Universität Tübingen Interfakultäres Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) Arbeitsbereich Ethik und Bildung Dr. des. Julia Dietrich Konzepte der Werteerziehung aus ethischer Perspektive Aufbau: 0. Begriffsvielfalt oder: Zur Notwendigkeit einer systematischen Verortung der aktuellen Debatte 1. Ethik, Erziehung, Werteerziehung 2. Konzepte der Werte- bzw. Moralerziehung: ein (ethik-) theoriegeleiteter Überblick 3. Zur logischen Struktur und praktischen Schwierigkeit des Begriffs „Wert“ 4. Ethische Begründung „ohne Werte“ © Julia Dietrich 2007 Begriffsvielfalt oder: Zur Notwendigkeit einer systematischen Verortung der aktuellen Debatte „Einsicht in den Wert freier Lebensgestaltung“ „die Bestimmung und Begründung von universell verbindlichen Grund- und Menschenrechten [...]“ „die Einsicht in den Wert der natürlichen Lebensgrundlagen und ihrer Erhaltung“ „Erziehung zur Nachdenklichkeit“ „Wertklärung und Wertbeurteilung, Normenbegründung und -durchsetzung“ (Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für Ethik, Ministerium für Kultus 2004, S. 62f. ) „Fähigkeit, mit anderen rücksichtsvoll und verantwortungsbewusst umzugehen, für andere, insbesondere für Schwache einzutreten, Konfliktlösungen zu suchen, gemeinsame Vorhaben zu entwickeln, durchzuführen und zu beurteilen“ „Fähigkeit, ethische Probleme zu identifizieren, zu analysieren, Handlungsalternativen aufzuzeigen, Lösungsvorschläge zu beurteilen und ein eigenes Urteil zu begründen, um auf dieser Grundlage verantwortlich zu handeln“ (Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für Evangelische Religionslehre, Ministerium für Kultus 2004, S. 25) © Julia Dietrich 2007 „Befähigung, am Leben in der Gemeinschaft teilzuhaben“ (Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für Deutsch, Ministerium für Kultus 2004, S. 76). „zur Wertschätzung der Natur anzuleiten“ „für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur [zu sensibilisieren]“ Bereitschaft „zu aktivem Eintreten für die Erhaltung unserer Umwelt“ (Biologieunterricht, Ministerium für Kultus 2004, S. 202 f.) „Fähigkeiten, um in bestimmten Lebenssituationen individuelle Entscheidungen in sozialer Verantwortung und unter Aspekten der Nachhaltigkeit treffen und umsetzen zu können; Fähigkeiten, gesellschaftliche, politische, geographische und wirtschaftliche Sachverhalte in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten verstehen und beurteilen zu können“ (Fächerverbund „Geographie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde, Ministerium für Kultus 2004, S. 234) © Julia Dietrich 2007 Ethik Moral: das handlungsorientierend wirksame System aus Normen und Werten eines Individuums oder einer Gruppe bzw. Gesellschaft Ethik: Reflexion der Moral • deskriptiv und • präskriptiv: kritisch-argumentative, theoriegeleitete und handlungsorientierende Prüfung der Moral Integrative Ethik [17, 18] Gerechtigkeit (Moral i.e.S.) Gelingen des Lebens Sollensethik Strebensethik Gebote, Verbote Ratschläge © Julia Dietrich 2007 Erziehung Prozess oder Ergebnis einer intentionalen sozialen Interaktion zwischen Erziehendem und zu Erziehendem, die der Förderung des zu Erziehenden dient. • Abgrenzung zur Sozialisation: intentional (beabsichtigt und zielgerichtet) • Formaler Begriff der „Förderung“ zwischen sozialer Integration und Mündigkeit, aber: • Konnotationen in Abgrenzung zu „Bildung“: Hierarchie, Restriktion, Integration, Ziel- und Verhaltensorientierung • Didaktische Leitfrage: Wer soll von wem, warum, wie, zu was erzogen werden? © Julia Dietrich 2007 Werteerziehung Prozess oder Ergebnis einer intentionalen sozialen Interaktion zwischen Erziehendem und zu Erziehendem, die durch die Vermittlung von Werten der Förderung des zu Erziehenden dient. • Didaktische Leitfrage: Wer soll von wem, warum, wie, zu welchen Werten erzogen werden? Desiderat, moralische und ethische Erziehungsziele differenzierter zu unterscheiden © Julia Dietrich 2007 Konzepte der Werte- bzw. Moralerziehung [1] Ziel 1. Moralität 2. spezifische Moral i.e.S. Moral (sollensethisch) 3. Gelingen des Lebens (strebensethisch) 1. ethisches Wissen 2. Allg. ethische Ethik Urteilskompetenz 3. Spez. eth. Urteilsbildungskompetenz © Julia Dietrich 2007 Förderung von... Empathie und Perspektivenwechsel Gemeinschaftssinn und Urteilsbildung Soziales Engagement Tugend- und Charakter Beispiel Lifeline Projekte [2] Just-Community [3] Compassion [4] character education curriculum [5] (praxisfeld-) Bildung für spezifische Normen z. nachhaltige B. im Bereich Umwelt, Entwicklung [6] Frieden, Wirtschaft „Selbstkompetenz“ als Ziel des Ethikunterrichts [7] Kompetenzen der value Wertklärung clarification [8] ethisch relevantes Fachdidaktiken Wissen z. B. aus [9, 10, 11] Philosophie/Theologie ethische Modellethik [12], UrteilsbildungsKohlberg [13], modelle Eth. Argumentation [14] Ethik in den Ethik im Wissenschaften Fachunterricht [15, 16] Zur logischen Struktur und praktischen Schwierigkeit des Begriffs „Wert“ These: Stärke und Schwäche des Begriffs „Wert“ (und des Diskurses um Werteerziehung) ist seine fundamentalethische Offenheit. • in seiner Unbestimmtheit konsensfördernd: Werte sind „gut“ • Verhältnis zu Normen, Rechten/Pflichten, Ratschlägen, Tugenden • in seiner Struktur nicht hinreichend handlungsorientierend Konsequenz: Zweifel, ob der Begriff des Werts für die Begründung von Erziehungszielen notwendig oder hilfreich ist © Julia Dietrich 2007 Norm (Erlaubnis, Gebot, Verbot) Satz, der eine Handlung erlaubt, gebietet oder verbietet: "Es ist erlaubt/geboten/verboten, dass Handlung z." Beziehung: Handlung ( – Subjekt) Geltung für: Handlungssubjekt Überprüfbarkeit: Tun/Unterlassen der Handlung © Julia Dietrich 2007 Recht Anspruch eines Subjekts x gegenüber Subjekt y auf eine Handlung: "Subjekt x hat einen Anspruch gegenüber Subjekt y darauf, dass Handlung z." Beziehung: Subjekt – Subjekt – Handlung Geltung: zwischen Handlungssubjekten (korrelativ zu Pflicht) Formen: negativ (Abwehrrecht) positiv Überprüfbarkeit: Tun/Unterlassen der Handlung © Julia Dietrich 2007 Pflicht Nötigung eines Subjekts y gegenüber Subjekt x zu einer Handlung: " Subjekt y ist gegenüber Subjekt x genötigt, dass Handlung z." Beziehung: Subjekt – Subjekt – Handlung Geltung: zwischen Handlungssubjekten (korrelativ zu Recht) Formen: negativ (vollkommene Pflicht) positiv (unvollkommene Pflicht) Überprüfbarkeit: Tun/Unterlassen der Handlung © Julia Dietrich 2007 Ratschlag Formulierung einer hypothetischen Empfehlung: „Subjekt x empfiehlt Subjekt y Handlung z, um etwas zu erreichen.“ Beziehung: Subjekt – Subjekt – Handlung Geltung: Die Begründung ist notwendige, die Annahme durch den Beratenen hinreichende Bedingung Überprüfbarkeit: Tun/Unterlassen der Handlung © Julia Dietrich 2007 Tugend Bezeichnung für eine rollenspezifische Fähigkeit oder für den bestmöglichen Zustand moralischethischer Kompetenzen. Dass jemand tugendhaft ist, heißt: „x handelt entsprechend den rollenspezifischen sozialen Erwartungen.“ oder „x hat seine moralisch-ethischen Kompetenzen bestmöglich entwickelt.“ Beziehung: Subjekt – Subjekt Selbstverhältnis Geltung: Soziale Erwartungen Theorie des Gelingens des Lebens Überprüfbarkeit: Tun/Unterlassen der Handlung Charakterzüge bzw. Handlungsweisen © Julia Dietrich 2007 Wert Eine Wertaussage beschreibt eine Beziehung zwischen einem Subjekt und einem Gut: "Subjekt x schätzt y."; "y ist Subjekt x etwas wert." „Subjekt x lehnt y ab.“; „y wird von Subjekt y abgelehnt“ Beziehung: Subjekt – „Gegenstand“ Deskriptiver Anteil: Gut hat Eigenschaft Subjekt hat Präferenz Geltung: Gut (inherent) Subjekt (identitätsrelativ) Geltungsgrund: sollens- o. strebensethisch Überprüfbarkeit: Aussagen in der 1. Person Aussagen in der 3. Person Handlungen als Ausdruck © Julia Dietrich 2007 Werte – Handlungen Stärke und Schwierigkeit: • kein unmittelbarer BegründungsAusdrucksbezug zwischen Werten Handlungen! und und • sechsfache „Übersetzung“ notwendig: 1. Subjekt 6. 2. Interpretation eines Werts als Berücksichtigung, Schutz oder Förderung 5. 3. Interpretation bzw. Operationalisierung der Berücksichtigung, des Schutzes oder der Förderung als konkrete Handlung 4. 4. Formulierung einer entsprechenden Norm, eines Rechts, einer Pflicht oder eines Ratschlags 3. 5. Ethische Begründung der Verbindlichkeit von 4. 2. 6. Handlung 1. • Ist der Bezug auf Werte für die Begründung von Erziehungszielen notwendig oder hilfreich? © Julia Dietrich 2007 Ethische Spannung zwischen „Erziehung“ und „Wert“ Konnotation „Erziehung“ Konnotation „Wert“ Hierarchie Selbstverhältnis eines Subjekts Restriktion Affirmation soziale Integration Individualität (soziales) Ziel Selbstzweck Verhalten Identität © Julia Dietrich 2007 Ethische Begründung „ohne Werte“ Handlung Norm / Begründung Erziehungsziel Voraussetzung bzw. Teil von Moralität Ratschlag zur Ausbildung eines Charakterzugs (Tugend) Ratschlag zu einer Handlung „x Wert strengt „x soll sich „Leistungssich an.“ anstrengen.“ bereitschaft“ Pflicht gegenüber sich selbst Pflicht gegenüber anderen Zweckrationale Forderung © Julia Dietrich 2007 Theoretische Fundierung Anthropologie Theorie des Gelingens des Lebens Theorie der Gerechtigkeit soziale Nützlichkeit Fazit zur Diskussion steht weniger die Moralerziehung, sondern vielmehr ihr Verhältnis zur ethischen Urteilsbildung und ihre Begründung Begriff des Wertes bündelt und verwischt die Unterschiedlichkeit der Begründungen Ansatzpunkt bei Handlungen und Normen ist klarer (und gflls. redlicher) Konvergenz der Begründungen bei Unterschiedlichkeit der Konsequenzen? Konjunkturen der „Werterziehung“ = Konjunkturen sollensethischer Begründungen Wechselverhältnis von Sollens- und Strebensethik ist notwendig = Prozess der immer wieder neu begründeten Gewichtung ist unvermeidlich © Julia Dietrich 2007 Dr. des. Julia Dietrich: Konzepte der Werteerziehung aus ethischer Perspektive Literaturhinweise [1] Dietrich, J. (2006): Moralpädagogik. In: Düwell, M.; Hübenthal, C.; Werner, M. H. (Hg.) (2006): Handbuch Ethik. 2. Aufl., Stuttgart u.a.. S. 423-428. [2] McPhail, P.; Middleton, D.; Ingram, D. (1978): Moral education in the middle years. London. [3] Kohlberg, L. (1986): Der 'Just-Community' - Ansatz der Moralerziehung in Theorie und Praxis. In: Oser, F.; Fatke, R.; Höffe, O. (Hg.) (1986): Transformation und Entwicklung. Frankfurt/M. S. 21-55. [4] Kuld, L.; Gönnheimer, St. (2000) Compassion. Stuttgart. [5] American Institute for Character Education, (AICE) (1974): Character Education Curriculum. Austin. [6] Beyer, A. (Hg.) (2002): Fit für Nachhaltigkeit? Biologisch-anthropologische Grundlagen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung. Opladen. [7] Treml, A. K (1994.: Ethik als Unterrichtsfach in den verschiedenen Bundesländern. Eine Zwischenbilanz. In: Treml, Alfred K. (Hg.) (1994): Ethik macht Schule! Moralische Kommunikation in Schule und Unterricht. Frankfurt/M. S. 18-29. [8] Simon, S. B. (1981): Wertklärung im Unterricht. In: Mauermann, L./Weber, E. (Hg.) (1981): Der Erziehungsauftrag der Schule. Beiträge zur Theorie und Praxis moralischer Erziehung unter besonderer Berücksichtigung der Wertorientierung im Unterricht. Donauwörth. S. 202. [9] Martens, E. (2003): Methodik des Ethik- und Philosophieren als elementare Kulturtechnik. Hannover. Philosophieunterrichts. [10] Pfeifer, V. (2003): Didaktik des Ethikunterrichts. Wie lässt sich Moral lehren und lernen? Stuttgart: Kohlhammer. [11] Adam, G.; Schweitzer, F. (Hg.) (1996): Ethisch erziehen in der Schule. Göttingen. [12] Mieth, I.; Mieth, D. (1978): Vorbild oder Modell? Geschichten und Überlegungen zur narrativen Ethik. In: Stachel, G.; Mieth, D. (Hg.) (1978): ethisch handeln lernen. Zürich. 106-115. [13] Oser, F.; Althof, W. (Hg.) (1994): Moralische Selbstbestimmung. Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. 2. Aufl., Stuttgart. [14] Dietrich, J. (2007): Ethische Kompetenz. In: Ammicht-Quinn, R. u.a. (Hg.) (2007). Wertloses Wissen? Bad Heilbrunn. S. 30-51. [15] Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und dem Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Eberhard-Karls-Universität Tübingen (Hg.) (2005): Ethik im Fachunterricht. Entwürfe, Konzepte, Materialien. Für allgemein bildende Gymnasien und berufliche Schulen. Stuttgart. Online unter: http://www.izew.unituebingen.de/epg/ref_doku.html [16] Ammicht-Quinn, R. u.a. (Hg.) (2007). Wertloses Wissen? Bad Heilbrunn. [17] Krämer, H. (1996): Integrative Ethik. Frankfurt /M. [18] Hügli, A. (1999). Philosophie und Pädagogik. Darmstadt. © Julia Dietrich 2007