Pieper 1997, 1998; in diesem Sinne sieht auch Körtner 2005, 177f. eine Hauptaufgabe darin,
die Menschen in ihrer Entscheidungsfähigkeit und der Übernahme von Eigenverantwortung
zu bestärken, und sie nicht klerikal zu bevormunden.
16 Vgl. Höffe 1996, 20.
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Soweit eine erste, die Ideale des selber denkenden und verantwortungsbereiten Individuums und der partizipativen Demokratie anmahnende Kritik. Weitere, weniger grundlegende, aber wichtige Beobachtungen beziehen
sich zweitens auf die Auswahl der bioethischen Themen und drittens die
Auswirkungen der Institutionalisierung auf Arbeit und Selbstverständnis
der Bioethiker. Zunächst: Zu welchen Themen äußern sich Bioethik und
bioethische Kommissionen in der Öffentlichkeit? Nicht nur Leigh Turner
aus Montreal betont, dass die Bioethik dringend ihr Agenda-Setting überprüfen sollte, um nicht »zu einer Quelle der Unterhaltung und des Spektakels wohlhabender Gesellschaften zu werden« (Turner 2004, 175, eigene
Übersetzung). Soll das Interesse von Herausgebern, Lesern und Institutionen der Forschungsförderung geweckt werden, gehören zu den attraktiven
Themen (›sexy topics‹) die Stammzellforschung, die Gentherapie, das Klonen oder die palliative care, als neuere Themen die Neuroethik, das Enhancement oder die Anthropotechniken. Dass die Bioethik aber in ein
ungerechtes globales Wirtschaftssystem eingebettet ist, in welchem große
Teile der Weltbevölkerung in Armut und Elend leben, spielt bislang bei der
Themenwahl kaum eine Rolle.17 – Tom Koch von Vancouver beobachtet
überdies, dass die Bioethik im Laufe des Etablierungsprozesses ihren Biss
bzw. die ursprünglich noch vorhandene emanzipative Kraft weitgehend verloren habe (Koch 2003, 337–342): Diejenigen, die ursprünglich noch Paternalismus und Bevormundung kritisiert hatten, seien heute selbst in die
Abläufe beispielsweise einer modernen Uniklinik integriert, die Bioethiker
mit ihrem kritischen Impetus gleichsam neutralisiert worden. Ähnlich wie L.
Turner plädiert auch er dafür, wieder verstärkt system- und ideologiekritische Themen ins Programm aufzunehmen. Auch wenn viele dieser Themen
in der Politik nur auf geringe Resonanz stoßen dürften, hätten beispielsweise
staatliche Ethikkommissionen die Möglichkeit, Themen auch selbst zu setzen oder Überlegungen einzubringen, welche die weltweiten Differenzen
betreffen.18
Weitere kritische Stimmen nehmen viertens in gleichsam prophetischer
Manier das Gesamtprojekt der Bioethik ins Visier. Mit spitzer Feder formulierte etwa der 2002 im Alter von 96 Jahren verstorbene Erwin Chargaff
17 Vgl. ähnlich bei Cahill 2003; Farmer/Gastineau Campos 2004. Vgl. dazu auch Zimmermann-Acklin 2003; ders. 2005.
18 Ein seltenes Beispiel bietet die Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission (ZEK) der
Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften zur Stammzellforschung von
2001 (vgl. www.samw.ch), in der es heißt: »Wenn man aber (…) mit der Würde des Menschen argumentiert, dann kann man nicht davon absehen, dass diese Würde allen Menschen
in gleicher Weise zusteht. Die grosse Ungerechtigkeit in der globalen Verteilung der medizinischen Ressourcen ist für einige Mitglieder der ZEK bereits ein hinreichender Grund, die
ethische Legitimation der Stammzellforschung grundsätzlich in Frage stellen.«
Zwischen Ethik und Politik
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seine fundamentale Kritik, indem er die Bioethik sarkastisch als eine »heilige
Heuchelei« bezeichnete und die Hauptfunktion des Bioethikers in der »Segnung der Waffen« der modernen biomedizinischen Industrie ausmachte,
welche diese für ihren »vernichtenden Kolonialkrieg gegen die Natur«
benötigten (Chargaff 1998, 105 und 112f). Gleichwohl fordert er – der viele
Jahrzehnte erfolgreich als Chemiker gearbeitet und mit seiner bahnbrechenden Forschung maßgeblichen Anteil an der Beschreibung des DNA-Doppelhelixmodells hatte – ein weit reichendes (bio-)ethisches Programm, das
von einem ›Ombudsmann der Natur‹ umgesetzt werden müsse, der allerdings nicht von den biotechnischen Firmen bezahlt werden dürfe. – In der
u.a. von Fachethikerinnen unterzeichneten ›Salzburger Erklärung zur so
genannten Bioethik‹ von 2002 heißt es in ähnlicher Manier: »Wenn ein ethischer Teildiskurs, dem es nahezu ausschließlich um die Zulässigkeit neuartiger medizinischer Techniken geht, sich mit der kleinen, aber umfassenden
Vorsilbe ›Bio-‹ schmückt, läuft er Gefahr, die Medizin in der Weise zu überschätzen, wie sie sich oft selbst überschätzt: als Instanz, die allein entscheidet über Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod, gar über Glück und
Unglück der Menschen. Dem gegenüber sind wir interessiert an einer
öffentlichen Nachdenklichkeit über gutes Leben auf diesem begrenzten Planeten Erde jetzt und in Zukunft. Deshalb stehen wir der gängigen Tendenz,
die Ethik in unzählige Einzeldiskurse aufzusplittern, skeptisch gegenüber.
Solche ›Bereichsethiken‹ verfestigen sich allzu leicht zu Expertokratien, die
sich den Blick aufs Ganze des Zusammenlebens glauben ersparen zu können.
Im speziellen werden wir hellhörig, wenn sich die hochspezialisierte Medizin
des Westens in Form von so genannter Bioethik gewissermaßen eine eigene
Ethik zu halten scheint.«19 Insoweit hier der fehlende Blick auf das Ganze
kritisiert und der Bioethik vorgeworfen wird, sie sei gleichsam der
Schoßhund der hochtechnisierten Medizin, werden dieser Kritik dieselben
Ansprüche zugrunde gelegt, welche die hier kritisierte Bioethik im Rahmen
ihres eigenen Selbstverständnisses auch an oberste Stelle setzt. So bleibt zu
fragen, inwieweit das in diesem Manifest vorgeschlagene alternative (Bio)Ethikprogramm die Ansprüche besser einzulösen vermag (Rehmann-Sutter
1998, 45–48). Zuletzt sei in diesem Zusammenhang der von Michael Emmrich herausgegebene Sammelband erwähnt, der 1999 unter dem Titel ›Im
Zeitalter der Bio-Macht. 25 Jahre Gentechnik – eine kritische Bilanz‹ im
Mabuse-Verlag erschienen ist (Emmrich 1999). In diesen Beiträgen wird
besonders deutlich, was auch in der Salzburger Erklärung und bei E. Chargaff grundlegend ist: Erstens wird nicht wirklich unterschieden zwischen
19 Salzburger Erklärung zur so genannten Bioethik, Salzburg 2002, Punkt 1, Hervorhebung
eingefügt (vgl. http://weiterwissen.at/frauenbildung/fb_ethik_presse.htm, letzter Zugriff am
21.7.2005).
62
Markus Zimmermann-Acklin
den biomedizinischen Entwicklungen und dem bioethischen Nachdenken
über dieselben, und zweitens liegt der Kritik eine Hermeneutik des Verdachts zugrunde, die jede Form von positiver Auseinandersetzung – auch in
Form von politischer Beratung – als Verrat oder Kollaboration versteht
(Ach/Rutenberg 2002, 203–212).
Zuletzt möchte ich fünftens Positionen erwähnen, welche ihre Bioethikkritik in eine umfassende Gesellschaftskritik einbetten, wobei die Bioethik
nur als (an sich unbedeutender) Teil eines umfassenden Machtsystems verstanden wird. Eine Variante bietet die auf Michel Foucault und seine diskursanalytische Theorie der gouvernementalen Vernunft zurückgehende
Normalisierungsthese, die insbesondere von Anne Waldschmidt in die
Debatten um Behinderung und Ethik eingebracht wird.20 Der Grundgedanke basiert auf der Wahrnehmung, dass wir heute nicht mehr durch
repressive staatliche Autoritäten gelenkt werden, sondern uns im ›neoliberalen Modus der Regierung‹ durch Selbsttechniken bzw. Denkweisen
(französisch ›mentalités‹) gleichsam selbst Zwangs- und Herrschaftsstrukturen unterwerfen. Unter ›regieren‹ (französisch ›gouverner‹) bzw.
Regierung wird die Gesamtheit aller Praktiken von der Verwaltung bin zur
Erziehung verstanden, durch wir gelenkt werden (im Begriff der ›Gouvernementalität‹ werden das Regieren und die Denkweisen semantisch miteinander verbunden). A. Waldschmidt interpretiert die neue Eugenik auf
diese Weise: sie funktioniere ohne staatlichen Unterdrückungsapparat im
Namen von Freiwilligkeit und Selbstbestimmung der Frauen werde meist
unbeabsichtigt praktiziert (darum ist neu die Rede von ›Normalisierung‹
anstelle einer von Außen vorgegebenen ›Normierung‹), sei gleichsam als eine
Alltagseugenik ›durch die Hintertüre‹ zu verstehen. In dem Sinn gewinnt
auch der Slogan der achtziger Jahre ›das Private ist politisch‹ wieder an
Bedeutung. Zu den subtilen Machtmechanismen, den Selbsttechniken, wird
auch die Moral gezählt, sie werde im Umgang mit dem vorgeburtlichen
Leben und in der Ablehnung von Menschen mit Behinderung zum eigentlichen Zwangsinstrument (Waldschmidt 2003, 103f). – Diese Sicht lässt kaum
eine sinnvolle Bestimmung von Ethik zu; wenn überhaupt, dann bestünde
sie wohl in der Warnung vor Moral und anderen repressiven Regierungstechniken.
20 Zur Theorie der Gouvernementalität vgl. Lemke/Krasmann/Bröckling 2000; zur Normalisierungsthese vgl. Waldschmidt 2004; dies. 2003.
Zwischen Ethik und Politik
63
Schlussfolgerungen
Alle fünf kritischen Einwürfe werfen weit reichende Diskussionen auf.
Angesichts der Politisierungstendenzen der Bioethik möchte ich abschließend folgende Aspekte hervorheben:
Der zuletzt genannte, fünfte Kritikpunkt wirft fundamentale Anfragen
an die Möglichkeit einer Ethik und das zugrunde liegende Menschen- und
Gesellschaftsbild auf. Trifft die Normalisierungsthese zu, so wäre beispielsweise der Vorstellung der Patientenautonomie und damit einer der wesentlichen Grundlagen der Bioethik der Boden entzogen. Diese Machtkonzepte,
welche uns Menschen durch Mentalitäten fremdgesteuert sehen, stellen
letztlich die Möglichkeit von Freiheit und Subjektivität infrage und bieten
keinen Ausweg außerhalb der Anarchie. Aus ganz anderer Sicht, nämlich im
Anschluss an systemtheoretische Beobachtungen, betont übrigens auch der
protestantische Ethiker U. H. J. Körtner, die Bioethik habe nicht nur die
Aufgabe, vor den Risiken der Technik, sondern auch vor der Moral zu warnen.21 Offenkundig hat sich die Bioethik zukünftig vermehrt mit Gesellschaftstheorien und grundlegenden anthropologischen Fragen zu
beschäftigen, ohne dabei gleichzeitig auf die Einmischung in Recht und Politik zu verzichten.
Die an vierter Stelle genannte Kritik an der Bioethik macht auf prophetische Traditionen aufmerksam, die auch im Bereich der politischen Ethik eine
wichtige Rolle zu spielen haben. Damit diese auch greifen und nicht ins
Leere zielen – auch Bioethikkritik ist schließlich (Bio-) Ethik – sind die von
Michael Walzer geäußerten Überlegungen zur Rolle des Propheten in der
Gesellschaft ernst zu nehmen (Walzer 1993, 81–108): Wenn eine prophetische Praxis sich auch durch einen eindeutigen, vielleicht sogar radikalen und
damit partikularen Standpunkt auszeichnet, kann sie nur dann sinnvoll und
wirksam sein, wenn Prophetinnen bzw. Propheten und Kritisierte einer
gemeinsamen Wertegemeinschaft angehören. »Der Prophet muss den Leuten nur ihr eigenes Herz zeigen« (Walzer 1993, 88). Prophetisches Reden
oder Handeln ohne diesen gemeinsamen Hintergrund bleibt reiner Leerlauf.
– Zudem bleibt auch zu wünschen, dass das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird: Die Hermeneutik des Verdachts kann auch über ihr Ziel
hinausschießen, wie das Beispiel der skandalösen Berichterstattung über die
Regelung der Suizidbeihilfe in den Medizinisch-ethischen Richtlinien der
21 Vgl. Körtner 2005, 174f. Er sieht in diesem Auftrag eine ethische Anwendung der christlichen Rechtfertigungslehre, nämlich im Sinne sowohl einer Entmoralisierung der Religion als
auch der Begrenzung der (häufig zu Konflikten führenden) Moral in einer ausdifferenzierten Gesellschaft.
64
Markus Zimmermann-Acklin
Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften in deutschen
Medien gezeigt hat.22
Die an zweiter und dritter Stelle genannte Kritik trifft mit der Auswahl
der Themen und der Anpassung an institutionelle Abläufe wesentliche
Aspekte des bioethischen Engagements. Ich sehe eine konkrete Chance der
Bioethik darin, im Bereich der Politikberatung auch aktiv Themen zu setzen
und die politische Agenda (zugegeben: im bescheidenen Umfang) mitzubestimmen. Die ungerechte Verteilung der medizinischen Ressourcen weltweit
könnte dabei zu einem Standardthema werden. Wichtig ist zudem die Nähe
und Distanz zu den etablierten Systemen und Institutionen: Meines Erachtens steht die Bioethik hier nicht vor einem Entweder-oder-Problem, sondern hat die Aufgabe, stets auch über das eigene Engagement kritisch
nachzudenken (vgl. Chambers 2000, 22–29).
Schließlich wirft die zuerst genannte Kritik grundlegende Fragen zur
Rolle von Ethikexpertinnen und -experten in der Gesellschaft auf und macht
deutlich, dass die Politisierung und damit auch gesellschaftliche Institutionalisierung der Bioethik als Krisensymptom zu verstehen ist und letztlich
einen Notbehelf darstellt, der sich maßgeblich der rasch zunehmenden
Komplexität der Herausforderungen und der Pluralisierung der Lebenskonzepte verdankt. Die Ausrichtung aller Bemühungen muss daher in der
Beförderung des »Selber Denkens« (Pieper 1997) aller Bürgerinnen und
Bürger liegen.
Auch wenn diese Überlegungen gleichsam in einer Auslegeordnung weiterer Aufgaben enden, kann ein vorläufiges Resümee lauten: Die Gefahren
einer Politisierung der Bioethik liegen in einer Selbstüberschätzung der
Ethik, aber auch in Tendenzen zur Vereinnahmung, Instrumentalisierung,
dem neutralisierenden Eingebundenwerden in Institutionen und Abläufe, in
möglichen Formen demokratisch nicht legitimierter Einflussnahme, schließlich in der Einbindung in Machtspiele bis hin zur Korruption. Die Chancen
dagegen liegen in der Möglichkeit, klärende Beiträge aus transdiziplinärer
Sicht einzubringen, sie liegen in der Praxisnähe und damit dem Realitätsbezug der Ethik, der Beratung im Sinne der Aufklärung über den Stand der
Auseinandersetzungen und nicht zuletzt auch in der Möglichkeit, brennende Themen auf die Agenda zu bringen und gut begründete Standpunkte
zu formulieren. Angesichts dieses Befunds und der gegenwärtigen Annäherungstendenzen von Ethik und Politik ist das selbstkritische Nachdenken
im Sinne der erwähnten Ethikfolgenabschätzung unabdingbar.
22 Vgl. Fischer 2004: »Der Vorgang ist ein Skandal« (165), zumal angesichts dessen, dass
Gegendarstellungen von der Süddeutschen Zeitung abgelehnt und von der ARD übergangen wurden.
Zwischen Ethik und Politik
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