soziale exklusionslagen und ihre individuelle

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FernUniveristät Hagen
Prof. Dr. Holger Lengfeld
SOZIALE EXKLUSIONSLAGEN
UND IHRE INDIVIDUELLE
VERARBEITUNG.
AM
BEISPIEL
VON
WOHNUNGSFLÜCHTERN
IN
MÜNCHEN
Eingereicht als:
Verfasserin:
Magisterabschlussarbeit
Angela Wernberger
im Hauptfach Soziologie
Ernsdorferstr. 12a
83209 Prien am Chiemsee
Eingereicht am:
[email protected]
02.Oktober.2008
Matr.Nr. 5366585
1
2
1
Einleitung .................................................................................................... 5
2
Allgemein-theoretische Konzepte als Rahmen der Untersuchung ............... 8
2.1
2.1.1
Exklusion als neue soziale Frage ........................................................................ 8
2.1.2
Der Exklusionsbegriff in der Armuts- und Ungleichheitsforschung ................. 11
2.1.3
Exklusion als gesellschaftsanalytische Kategorie ............................................. 14
2.1.4
Exklusion als Prozess ........................................................................................ 18
2.1.5
Exklusion als objektive Lebenslage .................................................................. 22
2.1.6
Exklusion als subjektive Erfahrung ................................................................... 25
2.2
3
Soziale Exklusion......................................................................................................... 8
Stadt, Raum und Gesellschaft .................................................................................. 31
Methodische Konzeption und Durchführung der Untersuchung ............... 36
3.1
Methodologische Vorüberlegungen ........................................................................ 36
3.1.1
Erkenntnistheoretische Leitgedanken ............................................................. 36
3.1.2
Hermeneutisches Verstehen und qualitativ-empirische Forschung ................ 39
3.1.3
Theoriegeleitete Sozialforschung ..................................................................... 41
3.1.4
Das problemzentrierte Interview - Darstellung und Begründung der
Erhebungsmethode .......................................................................................... 44
3.2
Forschungsleitende Hypothesen und Leitfadenentwicklung ................................... 47
3.3
Stichprobenbildung .................................................................................................. 49
3.4
Durchführung der Untersuchung und Datenerhebung ........................................... 51
3.4.1
Aktenstudium ................................................................................................... 53
3.4.2
Ethnographischer Zugang zum Feld ................................................................. 54
3.4.3
Teilnehmende Beobachtung ............................................................................ 57
3.4.4
Problemzentrierte Interviews mit Wohnungsflüchtern................................... 59
3.4.5
Reflexionen der Untersuchungsdurchführung................................................. 61
3.5
4
(Modifizierte) Auswertung problemzentrierter Interviews ..................................... 65
Ergebnisse der Untersuchung .................................................................... 67
4.1
Die Gruppe im Park .................................................................................................. 67
4.2
Wohnungsflucht als Form sozialen Handelns .......................................................... 70
3
4.3
5
Soziale Exklusion in biographischen Selbstbeschreibungen .................................... 74
4.3.1
Die Bedeutung des Selbstwerterhalts in exkludierten Lagen .......................... 75
4.3.2
Wege in die Exklusion und deren individuelle Begründung ............................ 77
4.3.3
Typische Handlungs- und Deutungsmuster ..................................................... 82
4.3.4
Sozial exkludierte Individuen und Formen gesellschaftlicher Selbstverortung 84
4.4
Exklusion und individuelle Lebensführung............................................................... 88
4.5
Gesellschaftliche Stigmatisierung und deren Verarbeitung .................................... 92
4.6
Pflaster verwundeter Seelen – das Tier an meiner Seite ......................................... 94
Fazit ........................................................................................................... 96
Literaturverzeichnis: ............................................................................................................... 100
Tabellenverzeichnis und Abbildungsverzeichnis .................................................................... 109
Anhang.................................................................................................................................... 110
Erklärung der Verfasserin ....................................................................................................... 111
4
1 Einleitung
Soziale Ungleichheit ist wieder zum Thema geworden in den Sozialwissenschaften. Unter
dem Begriff ‚Exklusion’ verschiebt sich dabei der ehemals ausschließlich auf Versorgungsdefizite gerichtete Blick auf das umfassendere Phänomen des sozialen Ausschlusses und der
sozialen Benachteiligung. Nicht mehr Armut als Versorgungsdefizit und ungenügendem materiellem Lebensstandard, sondern Armut als Integrationsdefizit steht im Mittelpunkt der
Betrachtung (Böhnke, 2006, S. 10) und verweist damit auf die fehlenden oder mangelhaften
gesellschaftlichen Zugehörigkeitsoptionen immer breiterer Bevölkerungsschichten. Soziale
Exklusion wird zur Metapher eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses, in dessen
Rahmen die bisherigen Integrationsmodi Erwerbsarbeit, soziale Beziehungen und Wohlfahrtsstaat erheblichen Veränderungen unterworfen sind. Aus diesem Grund spricht Kronauer (2002) dem Konzept der sozialen Exklusion gesellschaftsanalytische Kraft zu. Es stellt
zwar keine neue Kategorie der Sozialstrukturanalyse dar (vgl. Vogel 2004), doch erweitert es
diese durch die Berücksichtigung individueller Eingebundenheit in soziale Netzwerke so wie
individueller Lebensläufe und Erwerbsbiographien. Insgesamt betrachtet soll das Subjekt
unter der Prämisse der Exklusion verstärkt in die gesellschaftlichen Analysen miteinbezogen
werden. Nach Jahren der überwiegend theoretischen Diskussion wird dies nun auch verstärkt empirisch umgesetzt (vgl. Bude & Lantermann 2006; Damitz & Eierdanz 2008). Die
vorwiegend quantitative Ausrichtung dieser Untersuchungen lässt dabei häufig die individuellen Unterschiede in der Verarbeitung sozialer Exklusion und die daraus resultierenden spezifischen Handlungs- und Deutungsmuster unberücksichtigt. Soziale Ausgrenzung manifestiert sich aber ganz wesentlich in den Alltagserfahrungen der Individuen. Ziel der hier dargestellten empirischen Studie ist es, die subjektiven Erfahrungen und Verarbeitungsmodi sozial
exkludierter Individuen zu erfassen. Im Rahmen qualitativer Interviews kamen sozial exkludierte bzw. von Exklusion bedrohte Menschen zu Wort, um mit ihrer eigenen Stimme über
ihre individuellen Lebensverläufe in die soziale Benachteiligung, ihre Alltagserfahrungen mit
dieser und wie sie diese verarbeiten, zu berichten. Die zur Diskussion stehende Forschungsfrage war: Wie verarbeiten Individuen eine objektiv sozial exkludierte Lebenslage? Welche
Auswirkung hat die Erfahrung sozialen Ausschlusses auf ihren Selbstwert, ihre Deutungs- und
Handlungsmuster und ihre gesellschaftliche Selbstverortung? Wie gestalten sie ihre Lebensführung unter Exklusionsbedingungen und wie gehen sie mit gesellschaftlicher Stigmatisie5
rung um? Und nicht zu letzt, wie erklären sie sich selbst den erfahrenen Prozess ihrer sozialen Exklusion?
Zur Beantwortung dieser Fragen wurden problemzentrierte Interviews mit so genannten
Wohnungsflüchtern in München, Stadtteil Giesing, durchgeführt. Als Wohnungsflüchter
werden Personen in prekärer finanzieller Lage bezeichnet, die tagsüber öffentliche Plätze
aufsuchen, um der Langeweile und Einsamkeit ihres Alltages zu entgehen und ihr Bedürfnis
nach Teilhabe am öffentlichen Leben zu befriedigen. Im gesamten Stadtgebiet Münchens
treffen sich verschiedenste Gruppen von Wohnungsflüchtern an den unterschiedlichsten
Plätzen. Sie weisen eine enge Verbundenheit zum jeweilig besuchten Platz auf, der sich in
räumlicher Nähe ihrer Wohnung befindet und den sie regelmäßig mehrmals die Woche bis
hin zu täglich, über Jahre hinweg, besuchen. Der Platz wird so zum zentralen Lebensraum
der Wohnungsflüchter. An den öffentlichen Plätzen suchen und finden sie, was in ihrer alltäglichen Lebenswelt verloren gegangen scheint: die Möglichkeit zur Kommunikation, zum
Austausch und zu sozialen Kontakten. Gleichzeitig machen sie hierdurch ihre exkludierte
Soziallage öffentlich und sichtbar. Städtische Öffentlichkeit wird einerseits genutzt zur Bedürfnisbefriedigung, andererseits zur performativen Darstellung der eigenen Defizitsituation.
Im sozialen Phänomen der Wohnungsflucht treten sich im öffentlichen Raum der Großstadt
die konstituierenden Kategorien derselben gegenüber: Öffentlichkeit und Privatheit. Die private Exklusionssituation wird öffentlich gemacht und die öffentlichen Reaktionen darauf
müssen ‚privat’ verarbeitet werden.
Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit wird der theoretische Rahmen, in den die Untersuchung eingebettet ist, dargestellt. Es gilt die theoretischen Implikationen des Exklusionskonzeptes zu klären und so das Fundament für die nachfolgenden empirischen Interpretationen
zu legen. Einen eigenen Punkt stellen die Kategorien Stadt - Raum - Gesellschaft und deren
Bezüge zu einander dar.
Bei der Studie handelt es sich um eine qualitative empirische Forschungsarbeit. Darunter
versteht man eine sinnverstehende, interpretative wissenschaftliche Verfahrensweise der
Erhebung und Auswertung sozial relevanter Daten. Qualitative Forschungsmethoden beziehen sich in der Interpretation auf die subjektiven Sichtweisen und die konkreten Erfahrungen der Befragten. Im Ergebnis geht es darum, typische Deutungs- und Handlungsmuster zu
6
beschreiben und daraus Schlussfolgerungen abzuleiten. So können mit Hilfe qualitativer Forschungsmethoden aus relativ geringen Fallzahlen valide Aussagen abgeleitet werden. Die
methodologischen Vorüberlegungen der Erhebung, die forschungsleitenden Hypothesen und
der sich daraus ableitende Interviewleitfaden, das Sampling so wie die Durchführung der
Untersuchung und deren Auswertungsverfahren werden im zweiten Abschnitt dargestellt.
Im dritten Teil werden die Ergebnisse der Studie dargestellt und das Fazit aus der Studie wird
im abschließenden vierten Teil gezogen.1
1
Die auf der letzten Seite beigelegte CD enthält alle im Anhang aufgeführten Materialien, wie die voll-
ständig transkribierten Interviews, den Interviewleitfaden, den verwendeten soziodemographischen
Fragebogen und das Postskriptum sowie die angewendeten Transkriptionsregeln. Außerdem die Vorinformationen, welchen den Interviewpartnern bei der Vereinbarung eines Interviews mündlich dargestellt wurden.
7
2 Allgemein-theoretische Konzepte als Rahmen der Untersuchung
2.1 Soziale Exklusion
2.1.1 Exklusion als neue soziale Frage
Im Jahre 1989 fasste die Europäische Gemeinschaft den Beschluss, „ihre Aktionen gegen
Armut und Arbeitslosigkeit unter das Motto des Kampfs gegen ‚social exclusion’ zu stellen
(Callies 2004, S. 17f.). Dieser Terminus wird in Deutschland mit sozialer Ausgrenzung, sozialem Ausschluss und immer häufiger mit sozialer Exklusion übersetzt. Soziale Ausgrenzung ist
sowohl ein analytischer als auch ein normativer Begriff und beruht als solcher auf gesellschaftlichen Zuschreibungen. Die Diskussion um soziale Ausschließungsprozesse fand in
Deutschland erst verspätet statt. Vorreiter der Diskussion war für den angloamerikanischen
Raum die USA mit dem Konzept der „underclass“ und für den europäischen Raum Frankreich. Der angelsächsische Underclass-Begriff bezieht sich auf die systematische Benachteiligung aufgrund von Stigmatisierungen angesichts angeborener oder zugeschriebener Merkmale. Der französische Exklusionsbegriff bezieht sich auf die Vorstellung eingeschränkter
gesellschaftlicher Teilhabe auf Grund eines Mangels an Kultur, Bildung und Lebensart
(Willisch 2008, S. 64). Sowohl in den oben genannten als auch im Deutschen Diskurs findet
die Debatte zunehmender Ausschließungsprozesse innerhalb der jeweiligen Gesellschaft
unter einem spezifischen Paradigma statt, welches jeweils einer anderen politischen Philosophie nahe steht und spezifische Vorstellungen dessen repräsentiert, was unter dem jeweiligen nationalen Kontext als gesellschaftliche Integration und soziale Gerechtigkeit zu verstehen ist und wie das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zu definieren ist.
Hilary Silver (1995) unterscheidet diesbezüglich das Solidaritäts-Paradigma für die USA, das
Spezialisierungs-Paradigma für Frankreich und das Monopol-Paradigma für Deutschland.
Letztgenanntes begreift Ausgrenzung als Folge von Gruppenmonopolen. „In Anlehnung an
Max Weber weist Silver auf die Ausgrenzungsfunktion von Statusgruppen hin. Gemeinsam
geteilte Kultur und Identität innerhalb einer Statusgruppe führe zu sozialer Schließung und
definiere somit gleichzeitig ihr normatives Gegenteil in Form von sozialer Ausgrenzung“
(Silver 1995, S. 9, zitiert nach Böhnke 2006, S. 27). Im Mittelpunkt der deutschen Ausgren8
zungsdiskussion stehen verschärfte Schließungsprozesse, die zu veränderten Ungleichheitsstrukturen führen. Soziale Ungleichheit definiert sich als jede Art verschiedener Möglichkeiten der Teilhabe an Gesellschaft (Krause 1994 zit. nach Burzan 2003, S. 3). Damit wird der
Ausschließungsdiskurs zum Ungleichheitsdiskurs.
Doch was ist das spezifisch Neue an der Diskussion um zunehmende soziale Exklusionsprozesse? Denn Phänomene des sozialen Ausschlusses und der Armut gab es schon immer in
der Moderne.
Im ersten Vierteljahrhundert der Nachkriegszeit in Deutschland wurde gesellschaftliche Zugehörigkeit und Teilhabe durch ein starkes wirtschaftliches Wachstum, durch ein enormes
Beschäftigungswachstum, das beinahe zur Vollbeschäftigung führte und durch einen erheblichen Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen nach dem Prinzip der Statuswahrung gesichert (vgl. Kronauer 2002, Böhnke 2006, u.a.). Die wirkmächtigen gesellschaftlichen Integrationsfaktoren Arbeit und Wohlfahrtsstaat reduzierten die sichtbare Armut der Nachkriegsjahre, sicherten gesellschaftliche Teilhabe und führten zu einer Ausdehnung der sozialen
Bürgerrechte in einem bis dato unbekanntem Ausmaß. Wohlfahrtsstaatliches Bewusstsein
und erweiterte Ansprüche an den Lebensstandard für alle entwickelten sich. Die damalige
>>nivellierte Mittelstandsgesellschaft<< (Schelsky) ist als Kontrastfolie jetziger Exklusionsphänomene anzusehen. Die Besonderheit der heute erlebbaren Ausschlussprozesse setzt ein
kulturell geprägtes (Anspruchs-)Bewusstsein von Teilhabe, wie es sich in der Nachkriegszeit
bis Anfang der 1970er Jahre entwickeln konnte, voraus. Der Bruch begann in den 1970er
Jahren und führte schrittweise zu weit reichenden Veränderungen in den Bereichen Erwerbsarbeit, Arbeitsmarkt, soziale Beziehungen und Wohlfahrtsstaatlichkeit. „Zwei für
Deutschland wesentliche Integrationsmechanismen büßen ihre (bis dahin) uneingeschränkte
Gültigkeit ein: Erwerbsarbeit und statuserhaltende soziale Sicherung“ (Böhnke 2006, S. 15).
Bude und Willisch (2006) identifizieren zwei Ursachen für diese Veränderungen: die Globalisierung und die neue Programmatik des Wohlfahrtsstaats. Die Auswirkungen der Globalisierung auf den deutschen Arbeitsmarkt führten zur Deindustrialisierung, was zur Freisetzung
vor allem ungelernter und gering qualifizierter Arbeitskräfte führte, so wie zur Deregulierung
normaler Beschäftigungsverhältnisse, was gleichfalls verstärkt die Gruppe der gering qualifizierten Arbeitskräfte betraf. Eine veränderte Wohlfahrtsprogrammatik findet in der „Transformation vom schützenden und sorgenden zum befähigenden und aktivierenden Wohl9
fahrtsstaat“ (Bude & Willisch 2006, S. 11) ihren Niederschlag. Ziel ist es Exklusion zu vermeiden und nicht mehr Status zu erhalten. Damit verändert sich die Programmatik des Wohlfahrtsstaates. Seine bisherige Fähigkeit zur sozialen Integration und gesellschaftlichen Inklusion gerät ins Wanken. Dieser ‚veränderte’ Wohlfahrtsstaat kann seiner eigenen ursprünglichen Aufgabe, nämlich Wachstum zu sichern und parallel dazu soziale Integration bzw. Kohäsion zu gewährleisten, nicht mehr gerecht werden (Dangschat 2008, S. 143). Bürgerschaftliches Anspruchs- und Sicherheitsbewusstsein an wohlfahrtsstaatliche Leistungen und tatsächliche Leistungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates treffen diskrepant aufeinander und fördern prekäre Verunsicherungen. Soziale Exklusion wird zum Schlüsselbegriff um mögliche
Folgen des sozialstaatlichen Umbaus, der auch vor der Mitte der Gesellschaft nicht halt
macht. Latente Statuspanik und Abstiegsängste breiten sich aus und vermitteln das Gefühl
prekären Wohlstands und biographischer Verwundbarkeit (Bude 2004).
Aus der Sicht Budes (2004) dient der deutsche Exklusionsbegriff der Beschreibung dieses
Phänomens der Verwundbarkeit. Dieses Gefühl verbindet Mitte und Rand der Gesellschaft.
Gefühlte Wirklichkeit und faktische Wirklichkeit entsprechen sich jedoch nicht. Petra Böhnke
kommt in ihrer Untersuchung zu Risiken sozialer Ausgrenzung (2006) zum erkenntnisreichen
Schluss, dass die Wahrnehmung der sozialen Gefahr der Verschlechterung der eigenen Lebenslage stark ausgeprägt ist und bis in die Mitte der Gesellschaft reicht. Die Phänomene
sozialer Ausgrenzung selbst treffen jedoch bisher weiterhin hauptsächlich eine klar definierte Risikogruppe treffen: Langzeitarbeitslose und Personen, die sich längerfristig in einer negativen Versorgungslage befinden (Böhnke 2006, S. 217).
Aber nicht nur die bisher genannten Integrationsmodi (Arbeits-)Markt und Wohlfahrtsstaat
verlieren zunehmend ihre integrative Kraft, auch der dritte Integrationsfaktor, die Reziprozität und Soziabilität primärer sozialer Beziehungen, wird ihrer inkludierenden Funktion in
Zeiten zunehmender Individualisierung immer weniger gerecht. Scheidungszahlen steigen
und Familienformen pluralisieren sich. Veränderungen in Erwerbsarbeit und wohlfahrtsstaatlicher Sicherung und das damit einhergehende individuelle Belastungserleben können
immer weniger durch familiäre oder schichtspezifische Einbindungen abgepuffert werden.
„Die Krise der Integrationskapazität dieser drei Instanzen hat … das Ausgrenzungsproblem in
seiner gegenwärtigen Form ausgelöst“ (Kronauer 2002, S. 153). Dabei bleibt Ausgrenzung
10
selten auf eine Dimension beschränkt. Meist zieht dies weitere Ausgrenzungen in anderen
Dimensionen nach sich.
Soziale Teilhabe ist nicht mehr wie bisher über Erwerbsarbeit, Wohlfahrtsstaat und primäre
soziale Nahbeziehungen gesichert. Zugehörigkeit wird damit prekär.
Der Begriff der sozialen Exklusion beschreibt neue Formen gesellschaftlicher Spaltung und
sozialer Ungleichheit. Soziale Ausgrenzung gilt in der aktuellen Diskussion als unbestrittene
Tatsache gegenwärtiger Gesellschaftsstrukturen und steht für eine neue Qualität sozialer
Benachteiligung. Nicht mehr Benachteiligung auf Grund mangelhafter oder fehlender finanzieller Ressourcen (Armut) steht im Mittelpunkt der Ungleichheitsforschung, sondern der
Mangel oder das Fehlen sozialer Teilhabechancen. Damit vollzieht sich ein Perspektivenwechsel in der Armuts- und Ungleichheitsforschung: die vertikale soziale Ungleichheit eines
hierarchisch strukturierten Gesellschaftsmodells in „oben“ und „unten“ wird überlagert
durch die gesellschaftliche Spaltung entlang der Frage: „drinnen“ oder „draußen“. Der Fokus
verschiebt sich von ‚Armut’ als materielle Defizitsituation hin zu ‚Exklusion’ als mangelnde
soziale Teilhabe. Grundlegende Transformationen der gesellschaftlichen Verhältnisse stellen
den Hintergrund des Auftretens sozialer Exklusionsprozesse dar, und führen zu einem Perspektivenwechsel in der Armuts- und Ungleichheitsforschung.
2.1.2 Der Exklusionsbegriff in der Armuts- und Ungleichheitsforschung
Exklusionsphänomene wurden in der jüngsten Vergangenheit unter den verschiedensten
theoretischen Perspektiven innerhalb der Sozialwissenschaft thematisiert. „Die Beobachtung
einer gänzlich heraus fallenden Gruppe, die nicht länger gebraucht wird, verbindet die Zeitdiagnose Luhmanns mit ähnlich gelagerten Überlegungen Zygmunt Baumans, Ralf Dahrendorfs oder Claus Offes“ (Schroer 2008, S. 182). In der vorliegenden Arbeit soll soziale Exklusion aus einer armuts- und ungleichheitstheoretischen Perspektive behandelt werden. Andere
Theorierichtungen müssen in diesem Kontext unberücksichtigt bleiben.2 Beschäftigte sich die
2
Bzgl. der Diskussion von Exklusion in der Systemtheorie sei u. a. verwiesen: auf Luhmann, Niklas (1995) Jen-
seits der Barbarei. In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 138 – 150; Stichweh Rudolf (2005) Inklusion und Exklusion. Studi-
11
klassische Armuts- und Ungleichheitsforschung mit der ungleichen Verteilung materieller
Ressourcen, orientiert an minimalen Versorgungsstandards in einer hierarchisch strukturiert
gedachten Gesellschaft, verschiebt sich deren Fokus unter dem Exklusionsaspekt nun mehr
auf die Wahrnehmung eingeschränkter individueller Teilhabechancen, was eine „neue“ Form
sozialer Benachteiligung darstellt. Der Exklusionsbegriff ist umfassender als die herkömmlichen Kategorien der Analyse von Armut und sozialer Ungleichheit, da er die Möglichkeit des
multiplen Ausschlusses aus verschiedenen gesellschaftlichen Teilhabe- und Interdependenzbeziehungen thematisiert, statt seinen Fokus ausschließlich auf die Seite materieller Teilhabe
an Konsum und Einkommen zu legen. Die Gegenüberstellung von Armuts- und soziale Ausgrenzungskonzept bringt den Unterschied zwischen beiden charakteristisch zum Ausdruck:
Armutskonzept (klassisch)
Exklusionskonzept
Grundlegende Annahme
Ressourcenmangel
Verminderte oder verwehrte Teilhabechancen
(ökonomisch, politisch-institutionell, sozial, kulturell)
Bezugsrahmen
Gleichheit/ Ungleichheit
Zugehörigkeit/ Ausschluss
Ressourcenverteilung
Partizipation / Interdependenz
(distributiv)
(relativ)
Hierarchisches
lungsmodell
Indikatoren
gesellschaftliches
Vertei-
Polarisierung in gesellschaftliche Rand- und Kernzonen
eindimensional
mehrdimensional
statisch
kumulativ, dynamisch
materielle Ressourcen (insb. Einkommenshöhe)
Teilhabe am Arbeitsmarkt, Bürgerstatus und
sozialen Nahbeziehungen
Tabelle 1: Gegenüberstellung von Armuts- und Exklusionskonzept (modifiziert nach Böhnke 2006, S. 20)
en zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld: Transcript Verlag sowie Nassehi, Armin (2006) Die paradoxe Einheit von
Inklusion und Exklusion. Ein systemtheoretischer Blick auf die >>Phänomene<<. In: Bude, Heinz; Willisch, Andreas (Hrsg.) Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige. Hamburger Edition. S. 46 –
70.
Einen kritischen Vergleich der Auseinandersetzung um Exklusionsphänomene in Armutsforschung und Systemtheorie stellt Martin Kronauer an (Kronauer, Martin (1998b) „Exklusion“ in der Armutsforschung und der Systemtheorie. Anmerkungen zu einer problematischen Beziehung. In: SOFI-Mitteilugen Nr. 26/1998, S. 117 – 126.).
12
In den letzten Jahren hat sich in Deutschland zwar die Sicht auf Armut und soziale Benachteiligung geändert. Durch die Aspekte Mehrdimensionalität von Armut, Interdependenz und
Kumulation von Benachteiligung so wie Relativität von Armut, wird dem erweiterten Verständnis von Armut in der neuen Armutsforschung Rechnung getragen.3
Gleichwohl geht die Ausgrenzungsdebatte über die Grundlagen der neueren Armutsforschung hinaus, in dem sie den Wandel der gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen von
einem hierarchischen Aufbau (oben/unten) hin zu Polarisierung entlang neuer Spaltungslinien (drinnen/draußen) zur Diskussion stellt und mit dem Konzept der „Überflüssigen“ verstärkt die Perspektive der Marginalisierten aufnimmt (Böhnke 2006, S. 61). Das Exklusionskonzept ist mehrdimensional angelegt, da es auf die relative Position einzelner Gruppen innerhalb der Gesellschaft insgesamt abzielt (Engels 2006, S. 110). Theoretisch steht der Exklusionsbegriff einem Ungleichheitskonzept nahe, das mit Begriffen von „Zentrum“ und „Peripherie“ operiert (Kronauer 1997, S. 31). In Exklusionslagen kumulieren soziale Benachteiligungen. Dies führt zum einen zum Verlust von Teilhabechancen für das Individuum, zum
anderen stellt dies eine Gefahr für die soziale Ordnung und gesellschaftliche Stabilität dar.
Die These der Kumulation von Exklusionseffekten weist auf die Gefahr der sozialen
Vererbbarkeit und räumlichen Konzentration kumulierter Benachteiligung hin.
Hills, Le Grand und Piachaud (2002) definieren soziale Exklusion als Ausschluss von wesentlichen gesellschaftlichen Aktivitäten und identifizieren als relevante Bereiche Teilhabe an Konsum, Produktion bzw. Teilhabe an ökonomischen oder anderen sozial wertgeschätzten gesellschaftlichen Tätigkeiten, politische Teilhabe und soziale Interaktion (vgl. Mohr 2007, S.
28). Kronauer definiert Exklusion als Ausschluss aus gesellschaftlichen Interdependenzbeziehungen, die über Arbeit und soziale Netze vermittelt werden, sowie Ausschluss von materieller, politisch-institutioneller und kultureller Teilhabe (Kronauer 2002, S. 151 – 156). Die
3
Bereits Georg Simmel hat darauf hingewiesen, dass „jedes allgemeine Milieu und jede besondere
soziale Schicht (…) typische Bedürfnisse besitzt, denen nicht genügen zu können Armut bedeutet.
Daher die für alle entwickeltere Kultur banale Tatsache, dass Personen, die innerhalb ihrer Klasse arm
sind, es innerhalb einer tieferen keineswegs wären, weil zu den für die letztere typischen Zwecke ihre
Mittel zulangen würden“ (Simmel 1989, S. 548) und begründet damit den Ansatz der Relativität von
Armut.
13
Mehrzahl der Forscher stimmt darin überein, dass sich Exklusion als eine soziale Lage darstellt, die durch multiple Ausgrenzungen und Benachteiligungen gekennzeichnet ist (Mohr
2007, S. 28). Dabei beschreibt Exklusion sowohl einen Zustand als auch einen Prozesse, der
sowohl eine Form mehrdimensionaler, relativer Deprivation4 als auch einen dynamischen
Marginalisierungsprozesses darstellt, an dessen Ende ein Zustand der Ausgegrenztheit steht.
Paugam bezeichnet diesen Prozess als „soziale Disqualifizierung“. Er umfasst unterschiedliche Phasen, die sich progressiv aneinander reihen und zu extremer Deprivation führen können (Paugam 1991 zit. nach Paugam 2004, S. 74). Der Begriff der sozialen Exklusion beschreibt folglich zwei Phänomene: zum einen die soziale Lage multipler Deprivation zum anderen den Prozesse, der in diese soziale Lage führt. Dieser Prozess betrachtet zum einen den
biographischen Werdegang eines Individuums (Karriere) als auch die gesellschaftliche Bedingungen und Ursachen dieses Ausgrenzungsprozesses. Auf alle drei Aspekte sozialer Exklusion: Exklusion verursachende aktuelle gesellschaftliche Kräfteverhältnisse (2.1.3), Exklusion
als Prozess (2.1.4) und als soziale Lage (2.1.5) wird im Nachfolgenden explizit einzugehen
sein, da sie die Kontextbedingungen der subjektiven Wahrnehmung und Erfahrung sozialer
Exklusion (2.1.6) darstellen.
2.1.3 Exklusion als gesellschaftsanalytische Kategorie
Wie bereits weiter oben angeführt, besitzt der Exklusionsbegriff sowohl eine normative als
auch eine analytische Qualität. Er ist normativ, da er auf historischen gesellschaftlichen Erfahrungen gründet. Und er ist analytisch, denn „er vermittelt Erkenntnisse über aktuelle Gefährdungen des Sozialen (und) zwingt dazu, den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen nachzuspüren, die zu dieser Gefährdung beitragen“ (Kronauer 2006b, S.1). Der Exklusionsbegriff
begrenzt seine analytische Betrachtungsweise nicht auf Randgruppenphänomene und sollte
keinesfalls als ein weiterer Beitrag zur Randgruppentheorie missverstanden werden, denn er
4
Unter relativer Deprivation ist die Benachteiligung einer Person gegenüber einer anderen Person,
bzw. im Hinblick auf ihre Bezugsgruppe zu verstehen. „Dabei kommt es auf den subjektiv empfundenen Grad der Deprivation an, der nicht allein durch die objektive Situation determiniert ist, sondern der
aus der (negativen) Abweichung von den sozialen Erwartungen der betreffenden Person resultiert“
(Reinhold 2000, S. 110). Im Konzept relativer Deprivation findet der Gedanke Simmels seine Fortsetzung.
14
bezieht in seine Analysen das gesamtgesellschaftliche Spektrum mit ein. Martin Kronauer
versteht dem zu Folge Exklusion als Kategorie einer kritischen Gesellschaftsanalyse (Kronauer 2006a, S. 29). Der Fokus der Exklusion richtet sich auf die gesamtgesellschaftlichen
Verhältnisse und deren zum Teil ausgrenzenden Wirkungen. Hierbei werden die Quellen
gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Teilhabe, Bürgerstatus, Arbeit und soziale Nahbeziehungen (vgl. Kronauer 2002; 2006a; 2006b), in den Blick genommen. Diese Integrationsmodi
verändern sich unter den Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels. Die Kategorie Exklusion reflektiert die gegenwärtigen grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen in den
westlichen Industrieländern. Die Analyse dabei geschieht entlang der Achsen: Arbeit und
Arbeitsmarkt, Einbettung in soziale Netze sowie persönliche, politische und soziale Rechte.
Dabei finden zwei unterschiedliche theoretische Aspekte der Zugehörigkeits- und Teilhabesicherung Berücksichtigung: ‚Interdependenz’ und ‚Partizipation’.
Der aus der französischen Diskussion entliehene Aspekt der Interdependenz bezieht sich auf
die wechselseitige Eingebundenheit durch Arbeitsteilung und informelle soziale Nahbeziehungen. Grundlegend ist ein Verständnis sozialer Kohäsion, das der Vorstellung einer „organischen Solidarität“ folgt, wie sie durch Durkheim vertreten wurde.
Der Aspekt der Partizipation hingegen wird der angelsächsischen Diskussion entliehen. Hier
war es vor allem Thomas Marshall, der ein besonderes Verständnis von citizenship geprägt
und auf die Durchsetzung sozialer Rechte als Aufgabe des Wohlfahrtsstaates verwiesen hat.
Seinem Verständnis nach sollten soziale Rechte für den Bürger zweierlei leisten: freien
(nicht-diskriminierten) Zugang zu allen zentralen gesellschaftlichen Institutionen und Sicherung eines Minimums an gemeinsamen Lebenschancen und eines dem Wohlstandsniveaus
angemessenen Lebensstandards (Marshall 1992). Gesellschaftliche Zugehörigkeit wird folglich vermittelt durch formalisierte, wechselseitige Abhängigkeits- und Anerkennungsverhältnisse der Erwerbsarbeit, informelle Reziprozität familiärer und sozialer Nahbeziehungen sowie den Bürgerstatus und seine wohlfahrtsstaatlichen Implikationen (Kronauer 2006a, S. 36).
Diese Integrationsmechanismen büßen auf Grund des gesellschaftlichen Wandels seit den
1970er Jahren zunehmend ihre Gültigkeit ein.5 Brüche und Verwerfungen werden sichtbar
und führen zur Verunsicherung weiter Teile der Bevölkerung. So hat eine von der FriedrichEbert-Stiftung in Auftrag gegebene Studie des Instituts TNS Infratest Sozialforschung hin5
Die genauere Darstellung des gesellschaftlichen Wandels und seiner Gründe ist Punkt 2.1.1 zu ent-
nehmen.
15
sichtlich der Frage, nach der Aufteilung der potentiellen Wählerschaft in Deutschland in verschiedene Milieus, ergeben, dass 63% der Bevölkerung die gesellschaftlichen Veränderungen
Angst machen (zit. n. Kronauer 2006b). Gleichwohl sind nicht alle Bevölkerungsgruppen
gleich stark von Prozessen des gesellschaftlichen Ausschlusses tatsächlich betroffen. Exklusionsrisiken sind sozialstrukturell ungleich verteilt. Am stärksten sind diejenigen durch sie gefährdet, die den Umbrüchen am Arbeitsmarkt und der „Neujustierung“ des Wohlfahrtsstaates am meisten ausgesetzt sind: die an- und ungelernten Arbeiter6 und Langzeitarbeitslosen.
Auch dieses Phänomen findet seine Widerspiegelung in den empirischen Daten der oben
genannten Studie: etwa 8% der Bevölkerung werden der Kategorie „abgehängtes Prekariat“
zugeordnet (ebenda). Das Exklusionskonzept richtet seinen Blick vom Rand ins Zentrum der
Gesellschaft. Dorthin, wo die Ursachen zunehmender Exklusionsprozesse zu verorten sind.
Gleichzeitig verweist es auf die Gleichzeitigkeit des „Drinnen“ und „Draußen“ in der Gesellschaft. Sozialer Ausschluss im Verständnis moderner Exklusionsphänomene darf nicht als
tatsächlicher Ausschluss aus der Gesellschaft verstanden werden. Dieser ist wohlweißlich
faktisch nicht möglich. Sondern muss als Ausgrenzung in der Gesellschaft verstanden werden. „Die Ausgegrenzten sind Teil der Gesellschaft, auch wenn sie nicht an ihr teilhaben“
(Kronauer 2006a, S. 29). Ausgrenzungserfahrungen erwachsen aus dem Gefühl der Diskrepanz, was gesellschaftlichen allen Bürgern möglich sein soll und was auch von diesen normativ erwartet wird und dem was der Einzelne faktisch leisten kann bzw. was ihm tatsächlich
möglich ist. „Nicht aus der Gesellschaft fallen die Exkludierten heraus, wohl aber aus dem
Geflecht der Wechselseitigkeiten, die Anerkennungsverhältnisse begründen. An die Stelle
der Einbindung in die wechselseitigen Beziehungen der gesellschaftlich anerkannten Arbeitsteilung tritt die einseitige Abhängigkeit des Fürsorgeempfängers“ (Kronauer 2006a, S. 13).
Das Kernproblem, auf das das Exklusionskonzept hinzuweisen sucht ist, dass in den Nachkriegsjahren in Deutschland das Fundament eines normativen Anspruches auf Zugehörigkeit,
vermittelt durch Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat, etabliert wurde, welcher zunehmend
nicht mehr mit den zur Verfügung stehenden Mitteln erfüllt werden kann.
Der Exklusionsbegriff verweist auf die Gefährdung des Sozialen. Nicht Wiedereingliederung
ist das Ziel des Kampfes gegen Exklusion, sondern die Beseitigung ausgrenzender sozialer
Bedingungen. Im Phänomen der Exklusion werden die demokratischen Verhältnisse eines
Landes in den Blick genommen. Dabei sind nicht nur die Exkludierten, ihre Erfahrungen mit
6
Der besseren Lesbarkeit willen wird durch gängig die männliche Geschlechtsform verwendet.
16
und Reaktionen auf sozialen Ausschluss von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung so wie die,
diese ausschließenden sozialen und ökonomischen, Verhältnisse sondern, nicht zu letzt, die
Reaktion der „verängstigten“ gesellschaftlichen Mitte beim Gewahrwerden einer zunehmend größer werdenden Gruppe an „Überflüssigen“ (Bude; Willisch 2006). Die Beobachtung, dass Phasen der Arbeitslosigkeit und Armut sich zunehmend verdichten und zu Karrieren der Überflüssigkeit kumulieren können, rührt am Selbstverständnis der tragenden Gruppe der gesellschaftlichen Mitte. Das Aufkommen von Verwundbarkeiten stellt eine Verbindung zwischen Mitte und Rand der Gesellschaft her. „Eine gesellschaftspolitisch entscheidende Frage wird sein, ob denjenigen, die gegenwärtig von den Schockwellen der Veränderung erfasste werden, bei aller Unterschiedlichkeit der Erfahrungen die Gemeinsamkeiten
der Ursachen bewusst werden; ob somit solidarisches Handeln möglich bleibt oder das Heil
in der Rettung durch Ab- und Ausgrenzung gesucht wird“ (Kronauer 2006b, S. 38). Derzeit
sind verschiedene Formen gesellschaftlicher Reaktionen auf Exklusion vorstellbar (vgl. Bude
2004). Eine relativ unproblematische Reaktion wäre dabei die Bereitschaft der Ambivalenz
von Chance und Risiko, die von dynamischen Arbeitsmärkten und enttraditionalisierten Lebenswelten ausgeht, normativen Raum zu geben und so Armuts- und Arbeitslosigkeitspassagen, Beschäftigungs- und Beziehungswechsel zum „normalen Exklusionspotenzial variabler
Inklusionsverläufe“ (Bude 2004, S. 258) zu machen. Auch Formen der Kompensation von
Exklusion durch sekundär vermittelte Inklusion, wie dies zum Beispiel bei Behinderten der
Fall ist, sind vorstellbar und gesamtgesellschaftlich als unproblematisch zu bewerten. Als
problematisch sind hingegen zunehmende Polarisierungsprozesse anzusehen, wie diese bereits in größeren Städten beobachtbar sind. In den öffentlichen Räumen der Städte treffen
die Globalisierungsgewinner auf eine zunehmende Gruppe von Überflüssigen. In den global
cities ist für Exkludierte kein Platz. Aus Gründen der zunehmenden Konkurrenz zwischen den
Städten, um frei florierendes, globalisiertes Kapital, müssen die Innenräume der Großstädte
vom irritierenden Bild der Exkludierten freigehalten werden. „Öffentliche Räume werden (…)
zu Räumen für die zweifelsfrei Inkludierten gemacht, in denen die von Exklusion Bedrohten
keine Aufenthaltsberechtigung mehr haben“ (Bude 2004, S. 259). Privatisierung des öffentlichen Raumes, Sicherung durch private Schutzdienste, Verordnungen zur Regelung des Verhaltens auf öffentlichen Plätze sind probate Mittel hierbei. „Polarisierung ist ein Prozeß der
stillen Reinigung des öffentlichen Raums, der eine Zonierung der Lebenswelt mit sich bringt:
in Deutschland ist es nicht das öffentliche Ghetto, sondern es sind die privaten vier Wände,
17
wohin sich die Exkludierten zurückziehen“ (Bude 2004, S. 259). Exklusion kann damit auch
als Raumordnungskategorie verstanden werden.
Und wie reagieren die Überflüssigen auf exkludierende Sozialverhältnisse? Bude und Willisch
(2006) stellen diesbezüglich drei typische Konstellationen fest: 1. Die Inanspruchnahme institutioneller Versorgungsparadoxien, also der Versuch sekundärer Integration über den zweiten Arbeitsmarkt. Dies führt jedoch zu Beschäftigungsverhältnissen, denen es zu sehr an sozialer Relevanz und/ oder finanzieller Bestätigung mangelt, als dass sie das Gefühl gesellschaftlicher Teilhabe zu vermitteln könnten. 2. Die kollektive Verwilderung durch Abspaltung
von der Mehrheitsgesellschaft mit Hilfe populistischer Volksbewegungen. Und 3. Formationen gesellschaftlicher Entkopplung und neuer Kohäsion. Hier bildet sich eine neue Zugehörigkeit auf der Basis gemeinschaftlich geteilter Erfahrung des Abgetrenntseins. Es entsteht
eine Kultur der Selbstähnlichkeit, die sich aus dem trotzigen Bestehen auf die eigene
Abgehängtheit und Andersartigkeit speist. „Der Bindemechanismus dieser Konstellation besteht darin, dass die Überflüssigen über eine kohärente Interpretation ihres Makels verfügen
und sich dadurch von allen andern im Gefühl ihrer Gemeinsamkeit entkoppeln“ (Bude;
Willisch 2006, S. 17).
2.1.4 Exklusion als Prozess
Exklusion ist ein Prozess. Menschen werden nicht von heute auf morgen zu Exkludierten und
Überflüssigen. Exklusion darf nicht als dichotomes Gegenüber von Inklusion missverstanden
werden, als ein Entweder - Oder. Der Exklusionsbegriff verweist nicht nur auf einen Zustand,
sondern zugleich auf ein prozesshaftes Geschehen, in dem sich Phasen zunehmender sozialer Disqualifizierung aneinander reihen und in Situationen extremer Deprivation münden
können (Paugam 2004). Diese Prozesse finden ihren biographischen Niederschlag in den Lebensgeschichten der Individuen. Subjektiv erlebbar als ein schrittweise Herausfallen aus den
wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen der Arbeitswelt und den damit einhergehenden
materiellen Reduzierungen. Phasen kurzzeitiger Arbeitslosigkeit und Armut dehnen sich aus,
werden länger, bis hin zur andauernden Lebenssituation. Typisch ist dieser Verlauf vor allem
für ältere Arbeitnehmer, die den neuen Anforderungen eines veränderten (Arbeits-)Marktes
18
nicht mehr entsprechen können. Ab einer gewissen Zeitdauer erscheint ein Wiedereinstieg
zunehmend unwahrscheinlicher, trotz aller wohlfahrtsstaatlichen Bemühungen der Nachqualifizierung der Generation 50+. Besonders die Phase zwischen 40 und 55 stellt sich „als
Zone extremer biographischer Verwundbarkeit dar, wo Erfahrungen der Degradierung durch
Praktiken der (wohlfahrtsstaatlichen) Aktivierung einen Prozess fortschreitenden Erleidens
und nachlassenden Handelns in Gang setzen können“ (Bude 2004, S. 256f.). Anders stellt sich
die Situation für die jüngere Generation dar. Wird der Einstieg ins Berufsleben verfehlt, reduzieren sich nicht nur finanzielle sondern auch Anerkennungsmöglichkeiten. Der verfehlte
Einstieg wird zum Ausstieg aus dem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang. Insgesamt
lassen sich zwei Logiken des sozialen Ausschlusses unterscheiden: Entweder man kommt
aufgrund bestimmter Ausschlusskriterien, „die mit dem Legalitätsstatus, dem Sozialstatus,
dem Bildungsabschluss oder der Kulturaffinität zusammenhängen, gar nicht erst ins Spiel“
(Bude 2004, S. 255) rein oder man fällt aus „bestimmten Umständen der Stigmatisierung,
Degradierung und Ignorierung“ (ebenda) aus dem Spiel raus. Die Erfahrungen des Kontingentwerdens müssen biographisch verarbeitet werden. Die Phasen der Exklusion lassen sich
aus der Akteursperspektive als fortschreitende Prozesse beginnend mit Destabilisierung und
Verunsicherung, hin zur Rebellion gegen das eigene Schicksal und den „ungerechten“ Sozialstaat oder der angepassten Bemühung um sekundäre Integration über zweite Arbeitsmärkte, Fördermaßnahmen, und der gleichen sowie letzten Endes der akzeptierenden Defiziteinarbeitung in den eigenen Lebensentwurf und das Selbstbild der Menschen (Bude; Willisch
2008, S. 20f.) beschreiben. Zukunft wird aufgegeben. Exklusionserfahrung wird zur permanenten Erfahrung des Scheiterns.
Phänomene sozialer Exklusion finden nicht außerhalb unserer Gesellschaft statt, sondern
sind als ein Kontinuum unterscheidbarer sozialer Positionen im gesellschaftlichen Gesamtgefüge zu verstehen. Der französische Sozialhistoriker Robert Castel unterscheidet drei Zonen
in die sich die Gesellschaft zunehmend aufspaltet „Man kann (…), zumindest metaphorisch,
verschiedene >>Zonen<< des sozialen Lebens unterscheiden, je nachdem, wie gesichert das
Verhältnis zur Arbeit oder wie fest die Einbindung in Netze der Soziabilität ist“ (Castel 2000,
S. 13): die Zone der Inklusion, die der Gefährdung oder Verwundbarkeit und die Zone der
19
Ausschließung oder Exklusion.7 Die Einteilung des Gesellschaftsfeldes in Zonen ist als heuristisches Modell zu verstehen, welches auch der Konturierung neuer deutscher Ungleichheitsverhältnisse dient. „Als wesentlicher Punkt muss jedoch festgehalten werden, dass es heute
unmöglich ist, zwischen diesen >>Zonen<< feste Grenzen zu ziehen. Vor allem aufgrund der
Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse sind integrierte Menschen verwundbar geworden und
gleiten alle Tage ab in das, was man >>Exklusion<< nennt“ (Castel 2000, S. 14). Die Zonen
„unterscheiden sich durch Abstufungen in den realisierten und realisierbaren Möglichkeiten
der gesellschaftlichen Zugehörigkeit und Teilhabe und lassen sich entlang der im Exklusionsbegriff fokussierten drei Analyseebenen“ (Kronauer 2006b, S. 8) Bürgerstatus, Arbeit und
soziale Nahbeziehungen charakterisieren.
Abbildung 1: Heuristik von Inklusion – Exklusion nach Robert Castel (Institut für Praxisforschung und Projektberatung IPP 2008)
In diesem Modell fällt das dichotome Verständnis des entweder „Drinnen-“ oder „Draußen“
sein weg. Nur ein Kontinuum von Positionen innerhalb der Gesellschaft ist vorhanden.
Die Zone der Inklusion oder auch Integration zeichnet sich aus durch ein hohes Maß an Beschäftigungssicherheit und soziale Eingebundenheit in stabile soziale Nahbeziehungen, über
die sich im Bedarfsfall Unterstützungsressourcen aktivieren lassen. Über den Arbeitsplatz
vermittelte soziale Rechte bieten Sicherheit im Fall von Krankheit und Alter. Die Teilhabe an
7
Kronauer (2006b) nennt noch eine vierte Zone, die am oberen Ende des Kontinuums nicht nur ge-
schützt von gesellschaftlichen Transformationen ist, sondern geradezu von diesen profitiert. Er
beizeichnet diese als Zone der Exklusivität.
20
Lebenschancen und Lebensstandard entspricht den gesellschaftlichen Verhältnissen. Zukunft
ist handhabbar.
Prekärer gestaltet sich die Situation in der Zone der Gefährdung oder Verwundbarkeit. Hier
ist die Beschäftigungssicherheit bereits nicht mehr gegeben. Zeitarbeitsverträge und Unterbrechungen des kontinuierlichen Erwerbsverlaufs machen die Lebenssituation insgesamt
prekär. Die Sicherheiten, die soziale Rechte am Arbeitsplatz und vermittelt über den Arbeitsplatz in die Zukunft hinein gewähren, sind eingeschränkt, ebenso die Möglichkeiten zu einer
Lebensführung, die den vorherrschenden Ambitionen entspricht“ (Kronaue 2006b, S. 9). Zukunft ist unsicher und nicht planbar.
Die Zone der Exklusion ist gekennzeichnet durch den Verlust jeglicher Arbeitsverhältnisse.
Die Menschen sind dauerhaft von Erwerbsarbeit ausgeschlossen oder haben höchstens noch
sporadischen, evtl. sozialstaatlich gestützten Zugang zu ihr. Alternative Positionen, aus denen Anerkennung bezogen werden könnten, wie die Rolle der Hausfrau, des Studenten oder
Rentners, stehen ihnen nicht zur Verfügung. Die Gefahr sozialer Isolation ist hoch. Soziale
Kontakte reduzieren sich und verengen sich auf Beziehungen zu Menschen in ähnlich benachteiligter sozialer Lage, mit wenig Unterstützungspotential. Individualisierung nimmt hier
die Form der „negativen Individualität“ (Castel 2000, S. 29) an, einer Individualität aus Mangel an gesellschaftlicher Einbindung. An die Stelle der aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben und der wechselseitigen Sozialbezüge, tritt immer mehr die einseitige Abhängigkeit
von institutioneller Hilfe, die mit diversen Formen sozialer Kontrolle und Sanktionen, verbunden ist. Weder Erwerbseinkommen noch staatliche Transfereinkommen erlauben es,
dem allgemeinen Lebensstandard entsprechend zu leben. Leben wird nicht mehr gestaltund Zukunft nicht mehr vorstellbar. Die erfahrene Machtlosigkeit der Lebensführung bereiten Politikverdrossenheit und resigniertem Rückzug den Boden. Das Gefühl nicht mehr mithalten zu können ist allgegenwärtig.
Meist jedoch existieren Mischformen sozialer Teilhabe und sozialen Ausschlusses. Was dies
für die Individuen jeweils bedeutet ist unterschiedlich und muss aus einer subjektorientierten Sichtweise heraus beantwortet werden. Diese Thematik soll theoretisch unter 1.6 näher
beleuchtet werden. Als Grundlage dieser Diskussion sollen vorab objektive Dimensionen
sozialer Ausgrenzung betrachtet werden, um so die Kontextbedingungen subjektiver Erfahrung von Exklusion zu erfassen.
21
2.1.5 Exklusion als objektive Lebenslage
Der Begriff sozialer Exklusion beschreibt nicht nur den Prozess, der aus der gesellschaftlichen
Mitte in Zonen der Verwundbarkeit und des sozialen Ausschlusses führt, sondern auch die
soziale Lage multipler, relativer Deprivation.
Exklusion wird als soziale Lage multipler Ausgrenzungen aufgefasst in der es zu einer Verdichtung (Kumulation) von Exklusionseffekten kommen kann. Im Begriff Exklusion finden
sowohl objektive Dimensionen sozialer Ausgrenzung als auch subjektives Erleben von Exklusion Berücksichtigung. Zum Zwecke der besseren analytischen Darstellung wird im Folgenden zwischen objektiven Exklusionslagen und subjektiver Exklusionserfahrungen unterschieden und diese getrennt von einander dargestellt. Wohl wissend, dass diese analytische
Trennung real nicht existent ist, sondern eine intensive Wechselbeziehung zwischen beiden
Faktoren besteht.
Die objektiven Dimensionen sozialer Exklusion werden im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit als soziale „Exklusionslagen’ bezeichnet. Die in dieser Wortschöpfung implizierte Anlehnung ans Konzept der Lebenslagen ist gewollt. Denn „als >>Lebenslage<< wird
die Gesamtheit der äußeren Bedingungen bezeichnet, durch die das Leben von Personen
oder Gruppen beeinflusst wird. Die Lebenslage bildet einerseits den Rahmen von Möglichkeiten, innerhalb dessen eine Person sich entwickeln kann, sie markiert deren Handlungsspielraum. Andererseits können Personen in gewissem Maße auch auf ihre Lebenslagen
einwirken und diese gestalten“ (Engels 2008, S. 643). Der Lebenslagenbegriff bezeichnet die
objektiven Handlungsbedingungen, nicht die individuelle Performance der Handlungen
selbst. Seit den 1980er/ 1990er Jahren kommt das Lebenslagenkonzept in der Sozialberichterstattung zur Armutsforschung zunehmend zum Einsatz, da es nicht nur eine Dimension von
Lebensqualität bzw. prekärer Lebensweise isoliert betrachtet, sondern auf die Analyse der
Mehrdimensionalität unterschiedlicher Lebensbereiche und deren Wechselwirkungen zielt.
Benachteiligung und Einschränkungen der Lebensqualität werden dabei nicht monokausal
hinsichtlich der finanziellen Ressourcenausstattung betrachtet, sondern in die Analyse werden weitere Dimensionen, wie soziale Netzwerke und immaterielle Ressourcen wie Bildung
und Gesundheit einbezogen. Der Lebenslagenansatz nimmt die sozialen Voraussetzungen
des individuellen Handelns in den Blick (vgl. Engels 2008). „Der Begriff der >>Lebenslage<<
22
richtet sich (damit) auf die unmittelbar erfahrbaren Lebensbedingungen eines Menschen
(Hradil 2001, S. 374)8.
Unter dem Terminus ‚Exklusion als objektive Lebenslage’ kurz ‚Exklusionslage’ sollen folglich
die objektiven Handlungsbedingungen in einer exkludierten Lebenssituation verstanden
werden.
Als Dimensionen sozialen Ausschlusses lassen sich sechs Bereiche nennen: gesellschaftliche
Arbeitsteilung/ Arbeitsmarkt, soziale Netzwerke, materielle Teilhabe, politisch-institutionelle
Teilhabe und kulturelle Teilhabe. Exklusion kann dabei in einem oder mehreren Bereichen
stattfinden, bzw. die Exklusion in einem Bereich kann Exklusionen in anderen Bereichen nach
sich ziehen. Als Gesamtheit äußerer Lebensbedingungen stehen sie dem realitätsverarbeitenden Subjekt9 gegenüber und wirken auf diese ein. Im Konkreten kann sich sozialer Ausschluss in den verschiedenen Dimensionen wie folgt ausgestalten:
8
Auf eine ausführliche Darstellung des ‚Konzepts der sozialen Lage’ muss an dieser Stelle verzichtet
werden. Diesbezüglich sei insbesondere auf Hradil (1983, 1987) verwiesen.
9
Der Begriff ‚realitätsverarbeitendes Subjekt’ wird unter Punkt 3.1.1 näher erläutert.
23
Ausgrenzung am Arbeitsmarkt
Die Rückkehr oder der Eintritt in reguläre Erwerbsarbeit ist dauerhaft versperrt;
prekäre Anbindung an das Beschäftigungssystem;
Statusverlust.
Ökonomische Ausgrenzung
Der Lebensunterhalt lässt sich innerhalb des regulären Erwerbssystems nicht mehr bestreiten;
finanzielle Abhängigkeit von Transferleistungen des Wohlfahrtsstaates oder anderen gesellschaftlich minder bewerteten Einkommensformen;
Armut als Leben unter starken Einschränkungen;
‚Working poor’.
Kulturelle Ausgrenzung
Fehlende Möglichkeit den gesellschaftlich anerkannten Verhaltensmustern, Lebenszielen und Werten zu entsprechen;
gesellschaftlichen Sanktionen ausgesetzt sein aufgrund fehlender
Erfüllung gesellschaftlicher Anforderungen;
Stigmatisierung.
Ausgrenzung
durch
gesellschaftliche
Reichweite und Qualität der Sozialkontakte verändern sich;
Isolation
Reduzierung der Sozialkontakte (Vereinzelung);
Konzentration der Sozialkontakte auf Personen ähnlicher sozialer
Lage (subkulturelle Identifikation bzw. Milieubildung);
Kontaktverlust zu den im Erwerbssystem verankerten sozialen
Klassen.
Räumliche Ausgrenzung
Räumliche Konzentration und Isolation Benachteiligter in ähnlicher
sozialer Lage;
Polarisierung des öffentlichen Raums durch Vertreibung von von
Exklusion bedrohten Personen.
24
Politisch-institutionelle Ausgrenzung
Vor allem in drei Institutionen:
Schule und Ausbildungseinrichtungen als gesellschaftliche Weichensteller;
10
Arbeits- und Sozialämter als exkludierende Inkludierer ;
Rückzug öffentlicher und privater Dienstleistungen aus der Versorgung der Ausgeschlossenen.
Tabelle 2: Dimensionen sozialer Ausgrenzung nach Kronauer (Kronauer 1997, S. 38ff.)
Bude und Willisch (2006) erweitern Kronauers Ausgrenzungsdimensionen um die Kategorie
des Körpers bzw. der Gesundheit. „Eine typische Exklusionskarriere kombiniert die Elemente
von Arbeit, Familie beziehungsweise sozialen Netzwerken, Institutionen und Körper“ (S. 15).
Exklusion stellt sich für ihn explizit auch als körperliche Betroffenheit dar.
Die Lebenslagen von Menschen und damit auch deren Exklusionslagen „stehen in mehr oder
minder engem Zusammenhang mit ihren Lebensweisen, das heißt mit typischen Mustern
ihres Denkens und Verhaltens“ (Hradil 2001, S.405).
Aussagen von Exkludierten oder von Exklusion bedrohten Personen geben darüber Auskunft
wie sich deren grundlegende Orientierungen, Interessen, Mentalitäten und Lebensperspektiven vor diesem Hintergrund abzeichnen. Die individuelle Verarbeitung sozialer Exklusionslagen wird im empirischen Teil dieser Arbeit vorgestellt. Zuvor, quasi als Grundlage der Auswertung, soll die Theoriediskussion bzw. bestehende empirische Erkenntnisse zum interessierenden Themengebiet darstellt werden.
2.1.6 Exklusion als subjektive Erfahrung
In der Exklusionsdebatte wird besonderes Augenmerk auf die subjektive Seite, auf die individuelle Erfahrung von sozialer Ausgrenzung gelegt. Vor allem unter der Kategorie der „Über-
10
Abhängigkeit von sozialstaatlichen Leistungen bedeutet zwar einerseits institutionelle ‚Einschlie-
ßung’, jedoch in einer gesellschaftlich negativ definierten Position (vgl. Simmel 1983, S. 372f.).
25
flüssigen“ (Bude/ Willisch 2006; Bude/ Willisch 2008; u. a.) wird der Akteursperspektive besondere Bedeutung beigemessen. Vogel (2004) verweist in seinen Ausführungen insbesondere auf die Bedeutung des Begriffs ‚Vulnerabilität’ in der Exklusionsdiskussion, welcher ursprünglich von Robert Castel (2000) in diese eingeführt worden war. ‚Vulnerabilität’ benennt
die gefühlte soziale Ungleichheit und Unsicherheit als die emotionale Seite sozialer Exklusion. Als Prozess- und Wahrscheinlichkeitsbegriff kommen hier zusätzlich zu statistischen Lageverteilungen biographische Selbstbeschreibungen mit ins Spiel. Damit geraten die Akteure
selbst in den Blick wissenschaftlicher Analysen (Vogel 2004, S. 45). Kronauer (2007) weist in
einem Vortrag auf dem Fachtag der Gemeindepsychologen in München insbesondere auf
das individuelle Leiden an Exklusion hin, wenn er ausführt, dass Ausgeschlossene sowohl an
den inneren und äußeren Vorwürfen leiden, „dass ihnen etwas abgeht, was andere selbstverständlich haben und auch sie haben müssten“. Exklusion wird fokussiert als Ausgrenzungserfahrung, als Scheiternserfahrung, als Leidenserfahrung. Und wenn Kronauer weiter
darstellt, dass Resignation und sozialer Rückzug nicht „Ausdruck der Befreiung von den herrschenden gesellschaftlichen Normen (sind)“, sondern das Gegenteil zu trifft: „weil sie diese
tief verinnerlichten Normen weder loswerden noch ihnen entsprechen können, werden sie
von ihnen geradezu erdrückt. Darauf versucht die Flucht in die soziale Isolierung eine Antwort zu geben“ (ebenda), zeigt er, inwieweit subjektive Verhaltensweisen als Antworten auf
objektive Exklusionslagen zu verstehen sind. Objektive Exklusionslagen finden ihren Niederschlag in individuellen Denk- und Handlungsmustern der Exkludierten.
Es macht die Besonderheit des Exklusionskonzepts aus, dass die unterschiedlichen Selbstund Gesellschaftsbilder der Subjekte, die von außen betrachtet, in der gleichen sozialen,
sprich exkludierten, Lage leben, in deren Analysen berücksichtigt werden (Callies 2004, S.
22). Die gleiche soziale Lage kann von verschiedenen Individuen durchaus unterschiedlich
erlebt und beurteilt werden. In diesem Punkt geht das Exklusionskonzept über das Lebenslagenkonzept, welches von der gleichen sozialen Lage auf typische Muster des Denken und
Handelns schließt, hinaus.
Exklusionslagen unterscheiden sich erhebliche in ihrem Zustandekommen: „Ausgrenzung
kann die Form des sozialen Abstieges annehmen (Langzeitarbeitslose am Ende einer langen
Berufsbiographie), des von vornherein versperrten Zugangs (etwa bei arbeitslosen Jugendlichen) oder der weiteren Zuspitzung eines bereits prekären Lebens am Rande der Erwerbsarbeit“ (Kronauer 1997, S. 35). Das Rausfallen aus der Gesellschaft kann selbst- oder fremd
26
verschuldet sein. Die Gruppe der Exkludierten oder von Exklusion bedrohten Menschen unterscheidet sich hinsichtlich der Form der Ausgrenzung11, den Folgen der Ausgrenzung, ihrer
Wahrnehmung der Ausgrenzung und ihren individuellen Verarbeitungsmodi12.
Vor allem dem Aspekt der Wahrnehmung sozialer Exklusion, durch objektiv Exkludierte oder
sich in prekären finanziellen Lagen befindenden Personen, wurde in der jüngeren Vergangenheit in empirischen Forschungen mittels des Konstrukts ‚Exklusionsempfinden’ (vgl. Bude/ Lantermann 2006; Damnitz/ Eierdanz 2008) nachgegangen. Ob sich ein Individuum
selbst als exkludiert empfindet, also das Gefühl hat aus der Gesellschaft ausgeschlossen oder
ausgegrenzt zu sein, hängt danach nicht nur von seiner sozialen Exklusionslage (prekären
Lebenslage) ab, sondern auch, wie es die aktuelle Situation selbst bewertet und wie es die
zukünftige Entwicklung seiner Lage antizipiert. Die Bewertung der aktuellen Lebenslage, wie
auch der zukünftigen, hängt davon ab, welche internen und externen Ressourcen der Person
zur aktuellen Situationsbewältigung zur Verfügung stehen (vgl. Bude; Lantermann 2006).
Dabei kommt vor allem der Zukunftsperspektive eine zentrale Rolle zu. Es ist entscheidend
für die Beurteilung einer aktuell belastenden Situation, ob ich diese als dauerhaft oder als
veränderbar ansehe. Exklusion bedeutet immer auch einen Mangel an Zukunftsperspektiven
(Callies 2004, S. 32). Entscheiden für die subjektive Situationsbewertung ist, in wie weit eine
Möglichkeit besteht, bzw. diese als solche wahrgenommen wird, dass sich an der aktuellen
exkludierten sozialen Lage etwas verändern wird. Die aktuelle Einschätzung der sozialen Lage, wie auch die Antizipation zukünftiger Lagen, wird geprägt von den der Person zur Verfügung stehenden internen und externen Ressourcen. Diese müssen nicht nur vorhanden,
sondern als solche auch vom jeweiligen Individuum wahrgenommen werden. Im
Prekaritäten-Ressourcen-Modell (PRE-Modell), welches von Bude und Lantermann (2006) im
Rahmen einer bundesweiten Telefonbefragung zum Exklusionsempfinden entwickelt wurde,
geben diese als externe Ressourcen die Indikatoren: Einkommen, Bildung, partnerschaftliche
Bindung, beruflicher Status, Geschlecht und Alter an. Interne Ressourcen des Individuums
entdecken sie im Kohärenzsinn (n. Antonovsky) und in der Unbestimmtheitsorientierung.
Nach Angaben der Autoren stellt das PRE-Modell eine soziologische Erweiterung des psychologischen Stressbewältigungsmodells nach Lazarus und Folkman (1984) dar. Dieses geht da-
11
Siehe Punkt 2.1.5.
12
Hierauf bezieht sich der empirische Teil dieser Studie.
27
von aus, dass es entscheidend ist für die Bewältigung einer belastenden Situation, welche
Ressourcen ein Handelnder als ihm zur Bewältigung der Situation zur Verfügung stehend
erlebt. Erst, wenn er zu der Überzeugung gelangt, dass die ihm zur Verfügung stehenden
Ressourcen nicht hinreichen für eine konstruktive Situationsbewältigung, erfährt er diese als
Zustand der Belastung. „Als wenig hilfreich empfundene Ressourcen machen den Handelnden anfällig für defensive Antworten auf äußere Anforderungen, für Rückzug, Umdeutung,
Resignation; das Wissen oder die Überzeugung um die Verfügung starker Ressourcen dagegen lässt den Handelnden offensiv in die Auseinandersetzung mit einer belastenden Lage
hineingehen, indem er oder sie auf Änderung, aktive Eingriffe und vermehrte Anstrengung
setzt“ (Bude; Lantermann 2006, S. 236).
Aus dieser Perspektive wird verständlich, warum sich objektiv Privilegierte durchaus exkludiert fühlen können, wo hingegen sich gleichzeitig Individuen in prekären Lebenslagen sehr
wohl als zum gesellschaftlichen Ganzen zugehörig empfinden können. Nicht jeder „Minderprivilegierte“ muss exkludiert sein und sich so fühlen (Bude; Lantermann 2006, S. 244). Es
hängt von subjektiven Faktoren ab, ob sich ein Mensch exkludiert, und damit aus dem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang ausgeschlossen, fühlt oder nicht. Mit der subjektiven
Komponente des Exklusionsempfindens wird auf die Selbstverortung des (vergesellschafteten) Individuums verwiesen.
Exklusionsempfinden kann unter verschiedenen Aspekten in Erscheinung treten:
 „als Gefühl, an den Rand gedrängt, isoliert und abgehängt zu sein;
 als Empfindung, gesellschaftlich nicht anerkannt zu werden;
 als Angst, mit anderen nicht mithalten zu können und den kulturellen Anforderungen
nicht gewachsen zu sein;
 als Eindruck, von anderen mit Herablassung betrachtet und behandelt zu werden;
oder
 als Einstellung, aus eigenen Stücken auf Distanz zu gesellschaftlichen Werten und
Normen zu gehen“
(Damitz; Eierdanz 2008, S. 24).
28
Abschließend soll eine weitere quantitative Untersuchung genannt werden, die sich ebenfalls mit der Frage beschäftigte, welche subjektiven Faktoren darüber entscheiden, ob sich
ein Mensch als exkludiert empfindet oder nicht: Das Forschungsprojekt „Soziale Exklusion
und Vertrauen“, das in Zusammenarbeit des Instituts für Psychologie der Universität Kassel
und des Hamburger Instituts für Sozialforschung stattfand. Die Wissenschaftler stellten fest,
dass wie zu erwarten war, ein hoher Zusammenhang zwischen finanzieller Prekarität und
Exklusionsempfinden besteht. Eine geringe finanzielle Ausstattung erhöht die Neigung, sich
gesellschaftlich an den Rand gedrängt zu fühlen. Darüber hinaus erkannte man aber, dass
nicht alle Personen auf finanzielle Prekarität mit gleichen Exkusionsempfindungen und Verhaltensweisen reagieren. In Abhängigkeit der finanziellen Ausstattung und des gezeigten
gesellschaftlichen Exklusionsempfindens unterschieden sie folgende vier Gruppen:
Finanzielle Situation
Exklusionsempfinden
gesichert
niedrig
ungesichert
Integrierte (41 %)

Kämpfer (22 %)
hoher Anteil Voll- und

hoher Anteil Voll- und Teilzeiter-
Teilzeiterwerbstätiger
werbstätiger bei geringem Ver-

gut gebildet
dienst (working poor)

als
gut
bewerteter
Gesundheitszustand


relativ niedrig gebildet

Gesundheitszustand wird als gut
vergleichsweise hoher Anteil von Familien
bewertet

Vergleichsweise hoher Anteil von
Familien
hoch
Distanzierte (12 %)

Abgehängte (25 %)
hoher Anteil Voll- und

hoher Anteil Arbeitsloser
Teilzeiterwerbstätiger

niedrig gebildet

gut gebildet

hoher Anteil Alleinerziehender

distanzieren sich von ge-

Gesundheitszustand
sellschaftlicher Normalität

Gesundheitszustand wird
wird
als
schlecht bewertet

als gut bewertet
erhöhte Vereinsamungs- und Isolationstendenz

Tendenz zur mangelnden Selbstpflege

erhöhter Fernseh- und Computerkonsum zur Ablenkung (und Ausgestaltung der zur Verfügung ste-
29
henden freien Zeit)
Tabelle 3: Vier Gruppenkorrelation aus Prekarität und gesellschaftlichem Exklusionsempfinden n. Damnitz;
Eierdanz (2008)
Eine wichtige Frage innerhalb des Forschungsprojektes war es, ob Vertrauen eine entscheidende innere Ressource bei der Bewältigung prekärer Lebenslagen darstellt. Als verschiedene
Formen
von
Vertrauen
wurden
Selbstvertrauen,
soziales
Vertrauen,
Institutionenvertrauen, transpersonales Vertrauen und Vertrauen in die Zukunft unterschieden. Es stellt sich heraus, dass vor allem das Zukunftsvertrauen der Menschen ein sehr aussagekräftiger Gradmesser ihrer sozialen Lage ist. „Bei hoher Prekarität und fehlender Einbindung sinkt das Vertrauen in die Zukunft weit ab. Selbst- und soziales Vertrauen gehen mit
der empfundenen gesellschaftlichen Verankerung parallel, während das Systemvertrauen
hier keinen eindeutigen Zusammenhang zeigt“ (Damnitz; Eierdanz 2008). Die Gruppe der
‚Abgehängten’ weist sich insbesondere durch ein geringes Vertrauen in die Zukunft aus, was
die Wahrscheinlichkeit fataler Entwicklungen wie Resignation, Rückzug und Verwahrlosung
ansteigen lässt. Hingegen scheint die Gruppe der ‚Kämpfer’, die sich in ähnlich prekärer finanzieller Lage befanden, aus ihrem Vertrauen in die Zukunft konstruktiven Nutzen zu ziehen für den Umgang mit der prekären Situation. Die vorgestellten Formen des Vertrauens
gelten den Wissenschaftlern als Indikatoren für die Möglichkeit zu gesellschaftlicher Teilhabe
und sozialer Anerkennung zu gelangen.
Das Interesse der vorliegenden Forschungsarbeit richtet sich auf den Aspekt der subjektiven
Erfahrung von sozialer Exklusion und deren individuellen Verarbeitung.
30
2.2 Stadt, Raum und Gesellschaft
Soziale Sachverhalte bedürfen der Sichtbarkeit, um als solche wahrgenommen und als soziale Probleme definiert zu werden. Bezüglich der referierten Exklusionsthematik stellt sich die
Frage, wo kann Exklusion gesellschaftlich sichtbar, erfahrbar und als Ausgrenzungsphänomen wahrgenommen werden? Wo werden fehlende Teilhabemöglichkeiten gesellschaftlich
beobachtbar?
Gesellschaft muss in der Moderne als urbane Gesellschaft verstanden werden (vgl. Löw et. al
2007), denn „eine urbane Lebensweise im Sinne einer tendenziell anonymen, rationalisierten und normierten, aber auch demokratisierten und am technologischen Fortschritt wie an
individueller Freiheit orientierten Lebensweise (ist) zum allgemeinen Prinzip der Lebensgestaltung geworden.“ (Löw et. al 2007; 10). Allerdings gilt die Stadt seit jeher als Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Veränderungen. In ihr lassen sich aktuelle Entwicklungen und die
Folgen sozialen Wandels am schnellsten und prägnantesten beobachten. Der Blick auf die
Stadt bietet damit folglich am frühesten und intensivsten Eindrücke zunehmender gesellschaftlicher Ausgrenzungsprozesse. Stadtentwicklung und die ansteigende Tendenz zur Verdrängung so genannter „Überflüssiger“ (Bude & Willisch 2008) aus den deutschen Innenstädten gehen Hand in Hand.
Der nachstehende stadt- und raumsoziologische Aufriss soll in einzelne Aspekte gesellschaftlicher Bedeutung von Stadt und Raum einführen. Hierdurch wird der Boden bereitet für die
kritische Reflexion der mit aktueller Stadtentwicklung einhergehenden normativen gesellschaftlichen Strukturierung des öffentlichen Raums und der gesellschaftlichen Reaktionen
auf nonkonformes Handeln in diesem.
Frühere Erklärungsmuster haben die Stadt als eigenständige Ursache gesellschaftlicher Veränderung beschrieben. Max Weber sah in der europäischen Stadt des Mittelalters die ausschließliche Ursache gesellschaftlichen Wandels (vgl. Häußermann; Siebel 2004, S. 92). Im
Zuge der Ausweitung urbaner Lebensweisen auf die Gesamtgesellschaft verlor die Stadt diese Funktion mehr und mehr. Die konservative Stadtkritik in Nachfolge Webers, welche „städtische Phänomene aus ihren gesamtgesellschaftlichen Bezügen (…) isolieren und die physisch
räumliche Umwelt Stadt zur allein maßgeblichen Determinante sozialen Verhaltens (…) erklären“ (Häußermann, Siebel 2004, S. 92) will, greift deshalb für die in den Städten sichtbar
31
werdenden gesellschaftlichen Entwicklungen, zu kurz. Städte sind das Abbild gesellschaftlicher Entwicklungen, nicht deren Ursache. (Groß)städte werden in der stadtsoziologischen
Diskussion überwiegend als die „Materialisierung gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse,
d. h. als Räume, in denen sich alle soziologischen Gegenstandsbereiche in ihren jeweils
entwickeltsten Formen untersuchen lassen“ (Breckner 1998, S. 286) verstanden. Aufgrund
ihrer Dichte, Größe und Heterogenität kondensiert sich in der Stadt die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens. Louis Wirth, ein Vertreter der Chicagoer Schule, definierte 1938 das
soziale Gebilde Stadt „als eine relativ große, dicht besiedelte und dauerhafte Niederlassung
gesellschaftlich heterogener Individuen (Wirth 1974, S. 48). Die Dichte und Mannigfachheit
des städtischen Lebens findet, nach den stadtsoziologischen Analysen Simmels (1903), ihren
Niederschlag in einer urbanen Lebensweisen der Großstadtbewohner, welche er von der
ländlichen, dörflich strukturierten Lebensweise unterscheidet. Das Verhalten der Stadtbewohner beschreibt er als unpersönlich und deren Kommunikation als zweckrational. Gleichwohl verteufelt Simmel die Großstädte nicht per se, sondern sieht in ihnen die einzige Möglichkeit zur zivilisatorischen Weiterentwicklung (ebenda).
Nach den Vorstellungen Hans-Paul Bahrdt’s, einem der ersten deutschen Stadtsoziologen,
entfaltet sich das bürgerliche Leben in der Stadt entlang der beiden zentralen Kategorien
Öffentlichkeit und Privatheit. Diese beiden Kategorien stellen, seiner Ansicht nach, sowohl
die soziale als auch räumliche Sphäre des Stadtlebens dar und stehen miteinander in Wechsel- und Austauschbeziehung. „Eine Stadt ist eine Ansiedlung, in der das gesamte, also auch
das alltägliche Leben die Tendenz zeigt, sich zu polarisieren, das heißt entweder im sozialen
Aggregatzustand der Öffentlichkeit oder in dem der Privatheit stattzufinden. Es bilden sich
eine öffentliche und eine private Sphäre, die in engem Wechselverhältnis stehen, ohne dass
die Polarität verloren geht. (…) Je stärker Polarität und Wechselbeziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre sich ausprägen, desto >städtischer< ist, soziologisch gesehen, das
Leben einer Ansiedlung“ (Bahrdt 2006, S. 83f.). In beiden Bereichen kommen je spezifische
Verhaltensweisen zum Ausdruck. Für das Verhalten in der Öffentlichkeit diente ihm als Metapher der Markt. Auf diesem treten die Individuen zwar miteinander in Kontakt, doch bleiben ihre Beziehungen zu einander hoch funktional, auf den Austausch von Waren ausgerichtet und distanziert. Für die Überbrückung dieser Distanz gelten, nach Bahrdt, bestimmte
Regeln, die zum einen der Stilisierung des Verhaltens sowie der Repräsentation durch Kleidung und Gesten, eine hohe Bedeutung bei messen. Das Verhalten in der Öffentlichkeit ist
32
grundsätzlich marktförmig ausgerichtet. Der private Bereich hingegen gilt als Schonraum. Die
bürgerliche Privatsphäre entsteht als Gegenüber zur Öffentlichkeit. Geschützt vor dem Blick
der Fremden können hier Intimität, Emotionalität und individuelle Eigenarten gelebt werden.
Was passiert aber, wenn Individuen mit ihrem Verhalten diese Polarität aufheben, sie überschreiten und in ihrer Bedeutsamkeit durchkreuzen? Wenn sie dem unter Globalisierungsdruck gesteigerten Konsumzwang unserer heutigen Innenstädte nicht durch entsprechende
Steigerung ihres marktförmigen Verhaltens nachkommen? Stattdessen die Öffentlichkeit der
Plätze und Straßen in den Städten zur sozialen Kontaktaufnahme und –pflege in Form von
privatisierten öffentlichen Verhaltensweisen als eine Art ‚Zweitwohnzimmer’ (be)nutzen?
Und so ihr fehlendes Vermögen zur Steigerung ihrer Marktförmigkeit öffentlich sichtbar und
für alle erfahrbar machen?
Soziales Handeln von Individuen im öffentlichen Raum ist auf andere bezogen und mit einem
subjektiven Sinn verbunden (Weber 1922). Verhaltensweisen, die öffentlich eigentlich Privates zeigen, stellen damit Modi individueller Sinnproduktion dar und sind als Reaktionen auf
gesellschaftliche Entwicklungen zu deuten.
Blicken wir auf die Stadt, um Gesellschaft zu sehen, so ist das nächst kleinere Raster, der
Raum, in dem gesellschaftliche Verhältnisse wahrgenommen, und durch dessen Strukturen
gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen werden. Räumliche Strukturen verwirklichen sich
im Handeln der Individuen, so wie sie ihrerseits das soziale Handeln strukturieren. „(Social)
space is a (social) product“, schreibt Lefèbvre als einer der ersten Vertreter der modernen
Raumsoziologie (1974, S. 30). „Die moderne, urbanisierte Gesellschaft basiert wesentlich auf
der Herrschaft über Raum. Die Strukturen der Gesellschaft manifestieren sich in räumlichen
Anordnungen“ (Löw et al. 2007, S. 9). Er wirkt gesellschaftsstrukturierend und wird gleichzeitig von Gesellschaft strukturiert (Löw et al. 2007). Handlungstheoretisch bietet der Raum die
Möglichkeit zum Handeln und determiniert durch seine Strukturiertheit die Handlungsmöglichkeiten. Parallel dazu wird Raum auch über seine Gleichzeitigkeit definiert. Ein konkreter
Ort kann von verschiedenen Personen gleichzeitig unterschiedlich wahrgenommen und genutzt werden. Der gleiche Ort ist damit nicht für jede Personengruppe das Selbe. Im europäischen Stadtmodell fungiert der öffentliche Raum als Sozial- und Begegnungsraum. In dieser
33
Funktion wirkt der öffentliche Raum als eine integrierende Kraft des städtischen Lebens.
Öffentliche Plätze werden damit zum Schauplatz der Vergesellschaftung. An ihnen lassen
sich auch die normativen Implikationen räumlicher Sozialbeziehungen thematisieren (vgl.
Young 2000) Im Vordergrund der marxistische Raumtheorie steht der Staat, der seine
„Machtposition über den Zugriff auf den Raum sichert, indem Raum eingeteilt und verplant
wird“ (Löw et al. 2007, S. 52). Städtebau und Stadtentwicklung werden damit zu Machtmechanismen. Die Internationalisierung der Märkte und die steigende Konkurrenz unter den
Städten um das beste Standortimage führen zur grundlegenden Änderung der städtischen
Kommunalpolitik. „Als Bestandteil dieser Konkurrenzstrategie betreibt das städtische Management die bauliche Aufwertung bestimmter Stadtviertel, fördert die Expansion von Büroflächen und organisiert Großprojekte wie Messen oder Weltausstellungen“ (Ronneberger
1998, S. 16). Konsum, Freizeit und Unterhaltung entwickeln sich zu den wichtigsten Wirtschaftsfaktoren der Städte. Das nach Bahrdt erwartete marktförmige Verhalten in der Öffentlichkeit wird normative Aufforderung zur Hybridkonsumtion an die Adresse der Individuen. „Malls und Themenparks stellen den vorläufigen Schlusspunkt einer Entwicklung dar, die
sich bereits im 19. Jahrhundert abzeichnete: die Transformation des Kaufverhaltens in einen
>>Erlebnisvorgang<< und die Funktionalisierung der Raumgestaltung als Bestandteil einer
kommerziellen Marktstrategie“ (Durth 1988, zit. n. Ronneberger 1998). Innerstädtischer
Raum muss Aufforderung, Möglichkeit und Sicherheit zum unbeschwerten Konsum bieten.
Nutzungs- und Aneignungsweisen des öffentlichen Raumes transformieren sich. „Die sichtbare Anwesenheit von marginalen Gruppen auf Plätzen und Straßen wird von der Mehrheit
der städtischen Gesellschaft zunehmend als Bedrohung der >>inneren Sicherheit<< wahrgenommen“ (Ronneberger 1998, S. 16) worauf durch entsprechende Maßnahmen der
rekommunalisierten Ordnungspolitik reagiert wird. Hierbei sind zwei Vorgehensweisen zu
beobachten: Zum einen definieren immer mehr städtische Behörden in Form von Sondernutzungsverordnungen Betteln, Alkoholtrinken oder Lagern im öffentlichen Raum zur Ordnungswidrigkeit wogegen bei Verstoß mit Platzverweisen und Bußgeldern vorgegangen werden kann. Zum anderen findet eine zunehmende Umwidmung von öffentlich zugänglichen
Orten wie Bahnhöfen, Flughäfen, Plätzen des öffentlichen Nahverkehrs zu Privatbereichen
statt, in denen, anhand entsprechender Hausordnungen seitens privater Sicherheitsdienste,
verstärkt gegen unwillkommene Verhaltensweisen, sprich nicht dem Konsum gewidmetem
Verhaltensweisen, vorgegangen werden kann. Hier wird „die sich verstärkende Tendenz zur
34
Ausgrenzung von unliebsamen Personen aus dem öffentlichen Raum“ (Positionspapier: KAGS
und KAGW 2003, S. 23) sichtbar. Dieser erhöhte Vertreibungsdruck fußt ursächlich im dargestellten Funktionswandel des öffentlichen Raums und präventiven Sicherheitsstrategien als
politische Reaktion auf diffuse Unsicherheitsgefühle der gesellschaftlichen Mehrheit. Die
Sichtbarkeit des möglichen sozialen Absturzes in Mitten der Konsumwelt der Innenstädte
lässt die Angst und das Unbehagen bis in die Mitte der Gesellschaft hineinkriechen. Reaktive
Abwehr- und Ausgrenzungstendenzen sind die Folge. In ihnen drückt sich das Selbstverständnis einer Gesellschaft aus (Kronauer 1998a).
Dem Primat der Gleichzeitigkeit des Raumes ist es jedoch geschuldet, dass sich der gleiche
öffentlich Raum für marginalisierte Gruppen ideal zur Inszenierung und Skandalisierung des
eigenen Schicksals eignet. „Denn der städtische Raum ist von jeher Bühne des Sehens und
Gesehenwerdens. Hier ist jeder Anwesende, ob er will oder nicht, Schauspieler und Teil eines Schauspiels“ (Breyvogel 1998). Ein innerstädtischer Machtkampf um die Frage: „Wem
gehört die Stadt?“ (Titus 2001) zwischen Gewinnern und Verlierern aktueller Globalisierungs- und Modernisierungsprozesse scheint zu entstehen. Nach Bourdieu (1991) manifestieren sich in der Auseinandersetzung über Orte und Plätze gegenwärtige Machtverhältnisse,
denn die Herrschaft über den Raum ist eine der privilegiertesten Formen der Machtausübung.
„Die soziale Realität in den deutschen Metropolen hat sich seit den 80er Jahren grundlegend
verändert“ (Ronneberger 1998, S. 16). Bei den weiter unten folgenden empirischen Betrachtungen wird der Fokus darauf gelegt werden wie Gesellschaft darauf reagiert, wenn Individuen die Trennung von privat und öffentlich aufheben und vormals private Verhaltensweisen öffentlich praktizieren, vielleicht so gar bis zu einem gewissen Grad auch ‚inszenieren’13.
Denn städtische Räume bieten Möglichkeiten der Wahrnehmung von Inklusion und Exklusion im Lichte der demokratischen Verhältnisse einer Gesellschaft.
13
Siehe Punkt 4.5..
35
3 Methodische Konzeption und Durchführung der Untersuchung
Im Folgenden werde ich die methodische Konzeption und Durchführung meiner Studie darstellen. Im Rahmen der methodologischen Vorüberlegungen werde ich ausführen, auf welchen methodologischen Grundannahmen meine Arbeit basiert und warum ich mich, daraus
ableitend, für ein bestimmtes methodisches Vorgehen entschieden habe. Die Wahl meiner
Erhebungs- und Auswertungsmethoden leitet sich aus den methodologischen Grundfesten
meiner Arbeit ab.
3.1 Methodologische Vorüberlegungen
3.1.1 Erkenntnistheoretische Leitgedanken
Grundlage der Erforschung individueller Verarbeitungsmodi sozialer Exklusion ist ein Subjektverständnis, dass dieses als aktiv realitätsverarbeitend versteht. Das von Klaus Hurrelmann (1983; 2002) konzipierte Modell stellt ein Subjekt in den Mittelpunkt seiner Betrachtungsweise, welches sich sein Leben lang mit den inneren und äußeren Anforderungen der
Lebensrealität auseinander setzen muss und dabei flexibel und produktiv seine eigene Persönlichkeit formt. Sein Modell geht von einer dialektischen Beziehung zwischen Subjekt und
gesellschaftlich vermittelter Realität aus. Jeder Mensch steht lebenslang vor der Aufgabe
sowohl die innere als auch die äußere Realität aufzunehmen, sich diese anzueignen und zu
verarbeiten. Globale gesellschaftliche Prozesse des sozialen Wandels, die ihren Niederschlag
in Veränderungen der Lebenswelt finden, stellen das Individuum auf der Mikroebene seiner
Lebensführung vor die Anforderung der aktiv produktiven Verarbeitung. Arbeitslosigkeit,
finanzielle Armut, fehlende gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten und Wegfallen oder Einschränkung sozialer Nahbeziehungen stehen dem Subjekt als äußere Realitäten gegenüber,
mit denen es umgehen und die es verarbeiten muss. Wie Individuen auf die Bedingungen
der äußeren Realität reagieren, mit diesen umgehen, hängt nicht zu letzt von ihrer eigenen
inneren Grundstruktur und der ihnen zur Verfügung stehenden Stressbewältigungs- und
Copingfähigkeiten ab. Der Mensch wird einerseits von seiner Umwelt beeinflusst, gleichzeitig
36
wirkt aber er auch selbst gestaltend auf diese ein. Im Prozess der Verarbeitung konkreter
Umweltanforderungen werden spezifische Orientierungs- und Verhaltensregulationssysteme
aufgebaut. Mittels dieser ihm zur Verfügung stehenden Regulationssysteme reagiert der
Mensch auf die jeweiligen situativ vermittelten Erscheinungsformen der Realität, wirkt auf
diese ein und verändert sie dadurch. „Das Subjekt verhält sich gegenüber der Realität teils
aktiv gestaltend, teils ausweichend bzw. selektiv suchend, teils auch nur passiv hinnehmend.
Als Folge dieser Tätigkeit verändert sich zunächst die reale Situation des Subjektes (…). Als
Folge der Tätigkeit verändert sich außerdem das Subjekt selber (…). Von besonderer Bedeutung dabei ist seine Interpretation der Realität und seines Verhältnisses zu ihr, weil davon
abhängt, in welchen Modi das Subjekt der Realität gegenübertritt“ (Geulen 1981, S. 553). Die
vorliegende Forschungsarbeit beschäftigt sich genau mit diesem Punkt. Subjektive Verarbeitungsmodi äußerer Realität, wie gesellschaftliche Strukturen, hängen ab von subjektiven
Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata. Sie schlagen sich in den individuellen Deutungs- und Handlungsmustern nieder, anhand derer die Individuen auf äußere Bedingungen
ihrer Lebenswelt reagieren und sich zu ihr in Beziehung setzen.
Mit dem Arbeitskonzept der ‚Biographie’ geht Fischer-Rosenthal (‚Biographische Strukturierung’ 2000a, 2000b) über das Modell von Hurrelmann hinaus. Grundlage seines Konzeptes
stellt gleichfalls die Annahme einer wechselseitigen Bedingtheit und Zirkularität von Individuum und Gesellschaft dar. Das Subjekt verändert sich demzufolge entlang der veränderten
Sozialstrukturen der modernen Gesellschaft. Der Subjekt-Begriff stellt für ihn die Grundfigur
gesellschaftlicher Selbstbeschreibung dar. In den biographischen Selbstbeschreibungen der
Individuen finden die derzeitigen lebenslangen Orientierungsprozesse von Individuen in modernen funktional differenzierten Gesellschaften ihren Ausdruck und ihre Verarbeitung. Im
Konzept der Biographie sieht Fischer-Rosenthal (2000a) die Klammer zwischen Subjekt und
Gesellschaft, ja sogar die Auflösung der Dichotomie von Individuum und Gesellschaft. In den
biographischen Selbstbeschreibungen der Individuen finden gesellschaftliche Veränderungen, die auf die Bedingungen der Lebenswelt Einfluss nehmen, sowie die Modi der subjektiven Verarbeitung dieser, ihren Ausdruck. In ihnen wird Zeit verarbeitet und gesellschaftliche
Prozesse dargestellt, indem Temporalstrukturen produziert und kommuniziert werden. Die
Bedeutung biographischer Geschichten für die Individuen, lässt sich mit Rosenthal (1993)
folgend zusammenfassen: „Die biographische Selbstpräsentation mit den Erzählungen bio37
graphischer Erlebnisse sowie theoretischer Kommentaren über den eigenen Lebensweg
dient (…) zur Herstellung von Konsistenz oder Kontinuität. BiographInnen erzählen über ihr
Leben, weil sie sich über ihre zum Teil brüchige Vergangenheit, Gegenwart und antizipierte
Zukunft vergewissern möchten. Mit der Erzählung versuchen sie, entweder ihr Leben in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen und sich die Geschichte ihrer Veränderungen
zu erklären“. Die Befragten beschreiben also nicht nur den erlebten Prozess, sondern geben
auch direkte oder indirekte theoretische Erklärungen dieses Prozesses ab. Erzählte Lebensgeschichten spielen eine zunehmend bedeutendere Rolle in der aktuellen empirischen Sozialforschung. Sprachliche Aktivitäten der Narration sind in der Lage vergangenes Erlebtes in
einer aktuellen Situation rekonstruierend darzustellen. Dabei berücksichtigt das Subjekt die
gesellschaftsspezifischen Erzähl- und Deutungsmuster und unterlegt den Narrationen des
Vergangenen seine gegenwärtigen Sinnkonstruktionen. In der Narration vergewissert sich
das Subjekt seiner selbst. Narrative Darstellungen des Gewordenseins unterliegen der situativen Bewertung des Erzählenden im Hier und Jetzt und den aus dem Kontext der aktuellen
sozialen Situation gegebenen Sinnerfordernissen. Sie verbinden Erzählungen vergangener
Ereignisse mit der Gegenwart und begründen die Erwartungen zukünftiger Ereignisse (Keupp
et al. 1999, S. 101f.). Narrationen unterliegen Formgesetzen und sind sozial eingebunden.
Die dem Subjekt zur Verfügung stehenden Formen seiner Narrationen sind gesellschaftlich
bedingt und begrenzt. Sie müssen den gesellschaftlich akzeptierten Regeln für narrative Konstruktionen entsprechen, um verstanden und akzeptiert zu werden. (Kraus 2000, S. 176).
Objektive soziale Exklusionslagen werden in dem vorliegenden Forschungszusammenhang
als äußere Realität und gesellschaftliche Lebensbedingung von Subjekten aufgefasst, die individuell verarbeitet werden müssen. Die verschiedenen Verarbeitungsmodi und Formen
ihrer Legitimation finden ihren Ausdruck in je spezifischen biographischen Selbstbeschreibungen der Subjekte, die narrativ, mittels gesellschaftlich determinierten „Ready-MadeVerständlichkeiten (Kraus 2000, S. 169) dargestellt werden. Das biographische So-GewordenSein wird entlang der temporalen Struktur einer Geschichte aufgefächert und bedarf bezüglich seiner empirischen Erfassung eines entsprechenden methodischen Vorgehens. Das problemzentrierte Interview nach Witzel (1982; 1985) stellt meines Erachtens ein solchermaßen
geeignetes Erhebungsinstrument dar, da es mittels einer narrativen Einstiegsfrage die biographische Selbstbeschreibung des Subjektes hinsichtlich des empirisch interessierenden
Aspektes anregt.
38
Eine ausführlichere Darstellung des problemzentrierten Interviews als Erhebungsmethode
meiner Wahl erfolgt unter Punkt 3.1.4..
3.1.2 Hermeneutisches Verstehen und qualitativ-empirische Forschung
Grundannahme meiner Forschungsarbeit ist, dass sich objektive soziale Exklusionslagen in
den individuellen Deutungs- und Handlungsmustern sozial exkludierter Individuen niederschlagen und diese als biographische Selbstbeschreibungen mitteilbar sind. Ziel der vorliegenden Studie ist es deshalb, die subjektiven Deutungs- und Handlungsmuster von
Wohnungsflüchtern, anhand derer sie auf das Erleben ihrer objektiven Exkludiertheit reagieren, mit ihr umgehen und diese verarbeiten, ihrem Sinn entsprechend zu verstehen. Denn:
Soziales Handeln von Individuen geschieht nie ohne einen implizierten Sinnzusammenhang
und individuelle Handlungs- und Deutungsmuster sind immer mit subjektiven Bedeutungen,
mit Sinn verbunden. Diesen subjektiv gemeinten Sinn gilt es in meiner Arbeit deutend zu
verstehen. (Weber 1922). „Das Verstehen und Deuten ist die Methode, welche die Geisteswissenschaften erfüllt“ (Dilthey 1957, S. 205). Die metaphysische Methode des Verstehens
menschlichen Daseins wird als Hermeneutik bezeichnet (Duden 1990, S. 306). Die Hermeneutik widmet sich der Rekonstruktion des Sinns der sozialen Welt. Dabei muss sich das Verstehen am subjektiv gemeinten Sinn des Handelnden selber orientieren. In der vorliegenden,
hermeneutischen Forschungsarbeit führt dies zum Beispiel zu der Frage, welchen subjektiven Sinn Individuen in sozialen Exklusionslagen mit Wohnungsflucht verbinden.
Das Verstehen eines Gegenübers ist dabei immer Fremdverstehen, das der Interpretation
bedarf. Interpretationen erfolgen auf der Grundlage von Texten. Daseinsäußerungen müssen
hierfür in Schriftform vorliegen. Für die vorliegende Studie bedeutete dies, die narrative Darstellung subjektiver Handlungs- und Deutungsmuster von Wohnungsflüchtern in München
anhand problemzentrierter Interviews14 zu erheben, aufzuzeichnen und diese Tondokumente entlang klarer Transkriptionsregeln (Anhang) zu verschriftlichen und sie dadurch dem verstehenden und deutenden Nachvollzug des subjektiv gemeinten Sinns zugänglich zu machen.
Verstehen in diesem Zusammenhang soll „methodisch kontrolliertes Fremdverstehen“ sein
14
Siehe unter Punkt 3.4.4..
39
(vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1976). Dabei muss sich der wissenschaftliche Interpret seines eigenen Vorverständnisses bewusst sein und, um dem Kriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit zu genügen, dieses Vorverständnis bzw. Vorwissen in der Darstellung seines Untersuchungsdesigns explizit machen15 (vgl. Mayring 2002, S.111).
In der vorliegenden Arbeit soll die Sichtweise von exkludierten Menschen zu Wort kommen,
die subjektiven und sozialen Konstruktionen ihrer Welt. Damit steht das Subjekt und seine
Sichtweise der sozialen Wirklichkeit im Vordergrund der Untersuchung, was diese in die
Theorietradition des symbolischen Interaktionismus und der Phänomenologie, die den „subjektiven Bedeutungen und individuellen Sinnzuschreibungen nachgehen“ (Flick; Kardorff;
Steinke 2005, S. 18) stellt. Die „objektiven“ Lebensbedingungen werden für Individuen erst
durch die Zuschreibung subjektiver Bedeutungen relevant. Objektive Lebensbedingungen
kommen durch Individuen zur Sprache, werden erst durch diese zum Leben erweckt. Ansatzpunkt der Forschungsarbeit ist die Rekonstruktion der subjektiven Konstruktionen sozialer Wirklichkeit von Wohnungsflüchtern. Dieser Anspruch soll durch möglichst dichte Beschreibung (Geertz 1983) der jeweiligen subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen (Alltagstheorien, Biographien, etc.) und deren Verankerung in kulturellen Selbstverständlichkeiten
sowie Praktiken im lokalen (Sub-)Milieu eingelöst werden (Flick; Kardorff; Steinke 2005, S.
21).
Die dargestellten Grundannahmen der Studie machen ein qualitatives Forschungsvorgehen
notwendig, dessen Besonderheit in ihrer starken Subjektorientierung, ihrer Betonung der
Deskription und Interpretation, ihrer Forderung Subjekte in ihrer natürlichen, alltäglichen
Umgebung zu untersuchen und der Generalisierung der Ergebnisse als Verallgemeinerungsprozess liegen (Mayring 2002, S. 19). Als entscheidendes Prinzip qualitativer Forschung gilt
das ‚Prinzip der Offenheit’. Nur mit einem Höchstmaß an Offenheit ist es möglich Subjekte in
ihrer jeweiligen Lebenswelt aufzusuchen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und eine temporär begrenzte aber tragfähige Vertrauensebene zu schaffen, auf deren Basis überhaupt
erst gehaltvolle narrative Selbstbeschreibungen möglich sind, welche als Datengrundlage
wissenschaftlicher Re-Konstruktionen sozialer Wirklichkeit dienen können. Offenheit in diesem Sinne meint jedoch nicht die fehlgeleitete Annahme den Forscher als eine Art tabula
rasa ins Feld zu schicken. Sondern „>>Theoretische Vorstrukturierungen, auch Hypothesen,
15
Siehe die Punkte 3.1.3 und 3.2..
40
bleiben nach wie vor wichtiges Erkenntnismittel<<16, wobei zu jedem Zeitpunkt der Untersuchung >>Neufassungen, Ergänzungen und Revisionen sowohl der theoretischen Strukturierungen und Hypothesen als auch der Methoden möglich sind, wenn der Gegenstand dies
erfordert<<“ (Mayring 1993, S. 16 zit. n. Mey 1999, S. 127).
Da qualitative Forschung stark gegenstands-, situations- und milieuabhängig ist, lässt sie sich
nur sehr eingeschränkt standardisieren (Steinke 2005, 322). Nichtsdestotrotz sind auch für
diese Art der Forschung qualitative Standards zur wissenschaftlichen Absicherung notwendig. Nach Mayring (2002, S. 144ff.) sind folgende allgemein gültigen Gütekriterien qualitativer Sozialforschung zu nennen: Studien sollten eine Verfahrensdokumentation beinhalten,
um den Forschungsprozess für andere nachvollziehbar zu machen. Interpretationen sind
argumentativ und in sich schlüssig zu begründen (Argumentative Interpretationsabsicherung). Die einzelnen Arbeitsschritte des Forschungsvorhabens sollen systematisch aufeinander bezogen und regelgeleitet sein. Dies gilt sowohl für die Durchführung als auch für die
Auswertung der Studie (Regelgeleitetheit). Außerdem sollte qualitativ-interpretative Sozialforschung „möglichst nahe an der Alltagswelt der beforschten Subjekte anknüpfen“ (Mayring
2002, S. 146). Dafür war es notwendig, dass sich die Forscherin in die natürliche Lebenswelt
der Beforschten begab und ein offenes und gleichberechtigtes Verhältnis zwischen sich und
Beforschten herstellte (Nähe zum Gegenstand). Wichtig ist auch die mehrperspektivische
Erschließung des Phänomenbereichs, was durch unterschiedliche Erhebungsmethoden und
Datenquellen erreicht werden kann (Triangulation). Der Vollständigkeit willen soll abschließend die kommunikative Validierung aufgeführt werden, die in der vorliegenden Studie jedoch aufgrund des begrenzten Zeitrahmens keine Berücksichtigung fand. Ansonsten richtete
sich die vorliegende qualitativ-empirisch Studie nach den oben dargestellten „Standards“
qualitativer Sozialforschung aus.
3.1.3 Theoriegeleitete Sozialforschung
Offenheit als oberstes Prinzip qualitativer Sozialforschung darf nicht unberücksichtigt lassen,
dass der Forscher als Erhebungs-, Verstehens- und Erkenntnis“instrument“ gleichfalls immer
16
Siehe dazu Punkt 3.1.3 und 3.2..
41
schon ein sozialisatorisch „vorbelastetes“ Subjekt im Feld eigener Forschungsarbeiten ist.
Eine spezifische Neugierde, oder anders gesagt: ein spezifisches Erkenntnisinteresse, hat ihn
ja gerade zu in dieses spezielle Feld getrieben. Jedwede Konstitution einer Erhebung baut
auf dem Forschungsinteresse und dem, wie auch immer gearteten, Vorwissen des Forschers
auf. „Die in der qualitativen Methodologie gelegentlich zu findende Idealisierung der >>Unvoreingenommenheit<< des Forschers und der Vorstellung einer >>direkten<< Erfassung der
sozialen Realität sind (…) erkenntnistheoretisch nicht zu halten“ (Meinefeld 2005, S. 269).
Denn jede Wahrnehmung in einem sozialen, evtl. der forschenden Person fremden, Feld
geschieht immer im Rückbezug auf eigene Deutungsschemata und kann nur dadurch Bedeutung für den Forscher erlangen. Sein Vorwissen strukturiert alle seine Wahrnehmungen und
bildet so die Grundlage seines Forschens. Der Anspruch qualitativer Sozialforschung nach
größtmöglicher Offenheit kann folglich nicht in die Forderung münden, der Forscher habe
sein Vorwissen auszuschalten, um sich vollkommen unvoreingenommen auf seine Forschungsobjekte einzulassen. Viel mehr sollte es ihm daran gelegen sein, dieses Vorwissen zu
explizieren und damit einer kritischen Reflektion zugänglich zu machen. Nach Meinefeld
(2005) ist zwischen alltagsweltlichem Vorwissen, allgemein-theoretischen Konzepten, „die
zur grundlegenden Konstitution des Gegenstandes durch den Forscher beitragen“17 (ebenda,
S. 273) und gegenstandsbezogenen Konzepten, „die die Fokussierung auf bestimmte inhaltliche Aspekte des zu untersuchenden Forschungsthemas erlauben“ (ebenda, S. 273) zu unterscheiden. Letztere ermöglichen die Formulierung von ex-ante-Hypothesen18. Im Vorwissen
des Forschers wurzeln dessen Kategorien des Verstehens, auf deren Basis Fremdverstehen
überhaupt erst möglich ist. Vor Beginn einer Forschungsarbeit muss der theoretische Wissensstand der Wissenschaftscommunity zur Kenntnis genommen werden, um so überhaupt
erst Neues von bereits Bekanntem unterscheiden zu können. Durch diese theoretische Vorarbeit und darauf fußender Hypothesenbildung gelingt es die Gefahr extensiver Exploration
aller Aspekte eines Forschungsgegenstands und der damit rasch einhergehenden Überforderung der zeitlichen und personellen Ressourcen einer Forschungsarbeit, mittels konkreter
Selektionskriterien zu begrenzen (vgl. Hopf 1983).
Eine solchermaßen theoriegeleitete Sozialforschung sieht in der stärkeren „TheorieOrientierung im Prozeß qualitativer Forschung eine wichtige Voraussetzung für eine zielge-
17
Siehe Punkt 2..
18
Siehe Punkt 3.2..
42
richtete und ergiebigere Gestaltung der Erhebung und auch der Auswertung qualitativer
Daten“ (Hopf 1996, S. 9). Reflektieren des bereits bestehenden Vorwissens, Kenntnisnahme
des vorhandenen theoretischen Wissenstandes zum interessierenden Phänomenbereich,
Bildung von ex-ante-Hypothesen mittels derer die Interviewplanung, die Auswahl des Forschungssettings, die Auswahl der in die Untersuchung einzubeziehende Gruppe, wie auch
die Durchführung und Auswertung der Erhebung erfolgt, stellt eine sinnvolle Strukturierung
qualitativ-theoriegeleiteter Sozialforschung dar. Dem Anspruch nach Offenheit qualitativer
Forschung wird dabei Rechnung getragen durch die Wahl einer, zwar den Forschungsgegenstand strukturierenden, aber offenen Interviewmethode, die der freien Entfaltung narrativer
Darstellung subjektiver Sichtweisen, Deutungsmustern, Erklärungsansätzen und Strukturierungsprozessen hinsichtlich des interessierenden Phänomenbereichs seitens der Befragten
Raum lässt19. Darüber hinaus findet auch im Auswertungsprozess das Offenheitsprinzip Berücksichtigung. Im Rahmen der Auswertung werden die vorab entwickelten Hypothesen
entweder bestätigt, widerlegt oder die vorgefundenen Tatbestände machen eine Veränderung oder Erweiterung der bestehenden Hypothesen notwendig. Gleichzeitig besteht in diesem Prozess immer aber auch die Möglichkeit vollkommen neuer Ideen, die mit dem, was
vorab formuliert wurde, gar nichts zu tun haben müssen. Die Weiterentwicklung, Präzisierung und Revision von ex-ante-Hypothesen „kann eher zu neuen theoretischen Einsichten
führen als die konzeptions- und theorielose Auseinandersetzung mit Texten“ (Hopf 1996, S.
18) wie sie häufig im Zuge des „soziologischen Naturalismus“ (vgl. Hoffmann-Riem 1980)
propagiert wird. Um Missverständnissen vorzubeugen und notwendige Abgrenzungen vorzunehmen, um nicht einer quantitativen Hypothesenprüfung das Wort zu reden, ist darauf
hinzuweisen, dass „auf der Grundlage von Einzelfallanalysen keine generellen Zusammenhangshypothesen überprüft werden und ebenfalls nicht solche Hypothesen, die sich in historisch spezifizierender Weise auf Verteilungen und Zusammenhänge auf nationaler Ebene
beziehen. Was geleistet werden kann, ist die auf Einzelfälle bezogene Hypothesenprüfung –
sei sie auf einzelne Individuen, einzelne soziale Interaktionen – Gespräche, Rituale o. a. -“
bezogen (Hopf 1996, S.18).
19
Dem trägt die Erhebungsmethode des problemzentrierten Interviews Rechnung.
43
In der hier darzustellenden Forschungsarbeit wurden, rekrutierend auf den aktuellen Forschungsstand und die aktuelle Theoriediskussion zur Exklusionsthematik20 sowie einiger erkenntnistheoretischer
Leitgedanken21,
Hypothesen
über
den
interessierenden
Phänomenbereich gebildet. Diese Hypothesen22 stellten die Grundlage für Entwicklung des
eingesetzten Interviewleitfadens dar23.
3.1.4 Das problemzentrierte Interview - Darstellung und Begründung der Erhebungsmethode
Methodologische Vorüberlegungen im Rahmen qualitativer Sozialforschung dienen theoretisch-methodischen Reflexionen des Forschungsvorhabens und geben Orientierung in der
Methodenwahl. Die Stringenz wahrend bedeutet dies, die weiter oben diskutierten Aspekte
Offenheit, Theoriegeleitetheit, rekonstruierendes Sinnverstehen, Erfassen der subjektiven
Sichtweise und Realitätsverarbeitendes-Subjekt-Verständnis, sind in der Durchführung der
hier diskutierten qualitativ-empirischen Studie berücksichtigt worden und der Methodenwahl zu Grunde gelegt. Das Verfahren des ‚problemzentrierten Interviews’ (Witzel 1982;
1985) wird, meiner Meinung nach, diesem Anspruch gerecht. Andreas Witzel ist es gelungen
ein Interviewverfahren zu entwickeln, das der notwendigen Vermittlung zwischen bestehendem, theoriegeleitetem, Vorwissen und empirisch zu erwerbendem Wissen im Erhebungs-,
wie auch im Auswertungsprozess nachkommt. „Das problemzentrierte Interview (PZI) ist ein
theoriegenerierendes
Verfahren,
das
den
vermeintlichen
Gegensatz
zwischen
Theoriegeleitetheit und Offenheit dadurch aufzuheben versucht, dass der Anwender seinen
Erkenntnisgewinn als induktiv-deduktives Wechselspiel organisiert“ (Witzel 2000). Die Methode zielt darauf ab, individuelle Handlungen sowie subjektive Wahrnehmungen und Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Realität möglichst unvoreingenommen zu erfassen (Witzel 2000). In den subjektiven Interviewäußerungen der Befragten kommen auch gesellschaftlich vermittelte Relevanzstrukturen zum Vorschein. Das Verfahren verfolgt damit einen dop-
20
Siehe Punkt 2..
21
Siehe Punkt 3.1.1..
22
Siehe Punkt 3.2..
23
Siehe Anhang.
44
pelten Bezug: auf Subjekt und Gesellschaft (Schmidt-Grunert 1999, S. 41). Im Erhebungsprozess wird es dem Befragten durch die Anregung narrativer Erzählungen ermöglicht seine
subjektive Sichtweise und spezifischen Relevanzsetzungen hinsichtlich der untersuchten Tatbestände darzustellen (induktive Vorgehensweise). Der Interviewende seinerseits kann auf
Grund seines Vorwissens (im Sinne von sensiblisierenden Konzepten Blumer 1954), so wie
auf Grund der dargestellten Erzählungen ad-hoc-Fragen formulieren und ins Gespräch einfügen (deduktive Vorgehensweise). Dadurch entsteht ein dialogisch-diskursiver Gesprächsverlauf zwischen den Beteiligten, in dessen Verlauf die Orientierungen und Handlungen des
Befragten rekonstruiert und seine Deutungen ersichtlich werden. Die Verschränkung von
bestehendem und zu ermittelndem Wissen geht über die Erhebungsphase hinaus und betrifft den gesamten Forschungsprozess bis hin zur Auswertungsphase24.
Im Verfahren des Problemzentrierten Interviews werden drei Grundpositionen vertreten.
Der Aspekt der Problemzentrierung verweist einerseits auf die Orientierung des Verfahrens
an gesellschaftlich relevanten Problemstellungen und andererseits auf das Beibehalten des
Problemfokus während des gesamten Interviewverlaufs. „Der Interviewer nutzt die vorgängige Kenntnisnahme von objektiven Rahmenbedingungen der untersuchten Orientierungen
und Handlungen, um die Explikationen der Interviewten verstehend nachzuvollziehen und
am Problem orientierte Fragen bzw. Nachfragen zu stellen“ (Witzel 2000). Solchermaßen
ermöglicht es das problemzentrierte Interview dem Befragten sich mit bestimmten Fragestellungen hinsichtlich seines Lebens in systematisch, strukturierter Weise auseinander zu
setzen. Und ermöglicht so subjektive Prozesse der Selbstverständigung und Verhältnisreflexion. Die Gegenstandsorientierung hebt die Bedeutung der subjektiven Wirklichkeitssicht der
Befragten im Rahmen dieses Verfahrens hervor. Es geht um die Erfassung subjektiver Deutungsmuster „im Rahmen der individuellen Auseinandersetzung mit sozialer Realität“ (Witzel
2000). Dies erfordert in der Interviewsituation die unterschiedliche Eloquenz der Befragten
zu berücksichtigen und damit adäquat umzugehen. Zum Beispiel kann der Dialog durch vermehrte Narrationsanregungen oder stützendes Nachfragen gefördert werden. Gegenstandsorientierung bedeutet darüber hinaus aber auch den Einsatz unterschiedlicher Methoden
(Triangulation), um den interessierenden Forschungsgegenstand ganzheitlich erfassen zu
können. Innerhalb dieser Methodenkombination bildet das Interview jedoch das wichtigste
Forschungsinstrument. Prozessorientierung, als Letzte der Grundpositionen, verweist als
24
Zur Auswertung problemzentrierter Interviews siehe Punkt 3.5..
45
erstes auf die schrittweise Gewinnung und Prüfung von Daten im Forschungsprozess, als
zweites auf den Prozess der dialogischen Gestaltung der Interviewsituation und abschließend auf den Aspekt des historischen „Gewordenseins“ des befragten Individuums.
Witzel versteht das problemzentrierte Interview als ein Verfahren, das die subjektive Sichtweise der Untersuchten erfasst und dabei die biografischen Begründungszusammenhänge
der Individuen berücksichtigt (vgl. Witzel 1985). Im Mittelpunkt der Erhebung stehen qualitative Interviews, ergänzt durch die Instrumente: Kurzfragebogen, Interviewleitfaden, Tonbandaufzeichnung und Postskriptum25. Der Kurzfragebogen erhebt die Sozialdaten der Befragten. Der Leitfaden dient in der Feldvorbereitung, der Strukturierung des interessierenden Gegenstandsbereichs basierend auf dem bestehenden Vorwissen und während des Gesprächsverlaufs, als eine Art Hintergrundmatrix zur Gedächtnisstütze des Forschers. „In ihm
ist der gesamte Problembereich in Form von einzelnen thematischen Feldern formuliert,
unter die die in Stichpunkten oder in Frageform gefassten Inhalte des jeweiligen Feldes subsumiert sind“ (Witzel 1985, S. 236). Die Umsetzung der Leitfadenstruktur in konkrete Fragen
während des Interviewverlaufs wird jedoch dem Interviewer offen gelassen, damit auf die
Relevanzsetzungen des Interviewpartners eingegangen werden kann. Durch das interessierte
Nachfolgen der Sinnexplikationen der Befragten fühlen sich diese als Experten ihrer Lebenssituation ernst genommen und die möglichst eindeutige Rekonstruktion ihrer Handlungen
und Deutungen wird zunehmend zu ihrem eigenen Anliegen. D. h. das „Prinzip der
Theoriegeleitetheit (Leitfaden) wird durch eine offene Vorgehensweise ergänzt, die den Erkenntniszuwachs der Interviewer durch die Relevanzsetzungen seitens der Interviewpartner
ermöglicht“ (Witzel 1996, S. 57). Das gesamte Interview wird auf einem Tonband aufgenommen und nach der Erhebung vollständig transkribiert. Diese Daten stellen die Grundlage
für die Auswertung dar. Nach jedem Gespräch wird ein Postskriptum erstellt. In diesem hält
der Forscher Anmerkungen zum Ablauf des Interviews, besondere Vorkommnisse, inhaltliche Kernaussagen aber auch Brüche in der Darstellung fest. „Außerdem werden spontane
thematische Auffälligkeiten und Interpretationsideen notiert, die Anregungen für die Auswertung geben können“ (Witzel 2000). Während des Interviewverlaufs wird eine erzählungsgenerierende Kommunikationsstrategie verfolgt, die neben einer narrativen Einstiegsfrage, welche sich auf das interessierende Themengebiet bezieht, allgemeine Sondierungs-
25
Alle genannten Forschungsinstrumentarien sind im Anhang (CD) enthalten.
46
fragen, ad-hoc-Fragen und die Möglichkeit zu spezifischen Sondierungen durch Widerspiegelungen, Verständnisfragen und Konfrontationen enthält26.
Das problemzentrierte Interview ist das Erhebungsverfahren meiner Wahl, weil es zum einen
den Anforderungen qualitativer Sozialforschung gerecht wird. Zum anderen, weil durch seine Ausrichtung, auf die Erfassung individueller Handlungsstrukturen und Verarbeitungsmuster gesellschaftlicher Realität, der Forschungsfrage nach individuellen Verarbeitungsmustern
objektiver Exklusionslagen adäquat nachgegangen werden kann. Und darüber hinaus, das
Verfahren, meiner Meinung nach, besonders geeignet ist, um mit Wohnungsflüchtern in ein
biografisch ausgerichtetes aber themen- bzw. problemzentriertes Gespräch zu kommen,
ohne der Gefahr zu unterliegen, im Meer der mitgeteilten Lebensgeschichten orientierungslos zu ertrinken. „Diese Art des >>Geschichtenerzählens<< auf eingegrenzte Lebenspassagen
fängt biographisches Bewusstsein in der Sichtweise des betroffenen Erzählenden ein, das
typische Verlaufsmuster der Alltagsbewältigung enthält und sozioökonomische Lebenszusammenhänge in möglichen Schnittstellen zu biographisch psychosozial entwickelten Verarbeitungsformen durch die Betroffenen selbst aufdecken lässt“ (Schmidt-Grunert 1999, S. 41).
3.2 Forschungsleitende Hypothesen und Leitfadenentwicklung
Grundannahme der vorliegenden Forschungsarbeit:
Die Personengruppe der Wohnungsflüchter ist sozial exkludiert bzw. von sozialer Exklusion
gefährdet. Sie erfahren objektive Benachteiligungen in einem oder mehreren der Bereiche –
Arbeitsmarkt, Ökonomie, Kultur, soziale Nahbeziehungen, Raum und Institutionen. Als realitätsverarbeitende Subjekte müssen sich Wohnungsflüchter mit den inneren und äußeren
Anforderungen, die sich aus einer objektiven sozialen Exklusionslage ergeben, auseinander
setzen und diese, die eigenen Persönlichkeit formend, verarbeiten.
26
Bezüglich einer ausführlicheren Darstellung des methodischen Vorgehens sei auf die grundlegende
Literatur von Andreas Witzel zum problemzentrierten Interview (vgl. 1982, 1985, 2000; vgl. auch Mey
1999, S. 143ff.) verwiesen.
47
Die interessierende Forschungsfrage lautet, wie Individuen objektive soziale Exklusionslagen
individuell verarbeiten.
In diesem Zusammenhang stellen sich viele weitere Fragen: Welche Auswirkungen hat die
soziale Exklusion auf ihr Selbstbild, ihre Alltagsgestaltung und Handlungsspielräume? Welche
Deutungsmuster der eigenen sozialen Lage entwickeln sie? Wie sichern sie unter diesen Bedingungen Zugehörigkeit? Wie gestalten sie ihre Selbstperformance und wo verorten sie sich
selbst gesamtgesellschaftlich und wo von hängt das ab? Empfinden sie sich als sozial exkludiert? Welche Reaktionen ihrer Umwelt auf ihre soziale Exklusionslage nehmen sie wahr,
und wie gehen sie damit um?
Anhand der Personengruppe der Wohnungsflüchter sollen diese Fragestellungen untersucht
werden. Wohnungsflüchter können als sozial exkludierte Individuen angesehen werden, deren Exklusion im öffentlichen Raum sichtbar und damit gesellschaftlich erfahrbar wird. Sie
befinden sich überwiegend in einer mindestens prekären finanziellen Lage und halten sich
tagsüber auf öffentlichen Plätzen in München auf.
Als forschungsleitende Hypothesen sind zu nennen:
 Wohnungsflucht ist mit subjektivem Sinn verknüpftes soziales Handeln von Individuen, als eine Form der Verarbeitung ihrer sozialen Exklusionslage.
 Soziale Exklusionsprozesse finden ihren Niederschlag in den biographischen Selbstbeschreibungen der Individuen und können performativ dargestellt werden. Identität
wird narrativ entlang der Temporalstruktur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
konstruiert. Darin werden typische Handlungs- und Deutungsmuster der Individuen
sichtbar.
 Fehlende gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten (Erwerbsarbeit/ ökonomisch/ sozial/ kulturell) reduzieren die Handlungsspielräume von Exkludierten und schlagen sich
in deren individuellen Lebensgestaltung(-smöglichkeiten) nieder.
 Objektiv Exkludierte haben unterschiedliche Selbst- und Gesellschaftsbilder und können die gleiche soziale Lage unterschiedlich erleben und beurteilen.
48
 Auf individuell sichtbar werdende Exklusionsphänomene wird gesellschaftlich reagiert.
 Exkludierte müssen mit der Erfahrung gesellschaftlicher Reaktionen auf ihre objektive
Exklusionslage in einer je spezifischen Art und Weise umgehen.
Auf Grundlage der forschungsleitenden Hypothesen erfolgte die Entwicklung des Leitfadens.27
3.3 Stichprobenbildung
Eine empirische Studie zielt entweder auf die Inspektion oder die Exploration eines spezifischen sozialen Handlungsfeldes. Ziel der vorliegenden Studie war eine Inspektion. Vorkenntnisse bzgl. des Handlungsfeldes lagen auf Grund vorausgehendem Studiums der Akten und
Presseberichte vor, wodurch zu Beginn der Untersuchung bereits eine vorläufige Konstruktion des Forschungsfeldes möglich war (vgl. Merkens 2005, S. 295).
Bei der Stichprobenbildung dieser Erhebung wurde von folgenden theoretischen Vorüberlegungen ausgegangen: Als Merkmale sozialer Exklusion werden wirtschaftliche Armut, geringe oder fehlende soziale Nahbeziehungen und fehlende bzw. eingeschränkte Möglichkeiten
gesellschaftlicher Teilhabe verbunden mit einer geringen bis fehlenden institutionellen Anbindung ans institutionelle Hilfesystem beschrieben. Diese Merkmale dienten als Auswahlkriterien für die Untersuchungsgruppe. Als Wohnungsflüchter gelten Personen, die sich trotz
eigener Wohnung tagsüber auf öffentlichen Plätzen aufhalten und dort in der Regel Alkohol
konsumieren. In der Mehrzahl sind sie durch soziale und wirtschaftliche Einschränkungen an
der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt. Dazu gehören insbesondere Vereinsamung aufgrund fehlender Kontakte im sozialen Umfeld und eine prekäre finanzielle Lage.
(siehe auch Merkens 2005, S. 287).
27
Siehe Anhang auf beiliegender CD.
49
Der Zugang zur Personengruppen der Wohnungsflüchter wurde auf direktem, persönlichem
Wege gesucht. Ein Einstieg ins Untersuchungsfeld mittels Schlüsselpersonen, wie etwa
Streetworker der Obdachlosenhilfe der Inneren Mission (Projekt ‚Streetwork im Gemeinwesen’), wurde ausgeschlossen, da eine sozialpädagogische Präjudizierung der anschließenden
Kommunikation mit Wohnungsflüchtern vermieden werden sollte. In jedem sozialpädagogischen Setting schwingt immer der gesellschaftliche Auftrag und damit die Intention zur
normkonformen Verhaltensänderung mit. Ich wollte, dass mein Zugang zum Forschungsfeld
frei war von jedweden möglichen Vorbeurteilungen meiner Person und meines Handelns im
Feld. Die Intention des Verstehens war der Grund meiner Annäherung, und nichts anderes.
Mit dem Bewusstsein nicht als Richter, sondern als Zeuge (Girtler 2004) zu kommen, näherte
ich mich dem Forschungsfeld.
Bei der räumlichen Auswahl meines Forschungsfeldes achtete ich darauf, dass der ausgewählte Wohnungsflüchtertreffpunkt weder der Stadtverwaltung verwaltungsrechtlich, noch
der Polizei ordnungsrechtlich bekannt war. Ich wollte vermeiden, dass das Bild, welches die
Wohnungsflüchter von ihrer eigenen Wahrnehmung durch die gesellschaftliche Umwelt hatten, bereits als öffentliches soziales Problem vordefiniert war. Aus diesem Grunde entschied
ich mich meine Erhebung im Freizeitpark an der Weißenseestrasse im München, Stadtteil
Giesing, zu machen. Im Vorfeld meiner Studie hatte ich dort zufällig immer wieder Leute
beobachtet, die sich an diesem Platz allem Anschein nach regelmäßig trafen und öffentlich
Bier tranken. Nach Aktenstand war diese Gruppe bis dato noch nicht verwaltungs- oder ordnungsrechtlich öffentlich in Erscheinung getreten.
Durch die Art des Zugangs zur Untersuchungsgruppe und der zeitlichen Limitierung meiner
Arbeit wurde die Auswahl der Interviewpartner u. a. auch über das Kriterium der Zugänglichkeit (und freiwilligen Interviewbereitschaft) konstituiert (vgl. Merkens 2005, S. 288), was
zu einer Erhebungsgröße von sechs Interviews führte. Da ein bestimmter Handlungsbereich
durch relativ wenige strukturelle Muster (s.o.) beschreibbar ist (Fuchs-Heinritz 2005, S. 241),
wurde bei der Auswahl der Fälle eine maximale Variation des anvisierten Phänomenbereichs
angestrebt.
50
3.4 Durchführung der Untersuchung und Datenerhebung
In meiner Forschungsarbeit konzentrierte ich mich auf die Frage, wie Menschen soziale Exklusionslagen verarbeiten (Forschungsfrage). Dafür wurden, als Kernpunkt der Untersuchung, sechs problemzentrierte Interviews (n. Witzel) mit Wohnungsflüchtern in München
(Forschungsgegenstand) geführt.
Wenn man „das Handeln von Menschen, ihre Alltagspraxis und Lebenswelt empirisch untersuchen will, hat (man) im Prinzip zwei Möglichkeiten: Man kann mit den Beteiligten Gespräche über ihr Handeln führen und entsprechende Dokumente sammeln in der Hoffnung, auf
diese Weise gehaltvolle Informationen über die interessierende Praxis zu erhalten. Oder
man sucht nach Wegen und Strategien, an dieser Alltagspraxis möglichst längerfristig teilzunehmen und mit ihr vertraut zu werden, um sie in ihren alltäglichen Vollzügen beobachten
zu können.“ (Lüders 2005, S. 384). Um ein möglichst umfassendes Bild und tieferes Verständnis von der Lebenssituation von Wohnungsflüchtern und der darin stattfindenden Verarbeitungsmodi zu erhalten, habe ich beide methodischen Herangehensweisen an das zu
untersuchende soziale Phänomen genutzt, wobei, der Schwerpunkt meiner Datenerhebung
auf problemzentrierten Interviews lag.
Auf Grund der notwendigen Begrenzung der Zeit und des Umfangs der Arbeit können das
erhobene Bild und das hieraus entwickelte Verständnis nicht abschließend sein. Viel mehr
gestatten sie erste Einblicke in die zur Diskussion stehende Thematik.
Einen ersten Eindruck von der Lebenssituation von Wohnungsflüchtern verschaffte ich mir
durch die Sichtung verschiedener Unterlagen zur aktuellen Situation von Wohnungsflüchtern
in München und der gesellschaftlichen sowie verwaltungs- und ordnungsrechtlichen Reaktion auf diese Personengruppe. Hierzu wurde die lokale Berichterstattung der Süddeutschen
Zeitung von August 2008 bis Juli 2009 verfolgt und eine Internetrecherche zur Thematik
durchgeführt. Diese Unterlagen vermittelten einen ersten Eindruck von der gesellschaftlichen, kommunalpolitischen und verwaltungsrechtlichen Außenwahrnehmung und Reaktion
auf das Phänomen der Wohnungsflucht in München.
51
Um die Lebenssituation von Wohnungsflüchtern quasi von innen her kennen- und verstehen
zu lernen begab ich mich anschließend ins ‚Feld’. Dazu suchte ich als erstes zwei Treffpunkte
von Wohnungsflüchtern in München, Stadtteil Giesing, auf, um mir ein Bild von der Geographie der Plätze „auf und in denen sich das Leben abspielt“, zu machen28 (vgl. Girtler 2004).
Im Rahmen dieser ethnographischen Annäherung ans Feld konnten an einem der Plätze bereits erste Kontakte zu Wohnungsflüchtern geknüpft und erste Bereitschaftsbekundungen zu
Interviews eingeholt werden.
Als ethnographisch bezeichne ich diesen Zugang zum Feld deshalb, weil es sich bei der sozialen Gruppe der Wohnungsflüchter um eine mir fremde (Sub-)Kultur handelt, der ich als
Fremde in der eigenen Kultur und Gesellschaft gegenüber stehe. Dieses Fremdheitspostulat
wird nicht nur in der Kulturanthropologie und klassischen Ethnologie sondern auch in der
soziologischen Ethnologie eingesetzt, als Grundlage für Milieuerschließungen innerhalb der
eigenen Kultur (Lamnek 2005, S. 549). „Im Zentrum der ethnographischen Neugierde steht
(…) die Frage, wie die jeweiligen Wirklichkeiten praktisch >erzeugt< werden; es geht (…) um
die situativ eingesetzten Mittel zur Konstitution sozialer Phänomene aus der teilnehmenden
Perspektive“ (Lüders 2005, S. 390). „Die (teilnehmende) Beobachtung soll es ermöglichen,
wissenschaftlich abgesichert fremde (Sub)Kulturen zu verstehen. Das Fremdverstehen ist
Voraussetzung und Methode der Beobachtung“ (Lamnek 2005, S. 552). Um diesem Anspruch
gerecht zu werden, haben, nach ersten Zugängen ins Feld, längerfristige teilnehmende Beobachtungen des sozialen Geschehens an einem Treffpunkt von Wohnungsflüchtern in München stattgefunden (siehe Punkt 3.3).
Den Schwerpunkt der Datenerhebung und –auswertung bilden in der vorliegenden Arbeit
jedoch problemzentrierte Interviews, deren Ziel es ist Verarbeitungsformen gesellschaftlicher Realität verstehend nachzuvollziehen (Witzel 1985). Die Ergebnisse der Dokumentensichtung und teilnehmenden Beobachtungen hingegen steuern wichtiges Kontextwissen, vor
allem auf gesellschaftlicher Ebene bei, und dienen der Ergänzung und Vervollständigung der
Interviewaussagen. Im Rahmen der Datenerhebung findet damit eine Kombination verschiedener qualitativer Erhebungsverfahren statt.
28
Ethnographischer Zugang zum Feld siehe unter Punkt 3. 4.2..
52
3.4.1 Aktenstudium
„Der Forscher sollte sich durch entsprechende Vorarbeit bspw. Literaturstudium, Dokumentenanalyse und Ähnliches, ein gewisses Vorwissen über den zu untersuchenden Objektbereich schaffen“ (Lamnek 2005, S. 579). Um einen ersten Eindruck gesellschaftlicher Reaktionen auf das soziale Phänomen der Wohnungsflucht zu erhalten, beschäftigte ich mich im
Vorfeld meiner Untersuchung mit Berichten von Streetworkern (Projekt ‚Streetwork im Gemeinwesen’ und ‚Teestube Komm’), Zeitungsberichten, Aktenvermerken der Stadtverwaltung, Bezirksausschussanträgen, Anträgen von Stadtratsfraktionen, Stellungnahme der Sozialverwaltung, Beschlüsse des Gesundheits- und Krankenhausausschusses, und dergleichen
mehr. Diese Informationen entnahm ich einer lokal begrenzten Internetrecherche zur interessierenden Thematik in München.
In der Vergangenheit war es in München immer wieder zu Beschwerden seitens der Anwohner verschiedener öffentlicher Plätze gekommen, die sich von den sich dort aufhaltenden
Personen belästig fühlten. Bei den Personen handelte es sich zum Einen um so genannte
Wohnungsflüchter und zum Anderen um Obdachlose und des Weiteren um Drogen konsumierende Personen. Die verschiedenen Personengruppen vermischten sich meist nicht. Vor
allem zur Gruppen der Drogenkonsumierenden hielten beide anderen Gruppierungen Distanz. Diese hielt sich überwiegend an großen Plätzen auf, die an Verkehrsknotenpunkten
lagen, während die Gruppe der Wohnungsflüchter sich vorrangig an Plätzen aufhielt, die in
der Nähe ihres Wohnumfeldes lagen. Anstoß der Verärgerung war der umfangreiche Alkoholkonsum der Wohnungsflüchter und das daraufhin erfolgende zum Teil distanzlose Verhalten gegenüber Passanten (Pöbeln) bzw. zum Teil aggressive und lärmende Verhalten der
Gruppenmitglieder untereinander.
Zum Zeitpunkt meiner Erhebung waren im Bereich Verwaltungs- und Ordnungsbehörden
bisher insgesamt 19 unterschiedliche Verwaltungs-, sozialpädagogische, ordnungsrechtliche
und politische Einheiten mit der als öffentliche Problematik definierten Situation der zunehmenden Wohnungsflucht eine bestimmten Bevölkerungsgruppe in München beschäftigt
gewesen. Vor sieben Jahren war das Projekt „Streetwork im Gemeinwesen“ in Trägerschaft
des Evangelischen Hilfswerkes gGmbH mit dem Ziel gegründet worden, Menschen, sie sich
trotz vorhandener Wohnung auf der Straße treffen und dort in Gruppen Alkohol konsumieren, ein Kontakt- und Beratungsangebot zu machen bzw. sie an geeignete Hilfeangebote zu
53
vermitteln. Im Sommer 2007 wurde das Süddeutsche Institut für empirische Sozialforschung
vom Sozialreferat der Landeshauptstadt München beauftragt, die Effektivität dieses Projektes zu evaluieren und eine Kosten-Wirkungs-Abschätzung vorzunehmen. Die Ergebnisse dieser Evaluationsstudie lagen bei Beendigung meiner Erhebungen noch nicht vor.
3.4.2 Ethnographischer Zugang zum Feld
Forschungsfelder sind „natürliche soziale Handlungsfelder“, wie z. B. öffentliche Orte, Gruppen, soziale Milieus oder Szenen (Wolff 2005, S. 335). Bei jedem Zugang zu einem Feld muss
der Forscher sich überlegen, wie „er sich selbst im Verhältnis zum Feld so positionieren kann,
dass die sachlichen, zeitlichen und sozialen Rahmenbedingungen für eine sachgerechte
Durchführung der geplanten Forschungsarbeit gewährleistet oder zumindest seine entsprechenden Handlungsmöglichkeiten nicht entscheidend eingeschränkt sind“ (Wolff 2005, S.
336).
Im Rahmen meiner Forschungsplanung hatte ich mich dazu entschieden, einen direkten Zugang zum Feld zu suchen. Meine erste Kontaktaufnahme zum Forschungsfeld war für den 6.
August. 07 vorgesehen. Mein Ziel für diesen Tag war es, Kontakt zu der Gruppe im Freizeitpark an der Weißenseestrasse herzustellen, sie zu Interviews mit mir in der Woche vom 20.8
– 24.8.2007 zu motivieren und bereits Interviewtermine zu vereinbaren. Der Zeitrahmen für
die Datenerhebung meiner Magisterarbeit war, aus organisatorischen Gründen, auf eine
Woche begrenzt. Für den Zugang zum Feld und die Kontaktaufnahme zu den
Wohnungsflüchtern stand mir nur dieser eine Tag zur Verfügung.
Ich fuhr um 14.00 Uhr mit einem alten Fahrrad zum Treffpunkt im Park an der Weißenseestraße, konnte dort aber leider niemanden antreffen. Stattdessen bot sich mir die Gelegenheit den Platz in Ruhe zu inspizieren: Der Treffpunkt umfasste drei massive Holztische, mit
dazu gehörenden Sitzbänken und lag am Rande eines großen Parks, der durch Büsche und
Bäume parzelliert war. Der Treff selbst wirkte sehr aufgeräumt. In den angrenzenden Büschen befanden sich ein alter Grill, ein zerrissener Ball, leere Wasserflaschen aus Plastik und
54
eine Gartenhacke, wie man sie zum Unkraut jäten verwendet. Weder Zigarettenkippen, noch
Kronekorken oder Flaschen verunzierten den Platz.
Nach dem mein erster Anlauf, Kontakt zu Wohnungsflüchtern aufzubauen vorerst gescheitert schien, entschloss ich mich, stattdessen zum nahe gelegenen Giesinger Bahnhofsplatz zu
fahren, einem Platz, der öffentlich als Wohnungsflüchtertreffpunkt bekannt war. Hier bot
sich mir die Gelegenheit, mich mittels verdeckter, unstrukturierter Beobachtung (Lamnek
2005) langsam dem Milieu der Wohnungsflüchter anzunähern und erste unstrukturierte Beobachtungen im Feld vorzunehmen. Bei der verdeckten, oder auch „nicht-teilnehmenden
Beobachtung wird das Feld quasi von außen durch den Forscher (…) beobachtet“ (Lamnek
2005, S. 565). Eine Interaktion mit dem Feld findet dabei nicht statt (ebenda, S. 562). Erste
Schritte also in Richtung Verstehen des sozialen Phänomens Wohnungsflucht.
Um 18.00 Uhr fuhr ich abermals mit meinem Fahrrad zum Treffpunkt im Park an der Weißenseestrasse. Am Platz hielten sich zu diesem Zeitpunkt etwa 8 Personen mit 3-4 Hunden
auf. Auf den Tischen standen mehrere Bierflaschen. Ich ging langsam auf die Gruppe zu und
fragte beim vorsichtigen Näherkommen, ob ich sie kurz etwas fragen könnte. „Kommen sie
nur näher, kommen sie nur rin, junge Frau – wo geht’s hier denn wohl nach Panko“ meinte
ein junger Mann aus der Gruppe, und winkte mich heran. Ich legte dem Mann, der sich später als ‚Jürgen’ herausstellte, mein Anliegen dar29. Er hörte mir aufmerksam zu und auch die
um ihn sitzenden Männer und Frauen zeigten Interesse. Es entspann sich ein Gespräch, in
dessen Verlauf ich mein Interesse für ihren Treffpunkt und das damit verbundene Anliegen
ausführlicher darlegen konnte und die anwesenden Personen mir ihrerseits erste Auskünfte
über ihren Treffpunkt und die Entwicklung des Parks im Allgemeinen mitteilten. Gleich zu
Beginn wurde von allen Beteiligten auf die Besonderheit ihrer Gruppe hier hingewiesen30. Im
Laufe meiner Anwesenheit füllte sich der Platz zunehmend. Zur Hochzeit hielten sich ca. 15
Personen und viele Hunde dort auf. Mein Anliegen wurde von einem zum anderen weiter
getragen, so dass alle in kürzester Zeit von mir und meinem Interesse hier wussten. Maßgeblichen Einfluss darauf nahm wiederum ‚Jürgen’, der mich auch anfangs angesprochen hatte.
29
Der genaue Inhalt dieser Vorinformation kann gleichnamiger Datei der beiliegenden CD unter An-
hang entnommen werden.
30
Siehe: Die Gruppe im Park 4.1..
55
Er verteilte die Information. Zwei Personen erklärten sich dann auch zu einem Interview bereit. Eine von ihnen war ‚Jürgen’. Handynummern wurden ausgetauscht und vereinbart, dass
ich mich am Wochenende vor der Interviewwoche bei ihnen melde, um Termine für die Interviews zu vereinbaren.
Bereits bei diesem ersten Treffen am Platz wurde von allen Gesprächspartnern ‚Hubert’ als
wichtigster Mann am Platz benannt, den ich auf jeden Fall auch einmal interviewen sollte.
Hubert zeigte sich der Interviewsituation gegenüber skeptisch, war jedoch von Anfang an im
lockeren Gespräch sehr offen und mitteilsam. Seine Einwilligung zu einem Interview wollte
er aber noch nicht geben, sondern sich die Sache erst einmal in Ruhe anschauen. Vorher
sollte ich meinen Einstand in der Gruppe zahlen und beim nächsten Mal einen Kasten Bier
mitbringen. Dann würden wir weitersehen.
Beim Übergang in das Forschungsfeld erfolgen vielfältige Weichenstellungen hinsichtlich der
eigenen Positionierung im Feld. „Wie man sich selbst einführt und vorstellt, wie man von
Schlüsselpersonen den Teilnehmern im Feld vorgestellt wird, wie man dann später selbst
>mitspielt<, sind Stationen und Prozesse, an denen die Position des Ethnographen im Feld
der vorhandenen Beziehungen ausgehandelt und definiert wird“ und „die Art und Weise wie
man Zugänge gewinnt, (spiegelt) meistens schon zentrale Charakteristika des Feldes (wider)“. Diesen Aussagen Lüders (2005, S. 392) kann ich auf Grund meiner eigenen Erfahrungen nur zu stimmen: Jürgen und Hubert blieben, in unterschiedlicher Weise, während der
gesamten Erhebungsphase wichtige Kontaktpersonen für mich in der Gruppe. Sie stellten
Beziehungen her und motivierten andere sich interviewen zu lassen. Über sie liefen viele
Gesprächseinstiege zu mir noch fremden Personen am Platz. Gleiches galt für meine Rolle als
forschend, interessierte, Anteil nehmende Studentin. Auch der Aspekt des Besonderen im
Bezug auf ihre Gruppe an diesem Platz wurde während der gesamten Erhebungsphase aus
den unterschiedlichen Blickwinkeln immer wieder thematisiert.
Am Ende des 6. August. 2007 war der erste Einstieg ins Feld geschafft. Der Gruppe im Park
an der Untersbergstrasse war ich als Studentin bekannt, die mit einigen von ihnen Interviews
führen wollte, damit sie ihre Abschlussarbeit schreiben und damit endlich ihr Studium beenden könnte. Ich hatte ganz bewusst meinen Status als Studierende hervorgehoben, als eine
noch nicht alles Wissende, sondern noch neugierig Fragende, die auf die Unterstützung sei56
tens der Wohnungsflüchter angewiesen ist (= meine Rolle im Feld). Mein Anliegen trug ich in
Form einer Bitte an die Wohnungsflüchter heran, als Zeichen meines Respekts und meiner
Achtung vor den jeweiligen Personen. Befehle, Aufforderungen und dergleichen machen
eine Hierarchie auf und verlaufen von oben nach unten. Eine Bitte erfolgt auf gleicher Ebene.
3.4.3 Teilnehmende Beobachtung
Die teilnehmende Beobachtung ist eine flexible, methodenplurale und kontextbezogene
Erhebungsstrategie (Lüders 2005, S. 389), deren Wurzeln in der Ethnographie liegen. Ihr
maßgebliches Kennzeichen ist ihr „Einsatz in der natürlichen Lebenswelt der Untersuchungspersonen“ (Lamnek 2005, S. 547). Ziel ist es ein Verständnis für das soziale Handeln in einer
dem Forscher fremden (Sub-)Kultur zu entwickeln. Gegenstand der Beobachtung ist folglich
das soziale Handeln von Individuen in ihrer jeweiligen natürlichen Lebenswelt. „Individuelles
wie kollektives soziales Handeln und Verhalten tritt immer im Kontext gesellschaftlich definierter Situationen auf. (…) Deshalb gehört zum Beobachten notwendigerweise das Verständnis oder die zutreffende Interpretation des subjektiven Sinns und der sozialen Bedeutung einer bestimmten Handlung oder Verhaltenssequenz“ (Mayntz et al., 1974, S. 87).
Die Durchführung einer teilnehmender Beobachtung im Feld ist insbesondere mit drei
Schwierigkeiten verbunden: 1. die Zugangsproblematik am Anfang, also die Frage wie bekomme ich Zugang zum jeweilig interessierenden Beobachtungsfeld. 2. Der prekäre Mitgliedschaftsstatus des teilnehmenden Beobachters während der Erhebung. Der Forscher
steht während der gesamten Erhebungsphase vor der Aufgabe, eine Balance zwischen Engagement und Solidarität für das Beobachtungsfeld einerseits und einer kritischen, am wissenschaftlichen Standard orientierten, reflektierten Vorgehensweise im Feld andererseits aufrecht zu erhalten. Und als 3. Schwierigkeit gilt es nach Abschluss der Erhebungsphase wieder
einen guten Ausstieg aus dem Untersuchungsfeld zu finden (Lamnek 2005, S. 600).
In der Untersuchungswoche, vom 20.08 – 24.08.2008, hielt ich mich jeden Abend ab ca.
17.00 Uhr am Treffpunkt im Freizeitpark an der Weißenseestrasse in München, Stadtteil Giesing auf. Am ersten Abend wurde ich bereits aus der Ferne von Hubert mit „Ah, da kommt ja
wieder unsere Frau Professor“ begrüßt. Und als nächstes „Hast Du Deinen Einstand (= Bier)
57
dabei?“. Diesen brachte ich tags darauf mit, denn „du sollst einigermaßen nach jenen Sitten
und Regeln leben, die für die Menschen, bei denen du forschst, wichtig sind. Dies bedeutet
(auch) die Achtung ihrer Regeln“ (Girtler 2004). Da es sich beim Weg ins Feld um eine nie
abgeschlossene Arbeitsaufgabe handelt, die immer nur kooperativ mit den vermeintlichen
>>Objekten<< der Forschung vollzogen werden kann (Wolff 2005, S. 336), war ich an diesem
ersten Abend sehr erleichtert festzustellen, dass ich auf die Beziehungs- und Vertrauensaufbauarbeit meines Feldzugangstags vor zwei Wochen zurückgreifen konnte und die Basis für
meine Erhebung Bestand hatte. Denn der Erfolg oder Misserfolg einer Studie hängt maßgeblich davon ab, inwieweit es dem Forscher gelingt, ein gutes Entree zum Feld, d. h. zu der ihn
interessierenden Personengruppe zu bekommen (Lamnek 2005, S. 601). Entscheidend dafür
ist der Aufbau von Vertrauen.
Während der Erhebungsphase führte ich mit den verschiedensten Personen am Platz Gespräche und beobachtete das Treiben und Handeln vor Ort. Nach Abschluss eines jeden Erhebungstages protokollierte ich meine Beobachtungen und Interaktionen in ein Forschungstagebuch. Der inhaltliche Fokus lag dabei auf den Fragen: „Wie kam die jeweilige Person in
die Gruppe der Wohnungsflüchter“? „Wie kam es zu diesem speziellen Treffpunkt?“ „Gibt es
eine spezifische Entwicklung und/oder Geschichte des Parks?“. „Was macht dieses ‚Besondere’ der Gruppe aus, welches von den Mitgliedern immer wieder hervorgehoben wird?“
„Welche Gründe für die regelmäßige Anwesenheit gibt es?“ „Welche Aussagen trifft die Person über sich selbst“? Also die performative Seite der Frage „Wer bin ich?“ „Was macht die
Person, wenn sie sich nicht am Platz aufhält?“ Und des Weiteren: „Wie reagieren die Passanten, wenn sie hier vorbeikommen?“ und „Wie gehen sie selbst damit um?“. Die gedankliche
Vorstrukturierung meines Erkenntnisinteresses durch die forschungsleitenden Hypothesen,
diente mir zur Reflexion meines Erkenntnisinteresses sowie meines Vorwissens und damit
der Objektivierung meiner Beobachtungen. Grundsätzlich stand ich dem Gespräch jedoch
offen gegenüber und überlies die Interaktion dem spontan entstehenden Gesprächsverlauf.
Im Rahmen eines qualitativen Forschungsansatzes erfolgt die teilnehmende Beobachtung in
der Regel unstrukturiert (Lamnek 2005, S. 566), wobei auf Vorab-Annahmen und Hypothesen nicht völlig verzichtet werden muss, da qualitatives Forschen keineswegs unsystematisch
und konzeptlos sein muss, um variabel, flexibel und offen zu arbeiten (ebenda, S. 571). Bei
den Gesprächen am Platz zeigte sich eine gewisse Ausgewogenheit des Gebens und Nehmens an Informationen von Bedeutung. Um diese Ausgewogenheit herzustellen, präsentier58
te ich mich nicht nur als die Fragende, sondern auch als die von sich Erzählende. Girtler
schreibt dazu in seinen 10 Geboten der Feldforschung, man soll „die Muße zum >>eroepischen (freien) Gespräch<< aufbringen. Das heißt, die Menschen dürfen nicht als bloße
Datenlieferanten gesehen werden. Mit ihnen ist so zu sprechen, dass sie sich geachtet fühlen. Man muß sich selbst als Mensch einbringen und darf sich nicht aufzwingen“ (Girtler
2004). Eine weitere Aufgabe, die sich dem beobachtenden Forscher im Feld stellt, ist die der
methodisch kontrollierten Rollenübernahme. Meine Rolle am Platz war die der jungen Forscherin, die offen beobachtend am sozialen Geschehen am Platz teilnahm. Meine Position
als neue, zeitlich begrenzte Gruppenteilnehmerin (Teilnahme nicht Mitgliedschaft) war akzeptiert. Bei einsetzender Dunkelheit (ca. 21.00 Uhr), oder wenn Hubert im zunehmend betrunkenen Zustand anfing mich als ‚sein Schätzelchen’ zu betitulieren, verlies ich den Platz.
Am Ende der Woche inszenierte ich bewusst meinen Ausstieg, bzw. Abschied von der Gruppe. War der Einstieg ins Milieu mit der Währung der Wohnungsflüchter, einem Kasten Bier,
bezahlt worden, zahlte ich den Ausstieg mit meiner Münze: selbstgebackenem Käsekuchen
mit Kirschen. Anfangs zwar belächelt, dann aber gerne genommen.
3.4.4 Problemzentrierte Interviews mit Wohnungsflüchtern
Im Zeitraum vom 20.08.2007 bis 24.08.2007 wurden 6 Interviews mit Wohnungsflüchtern in
München, Stadtteil Giesing, durchgeführt. Die Datenerhebung musste, aus organisatorischen
Gründen, auf einen Zeitraum von einer Woche begrenzt werden, da ich neben meinem Studium voll berufstätig bin und für die Interviewphase Urlaub nehmen musste. Alle Interviews
fanden im Park an der Weißenseestrasse statt.
Bei dem ersten Interview der Erhebung konnte auf den Kontakt aus den Vorgesprächen am
06. August. 07 zurückgegriffen werden. Alle weiteren Interviewpartner konnten im Laufe der
Woche aus der Gruppe im Freizeitpark an der Weißenseestrasse rekrutiert werden.
Zum Interview selbst setzte ich mich mit meinem jeweiligen Gesprächspartner außer Hörund z. T. Sichtweite der restlichen Gruppenmitglieder auf eine Bank im Park, um für die folgende Interviewsituation ein gewisses Maß an Ungestörtheit und Anonymität auch gerade
59
gegenüber den anderen Personen am Platz zu ermöglichen. Gleichzeitig sollte jedoch der
räumliche Bezug zum Platz im Park, und damit zur Lebenssituation im Park, möglichst direkt
erhalten bleiben. Außerdem erhöhte allem Anschein nach die räumliche Nähe zu den anderen und dem Platz im Park, die Bereitschaft sich auf die Interviewsituation einzulassen. Die
Interviews dauerten etwa 1-2 Stunden und wurden problemzentriert anhand des von mir
entwickelten Leitfadens durchgeführt. Die gesamten Interviews wurden mit einem Aufnahmegeräte aufgezeichnet. Vor den Interviews informierte ich meine Gesprächspartner noch
mal über den Zweck des Interviews (Forschungsarbeit als Grundlage für meine Magisterarbeit), über die anonyme Verwendung ihrer Aussagen und um welches Thema es bei unserem
Gespräch konkret gehen soll. Jedes Interview wurde mit der narrativen Einstiegsfrage: „Beginnen wir doch damit, dass Sie mir erzählen, wie es in Ihrem Leben dazu gekommen ist, dass
Sie sich regelmäßig auf dem Platz hier aufhalten? Erzählen Sie einfach mal wie es dazu kam,“
begonnen. Im Interviewverlauf diente mir der Leitfaden als Orientierungsrahmen bzw. Gedächtnisstütze. Im Mittelpunkt des Interviews stand der vom Interviewpartner entwickelte
Gesprächsfaden (vgl. Witzel 1985). Diese storyline wurde durch die narrative Einstiegsfrage
angeregt und gleichzeitig durch diese auf die interessierende Thematik ausgerichtet. Diese
Thematik stellte den Rahmen des Interviews dar, in welchem die Person ihre Erzählung frei
entfalten konnte. Die weiteren Ausführungen zu den einzelnen Problemfeldern wurden
gleichfalls mit einer narrativen Einstiegsfrage angeregt. Erschien mir ein Sachverhalt von
besonderem Interesse für die Detaillierung der angesprochenen Problemfelder, so ging ich
darauf ein und versuchte durch Anregung von Erfahrungsbeispielen oder durch gezieltes
Nachfragen (z. B. „Was passierte da im Einzelnen?“ „Woher wissen Sie das?“ „Was sagten
die anderen dazu?“) den Interviewten zu einer ausführlicheren Darstellung anzuregen (=
allgemeine Sondierung). Spezifische Sondierungsfragen dienten im Interviewverlauf der Verständnissicherung des Erzählten. Mittels ad-hoc-Fragen wurde in geeigneten Phasen des
Interviews auf Themengebiete eingegangen, die Rahmen der Narration des Interviewten
noch nicht angesprochen wurden, jedoch für die Untersuchung von Bedeutung waren.
Nach Abschluss des Interviews wurde jeder Gesprächspartner gebeten einen soziodemografischen Kurzfragebogen auszufüllen31. Anders als von Witzel (1985) vorgeschlagen, dieser
empfahl das Ausfüllen des Kurzfragebogens als eine Art Hinführung auf die Thematik, hatte
ich mich entschlossen, den Kurzfragebogen erst im Anschluss an das Interview ausfüllen zu
31
Siehe Anhang.
60
lassen. Grund dafür war, dass bereits in den Vorgesprächen, spätestens jedoch durch die
teilnehmende Beobachtung am Platz eine gute und vertrauensvolle Gesprächsbasis zu den
Interviewpersonen aufgebaut werden konnte. Bei einigen hatte ich Mühe noch rechtzeitig
vor Beginn ihrer Ausführungen das Aufnahmegerät einzuschalten. Insgesamt zeigten sich alle
sehr gesprächsbereit, so dass sie durch die Frage-Antwort-Situation, welche durch den Kurzfragebogen hervorgerufen worden wäre, eher in ihrer Narrationsbereitschaft gebremst worden wären. Eine zusätzliche Hinführung auf die Interviewsituation war nicht notwendig, bzw.
wäre in diesem besonderen Fall eher hinderlich gewesen. Abschließend bat ich jeden Interviewpartner, sich selbst einen Codenamen zu geben.
Nach Abschluss der täglichen Erhebungseinheit (teilnehmende Beobachtung – Interview –
teilnehmende Beobachtung) wurden mittels Postskriptum die spontanen Eindrücke der Interviewperson und wichtigsten Kernaussagen erinnernd festgehalten.
3.4.5 Reflexionen der Untersuchungsdurchführung
Die Idee zum einem Forschungsprojekt entsteht häufig fernab des zu erforschenden Objektes. Hier steht der denkende Forscher, als Subjekt mit einer tollen Idee und Forschungsenthusiasmus, und irgendwo dort draußen, versteckt und eingesponnen in die individuelle Lebenswelt - handelnd, lebend und unbeleckt des Bewusstseins jedweder Forscherbegehrlichkeiten - befindet sich das Objekt der Forscherintention. Von entscheidender Bedeutung ist
nun, wie das Subjekt des Forschers Zugang, Einlass in die Lebenswelt, in die Handlungs- und
Sinnbedeutungszusammenhänge, des Forschungsobjektes erhält. Meinen eigenen Zugang
zum Lebensfeld der Wohnungsflüchter reflektierend, scheint mir eine unablässige Bedingung
des Gelingens dieses Ansinnens in zwei Punkten zu liegen: Zum Einen muss der Forschungsgegenstand zum Subjekt werden dürfen, und damit zum Experten seiner individuellen Lebenswelt und –situation. Dies entspricht dem methodologischen Paradigma qualitativer Forschung. Zum anderen aber muss es dem Forscher gelingen, sich ein Stück weit selbst zum
Objekt seiner eigenen Forschungsmethode zu machen. Der Forscher selbst wird so zu sagen
zum Erhebungsinstrument seiner eigenen Untersuchung. Sein Verhalten und Handeln im
61
Forschungsfeld bestimmt maßgeblich über das Gelingen oder Scheitern des Zugangs sowie
des gesamten Forschungsvorhabens. Gleichzeitig darf der Forscher dabei nicht künstlich instrumentalisiert wirken, sondern muss von den Subjekten seiner Forschungsabsicht als authentische Person wahrgenommen werden können. „Die Technik besteht meines Erachtens
darin, Daten zu erheben, indem man sich selbst, seinen eigenen Körper, seine eigene Persönlichkeit und seine eigene soziale Situation den unvorhersehbaren Einflüssen aussetzt, die
sich ergeben, wenn man sich unter eine Reihe von Leuten begibt, ihre Kreise betritt, in denen sie auf ihre soziale Lage, ihre Arbeitssituation, ihre ethnische Stellung oder was auch
immer reagieren“ (Goffman 1996, S. 263). Damit sich die Menschen im Forschungsfeld als
Subjekte wahrgenommen und anerkannt fühlen ist es grundlegend ihnen mit Toleranz, Respekt und einem Mindestmaß an Höflichkeit zu begegnen. Es bietet sich an, bei der Anbahnung des Kontaktes, ein respektvolles zurückhaltendes Verhalten zu zeigen, so wie es sich
eben für den ersten Besuch eines Gastes im Haus eines Fremden geziemt. Bei der Kontaktaufnahme zu den Wohnungsflüchtern war in meiner speziellen Situation darüber hinaus
auch eine gute Portion Humor von entscheidender Bedeutung. So manche Brücke schlug
sicher auch mein bayrischer Dialekt, wirkte er doch als Symbol der gleichen regionalen Herkunft und kulturellen Verwurzelung. Vermutlich wirkte auch meine Rolle als forschende Studierende Angst und Abwehr reduzierend und ebnete den Weg vor allem zu den ersten Interviews. Der Aufbau und die Aufrechterhaltung einer Vertrauensbasis haben der beständigen
Pflege und Achtsamkeit bedurft und stellten sich als nie abgeschlossener Prozess dar. Grundlegend dafür war meine tägliche Anwesenheit am Platz im Sinne teilnehmender Beobachtung. Daraus resultierte auch die Bereitschaft zu nachfolgenden Interviews.
Als besondere Herausforderung im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung stellt sich
das methodologische Problem der Identifikation mit und Distanz zum Forschungsfeld dar.
Denn für die Teilnahme an der Lebenswelt von Wohnungsflüchtern und für das Verstehen
der ursächlichen individuellen Gründe und gesellschaftlichen Bedingungen von Wohnungsflucht ist ein hohes Maß an Identifikation mit dieser grundlegend. „Der Forscher muss sich
von seiner Alltagswirklichkeit lösen und sich in die des Gegenstandes hineinversetzen, sich
mit ihr identifizieren“ (Lamnek 2005, S. 633). Der Froscher muss hierfür einen gewissen Abstand zur eigenen Person, zu seinem eigenen ‚Gewordenseins’, entwickeln und eine Identifikation mit dem Forschungsfeld aufbauen, um so Fremdverstehen überhaupt erst möglich zu
62
machen. Gleichzeitig sieht sich der Forscher aber der Anforderung gegenübergestellt, eine
gewisse Distanz zum Forschungsfeld zu wahren, um dieses möglichst objektiv beobachten
und über seine Beobachtungen berichten zu können. Hierfür muss er jedoch den Standards
und Normen der Scientific Community entsprechen. Eine standardisierte, theoriegeleitete
Auflösung dieses Dilemmas gibt es nicht (vgl. Lamnek 2005; Lüders 2005).
In meiner Untersuchung versuchte ich mit diesem Dilemma durch eine offene Rollenzuschreibung, als am Gruppengeschehen teilnehmende Forscherin, umzugehen, die als
Mensch am Leben von anderen Menschen interessiert ist. Der Status der Gruppenteilnahme
statt der Gruppenmitgliedschaft ermöglichte es mir, als ein Individuum unter mehreren am
sozialen Geschehen in der Gruppe teilzunehmen, dieses zu beobachten und bot mir gleichzeitig aber auch die Legitimation forschender Fragstellungen. Humor, Offenheit und Anteil
nehmendes Interesse waren hierbei ausbalancierende Faktoren der Gradwanderung zwischen Identifikation und Distanz. Die von Beginn an bekannte zeitliche Begrenzung meiner
Anwesenheit am Platz, wirkte sich sicherlich zusätzlich fördernd auf die Akzeptanz meiner
Rolle in der Gruppe aus. Für einen gewissen Zeitraum kann es als eine vergnügliche Unterbrechung im Alltag empfunden werden, zum Forschungsgegenstand einer Soziologiestudentin zu werden, die man gleichzeitig selbst auf Herz und Nieren testen kann, und die sich dieses mit Humor und Schlagfertigkeit gefallen lässt.
Eine entscheidende Aufgabe in der Durchführung der Erhebung bestand darin,
Wohnungsflüchter zum Interview zu motivieren. Die zu Beginn erlebbare abwartende Haltung schien der Angst vor Peinlichkeit, ob man auf die Fragen auch das Richtige sagen würde, die Angst des Nichtbestehen Könnens gegenüber irgendeinem undefinierten Anspruch
und dem zeitlichen Aufwand geschuldet gewesen zu sein. Hierbei spielte der Aufbau von
vertrauensvollen Beziehungen zu den einzelnen Wohnungsflüchtern als Grundlage der zunehmenden Interviewbereitschaft eine entscheidende Rolle. Nur bei Hubert blieb die abwartende bis hin zur abwehrenden Haltung den ganzen Zeitraum über bestehen. Sagte er mir an
einem Abend ein Interview für den nächsten Tag zu, kam er entweder zu spät zum vereinbarten Termin und ich führte bereits mit jemand anderen ein Interview, oder er war bei
meiner Ankunft am Platz bereits derart betrunken, dass ein Interview nicht möglich, bzw.
nicht zweckdienlich war. Im Kontext der Gruppe jedoch war er sehr mitteilsam und auskunftswillig. Hier erzählte er viel von seiner Person, seinen Erfahrungen, Einsichten und Be63
urteilungen. Die formelle Situation des Interviews umging er jedoch standhaft. Aus diesem
Grunde entschloss ich mich, Hubert im Rahmen der Gruppe zu interviewen und, mit seiner
Einwilligung, das Aufnahmegerät bei unseren Gesprächen mitlaufen zu lassen. Die Haltung
Hubert’s machte eine Umstellung meiner geplanten methodischen Verfahrensprinzipien
notwendig, doch ein allzu starres Festhalten am methodischen Vorgehen hätte in diesem Fall
den Zugang zu wichtigen Informationen verschlossen. Außerdem fand sich auf diesem Wege
die Möglichkeit zu einem sechsten, etwas kürzerem, Interview. Im Feld erwies sich ein flexibler Umgang mit geplanten Forschungsstrategien als notwendig, was der erfahrene qualitative Sozialforscher Christian Lüders mit dem Satz „… es (geht) nicht (..) um die (richtige oder
falsche) Anwendung einer Methode, sondern um die situations- und fallangemessenen Realisierung einer allgemeinen methodologischen Pragmatik“ (Lüders 2005, S. 393) beschreibt.
Insgesamt entwickelte sich in der Gruppe im Verlauf der Erhebung eine zunehmende Interviewbereitschaft. Einige schienen die Möglichkeit zu nutzen, um endlich einmal sagen zu
können, was für einer man eigentlich ist. Die Möglichkeit der Performance der eigenen Person abgehoben von der häufig erlebten klischeehaften Reduzierung der eigenen Persönlichkeit auf durch Äußerlichkeiten begründete Annahmen. Die eigene Geschichte des so
Gewordenseins konnte endlich, wie es schien, erzählt und gehört werden. Zum Ende des
Erhebungszeitraums wollten sich fast alle Personen am Platz interviewen lassen. Was so
mühsam und zäh, und mich manchmal an den Rand der Verzweiflung ob der zeitlichen Begrenzung bringend, begonnen hatte, formierte sich zunehmend als besondere Auszeichnung
der Bedeutsamkeit am Platz als „ich bin einer, der auch etwas zu sagen hat“.
Abschließend lässt sich mit Lüders resümieren: die Forschungspraxis erweist sich „als im hohen Maß milieu- und situationsabhängig, geprägt durch die beteiligten Subjekte, ihre Lebensformen und -bedingungen und die Unwägbarkeiten des Alltags“ (2005, S. 393).
64
3.5 (Modifizierte) Auswertung problemzentrierter Interviews
Der Schwerpunkt der Datenauswertung lag auf den vollständig transkribierten Interviews32.
Außerdem gingen in die Auswertung die Ergebnisse der Postskripte, der soziografischen
Kurzfragebögen, der teilnehmenden Beobachtung und des Aktenstudiums mit ein.
„Grundlage aller Auswertungsarbeit ist die Fallanalyse“ (Witzel 2000) jeden Einzelinterviews.
Als erster Schritt der Fallanalyse erfolgte die Auswertung entlang der Themenfelderstruktur
des Leitfadens (theoriegeleitet). Die Orientierung am theoriegeleiteten Leitfaden ermöglichte, im späteren Verlauf der Auswertung, die Vergleichbarkeit der einzelnen Interviews, da er
die wesentlichen vorab formulierten Kategorien enthielt, die zum theoretischen Kodieren
der Textstellen genutzt wurden. Darüber hinaus wurden bei diesem ersten Auswertungsschritt auch so genannte „In-vivo-codes, also alltagssprachliche Begrifflichkeiten der Befragten, die neue Aspekte der untersuchten Fragestellung aufzeigten (induktiv), erhoben. Anhand der verschiedenen Kodierungen wurde ein Kodierraster erstellt, welches am empirischen Material der anderen Interviews im Rahmen kontrastierender Fallvergleiche wieder
eingesetzt und gegebenenfalls verändert wurde. Um einen Gesamtüberblick über den Einzelfall zu erhalten wurde im Anschluss an den ersten Schritt für jedes Interview eine Falldarstellung erstellt, in welcher die Einzelaussagen in den Gesamtzusammenhang des biographischen Verlaufs gestellt wurden. Dadurch wurde der Handlungsablauf wie auch seine zeitliche
Dimensionierung deutlich und die individuellen Situationsdeutungen sowie Verhaltens- und
Entscheidungsbegründungen in unterschiedlichen Handlungskontexten wurden ersichtlich.
„Der Blickwinkel einer empirischen Analyse (liegt) zum einen auf den Subjekten, d. h. auf den
Interessen, Orientierungen und Handlungsstrategien von Akteuren, die ihren Lebenslauf
gestalten und durch biographische Reflexion individuelle Kohärenz und personelle Kontinuität herstellen; zum anderen auf den objektiven Chancenstrukturen, die in die
Biographiegestaltung als Rahmenbedingungen eingehen“ (Witzel 1996, S. 61). Letzter Punkt
der Fallanalyse bestand in der Herausarbeitung fallspezifischer zentraler Themen. Hierbei
wurden die im Interview häufig auftauchenden Themen und Begründungsmuster, sprich die
„für den Einzelfall typischen Handlungs- und Deutungsmuster“ (Witzel 1996, S. 65) zu zentralen Themen des Falles zusammengefasst und die subjektiven Relevanzsetzungen auf Zu-
32
Diese sind in vollständig der beiliegenden CD zu entnehmen.
65
sammenhänge mit der objektiven Exklusionslage hin überprüft. Validiert wurden die Ergebnisse der Fallanalyse am Interviewtext. An ihm wurden aufgestellte Deutungshypothesen
überprüft, erhärtet, modifiziert oder verworfen. Insgesamt erfolgte der Auswertungsprozess
vereinfacht ausgedrückt in zwei, mit einander verschränkten Auswertungsteilen: der Analyse
der Einzelinterviews (Fallanalysen) und dem systematisch kontrastierenden Fallvergleich, im
Zuge dessen die fallübergreifenden zentralen Themen der interessierenden Forschungsfrage
herausgearbeitet wurden. Im Rahmen des kontrastierenden Fallvergleichs wurden die einzelnen Interviews anhand ihrer inhaltlichen Ausprägungen „nach dem Prinzip „maximaler
und minimaler Kontrastierung“ (Gerhardt 1986, S. 69) verglichen. Soziografische Merkmale
wurden in diesen Fallvergleich nicht mit einbezogen. Ergebnis der Auswertung war die Entwicklung von Kernkategorien (Strauss; Corbin 1990, S. 94ff.) individueller Verarbeitungsmodi
sozialer Exklusionslagen.
Die von Witzel (1996) vorgeschlagenen weiteren Auswertungsschritte zur Entwicklung von
Typologien und Theorien wurden auf Grund der begrenzten zeitlichen und personellen Ressourcen im Rahmen einer Magisterarbeit und der begrenzten Fallzahl nicht durchgeführt.
Nachfolgend sollen nun die Ergebnisse der Untersuchung dargestellt werden:
66
4 Ergebnisse der Untersuchung
4.1 Die Gruppe im Park
Die dargestellte Untersuchung bezieht sich auf eine Gruppe von Wohnungsflüchtern, die sich
im Freizeitpark an der Weißenseestrasse im Münchner Stadtteil Obergiesing trifft. Der Treffpunkt liegt in der Nähe der sich im Park befindenden Hundespielwiese.
In Obergiesing leben 47.007 Menschen. Abgesehen von den beiden Friedhöfen und dem
genannten Freizeitpark verfügt Obergiesing über keine nennenswerten Grünflächen. „Wie in
anderen typischen Arbeiter und Handwerkervierteln hat sich auch in Obergiesing die Sozialstruktur mittlerweile nivelliert, doch sorgt ein vergleichsweise günstiges Mietniveau dafür,
dass der Wohnraum in Obergiesing auch für einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen
noch erschwinglich bleibt. Der Ausländeranteil im Stadtbezirk liegt deutlich über dem gesamtstädtischen Durchschnittswert“ (Statistisches Amt der Landeshauptstadt München.
www.stadt-muenchen.net/stadtteile/stadtbezirk_17.php. Stand: 31.12.2006).
Der Park entstand auf der Fläche einer ehemaligen Kiesgrube. In der Nachkriegszeit hatten
die dort stationierten US-Amerikaner nicht mehr benötigtes Mobiliar, technisches Gerät und
Lebensmittel hineingeworfen. Die arme, anwohnende Bevölkerung hat sich daraus geholt,
was sie für den täglichen Bedarf benötigte und wurde dafür als „Kiesgrubengrattler“ deformiert. Später wurde die Kiesgrube zugeschüttet, es entstanden Schrebergärten und
Schwarzbauten. 1980 wurde daraus der Freizeitpark an der Weißenseestrasse.
Die Entwicklung zum Treffpunkt von Wohnungsflüchtern begann damit, dass Hubert33 und
einigen anderen ehemaligen Obdachlosen Wohnungen in Obergiesing zum Bezug zugewiesen wurden. Gleichwohl trafen sie sich weiterhin täglich in der Öffentlichkeit. Treffpunkt war
eine Bank am Eingang des Freizeitparks angrenzend an die Wohnbesiedelung. Die Anwohner
konnten das Treffen, die Kommunikation und Kontaktpflege sowie den Alkoholkonsum als
gesellschaftlich definierte private Verhaltensweisen im öffentlichen Raum nicht akzeptieren.
Außerdem wurde das häufige Hundegebell als störend empfunden. Es kam zu Beschwerden
33
Alle Namen der genannten Personen sind geändert.
67
über die Gruppe. Die Stadtverwaltung lies daraufhin die entsprechende Bank abmontieren,
um die Gruppe zu vertreiben. Durch die Strukturierung des Raumes und der Vordefinition
dessen, was in diesem Raum als sozial akzeptierte Verhaltensweise zu gelten hat, wurden
Machtverhältnisse geschaffen und durch den räumlichen Ausschluss der Gruppe durchgesetzt. Die Gruppe siedelte daraufhin um, an den heutigen Platz in der Nähe der Hundespielwiese. „Seit zwei, drei, fünf Jahren oder was. Da haben sie uns die Bank da vorne weggenommen. Und jetzt sind wir da.“ (Hubert, Position 56, 52)
Mittlerweilen sind die Wohnungsflüchter abermals in Gefahr von ihrem Treffpunkt vertrieben zu werden. „Bis 2014 will eine Unternehmensgruppe zusammen mit einem New Yorker
Investor“ auf dem nahe gelegenen Gelände der ehemaligen Firma ‚Agfa’ „1100 Wohnungen
für rund 2500 Menschen errichten“ (BR-online: Stadtviertel-Porträt Obergiesing. Stand:
27.05.08). Hinzu kommen Ansiedelungen von Gewerbe, Dienstleistungsbetrieben und einem
Hotel. Die dafür notwendigen Verkehrs- und Parkflächen machen Eingriffe in den Park nötig.
Die Hundespielwiese, und damit der aktuelle Treffpunkt der Wohnungsflüchter, wird bald
der Modernisierung weichen müssen (ebenda). Ihre Einwände im Bezirksausschuss, ihre Unterschriftensammlung aller Hundspielwiesenbenützer, all das fand politisch kein Gehör.
Abermals wird es zum räumlichen Ausschluss der Gruppe kommen. Diesmal auf Grund ökonomisierter städtebaulicher Entscheidungen. Die Frage ‚wem gehört der öffentliche Raum’
scheint damit beantwortet.
Die heutige Gruppe hat sich in ihrer sozialen Struktur im Vergleich zu ihren Anfängen vor
etwa 13 Jahren, die ausnahmslos aus ehemaligen Obdachlosen bestand, verändert. Als besonderes Kennzeichen der Gruppe wird von allen Mitgliedern ihre sozial heterogene Zusammensetzung hervorgehoben und mit gewissem Stolz dargestellt. „Bei uns treffen sich
Leute aus allen sozialen Schichten“ (Scarlett, im Rahmen teilnehmender Beobachtung). Unter
anderem das gemeinsame Bier verbindet Hartz-IV-Empfänger, Rentner und Berufstätige.
Häufiges, aber nicht ausschließliches, Zugangskriterium zur Gruppe ist die Hundehaltung.
Doch versteckt unter der Oberfläche des gemeinsamen Alkoholkonsums und der Hunde wird
eine weitere Überstimmung erkennbar. Alle Anwesenden verbinden direkte oder indirekte
gesellschaftliche Ausschlusserfahrungen und das quer zur sozialen Schichtzugehörigkeit:
Hartz-IV-Empfänger, ExJunkies, ExObdachlose stellen sich als vom Arbeitsmarkt weitgehend
entkoppelt dar und auch die finanzielle Situation von 1-€-Jobbern kann maximal als prekär
68
bezeichnet werden. Dieser Teil der Gruppe ist entsprechend der Typisierung von Damnitz
und Eierdanz (2008) dem Typ der „Abgehängten“ zu zurechnen. Etwas anders differenziert
sich der Teil der Berufstätigen in der Gruppe. Hier stehen Niedrigverdiener und in prekärer
Auftragslage gefangene Freiberufler als working poor des „Kämpfer“-Typs (Damnitz;
Eierdanz 2008) neben „Co-Exkludierten“, deren berufliche Situation weitgehend gesichert,
die jedoch über andere Faktoren sozial exkludiert oder von sozialer Exklusion bedroht sind.
Ein leibliches behindertes Kind, psychische Erkrankungen oder eine Beziehung zu einem seit
langer Zeit arbeitslosen Alkoholiker ziehen gleichfalls soziale Ausschlusserfahrungen nach
sich. Waren die früheren Gruppenmitglieder klar in der Zone der Exklusion zu verorten, hat
sich die jetzige Gruppenzusammensetzung in die Zone der Gefährdung ausgeweitet.
Die Vermischung der sozialen Schichten in der Gruppe, die nach Außen hin gerne als utopischer Gegenentwurf einer besseren Gesellschaft dargestellt wird, stößt im realen Gruppenalltag jedoch an Grenzen. Die Demarkationslinie verläuft entlang der Kriterien Konfliktverhalten unter erheblichem Alkoholeinfluss, gemeinsame Spielaktivitäten (Federball, Kartenspiele, etc.) am Platz und Bedürftigen, die gar nichts haben und denen, die doch immer mal wieder was geben können.
Der ‚harte’ Kern der heutigen Gruppe umfasst ca. 20 Personen, die sich regelmäßig (häufig
täglich) am Platz aufhalten und sich auch als Gruppe definieren. Die Gruppe verfügt über
klare Grenzen und Wir-Identität. Gleichzeitig ist sie für „passende“ Neuzugänge offen. Die
Aussage Huberts: „Gscheidmacher oder so, die vertreiben wir dann schon wieder“ verweist
auf eine starke Wir-Identität und übereinstimmende Gruppenwerte und –normen, anhand
derer sozialer Ausschluss und Akzeptanz definiert werden. Rassismus, Rechtsextremismus
und Ausländerfeindlichkeit werden übereinstimmend abgelehnt.
Die Wohnungsflüchter wohnen alle in räumlicher Nähe des Parks im Stadtteil Giesing. Sie
kommen fast jeden Tag zum Platz, halten sich dann manchmal nur kurz, in der Regel jedoch
länger dort auf.
69
4.2 Wohnungsflucht als Form sozialen Handelns
Eine der entscheidenden Fragen der Untersuchung war, warum Menschen sich öffentlich,
auf diversen Plätzen in München treffen, und dort, entgegen den allgemeinen Gewohnheiten, und außerhalb der dafür vorgesehenen sozial akzeptierten Bereiche wie Gaststätten,
Kneipen und Biergärten, ihr Bier trinken. Was veranlasst sie diese Plätze aufzusuchen? Und
was finden sie dort für sich, was es ihnen Wert erscheint lässt, sanktionales Verhalten auf
ihre, nicht der Norm widersprechende, Verhaltensweisen in Kauf zu nehmen?
Ausgehend von der Hypothese, dass Wohnungsflucht für Individuen mit subjektivem Sinn
verknüpftes Handeln darstellt und eine Form der Verarbeitung ihrer sozialen Exklusionslage
darstellt
wurden
die
Ergebnisse
der
Daten
aus
der
Erhebung
bei
der
Wohnungsflüchtergruppe im Freizeitpark an der Weißenseestrasse ausgewertet.
Grundsätzlich zeigte sich, dass Häufigkeit und Dauer der Anwesenheit am Platz stark von der
jeweiligen aktuellen Lebenssituation, insbesondere von Eingebundenheit in Erwerbsarbeit
und soziale Nahbeziehungen, abhängig ist. Wohnungsflucht fungiert als eine Art Lückenfüller
beschäftigungs-, inhaltsfreier Zeit. Wenn man gerade nichts anderes vorhat, geht man zum
Platz. Folglich halten sich Erwerbslose und allein Lebende bedeutend häufiger und länger am
Platz auf, als Berufstätige und sozial stärker Eingebundene. Witterung und Jahreszeit nehmen gleichfalls Einfluss auf die Verweildauer.
Der Einstieg in die Wohnungsflucht erfolgt langsam, eher schleichend und ist nicht ausschließlich an eine bereits bestehende Exklusionslage extremster Form geknüpft. Das Nebeneinander von „Drinnen“ und „Draußen“ tritt hier in besonderer Weise zu Tage und macht
eine dichotome Vorstellung von Exklusion obsolet. Wohnungsflucht ist häufig geknüpft an
den eigenen gesellschaftlichen Abstieg durch beginnende oder vorhandene Phasen der Arbeitslosigkeit „ja, gut. Die erste Zeit wo ich noch in der Arbeit war (,war ich) nicht unbedingt
täglich da. Ja, gut, am Abend einmal schnell eine Halbe Bier, nach Feierabend“ (Richard, Position 648), oder der Erfahrung sich reduzierenden sozialen Nahbeziehungen verbunden mit
zunehmenden psychischen Beeinträchtigungen „ich hab ein paar Probleme gehabt. Des war
.. nix mit der Frau. Die hat mich viel Geld gekostet und .. ja .. und jetzt .. ich will nicht zu Hause bleiben und Fernsehschauen. Drum geh ich halt hier her. Und trink ein Bier und dann geh
ich wieder heim“ (Jorsch, Position 64).
70
Als weiteres Einstiegskriterium wurde immer auch die räumliche Nähe zum Wohnort genannt. Individuelle Routinen führen am Platz vorbei. Man wohnt in der Nähe, hat Zeit und
irgendetwas spricht einen an dieser Gruppe an. „Ja. Und ich bin da einfach, äh, entlang gegangen mit meinem Hund und komm dann so automatisch auf den Weg, weil es Richtung
Ausgang geht, an den Leuten vorbei und .. naja, hab halt einfach mal so ‚Servus“ gesagt.
Und/oder die anderen haben angefangen mit ‚Servus’ zum Sagen. Ja. Und dann, nach und
nach hieß es dann halt einmal, ja: ‚magst ein Bier?’ Mhm: ‚Ja, klar. Warum nicht’ So. Na,
dann bin ich hin und…“ (Jürgen, Position 9). Die Einladung zum gemeinsamen Bier stand auch
bei Scarlett am Beginn ihrer Anwesenheit am Platz: „Mei, und dem Hubert seine Art, .. ja
‚magst ein Bier? Komm trink eine mit’. (lacht) .. Na haben wir halt/ dann hat sich das halt so
ergeben“ (Scarlett, Position 65).
Anknüpfungspunkte für die Aufnahme in die spezifische Gruppe im Freizeitpark an der Weißenseestrasse sind zum einen die Gemeinsamkeit der Hundehaltung (in diesem Punkt unterscheidet sich diese Gruppe von anderen Wohnungsflüchtergruppen) und zum anderen die
Einladung auf ein gemeinsames Bier. Unklar bleibt dabei jedoch, warum manche der Passanten der Einladung nachkommen, und andere nicht.
Zur Beantwortung dieser Frage sind die tiefer liegenden Gründe und Problematiken der
Wohnungsflucht zu betrachten. Hierfür ist zwischen Push- und Pullfaktoren zu unterscheiden. Pushfaktoren, sind Bedingungen in der bestehenden Lebenssituation des Individuums,
die dieses zum Aufenthalt am Platz hindrängen. Pullfaktoren hingegen sind Anziehungskräfte, die vom Platz selbst ausgehen und das Individuum zum Platz hin ziehen.
Exkludierte oder von Exklusion bedrohte Personen verfügen über reduzierte soziale Nahbeziehungen bei fortbestehendem genuin humanem Bedürfnis nach denselben. Die Vermeidung von sozialer Isolation und Einsamkeit wird als entscheidender Grund für den Aufenthalt
am Platz angegeben. „Weil einen ganzen Tag alleine in der Wohnung hocken kann ich nicht,
da fällt mir die Decke auf den Kopf“ (Richard, Position 267). Fünf der sechs interviewten Personen leben alleine im eigenen Haushalt. Einsamkeit und das Fehlen anderweitiger sozialer
Reziprozität wird als psychisch belastend empfunden. „Was die Leute da herzieht? – das ist,
.. ich bin der Meinung, das sind viele Leute, die was .. ein bisschen .. psychisch sind. Die sonst
niemand so haben, mit dem wo sie reden können“ (Jorsch, Position 18). Es ist der Wunsch
nach sozialem Kontakt, nach Kommunikation und Austausch, nach mitteilen und gehört
71
werden, der die Menschen aus ihren Wohnungen auf den Platz treibt. Aber auch die Vermeidung von Langeweile, zum einen auf Grund fehlender sozialer Kontakt, zum anderen
aber auch auf Grund fehlender ökonomischer Mittel zur Finanzierung anderweitiger Freizeitaktivitäten im kulturellen, sozialen oder sportiven Bereich, ist als Pushfaktor zu nennen.
Fernsehen wäre die einzige Alternative. Doch, als Medium der Massen, kann auch dieses das
Bedürfnis nach sozialer Nähe und emotionaler Anteilnahme nicht stillen. Das Fernsehen ermöglicht zwar die Anteilnahme am Geschehen in der Welt, doch die Anteilnahme am eigenen Schicksal bleibt einem verwehrt. „Wenn ich einfach keinen Bock hab allein zu Hause zu
sein, oder keinen Bock auf’s Fernsehschauen .. dann weiß ich, ich kann in den Park gehen. Da
treff ich irgendjemanden und dann kann ich ein bisschen labern“ (= reden) (Jürgen, Position
86). „Das tut einem auch gut! Gerade, wenn man immer alleine daheim hockt, mal wieder
ein bisschen ratschen, mit anderen Leuten .. (schnieft). Wenn man was liest einmal seine
Meinung sagen, dann von einem anderen die Meinung hören. Als Information eben. Als ..
(Pause) .. Das tut schon ab und zu gut“ (Richard, Position 520). Die Möglichkeit raus zu gehen, der Einsamkeit der eigenen Wohnung zu entfliehen wirkt für viele stabilisierend und
kann als Problemlösungsstrategie sozial Exkludierter verstanden werden. Wohnungsflucht ist
die aktive Suche nach Inklusion unter Exklusionsbedingungen und ist als Zeichen innerer Ressourcen zu verstehen.
Eine entscheidende Anziehungskraft des Platzes geht von der permanenten faktischen Anwesenheit anderer aus (Pullfaktor). Es müssen keine Verabredungen, keine Pläne geschmiedet und keine zeitlichen Festlegungen getroffen werden, um die Befriedigung des Bedürfnisses nach sozialen Kontakten sicher zu stellen. Es bedarf keiner langer Wege, es gibt keinerlei
Zugangsbeschränkungen oder Aufnahmevoraussetzungen, die sich in ökonomischen, kulturellen oder sozialen Kapitalien (Kapitalienbegriff siehe Bourdieu 1982) niederschlagen müssten, um in den sozialen Kreis (Simmel) der Wohnungsflüchter einzutreten. „Ich bin da nicht
ausgequetscht worden oder sonst was. Sondern, das ist .. mh .. alles ganz, .. ganz easy gewesen“ (Jürgen, Position 9). Dies kommt zum einen der geringen Kapitalausstattung Exkludierter entgegen und entspricht zum anderen dem typischen Handlungsmuster ihres Lebens im
‚Hier-und-Jetzt’34 (vgl. Punkt 3.). „…und sie genießen den Tag! Genau! Sie genießen den Tag.
(lacht) Und das, das .. ja, das mach ich auch“ (Hibbie-Mama, Position 58).
34
Vgl. Punkt 4.3.3..
72
Gleichwohl ist der Aufenthalt am konkreten Platz nicht dem Zufall alleine geschuldet. Die
Aussage Scarletts „dann hat sich das halt so ergeben“ verweist zwar auf eine fehlende bewusste Intentionalität der Handlung Wohnungsflucht. Was aber mit Nichten bedeutet, dass
diesem Handeln keine Entscheidungskriterien zu Grunde liegen müssen. Es ist davon auszugehen, dass vor allem das unreflektierte Gefühl sozialer Nähe und der gleichen sozialen Adresse rasch zur Entwicklung des Gefühls der Zugehörigkeit führen und damit zur Wiederholung des Wohnungsfluchtverhaltens beitragen. Denn den Wohnungsflüchtern im Freizeitpark
an der Weißenseestrasse sind auch andere Treffpunkte von Wohnungsflüchten in München
bekannt. Trotzdem bleiben sie ihrem Platz treu. Als Gründe dafür fanden sich in den Interviews die positive, offene und herzliche Atmosphäre am Platz und die Anwesenheit beider
Geschlechter sowie die Heterogenität der Gruppe. Diese ermöglicht eine große Spannbreite
der sozialen Anschlussfähigkeit und öffnet die Gruppe auch für Individuen in prekären sozialen Lagen. „Und, .. ja eben der Hubert (Exobdachloser und seither Hartz-IV-Empfänger), dann
Reiner ist ja auch im Berufsleben Feinmechaniker .. seine Frau ist Zahnarzthelferin, die haben
ein behindertes Kind. .. Dann, .. ja gut, ich mein .. der andere Reiner war halt ab und zu mal
arbeitslos und Malergeschäfte, sind dann halt auch nicht / mal zugemacht, dann war er halt
auch mal wieder arbeitslos, dann war er den ganzen Tag hier. Jetzt kommt er halt nach der
Arbeit her“ (Scarlett, Position 71).
Das Erleben sozialen Ausschlusses in unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und das Gefühl mit den Anforderungen nicht mehr mithalten zu können verwundet die
Ich-Identität und führt häufig zu negativen Selbstdefinitionen. Dieses angekratzte Selbstbild
findet Entlastung im ‚Wir’ der Gruppe und erhält im Tausch die soziale Identität der Gruppe,
als die ‚anderen’, als die ‚Nicht-Spießer’ gegenüber den ‚Spießern’, die eigentlich auch gerne
ab und zu zuviel trinken, sich dies jedoch nur hinter den verschlossenen Türen des eigenen
Heims trauen. Die Heterogenität der Gruppe erleichtert die Identifikation mit dieser, da ja
auch ganz ‚Normale’ dazugehören, und sichert so den Selbstwerterhalt. ‚Normal’ wird am
Platz mit Berufstätigkeit gleichgesetzt, was auf Fortbestehen der Orientierung an gesellschaftlichen Werten hinweist.
Der hohe Alkoholkonsum am Platz hingegen ist sowohl verbindendes wie auch problematisches Faktum. „Also man kann sagen, von den Leuten, die dorten sind, sind 90% Alkoholiker.
.. Gut, die, die arbeiten dann nicht so, aber .. Es sind also/ die meisten / also leider sehr viele.
73
Und dadurch ist das auch das, wo auch immer die Streitereien dann entstehen“ (Scarlett,
Position 437).
Vor allem für Individuen, die in ihrer gesellschaftliche Position der Zone der Exklusion (Castel
2000) zuzurechnen sind, stellt die Gruppe ein soziales Unterstützungsnetzwerk in emotionaler, sozialer und auch z. T. materieller Hinsicht dar. Defizite aufgrund der sozialen Situation
finden hier teilweise ihren Ausgleich. Gleichwohl bleiben die Beziehungen insgesamt betrachtet eher oberflächlich und unverbindlich. Intensivere Freundschaften entstehen auch
hier auf der Grundlage sozialer Nähe, gleicher sozialer Adresse und ähnlicher, geteilter Lebenserfahrungen. An diesem Punkt schlägt Heterogenität in Homogenität um, entlang der
objektiven Spaltungskriterien: Berufstätigkeit, Obdachlosigkeit und Drogenkarriere. Aber
auch entlang des subjektiven Kriteriums: Verhalten am Platz insbesondere unter erhöhtem
Alkoholkonsum und bei Streitigkeiten. Diese Kriterien liegen quer zu den objektiven und beziehen sich mehr auf innere Einstellungen und Handlungsmuster. Wie z. B. bei Jürgen, einem
Exjunkie und Langzeitarbeitslosen: „Sagen wir halt einmal so .. wenn man .. früh am Tag
kommt, so Mittag oder Nachmittag, dann passt es ..! Aber dann, je später der Abend, um so
mehr wird dann auch manchmal gesoffen und dann .. / was weiß ich / irgendeiner fängt irgendwie an, oder des und des passt nicht .. dass dann schon ein manchmal ein bisschen .. ah,
ah Scheiß Ton .. herrscht. Sag ich jetzt einmal. Und auch, .. was weiß ich, .. auch dass es
schon mal kleine Schlägereien gegeben hat. Aber nichts bewegendes jetzt aber .. Ich geh zum
Beispiel gar nicht mehr gern her am Abend“ (Position 44).
Wohnungsflucht ist Flucht vor dem Alleinsein und Zuflucht zu sozial Anderen. Als Bewältigungsstrategie bleibt sie dabei immer prekär.
4.3 Soziale Exklusion in biographischen Selbstbeschreibungen
Objektive Exklusionslagen führen zu spezifischen Verhaltensweisen der subjektiven Lebensgestaltung und schlagen sich nieder in den individuellen Denk- und Handlungsmuster Ausgeschlossener oder von Ausschluss bedrohter Menschen. Sozialer Ausschluss und Ausschlusserfahrungen führen ins soziale Abseits und aus den regulativen Bezügen gesellschaftlich ge74
teilter Normalbiographien. Dadurch müssen Exkludierte in besonders hohem Maße zu Konstrukteuren und aktiven Gestaltern ihrer eigenen Biographie werden (Hurrelmann 1983).
Eine ähnliche objektiv exkludierte soziale Lage lässt dabei Spielraum für individuell unterschiedliche Verarbeitungsmodi und Identitätskonstruktionen, da jedes Individuum die formal
gleiche Situation unterschiedlich erlebt und beurteilt. Empirisch lassen sich verschiedene
Formen der individuellen Verarbeitung finden. Diese sind vielfältig, in ihrer konkreten Ausgestaltung jedoch endlich. Im Folgenden sollen einige der verschiedenen Möglichkeiten von
Verarbeitungsmodi, deren Niederschlag in den narrativen Selbstbeschreibungen der interviewten Personen zu finden waren, dargestellt werden. In den biographischen Selbstbeschreibungen, der von mir interviewten Personen, kamen die individuellen Erklärungsmuster
des So-Geworden-Seins, die darin enthaltenen Vorstellungen der individuellen ‚agency’
(Bamberg 1999 zit. n. Lucius-Hoene & Deppermann 2004), die Formen des sozialen Abstiegs
und deren Ursachenzuschreibungen und die daraus resultierenden spezifischen Deutungsund Handlungsmuster so wie die verschiedenen Formen gesellschaftlicher Verortung und
Zugehörigkeitskonstruktion, zum Ausdruck.
4.3.1 Die Bedeutung des Selbstwerterhalts in exkludierten Lagen
Die soziale Situation des Interviews muss als gemeinsame Herstellungsarbeit (Mey 1999, S.
233) verstanden werden, denn „die Identitätskonstruktion wird im Erzählen sozial verortet
und verhandelt, zielt auf soziale Akzeptanz und Selbstbehauptung und verortet das Individuum in den normativen und moralischen Strukturen seines gesellschaftlichen Umfelds“ (Lucius-Hoene & Deppermann 2004, S. 61) und sozialen Gegenübers. Die narrative Darstellung
dessen ‚was für einer man ist’ stand im Vordergrund aller Erzählungen. Als solches wurde die
Interviewsituation zum Versuch gelingender Selbstdarstellung, zum Bemühen, als Mensch
hinter, bzw. vor, seiner sozial exkludierten Lebenslage gesehen, bzw. gehört, zu werden. Alle
Interviewpartner waren sehr um positive Selbstperformance bemüht, was sich in einer Vielzahl von diesbezüglichen direkten und indirekten Aussagen niederschlug. Diese Selbstdarstellungen lassen sich letztlich in der Aussage: „Ich bin schon okay – auch wenn es von außen
vielleicht nicht so aussieht“ zusammenfassen. In der erlebten Interviewsituation dient das
gezeigte ‚impression management’ (Gouldner 1970) der Sicherung von Identität trotz ge75
fährdeter sozialer Lage und, nach Goffmanscher Manier (1969), der kalkulierten Performance, als einer, den die Leute auf Grund äußerer Faktoren schnell fehl beurteilen, dessen
positiver Wesenskern jedoch unbeachtet bleibt. In der individuellen Selbstperformance wurde hierzu, versteckt oder offen, insbesondere auf die individuellen inneren Werte und sozialen Qualitäten hingewiesen, obgleich die Reduzierung des sozialen Netzes auf zentrale Einzelpersonen die Möglichkeit gelebter Sozialität faktisch stark einschränkte. Insbesondere die
Bereitschaft andere zu unterstützen, ihnen zu helfen und für sie da zu sein, stand im Vordergrund individueller Selbstdarstellungen und wurde in die Wagschale geworfen gegen anderweitige durchaus eingeräumte soziale Ausschlusskriterien, insbesondere fehlender ökonomischer Ressourcen. „Kennen tun sie mich nicht. Auf keinen Fall! Die wissen nicht, was so .. los
ist. Oder los war, in meinem Leben. Gar nichts, .. wissen die. Auf jeden Fall wissen sie, oder
finden es toll, dass ich mich halt da so .. so gut um meine Mutter kümmere. (räuspert sich)
Wo das eben war da mit dem fünf Kilo Tumor. ..Mei wie lang (**) drei Monat war die weg!
Und .. ich hab da auch dann alles erledigen müssen. .. mit Wäsche, .. waschen, mit dem
Hund, also alles, was da so zusammengekommen ist, hab ich dann auch irgendwie auf die
Reihe kriegen müssen. Und dann bin ich halt immer gefragt worden, ‚Ja, wo ist denn ihre
Mama? Wo ist denn ihre Mama?’ Und dann hab ich es eben erzählt, was los ist .. ‚Oh, um
Gottes Willen!’ Und so. Und da haben sie vielleicht auch gemerkt gehabt, dass ich gar kein so
unrechter Mensch bin. Dass ich halt doch irgendwie .. äh, äh, was weiß ich. Nach außen denken sie vielleicht ganz etwas anderes. Aber wenn sie dann mit mir geredet gehabt haben,
dann merken sie, dass ich gar nicht so .. / wie ich es eben gesagt hab / gar nicht so verkehrt
bin “ (Jürgen, Position 361). Die erfahrene Stigmatisierung und Ausgrenzung wird durch Unkenntnis erklärt und damit leichter akzeptierbar. Das Motto: ‚ich bin schon okay, die kennen
mich bloß nicht wirklich’ ermöglicht die Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes in
Ausgrenzungs- und Abwertungssituationen.
Auch die dargestellte individuelle Orientierung an gesellschaftlich geteilten Werten und
Normen dient diesem Zweck und trägt zur Stabilisierung des positiven Selbstbildes bei. Der
Selbstwert wird gewahrt in dem aufgezeigt wird, dass das individuelle Verhalten den normativen Anforderungen entsprechen kann. Man ist einer, der weiß, was sich gehört
IP: „Und, .. Entschuldigung! (Pubst laut“). A: “Was muss, das muss … Wir sind im Freien, da ist es egal“. IP: „Gehört aber irgendwie dazu, dass man sich entschuldigt, wenn es rauskommt.“ (Richard, Position 58).
und hebt sich so von jenen ab, die das nicht wissen, oder diesem Wissen nicht mehr zu folgen in der Lage sind. „Und eben auch so schockierende Szenen, .. wie .. ja letztes Jahr glaube ich war das ..
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da war eine/war eine Frau da, da ist der Mann abgehauen .. (…) und dann kam sie da her und die hat so brutal
gesoffen, und äh, und dann irgendwann hat sie ihre Schuhe verloren und dann einfach dieses Bild .. die ist dorten gehockt mit keinen Schuhen an .. hat sich angebieselt gehabt und .. und bäh, und der Speichel läuft auf der
Seite raus. Bäh! So was .. langweilt mich dann wieder! Das ist einfach zu brutal. Also das, mag ich überhaupt
nicht! ..“ (Jürgen, Position 50).
Distinktionsbemühungen innerhalb der heterogenen sozialen Gruppe der Exkludierten sind
als Strategien der Identitätssicherung zu verstehen und zielen auf die soziale Differenzierung
und Abgrenzung nach unten. Entlang der Differenzierungskriterien Akzeptanz und Praxis
gesellschaftlicher Werte und Normen erfolgt eine Unterschichtung der Gruppe der Exkludierten an deren Ende als einziger Beweis der eigenen gesellschaftlichen Existenz das faktische Überleben steht: „Ich bin nicht kaputt, sonst würde ich nicht mehr leben. .. Ich kann betteln“ (Hubert, Position 50). Und auch Jürgen definiert sich nach einer langen Drogenkarriere
als Glückspilz, „weil ich lebe noch“ (Jürgen, Position 495) „Also, ich hab mit ach und krach/
ich hab drei Überdosen-Überdosis mal gehabt. Dreimal ist mir das passiert. Und bin halt jedes
Mal aufgewacht! Und irgendwann einmal hätte es auch sein können, dass ich nicht aufwache“ (Jürgen, Position 497) Wirklich nichts mehr Wert, also kaputt ist man erst, wenn man
nicht mehr lebt. Überleben allein wird zur Definition eines ‚erfolgreichen’ Lebens unter Exklusionsbedingungen.
4.3.2 Wege in die Exklusion und deren individuelle Begründung
In den erhobenen Daten ließen sich drei Wege in soziale Exklusionslagen empirisch wieder
finden:
1. der Weg als Prozess des inter- und/oder intragenerationellen sozialen Abstiegs.
Aus einer gut-bürgerlichen Familie stammend und in der Mitte der Gesellschaft verortet verläuft Richards Leben irgendwann immer mehr in Richtung sozialen Aus. „Habe gutes Geld
verdient. Wir haben uns / wie gesagt, da war ich noch verheiratet / dann haben wir uns eine
Eigentumswohnung gekauft, weil die größer war als das Dachgeschoß. (Pause) Ja, .. hab’s
halt sauber gezahlt durch meine Montage, weil ich dementsprechend auch gut verdient hab“
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(Richard, Position 125). Feste Arbeit, Familie, Freunde und Eigentum. Alles scheint zum damaligen Zeitpunkt stabil. Doch dann kommt alles anders als erwartet. Die Ehe zerbricht. Das
Eigentum geht bei der Scheidung verloren und den Anforderungen der Montagearbeit kann
nicht mehr entsprochen werden. Von da an geht es schrittweise ins Aus. Der notwendige
Stellenwechsel führt zu keiner Verbesserung der Arbeitssituation. Der Einzug ins ehemalige
Haus der Eltern nach vollzogener Scheidung stellt sich als falsch heraus. „Ja, gut. Und dann
wurde es mir mit der Montage auch zu viel. Und .. bin wieder in meine Wohnung gezogen –
Also ins Haus von meiner Mutter. Und da fing das ganze Dilemma an./ (lacht verlegen) (Pause) (Richard, Position 133). Nach Konflikten mit der Mutter bricht er alle Verbindungen vor
Ort ab und geht kurz entschlossen ohne Arbeit und Wohnung nach München. Er findet eine
Anstellung bei einer Zeitarbeitsfirma, bei der er auch wohnen kann. Nach Konkurs und Auflösung der Firma rutscht er vollends ab. Er wird obdachlos und lebt fünfeinviertel Jahre auf
der Straße. Herzinfarkte, orthopädische Folgeschäden aus früheren sportlichen Aktivitäten
belasten seine Gesundheit und stellen sich neben übermäßigen Alkholkonsum, der im Lebensverlauf zum ausgeprägten Alkoholismus wird. „Ja, gut. Und momentan ist halt die Sache
so gut, ich bin in meiner Wohnung. Lebe von Hartz IV. (Pause) Und .. komm damit über die
Runden. Ist zwar ne Einschränkung, aber – man gewöhnt sich ja an alles. Und besser als auf
der Straße (Pause) .. ist es auch. Die Wohnung wird gezahlt“ (Richard, Position 154).
Rückblickend bewertet er sein Leben als eines mit Höhen und Tiefen, wobei die Herstellung
einer kohärenten Lebenserzählung gelingt. „Ich hab beides mitgemacht! Ich hab eben gut
verdient, und das war dann oben. Dann eben da auf der Straße, war dann unten. Und jetzt ..
sag ich mal die Dauer jetzt mit HartzIV ist auch unten. Denk ich mal so, obwohl es mir nicht
schlecht geht, ich komm mit dem Geld aus, hab meine Wohnung. .. Und .. das einzige was
halt unten ist, ich möchte halt (*) auf Grund meiner Gesundheit endlich meine Rente haben,
meine Frührente“ (Richard, Position 339). Die Erzählung seines Lebens konstruiert er dabei
als ein Aushalten von Widerfahrnissen, als ständiges Wiederaufrappeln nach Schicksalsschlägen, deren Ursachen außerhalb seiner Person und Einflussnahme lagen. Seine Handlungsmöglichkeiten zeichnet er reaktiv.
Zum Zeitpunkt des Interviews ist Richard an einem Punkt angekommen, wo er selbst keinen
Einfluss mehr auf die Veränderung seiner Lebenssituation nehmen kann. Eigentlich ist für ihn
Endstation, wären da nicht die Früchte seiner langjährigen Berufstätigkeit, die er nun ernten
möchte und ihm einen Entwurf seines Lebens in die Zukunft ermöglichen. An diesem Punkt
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setzt die Vorstellung der Teilhabe durch Partizipation im Wohlfahrtsstaat an. Die Durchsetzung sozialer Rechte als Aufgabe des Wohlfahrtsstaates sichert gesellschaftliche Zugehörigkeit, wo sie subjektiv nicht mehr herstellbar ist.
Richards Ausgrenzungserfahrung lässt sich zusammenfassen als der stete Versuch alles richtig zu machen und trotzdem zu scheitern und seine Ursachenerklärung als Scheitern an den
äußeren Umständen und Ereignissen formulieren. Auf der Bilanz seines Lebens steht ein Leben mit Höhen und Tiefen, der eine konstruktive Zukunftsperspektive inhärent ist. Die dahinter stehende implizit Selbstdefinition ist: ich habe dazu gehört und werde wieder dazugehören (Rente).
Anders stellt sich Jürgens Situation dar, dessen Lebensweg exemplarisch angeführt werden
kann als ein Beispiel des von vorneherein gescheiterten Versuches des Einstiegs in den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. 2. der Weg des von Anbeginn an verwehrten Zugangs zu gesellschaftlicher Teilhabe. Jürgen stammt aus einer einfachen Arbeiter- und Angestelltenfamilie in Giesing, und gibt an bereits als Kind kein ‚Braver’ gewesen zu sein. Er
beendet seine Hauptschule und beginnt eine Lehre als Elektriker, die er, trotz Lehrzeitverlängerung und anderweitiger Unterstützungsmaßnahmen, nach viereinhalb Jahren Lehrzeit
nicht beendet. Er scheitert. Einige Versuche der Integration in die Arbeitswelt folgen und
werden durch das zunehmende Abrutschen in eine Drogenkarriere vereitelt. Jürgen begann
als 16-Jähriger zu Kiffen. „Das Drogenproblem ging los schon .. wie soll ich sagen .. ich kann
es Dir ja ruhig erzählen .. das hört sich wahrscheinlich eh alles gleich an. Ich hab ganz normal
angefangen zum Kiffen .. 85’“ … „Die typische Einsteigerdroge. Ja, und immer neugierig gewesen auf Drogen .. sowieso .. und also echt alles ausprobiert, also wirklich, so das komplette
Programm“ (Jürgen, Position 168, 170). Mit dem Tod des Vaters rutscht er in die harte Drogenszene ab. Er verliert seinen Job und ist seither arbeitslos. „Das ging so los, ja ..95’? 95’ ist
ja mein Vater gestorben .. und ich hab ein Drogenproblem gehabt. (…) (Jürgen, Position 144).
Es gibt kein Halten mehr, der einzige der dazu vielleicht im Stande gewesen wäre, ist tot.
„Komischerweise, mein Vater hat es schon ein bisschen gecheckt gehabt irgendwie, aber .. äh
.. naja dann (lacht kurz auf) .. ist er gestorben (traurig) (Jürgen, Position 148). Er schnupft
erst Heroin, dann spritz er’s. Jahre im Drogenmilieu folgen. Er erkrankt an Hepatitis C, deren
Ausheilung mittels Interferontherapie gelingt. „Ja, mei. Ich hab .. zu erst nicht gespritzt gehabt (räuspert sich), das Heroin kann man auch schnupfen, (..) Und dann, irgendwann einmal
79
.. hab ich es mal ausprobiert (Pause). Ja. .. und es ist halt dann / (klopft sich auf die Schenkel)
kommt halt dann (räuspert sich), etwas besser .. rüber. Zum Zeitpunkt des Interviews krieg
Jürgen die Ersatzdroge ‚Polamedon’ auf Rezept. „Also ich nimm meine Ersatzdroge bis an
mein Lebensende. Ich hab knapp zehn Krankenhaus Entgiftungen hinter mir .. und .. immer
wieder .. wieder angefangen. Keine Ahnung, wie viele ich daheim probiert habe oder bei, bei
meiner Mutter. / Und .. alles so schwierig. So ein Heroinentzug, der ist, .. sagen wir mal, das
Gröbste ist vorbei nach einer Woche .. (…) Und dann hab ich einmal eine Entgiftung geschafft. War ich dann ein halbes Jahr lang clean! .. Ja, und dann .. Ja, da hab ich dann angefangen mit – mehr zum Saufen .. und, äh .. Tabletten. (Pause). (…) Ja und dann .. halt wieder
/ gings dann wieder los. (Pause). Das ist (bitter), so, sag eben, so-so ein Entzug, also der
Kodeinentzug damals .. der hat fast drei Monate gedauert! .. Und Polamedon Entzug, dauert
halt sechs Monate. Also, .. das ist schon ziemlich heavy. .. schon ziemlich krass. Also, .. so, so
gut ist es jetzt auch wieder nicht mit der Ersatzdroge. (…) Weil wenn man da einmal angefangen hat ist’s so, so schwierig weg zu kommen. (…) Weil man sich da allerweil umeinander
quält und quält und quält .. und dann .. ahh! Ich hab keinen Bock mehr! Drauf geschissen!
Und so ist es eben bei mir“ (Jürgen, Positionen 178-188). Jürgens Leben ist bestimmt von
fehlgeschlagenen Versuchen in den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang einzutreten.
Der fehlgeschlagene Lehrabschluss verhindert die Integration in den Arbeitsmarkt einer Leistungsgesellschaft, deren Werte und Normen er uneingeschränkt akzeptiert und als Wunschziel seines Lebens auch intendiert. „So, so einfach so ein spießbürgerliches Leben manchmal.
Möchte ich manchmal sogar führen. So, .. mit Frau und Kind, verheiratet sein, ein Haus haben. .. Auto .. Führerschein ..! Führerschein hab ich gehabt (lacht), .. aber auch verloren, mei.
Scheiße. Aber einfach so .. ja, .. wie man halt so sagt, ein spießbürgerliche Leben eigentlich
führen“ (Jürgen, Position 238). Und von den Drogen, auch von den Ersatzdrogen, kommt er
trotz intensiver und langjähriger Bemühungen nicht mehr los. Die dadurch hervorgerufenen
körperlichen und psychischen bleibenden Schädigungen verhindern auch zukünftig eine Integration in den Arbeitsmarkt So fällt auch die Bilanz seines bisherigen Lebens düster aus:
„Mei, wie gesagt: 37 und im Grunde genommen habe ich noch nichts gescheites auf die Füße
gestellt. So,.. ich kann nicht irgendwie was daher bringen, wo ich sag : ‚Oh, stell Dir vor, des
und des hab ich schon gemacht!’ Oder des und des hab ich erreicht. Null! Also ich hab nix
gescheites erreicht. Gar nichts!..“ (Jürgen, Position 236). Sein Leben ist und bleibt im gesellschaftlichen Aus. Die Matrix seines Scheiterns ist die Normalbiographie des Gutbürgerlichen.
80
Jürgen fällt es im Interview sehr schwer die (richtigen) Worte zu finden, um sein Leben, sein
Erleben zu beschreiben, seine eigene (Lebens-)Erzählung zu formulieren. Seine Geschichte
scheint nicht erzählbar, eine Zukunft, worauf hin er sich entwerfen könnte fehlt („ich nimm
meine Ersatzdroge bis an mein Lebensende“). Das Erzählen des eigenen Lebens als Erfolgsgeschichte scheitert, die Worte fehlen zur Beschreibung der eigenen Existenz. „Also ich kann
mich selbst gar nicht richtig beschreiben“ (Position 232) „Mir fehlen die Worte, glaubst
Du’s?“ (Position 259). Gleichwohl begreift sich Jürgen als Handelnder, der sich durch den
Konsum von Drogen sein Leben zerstört hat. Die Dynamik der Drogensucht hat seine agency
überrollt. Was ihm bleibt ist die lakonische Hinnahme des Unausweichlichen.
Jürgens Ausgrenzungserfahrung gründet zum einen im nicht gelingenden gesellschaftlichen
Einstieg (Lehre; Beruf), gepuffert durch einen selbst gewählten gesellschaftlichen Ausstieg
(Drogen), dessen Dynamik ihn selbst überrollt und ihn in einer exkludierten Position sein
Leben lang festhalten wird. Zukunftsoptionen fehlen. Auf Seiten seiner Lebensbilanz stehen
Leerzeichen – ich hab nix und ich bin nix. Die Grundform des vertanen Lebens.
Als dritter Weg in die Exklusion ist der Weg als Prozess prekärer Zuspitzung eines bereits
gefährdeten Lebens am Rande der Erwerbsgesellschaft (3.) zu nennen. Beispielhaft dafür ist
Jorschs Lebensweg. Geboren in einer einfachen Waldbauernfamilie mit dreizehn Geschwistern in Österreich kommt er, ohne Ausbildung, auf der Suche nach Arbeit Ende der 1960er
Jahren nach Deutschland. Er kann hier zwar Fuß fassen, doch seine berufliche
Eingebundenheit bleibt stets prekär. Durch Probleme im sozial-emotionalen Bereich (Frau)
wird er aus der Bahn geworfen. Seine eigene psychische Labilität bringt ihn an die Ränder
des gesellschaftlichen Ausschlusses. „Ich bin verheiratet und hab eine andere kennen gelernt.
(…) Ja, ja. Da hab ich dann da Probleme bekommen. (zeigt vernarbte Unterarme) (…) ich war
auch eine Zeit in Haar draußen (Bezirkskrankenhaus/ Psychiatrie) Aber wie gesagt, bisschen
Probleme gehabt. Das Ganze (zeigt auf seine vernarbten Unterarme) hab ich dreimal probiert. (…) Ja, .. es ist mir halt nicht gelungen. (Pause). Ich weiß, ich bin ein bisschen ein labiler
Mensch (Jorsch, Positionen 26 -70).
Die drei dargestellten empirischen Beschreibungen von (Lebens-)Wegen in soziale Exklusion
stimmen mit den Ausführungen Heinz Budes (2004) überein und bestätigen diese.
81
4.3.3 Typische Handlungs- und Deutungsmuster
Durch alle biographischen Selbstbeschreibungen der Interviewpersonen ziehen sich Erfahrungen des Scheiterns, des nicht Genügens, der vertanen Chancen und nie wiederkehrenden
Optionen sowie des Verlustes durch Tod oder Scheidung. Außerdem wiesen alle physischpsychische Beeinträchtigungen auf, gepaart mit Formen des Drogen- und Alkoholmissbrauchs. Exklusion, so die empirische Feststellung, macht sich körperlich/psychisch bemerkbar, bzw. diese führen leichter in Exklusionslagen. Psychische Labilität und Überforderung
durch die täglichen gesellschaftlichen Anforderungen bei gleichzeitiger geringer innerer Ressourcenausstattung führen zu Vermeidungs- und Ausweichverhalten sowie dysfunktionalen
Bewältigungsstrategien. Jorsch bringt dies im Interview mit dem einfachen wie lapidaren
Satz auf den Punkt: „Wir haben es alle nicht leicht“ (Position 189).
Die Erfahrung der gesellschaftlich erwarteten Norm nicht entsprochen zu haben prägt ihr
Selbstverständnis und führt zu unterschiedlichen Handlungsmustern:
 dem lebenslangen Kampf bis hin zum ‚Nichts-geht-mehr’;
 des anfänglichen Bemühens um gesellschaftlichen Einstieg und des akzeptierenden
Rückzugs mit stigmatisierender Selbstexklusion; sowie
 vermeiden des Kampfes und fügen ins Unveränderbare von Anbeginn.
Bei allen Interviewten war eine starke innere Orientierung an gesellschaftlichen Werten beobachtbar, die beim Scheitern Reaktionen des Vermeidens, des Rückzugs, der Resignation
bis hin zum anspruchlosen Akzeptierens, unvermeidbar gemacht haben. Man lässt die Dinge
auf sich zu kommen, da sie als unbeeinflussbar erlebt werden. Diese passiv anmutende Strategie des distanzlosen Hinnehmens stellt, bei genauerem Hinsehen, die einzig adäquate Bewältigungsform dar. Wenn Futuring nur noch leer läuft, da reale Chancen nicht gegeben
sind, oder nur noch unter Triebverzicht herstellbar, gewinnen andere Strategien an Bedeutung. Ein gegenwartzentriertes ‚Carpe diem’ ohne perspektivischen Resonanzboden erscheint dann als die vernünftigste Maxime. In der Aussage: „Ich kann meinen Tag bestimmen
so wie ich will“ (Hibbie-Mama, Position 330), wird diese Haltung zur positiven Maxime innerer Freiheit umgedeutet. Nach dem Motto: ich kann entweder die Umstände verändern,
oder mein Denken über diese Umstände. Esoterisch angemutet besteht darin die wahre in82
nere Freiheit. „Ich bin auch so ein Mensch. .. Ich, äh, lebe in dem Jetzt(!), sag ich jetzt einmal.
(…) Also ich lass jeden Tag auf mich zukommen. So wie es halt ist, na so ist’s halt, gell..“ (Jürgen, Position 387, 389). In dem Versuch das eigene Denken auf Akzeptanz und Hinnahme zu
programmieren wird man einer defensiven Antwort auf äußere Anforderungen gewahr, welche jedoch im Fehlen innerer oder äußerer Bewältigungsressourcen zur Situationsveränderung begründet ist35. Die Bedingungen der äußeren Lebenssituation werden von den Interviewpartnern als unumstößliches Faktum gesetzt. Durch das Denken im Hier und Jetzt, ohne
frustrierende Vergangenheitsreflexion und besorgniserregende Zukunftsvorstellung, vermeiden sie eine kritische Bestandsaufnahme ihrer eigenen Ressourcenausstattung und versuchen so ihren Selbstwert zu wahren. So mag es nicht verwundern, dass Jürgen nach einem
für ihn sehr aufwühlenden Interview, in dem ihm häufig die Worte zur Beschreibung seiner
Person und Situation gefehlt haben und der Schwerpunkt des Gespräches um den gesellschaftlichen Selbstausschluss durch Drogenmissbrauch kreiste (wie auch sein reales Leben),
sich selbst als Glückspilz bezeichnet, denn .. er (im Vergleich zu vielen seiner Szenenbekannten) lebe ja noch. Und auch Richard verfolgt die Strategie des ‚Trotzdem’ wenn er erzählt, er
schlage jeden Tag die Augen auf und freu sich, dass er noch lebe. Denn das ‚wirkliche’ Scheitern im Lebens liegt im Tod.
Finanzielle Defizite (und auch andere Defizite) erden umgedeutet zur inneren Stärke, als Gegenpart zur materiell- und leistungsfixierten Mehrheitsgesellschaft „also das Materielle ist –
war für mich auch nie so .. nee, das ist mir nicht wichtig. Hmh. Mein okay, das gerade, was
ich zum Überleben, und aber so ich .. möchte gar nicht irgendwie mehr haben“ (HibbieMama, Position 342). Diese Umdeutung bricht genau an dem Punkt wo die Wünsche der
Wohnungsflüchter nach Auto, Motorrad, nach Haus und Fernreisen offenbar werden. Nicht
der unendliche Luxus des Jetsets wird angestrebt, der kann mit genügsamer Geste standhaft
von sich gewiesen werden, sondern die gewünschte Vorstellung der materiellen Ausstattung
orientiert sich am Lebensstil der Mittelschicht. An dem, was sich ‚eigentlich’ jeder leisten
kann, bzw. können sollte, an den wohlfahrtsstaatlich geprägten Lebensstilvorstellungen. An
dem, was damit als das ‚Normale’ gilt. Die Vergleichsmatrix Exkludierter ist die >>nivillierte
Mittelstandsgesellschaft (Schelsky) der 1950/ 1960er Jahre in Deutschland. In dieser Kon35
Vgl. Stressbewältigungsmodell n. Lazarus & Folkman (1984) und die Ausführungen dazu unter
Punkt 2.1.6..
83
trastfolie wird ihr eigenes Scheitern konkret. Damnitz und Eierdanz (2008) schreiben nicht zu
unrecht, dass auch in der Einstellung, „aus eigenen Stücken auf Distanz zu gesellschaftlichen
Werten und Normen zu gehen“ das Gefühl des sozialen Ausschlusses virulent ist (S. 24).
Und das Erzählen der Geschichte ihres Scheiterns fällt schwer. Das Erinnern der „alten Geschichten“ wird im alltäglichen Handeln vermieden „und .. ich habe dieses alles im Endeffekt
vergessen. Kommt zwar zwischendrin, wenn ich was erzähle..“ (Richard, Position 129), verdrängt, in die Schublade gesperrt. Der Schmerz soll nicht mehr fühlbar gemacht werden. „…
was ich halt so äh, äh dir eben so erzähle .., das geht natürlich schon irgendwo da rein, gell.
Und da/ deswegen ist so ein Revue passieren lassen, .. des ist immer wieder, unangenehm,
sag ich einmal. Ich möchte das gar nicht richtig wahrhaben, eben mit, dass irgendwann meine Mutter stirbt. Oder, dass ich einfach ein ah, ah Ex-Junkie bin. Und, und .. zehn Jahre nicht
gearbeitet habe und so, und so fort. Irgendwie, das wird einem erst so richtig bewusst, wenn
man davon erzählt“ (Jürgen, Position 269) Das was passiert ist, ist passiert. Kann nicht mehr
geändert werden. Muss einfach akzeptiert werden. „Ich hab keinen Bock mehr! Drauf geschissen! Und so ist es eben bei mir“ (Jürgen, Position 188) Und ein Entwurf in die Zukunft
fehlt. „Ich weiß auch nicht, mein Leben, ich müsste da mal irgendwie ein bisschen/ das ist das
eben auch, dass ich das alles so schleifen lasse. (…) Nicht so weit voraus denke. Aber das
muss ich dann echt einmal machen, wenn du sagst, ja was .. wie stellst du dir das vor und
was möchtest du machen? Das hab ich jetzt so richtig gemerkt gehabt, dass ich da keine ..
Antworten drauf geben kann, weil ich mir da wirklich noch keine Gedanken .. drum gemacht
habe“ (Jürgen, Position 419)
4.3.4 Sozial exkludierte Individuen und Formen gesellschaftlicher Selbstverortung
Die individuelle gesellschaftliche Verortung der Exkludierten, bzw. von Exklusion bedrohten
Wohnungsflüchter erfolgte weniger über ihre aktuelle finanzielle Situation und ihre
Eingebundenheit am Arbeitsmarkt, als viel mehr über subjektive Verortungen im sozialen
Nahbereich und Zugehörigkeitskonstruktionen. Beide Faktoren bestimmten maßgeblich die
Bandbreite des Inklusions- oder Exklusionsempfindens der jeweiligen Person. Als weiterer
entscheidender Faktor stellt sich, in Übereinstimmung mit den unter Punkt 2.1.6 dargestell84
ten Ergebnissen, die antizipierte soziale Lage36 und mithin die künftige Entwicklung des individuellen Lebenslaufes, dar.
Wie Jürgen, so hatte auch ‚Hibbie-Mama’ eine Drogenkarriere hinter sich. Beide verorteten
sich sozial am Rande der Gesellschaft. Sie sahen sich zwar weiterhin zur Gesellschaft in irgendeiner Weise zu gehörig, doch definierten sie sich klar in der Kategorie der Randgruppe.
„Mei, ich gehöre schon eher zu den Randgruppen“ (Jürgen, Position 257). „… schon am Rand.
Würde einfach ‚Händchen halten’ und ja .. und den Rand .. bilden (lacht) (Hibbie-Mama, Position 300). Entscheidend war dabei die soziale Bezugsgruppe auf die hin sie sich selbst entwarfen. Beide gaben an, schon immer zur Gruppe derer, die am Rande stehen, gehört zu
haben „ Also ich hab mich schon immer / irgendwie war ich mit Leuten unterwegs, .. / fast
immer alle älter. Und ich fand das dann immer so ganz cool, wie die so drauf sind. Und ich
war immer eigentlich einer von denen, der was so, weiß auch nicht, .. äh .. vor dem uns Eltern
gewarnt haben“ (Jürgen, Position 289), und über keine anderen sozialen Bezugspunkte zu
verfügen „und, weil ich eben auch nur solche Leute kenne“ (Jürgen, Position 287). Der Mangel an inkludierten sozialen Bezugspunkten verfestigt die Identifikation mit sozialen Randgruppen und verstärkt das eigene Exklusionsempfinden gegenüber der Mehrheitsgesellschaft auf Grund verinnerlichter Vorstellungen vom richtigen, also normkonformen, Leben.
„Ich denk einfach, dass das so / dass das eben so wird, .. in dem Umfeld, wo ich mich auf-ährumtreibe, sag ich jetzt einmal so. Abgesehen von dem Park, ich fahr manchmal gern runter
an den ‚Flaucher’ (Badeplatz an der Isar). Da kenn ich auch ein paar Leute. Die sind gut drauf
und und .. äh wird auch Bier gesoffen. Und da naja. Wird auch ab und zu was geraucht .. und
.. – aber mehrer nicht, um Gottes Willen! Also, halt so ganz normal. – Ich kenn nur solchene
Menschen!“ (Jürgen, Positon 257). Randständigkeit und sozial abweichendes Verhalten wird
zur identitätsstiftenden Normalität. Und gleichzeitig zur belastenden und verinnerlichten
Stigmatisierung, wenn es an anderer Stelle heißt „ Ich bin ja da schon so ein .. Langzeitarbeitsloser (Position 140). (…) Oder dass ich jetzt vielleicht, - vielleicht bloß! Hartz-IVEmpfänger bin und einen 1€-Job mach (Position 200). (…) Ich möchte das gar nicht richtig
wahrhaben, dass ich einfach ein ah, ah Ex-Junkie bin. Und, und .. zehn Jahre nicht gearbeitet
habe und so“ (Position 269). Gesellschaftlich anerkannten Werten kann er nicht entsprechen
und auch seine sozialen Bezugspunkte, wie der Fußballverein 1860 München, dessen Fan er
ist, werden in München gerne als ‚Grattler’ deformiert. Seine sozialen Nahbeziehungen sind
36
(Bude; Lantermann 2006 und Damnitz; Eierdanz 2008)
85
eingeschränkt und ermöglichen es Jürgen nicht, sich konstruktiv in die Zukunft zu entwerfen.
Seine Mutter ist schon sehr alt, gesundheitlich massiv angeschlagen und stirbt vielleicht bald
und seine Freundin, da steht jetzt schon für ihn fest, dass sie nicht die Frau-fürs-Leben fest.
Die Zukunft fehlt, um das emotionale Dilemma des aktuellen Exklusionsempfindens zu verarbeiten.
Wie ausschlaggebend soziale Zugehörigkeitskonstruktionen für die eigene gesellschaftliche
Verortung und Gefühle der Exklusion sind, zeigt das Beispiel von Richard noch einmal ganz
deutlich. Auch er ist gesundheitlich massiv angeschlagen, auch er ist arbeitslos, auch er ist
nicht mehr in den Arbeitsmarkt integrierbar, und damit ist auch seine finanzielle Situation
mehr als prekär. Gleichwohl definiert er sich gesellschaftlich zum jetzigen Zeitpunkt als
„dreiviertel oben!“ (Richard, Position 500). „Ja, weil ich nämlich Leute habe, aber nicht hier in
Giesing. Sondern .., das sind ja Leute auch viel mit Musik – klassischer Musik und so. Also .. /
bin jetzt auch des Öfteren wieder, kann man sagen so zwei, drei mal im Monat im Gasteig ..
zu Konzerten. Kenne auch viele von den Philharmonikern, dann kriege ich von denen mal
wieder Karten“ (Richard, Position 495). „Und das sind dann/ also die Kreise .. sind dann die
wo man dann auch einmal wenn’s einem wirklich ist, wo man Unterstützung kriegt“ (ebenda,
Position 545). Die eindeutige Zugehörigkeitskonstruktion zur Mittelschicht ermöglicht ihm
eine positive gesellschaftliche Selbstverortung. Als identitätsstiftende Grundlage seines
Selbstentwurfes dient ihm seine lange berufliche Eingebundenheit. Diese ermöglicht ihm
auch einen konstruktiven Zukunftsentwurf als „verdienter“ Frührentner. Hier vereinen sich
Vergangenheit und Zukunft zu einem kohärenten Muster und die dazwischen liegenden Tiefen können als wichtige Erfahrungswerte umgedeutet werden. „Mit Höhen und Tiefen (Pause). Andererseits sag ich mal so .. wie es im Volksmund oft heißt: da muss man durch. Man
muss beides mitgemacht haben! Sonst kann man auch nicht irgendwie mitreden. Wenn jemand nur immer ganz oben war .. schon gleich zwei Mal nicht und wenn jemand nur ganz
unten war .. dann ist es ein bisschen eingeschränkt. Aber wenn man beides mitgemacht hat,
dann .. kann man ein bisschen drüber reden“ (Richard, Position 337). Die gesellschaftliche
Selbstverortung Richards, seine Zugehörigkeitskonstruktion, bleibt jedoch fragil, denn es
fehlt ihr die notwendige Reziprozität der Sozialbeziehungen. Die Unterstützung, durch z. B.
Konzertkarten und dergleichen, verläuft nur in eine Richtung. Die Wechselseitigkeit fehlt,
wie auch die gleiche Ausgangsposition hinsichtlich des gemeinsam praktizierten Lebensstils.
86
Was seinen ‚Freunden’ eine Selbstverständlichkeit ist, wird für Richard nur qua Freikarten
und Einladungen möglich. Für die er sich außerdem nie revanchieren kann. Auf ihn passt das
Bild des ‚Proletaroiden’ (Theodor Geiger), des aus der Mittelschicht abgestiegenen Individuums, das sich fälschlicherweise als noch immer der Mittelschicht zugehörig rechnet.
Zusammenfassend wurden vier verschiedene Formen gesellschaftlicher Selbstpositionierung
vorgefunden:
 Fühlt sich qua menschlicher Existenz der Gesellschaft zugehörig
 Verortung am Rande der Gesellschaft qua Selbstdefinition der Randgruppenzugehörigkeit.
 Verortung in der (oberen) Mitte der Gesellschaft. Objektive Lagekriterien entsprechen zwar dem abgehängten Prekariat, fühlt sich aber auf Grund seiner Mentalität
(resultierend aus sozialer Herkunft, Sozialisation und Lebensweg) als Mitglieder des
(Bildungs-)Bürgertums.
Genau umgekehrt stellt sich der Fall in der vierten Form gesellschaftlicher Selbstpositionierung dar:
 Objektive Lagekriterien entsprechen zwar tendenziell der Mittelschicht, ordnet sich
aber qua Mentalität mehr dem Arbeiter- und Unterschichtsmilieu zu.
Entsprechend ihrer gesellschaftlichen Selbstverortung lassen sich vier der Interviewpartner
folgendermaßen einordnen:
87
Hubert
Hibbie-Mama
Scarlett
Jürgen
Jorsch
Richard
Abbildung 2: Heuristik von Inklusion – Exklusion nach Robert Castel: gesellschaftliche Selbstverortung der Interviewpartner. (Institut für Praxisforschung und Projektberatung, IPP, 2008)
4.4 Exklusion und individuelle Lebensführung
Sozialer Ausschluss nimmt Einfluss auf die individuelle Lebensgestaltung der Exkludierten. Er
kann in den Dimensionen Ausgrenzung am Arbeitsmarkt, ökonomische und kulturelle Ausgrenzung, Ausgrenzung durch gesellschaftliche Isolation, räumliche Ausgrenzung und politisch-institutionelle Ausgrenzung stattfinden37. Häufig hat soziale Ausgrenzung in einem der
Bereiche auch Ausschlusserfahrungen in den anderen Dimensionen zur Folge. Es ist deshalb
auch von kumulativer Ausgrenzung zu sprechen.
Eine finanziell prekäre soziale Lage, bedingt durch Ausschluss vom Arbeitsmarkt 38 bzw. Anstellung im Niedriglohnsektor39, lag bei fünf der interviewten Personen vor. Die eingeschränkte finanzielle Situation wirkte sich im erheblichen Maße reduzierend auf den Lebensstandard aus und stellte im Vergleich zur übrigen Bevölkerung eine starke Benachteiligung
dar. Einzelne Güter wie Reisen, Auto, Eigenheim wie auch Konzert oder Theaterbesuche und
Einladungen bzw. Restaurantbesuche waren auf Grund der fehlenden finanziellen Mittel,
unerreichbar. „Das ist es .. was mir fehlt. Ich hab noch zu wenig gesehen von der Welt. Ich
würde so gern verreisen, so richtig, wie soll ich sagen .. äh, äh, kein Heimweh, sondern ein ..
Fernweh“ (Jürgen, Position 242). Durch die Leistungen des ALGII wurden zwar die Grundbedürfnisse der Interviewpartner abgedeckt, führten aber insgesamt zu einer eingeschränkten
37
Vgl. Punkt 2.1.5. Dimensionen sozialer Ausgrenzung n. Kronauer (1997, S. 38ff.)
38
N = 4 Personen
39
N = 1 Person
88
Lebensqualität.40 „In München verhungert niemand. Das Geld fehlt für Alkohol und Tabak“
(Hubert, bei einem Gespräch am Platz). Zur Finanzierung seiner Süchte geht Hubert deshalb
betteln.
Ökonomische Exklusion bedingt individuell veränderte Strategien der Lebensführung. „Es
geht schon, wenn man sich dementsprechend einstellt. Geht es schon .. und .. / das kann
jetzt ruhig auf’s Band kommen / ich leiste mir selber z.B. kein ‚Augustiner’ (zeigt die Bierflasche in seiner Stofftasche). Ist mir zu teuer. (…) Weil.. ich kaufe mir halt ein Bier (**) für 29
Cent die Flasche. So kann man sich nämlich ganz einteilen, wenn / genauso wenn ich mir
Semmeln kaufe zum Essen. Dann geh ich zum ‚Penny Markt’, nicht zum ‚Tengelmann’ (…) So
kann man sich das alles ein bisschen .. – man muss halt schauen“ (Richard, Position 156 –
162).
Kommt es in den Bereichen der elementaren Versorgung zu Einschränkungen, welche durch
verändertes Konsumverhalten auszugleichen versucht wird, so kommt es im Bereich der sozialen und kulturellen Teilhabe zu faktischen Ausschlüssen. Ein Beispiel hierfür ist der für den
Münchener Lebensstil typische Biergartenbesuch. In der Bayerischen Biergartenverordnung
(1999) steht hierzu unter Punkt 2.1 zur Regelung des § 1Anwendungsbereich der Verordnung zu lesen: „Der typische bayerische Biergarten ist eine Gaststätte bzw. der im Freien
gelegene Teil einer solchen, deren Betrieb im wesentlichen auf Schönwetterperioden während der warmen Jahreszeit beschränkt ist. Das Erfordernis des Gartencharakters verlangt
eine Situierung des Betriebs im Grünen …“ Und weiter unten wird auf die besondere soziale
und kulturelle Funktion des Biergartens verwiesen, wenn es da heißt: „Biergärten erfüllen
wichtige soziale und kommunikative Funktionen, weil sie seit jeher beliebter Treffpunkt breiter Schichten der Bevölkerung sind und ein ungezwungenes, soziale Unterschiede überwindendes Miteinander ermöglichen. Die Geselligkeit und das Zusammensein im Freien wirken
Vereinsamungserscheinungen im Alltag entgegen. Sie sind vor allem für die Verdichtungsräume ein ideales und unersetzliches Nahziel zur Freizeitgestaltung im Grünen. Sie sind regelmäßig gut zu erreichen und bieten gerade Besuchern mit niedrigem Einkommen und Familien, insbesondere durch die Möglichkeit zum Verzehr mitgebrachter Speisen, eine er-
40
Damit stimmen die Ergebnisse der vorliegenden qualitativen Studie mit den quantitativen Befra-
gungsergebnissen des ‚Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung’ (PASS) überein, die im Auftrag des
Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) erhoben wurde. (Christoph, Bernhard 2008)
89
schwingliche Gelegenheit zum Einkehren“ (Bayerische Biergartenverordnung 1999). Was
aber in dieser Verordnung nicht berücksichtigt wird, ist, dass die Getränke vor Ort im jeweiligen kommerziellen Ausschank zu kaufen sind. Und die entsprechenden Preise weit über dem
Ladenverkaufspreis liegen. Ein Besuch des Biergartens in München ist für die
Wohnungsflüchter im Freizeitpark an der Weißenseestrasse unerschwinglich. Die eigentlich
intendierte Inklusionsfunktion der Biergartenkultur verliert ihre Leistungsfähigkeit und wird
zur Erfahrung von sozialem, kulturellen und räumlichen Ausschluss. Es ist deshalbnicht verwunderlich, dass die Wohnungsflüchter ihren Platz, an dem sie sich im Grünen zum geselligen Beisammensein und zum Zwecke der Kommunikation treffen und an dem sich „breite
Schichten der Bevölkerung mischen, als „Biergarten für Arme“ bezeichneten. „Wir sind halt
anders als die Spießer. Die gehen zum Trinken in den Biergarten und saufen da ihr Bier. Das
ist auch nichts anderes. Wir können uns den Biergarten halt nicht leisten“ (Hubert, bei einem
Gespräch am Platz). So wird der Platz zur integrativen Inklusionsfigur, als Sicherung von sozialer Zugehörigkeit und Anerkennung sozial exkludierter Individuen.
Das Verhalten der Wohnungsflüchter bleibt nicht ohne gesellschaftliche Konsequenzen. Es
ruft Stigmatisierungs- und Abwehrreaktionen seitens der Passanten im Park hervor41. Die
Erfahrung des sozialen Ausschlusses wiederholt sich.
Einen weiteren Punkt im Bereich der individuellen Lebensführung nimmt für gewöhnlich der
der Freizeitgestaltung und Freizeitbeschäftigung ein. Dieser Bereich blieb in den Interviews
trotz Nachfrage sehr unterrepräsentiert. Keiner der interviewten Personen gab eine Vereinsmitgliedschaft oder eine anderweitige Freizeitbeschäftigung im sozialen Kontext (und
damit Optionen der Zugehörigkeitsdefinition) an. Einzig lieb gewonnene Tätigkeiten wie Stricken oder Sticken wurden erwähnt, die von Natur aus auf den häuslichen Bereich begrenzt
bleiben. Als einzige Freizeitbeschäftigung kam die Sprache immer wieder auf das Fernsehen
(und im vereinzelten Fall auf den Computer). Medienkonsum als ausschließliche Freizeitgestaltung, vor dessen Überflutung und Ermüdung sich die Befragten nur zu oft in die interaktive Situation am Platz flüchten.
Vertrauensvolle, intensive Nahbeziehungen waren bei den interviewten Personen sehr eingeschränkt vorhanden. Wenn, dann bezogen sie sich auf den engsten Familienkreis. Einzig
41
Siehe unter Punkt 4.5..
90
eine der berufstätigen Interviewpersonen gab an, über einen ihr nahe stehenden und intensiven Freundeskreis außerhalb des Treffpunktes im Park zu verfügen. Diese Person war auch
die einzige, die nicht alleine in einem Haushalt lebte. Und sie war auch die einzige, deren
emotionale Unterstützungsressource nicht auf die sozialen Kontakte am Platz begrenzt blieb.
Anders stellte sich dies bei den anderen Interviewpartnern dar:
A: „Wenn Du jetzt Ärger hast, oder Schwierigkeiten, oder irgend so was und Du müsstest es
mal raus lassen und erzählen?“
IP: „Ja, dann .. Dann kann ich schon hier her kommen.“
A: „Die hören zu?“
IP: „Ja, klar, klar. Logisch.“
A: „Gibt es spezielle Themen, wo Du sagst, die sind am besten hier aufgehoben?“
IP: (schnauft tief ein).
A: „Oder Themen, wo Du sagst, mit denen rede ich da auf keinen Fall drüber?“
IP: (schnauft tief aus) „Naja, Nein eigentlich nicht. Also, .. egal welches Thema. .. Also, da
hört schon immer-immer irgendjemand zu! Oder gibt seinen Kommentar dazu.“
IP: „Ja. Oder manchmal sagen die auch das, ohne dass ich es wahrhaben möchte. So wie es
ist. Manchmal.“
(Jürgen, Position 103 – 114)
Auf die Frage, ob es über die Kontakte am Platz noch weitere gefühlsmäßig wichtige Personen für ihn gebe, antwortete Jürgen: „Mei, bloß meine Freundin. Das war’s . .. Ja, und meine
Mutter“ (Jürgen, Position 90).
Die sozialen Netzwerke der exkludierten Interviewpersonen waren stark auf einen sehr homogenen Kreis, zu meist die nächsten Familienangehörigen, beschränkt. Das Unterstützungspotential vor allem heterogener Netzwerke fehlte. Auf die weiter oben angeführte
Aussage Jürgens, dass er einfach nur solche Leute kenne, sei an dieser Stelle nochmals hingewiesen. Kronauer hat 1997 explizit darauf aufmerksam gemacht, dass auch durch gesellschaftliche Isolation eine Form kultureller Ausgrenzung gegeben ist. Die Reduzierung der
Sozialkontakte führt zur Gruppen- oder Milieubildung, was Dissoziation und Identifikationsblockierung fördert. Die Konzentration auf ein homogenes Milieu fördert des weiteren Assoziation und subkulturelle Identifikation (vgl. Kronauer 1997, S. 41). „Ich sage eben jetzt äh
Leute, die was eben auch mal drauf waren (= Drogenabhängigkeit) und ich erzähl von irgendeiner Sache, und und so wie ich eben rede, dann wissen die genau was Sache ist“ (Jürgen,
91
Position 287). Geteilte Lebenserfahrungen schaffen Zugehörigkeit qua Ähnlichkeit und fördern soziale Identifikation unter gleicher Adresse.
Auffallend war der stark körperlich und psychisch beeinträchtigte Gesundheitszustand aller
Interviewten. Allen gemeinsam war eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Abhängigkeitsproblematik. Diese reichte von gelegentlichem „Quartals-Saufen“ bis hin zur
Politoxikomanie und fand ihren Niederschlag in bleibenden körperlichen Schädigungen und
Erkrankungen wie z. B. Hepatitis C und HIV positiv Infektionen. Darüber hinaus bestand bei
zwei der sechs interviewten Personen eine manifestierte Depression, in einem Fall verbunden mit Panikattacken und Angststörungen. Alle Interviewten standen diesbezüglich aktuell
oder in näherer Vergangenheit in Kontakt zum institutionellen medizinischen Hilfesystem.
4.5 Gesellschaftliche Stigmatisierung und deren Verarbeitung
Der Treffpunkt der Wohnungsflüchter liegt am Ausgang des Freizeitparks an der Weißenseestrasse im Münchner Stadtteil Giesing. Da dies der einzige Park in der näheren Umgebung
ist, wird er von Anwohnern, Eltern mit ihren Kindern, Erholungssuchenden aus Nah und
Fern, Joggern und Hundebesitzern, also von den verschiedensten Personengruppen, intensiv
genutzt. Die Frage, ob denn die Passanten in irgendeiner Weise auf ihre Anwesenheit hier
am Platz reagieren würden, wurde von allen Befragten bejaht. „Die Leute schauen da schon
irgendwie“ (Hibbie-Mama, Position 308). Die Wohnungsflüchter nehmen die Reaktionen der
Passanten auf ihre Anwesenheit am Platz wahr, und auf der Basis ihrer eigenen, verinnerlichten gesellschaftlichen Werte sehen sie sich mit den Augen der anderen, sprich der Passanten. „Ich denke, dass die wahrscheinlich denken, das sind alles Säufer“ (Hibbie-Mama, Position 308). Die hier stattfindende Perspektivenübernahme basiert auf einer Vorstellung Georg
Herbert Meads (1934), die zum einen davon ausgeht, dass menschliche Kommunikation qua
signifikanter Symbole stattfindet und diese sowohl vom Sender als auch vom Empfänger mit
gleicher Bedeutung versehen und damit verstanden werden, und zum anderen, dass das
Individuum im Laufe seiner Sozialisation die gesellschaftlichen Werte und Normen in der
Figur des ‚generalisierten Anderen’ hin sich hinein nimmt. „Der generalisierte Andere ist der
Repräsentant der Gesellschaft im Individuum“ (Strauss 1969, S. 30) und ist sowohl mit
Selbst- als auch mit sozialer Kontrolle eng verbunden. Er legt die Grundlage für Fremdver92
stehen im Individuum. Die „Fähigkeit, sich auf die Perspektive eines generalisierten Anderen
einzustellen, ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Identität“ (Abels 2001, S. 202).
Der kritische, negative, häufig stigmatisierende Blick der Passanten trifft in der Person des
Exkludierten auf seine eigenen gesellschaftlich vermittelten Wertvorstellungen und sieht in
der Abwertung der anderen sein eigenes Scheitern. „Ja, dass sie uns einfach äh, äh .. abstempeln. Als vielleicht Alkoholiker .. und irgendwelche verkrachten Existenzen, die was nicht
arbeiten. .. Sozialschmarotzer sind .. so was in der Art .. denk ich mir mal“ (Jürgen, Position
333). Das grundlegende Bedürfnis nach Selbstwerterhalt macht Strategien konstruktiver
Verarbeitung von Stigmatisierungserfahrungen notwendig. Es kommt zu Relativierungen im
Sinne von „ich ignoriere so etwas eigentlich. Weil ich mir sage, also .. das .. / sie weiß ja
nichts von uns“ (Scarlett, Position 401), zu Degradierungen in die vermeintliche
Unbedeutsamkeit im Sinne von „mir ist das wurscht. Das juckt mich nicht, das ist mir gleich,
da hab ich kein Problem“ (Jorsch, Position 226), zur Darstellung moralischer Überlegenheit
wie: „Ich schalte ab! Ich schalte total ab. Da .. ich kriege es zwar mit, aber ich schalte ab. ..
Ich sage da nichts drauf. .. Derjenige kriegt auch nie eine Antwort von mir. Weil, .. ich mir
dann immer so sage: ‚der ist irgendwie unter meinem Niveau’. Und irgendwie ist das Niveau
.. muss man sich schon ein bisschen beibehalten“ (Richard, Position 545) und zu Umdeutungen. Dieser Form der Reaktion kommt eine besondere Bedeutung zu, „…, ich meine, ich akzeptiere jeden wie er lebt, ob spießig, offen oder, oder nicht spießig, aber wahrscheinlich von
diese .. von diese Leben .. was wahrscheinlich .. äh wie sie leben. In der Früh aufstehen um
sieben, um halb acht in die Arbeit sein oder acht und bis dann und dann. Und nach der Arbeit
wird Kaffee getrunken, nach dem Kaffee wird .. was weiß ich, so .. und des hmh, nee. Also so,
denke ich das da manche vielleicht .. schon ausbrechen .. würden gerne, aber sie trauen sich
nicht. Doch! Viele trauen sich nicht“ (Hibbie-Mama, Position 318), denn in ihr kommen Tendenzen subkultureller Entwicklungen42 zu einer sozialen Identität des ‚Wir-sind-wir’ basie-
42
Als subkulturelle Entwicklung verstehe ich hier das Phänomen, dass die am Platz vertretenen Werte
und Normen durchaus mehr oder weniger mit den Normen des übergeordneten Ganzen übereinstimmen, sich aber in diversen Punkten des Lebensstils davon abheben. Lamnek schreibt dazu: „Es gibt
(…) immer auch einige Basiswerte und –normen, die von der dominanten und übergeordneten Kultur
übernommen werden, was die Zugehörigkeit zum Gesamtsystem ausmacht. Subkulturen übernehmen
also einige Normen der dominanten Kultur, unterscheiden sich jedoch in anderen Werten und Normen
von dieser. Aus dieser Wert- und Normdifferenzierung lassen sich Erklärungen für abweichendes Verhaltensweisen ableiten“ (1993, S. 143).
93
rend auf der Vorstellung moralischer Überlegenheit zum Vorschein, welche vorschnell auf
die Existenz einer eigenständigen ‚Kultur der Armut’ (vgl. Lewis 1966) schließen lassen könnten. Eine solche ist jedoch nicht, und wenn, nur in ihren Ansätzen, gegeben. Die ausgeschlossenen Wohnungsflüchter orientieren sich, unabhängig eigener Lebenserfahrungen, weiter
an den bestehenden gesellschaftlichen Werten und müssen alltäglich mit der Diskrepanz
zwischen diesen Werten und den eigenen Möglichkeiten ihrer Umsetzung zurechtkommen.
Dies führt aber nicht zur Entwicklung eines eigenständigen, parallelen’ Wertesystems, welches für die Akteure Erleichterung und Entlastung bereitstellen könnte, sondern erfordert
von den Wohnungsflüchtern spezifische Strategien der Zugehörigkeits- und Selbstwertkonstruktion, in welchen sich die Ambivalenz von Nähe und Abstand zum gesellschaftlichen
Wertehorizont widerspiegeln und „in denen die Betroffenen Anziehung und Ausschluss von
herrschenden Kulturmustern erleben und handelnd verarbeiten“ (Kronauer 1997, S. 41).
4.6 Pflaster verwundeter Seelen – das Tier an meiner Seite
„Nein, aber … weißt Du, was noch interessant ist? Dass .. / es haben ja eigentlich nicht so
viele Leute einen Hund. Aber gerade die Leute, was .. wenig Geld haben, oder was so sozial
ziemlich unten sind – haben verdammt viel Leute einen Hund“ (Jorsch, Position 151). Übereinstimmend gaben die befragten Personen an, dass der Hund, oder ein anderes Haustier
insbesondere Katzen, eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen. Der oft unstrukturierte Alltag der Wohnungsflüchter erfährt auf Grund der tierischen Bedürfnisse nach Auslauf, Fressen und Erziehung Sinn, Verantwortung und Struktur. „Ohne Hund, da würde ich mir vielleicht ... eine Flasche Korn reinziehen .. und dann nur im Bett liegen und schlafen und schlafen
(lacht).“ (Hubert, Position 44). Der Hund macht es notwendig, aufzustehen, Essen zu besorgen und mit ihm raus zu gehen. Täglich wiederkehrende Notwendigkeiten müssen verantwortungsvoll erledigt werden. Ein durch fehlende Erwerbstätigkeit sinn- und strukturentleerter Alltag gewinnt dadurch Struktur, Sinn und Verantwortung zurück. Der Hund muss raus,
egal was ist. „Man muss“. (Hubert, Position 46). Mit der Übernahme eines Hundes kehrt die
Verantwortung in das Leben exkludierter Personen zurück. Sozial ausgegrenzte Personen
verfügen über wenige oder keine Bereiche in ihrem Leben, in dem sie Verantwortung für
oder auch Führung über andere übernehmen können. Der Hund dankt es ihnen mit bedin94
gungsloser Solidarität und Treue. Die oft verloren gegangene Reziprozität in den sozialen
Beziehungen der Wohnungsflüchter funktioniert an dieser Stelle noch, in der Übernahme
der Verantwortung für das Tier erfahren Exkludierte Bedeutung. Das Haustier fungiert in der
Beziehung zum Wohnungsflüchter als soziales Gegenüber, in dessen Bewertung andere Kriterien zum Tragen kommen als in der Humangesellschaft. Im Blick des Hundes wird man
nicht damit konfrontiert, was man in seinem Leben erreicht, was man aus seinem Leben gemacht hat. Nicht Beruf, Geld und soziales Prestige bestimmen die Beziehung, sondern einzig
Fürsorge und liebevoller Umgang zählen.
Und auch der Verlust und die Reduzierung sozialer Beziehungen wird durch die Anwesenheit
eines Haustiers leichter ertragbar. So gibt Jorsch auf die Frage, warum wohl so viele der
Wohnungsflüchter einen Hund haben an: „Mh ja, weil’s möglicherweise auch Gesellschaft
brauchen. Weil sie sonst vielleicht zu wenig haben. Oder, oder einen Freund brauchen. Nehm
ich , dass das mit dem etwas zu tun hat.“ (Jorsch, Position 153). Der Hund wird zum Freund
und füllt damit eine Lücke im Feld sozialer Beziehungen. Und auch die Funktion der emotionalen Unterstützung und psychischen Stabilisierung wird dem Haustier zugeschrieben. Für
Hubert ist sein Hund mehr als ein Freund, er ist ihm sogar Therapeut. Und das Wegfallen des
geliebten Haustieres kann zu emotionaler Verunsicherung und psychischer Instabilität führen. „Ich, ich hab eine Katze gehabt. 15 – 16 Jahre lang. .. Und dann ist .. – ja gestorben ist
sie. Und des / und seit dem .. hab ich .. das Problem gekriegt (Depression) – also .. da ist das
mit der Frau noch gar nicht gewesen. Da hab ich/ ich hab der Katz monatelang nachgetrauert. Das war .. / wie viele Leute / ahm eine Mutter oder ein Vater seinem Kind nachtrauert.
Echt.“ (Jorsch, Position 153, 155) Der Tod des Haustiers wiegt bei aller emotionaler Verbundenheit in Situationen sozialer Isolierung und Vereinzelung schwerer als in Situationen intensiver sozialer Eingebundenheit. Ein Hund reduziert das Gefühl von Einsamkeit und Isolation.
„Ich bin jeden Tag mit ihm unterwegs“… „und der legt sich zu mir ins Bett rein“ (Hubert, Position 42), doch gänzlich aufheben kann er das Gefühl sozialer Isolierung nicht, denn „ein Hund
ist halt ein Hund“ (Hubert, Position 48) und eben doch kein Mensch.
95
5 Fazit
Biographische Verläufe werden brüchig, und soziale wie ökonomische Eingebundenheit prekär. Einstige klassische Normalbiographien, bestehend aus dem Fundament Erwerbsarbeit
und Ehe zur Schaffung von Besitz und finanzieller Unabhängigkeit, brechen im Laufe ihres
Gelebtwerdens weg, bekommen einen Knacks und mit ihnen, die hinter diesen Mustern stehenden Individuen43. Oder aber der Einstieg in diese Erwerbsbiographie und damit in den
gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang gelingt erst gar nicht44. Diese Thesen der sozialwissenschaftlichen Exklusionsdiskussion in Deutschland haben sich in den empirischen Daten
der dargestellten Untersuchung bestätigt gefunden.
Als Wege in die Exklusion lassen sich in den empirischen Daten drei Varianten unterscheiden: 1. der Weg als Prozess des inter- und/oder intragenerationellen sozialen Abstiegs. 2.
der Weg des von Anbeginn verwehrten Zugangs zu gesellschaftlicher Teilhabe und 3. der
Weg als Prozess prekärer Zuspitzung eines bereits gefährdeten Lebens am Rande der Erwerbsgesellschaft45 und bestätigen damit die Aussagen, Heinz Budes (2004), einen der führenden Vertreter der deutschen Exklusionsdiskussion.
Die Zone der Prekarität weitet sich aus! Auch diese Aussage der Exklusionsdiskussion bestätigt sich in den von mir erhobenen Daten. Dies zeigt nicht zu letzt die Veränderung der
Gruppenzusammensetzung der untersuchten Wohnungsflüchtergruppe im Freizeitpark an
der Weißenseestrasse. Bestand die Gruppe in ihren Ursprüngen ausschließlich aus Obdachlosen, einer klassischen Randgruppe, weitete sich deren Kreis in den letzten 5-6 Jahren kontinuierlich in Richtung gesellschaftlicher Mitte aus46. Zunehmend mehr Personen fühlen sich
von der Gruppe im Park angezogen und finden dort das, was in ihrer herkömmlichen Lebenswelt zunehmend verloren gegangen ist.
Die Ursachen des gesellschaftlichen Ausschlusses sind dabei nicht ausschließlich materiell
oder auf Grund fehlender Erwerbstätigkeit, sondern können in einer Vielzahl von Gründen
43
Richard
44
Jürgen
45
Vgl. Punkt 4.3.2..
46
Vgl. Punkt 4.1..
96
liegen, die die Personen direkt, zum Beispiel über psychische Belastungsreaktionen47 oder
indirekt, zum Beispiel über Co-Exklusion48, betreffen und zunehmend an den Rand der Gesellschaft bringen.
Wohnungsflucht stellt unter diesen Bedingungen, die durchaus verschiedenartig strukturiert
sein können, einen konstruktiven Verarbeitungsmodi gesellschaftlicher Realität sozialer Exklusion dar. Wohnungsflucht kann als Inklusionsversuch unter Exklusionsbedingungen bewertet werden, als ein aktiver Versuch der Zugehörigkeitssicherung in einer sozialen Isolationssituation. So schreibt ein Sozialreferent aus einem Sozialbürgerhaus, in dessen Einzugsgebiet ein Treff von Wohnungsflüchtern lag, an die Stelle der Sozialplanung der Stadtverwaltung München: „Nach unserer Einschätzung besteht dieser Personenkreis noch aus verhältnismäßig ‚gesunden’ Personen, die die Wohnung verlassen. Die problematischern Fälle leben
völlig isoliert und zurückgezogen“. Auch Bude verweist darauf, dass es die privaten vier
Wände sind, in die sich die Exkludierten zurückziehen (Bude 2004, S. 259). Phänomene sozialer Ausgrenzung sind nicht mehr sichtbar, bzw. werden nicht mehr sichtbar gemacht durch
Prozesse der stillen Reinigung des öffentlichen Raumes49.
Öffentliche Plätze sind Schauplätze von Vergesellschaftung. Die öffentliche Präsenz der
Wohnungsflüchter konfrontiert die Gesellschaft mit ihrem eigenen demokratischen Selbstverständnis. Denn der öffentliche Raum fungiert als Arena der Wahrnehmung von Inklusion
und Exklusion, des Gegensatzes von Erfolg und Benachteiligung und schafft so
Rechfertigungs- und Legitimationszwänge in einer verfassungsrechtlich geschützten gerechten Gesellschaft.
Die Auflehnung mancher Wohnungsflüchter gegen stigmatisierende Verhaltensweisen und
Reaktionen von Passanten und Anwohnern können letztlich als Anspruch auf gelebte demokratische Verhältnisse gewertet werden. Doch ein Aufbegehren gegen gesellschaftliche Abwertung findet sich nur bei den ‚Kämpfern’. Diese haben noch die Kraft sich zu wehren. Die
‚Abgehängten’ haben ihre ‚Defizite’ akzeptiert. Eine Einarbeitung ins Selbstbild hat stattgefunden, deren Verarbeitung innere Strategien aktiviert, aber keine Auflehnung mehr nach
Außen anstößt.
47
Jorsch
48
Scarlett
49
Siehe auch 2.2..
97
Die zu Beginn der Untersuchung aufgestellte Hypothese, dass Wohnungsflucht ein mit subjektivem Sinn verknüpftes soziales Handeln und eine Form der Verarbeitung einer sozialen
Exklusionslage darstellt, kann als bestätigt angesehen werden50. Die Studie hat des Weiteren
bestätigt, dass Prozesse sozialer Exklusion ihren Niederschlag in den biographischen Selbstbeschreibungen51 der Individuen finden und diese, von diesen, (überwiegend) narrativ darstellbar sind. In den betreffenden Narrationen scheinen die subjektiven Deutungs- und
Handlungsmuster52 auf und geben individuelle Hinweise auf Identitätskonstruktionen, Formen gesellschaftlicher Selbstverortung von Exkludierten oder von Exklusion bedrohten Personen. Die Erfahrung sozialer Exklusion beeinflusst Individuen in vielfältiger Weise und wirkt
sich begrenzend, zum Teil auch ausschließend, auf deren individuelle Lebensführung aus53.
Resümierend kann festgehalten werden, dass sich die theoriegeleiteten Hypothesen durch
die empirische Erhebung bestätigen ließen. Die in ihnen gefasste theoretische Blickrichtung,
auf das zu untersuchende soziale Phänomen, war richtungweisend für die Erhebung eines
darüber hinausgehenden differenzierteren Bildes von der Lebenssituation Exkludierter, hier
dargestellt am Beispiel der sozialen Gruppe der Wohnungsflüchter. Spezifische Verarbeitungsmodi der objektiven Exklusionslage wurden sichtbar. Darüber hinaus konnten die empirischen Daten Einblicke in die besondere Situation von Wohnungsflüchtern gewähren und
hoben die besonders bedeutsame Rolle des Hundes (stellvertretend für andere Haustiere)
als Freund und treuen Begleiters, insbesondere für sozial ausgegrenzte Personen mit geringer sozialer Eingebundenheit, hervor.
Die Untersuchung der Lebenswelt exkludierter oder von Exklusion bedrohter Menschen ist
mit dieser Studie sicherlich nicht abschlossen. Es muss Aufgabe weiterer sozialwissenschaftlicher Aktivitäten sein, diese weiter kennen und verstehen zu lernen, um dem demokratischen Anspruch unserer Gesellschaft, auch unter veränderten Bedingungen, weiterhin gerecht werden zu können.
50
Vgl. Punkt 3.2. und 4.2..
51
Vgl. Punkt 4.3..
52
Vgl. Punkt 4:3.3..
53
Vgl. Punkt 4.4..
98
Zum Abschluss meiner Arbeit bedanke ich mich bei der gesamten Gruppe im Freizeitpark an
der Weißenseestrasse für ihre herzliche und offene Aufnahme in ihren Kreis, für viele gute
und, für mich, sehr interessante Gespräche und die große Freude, die mir damit meine Abschlussarbeit gemacht hat. Ganz besonders bedanke ich mich bei Jürgen, ‚meinem’ Gatekeeper und freundlichen Unterstützer in dieser Zeit und bei Hubert, der guten Seele am Platz.
99
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7 Tabellenverzeichnis und Abbildungsverzeichnis
Tabelle 1:
Gegenüberstellung von Armuts- und Exklusionskonzept (modifiziert nach Böhnke 2006, S.
20)
Tabelle 2:
Dimensionen sozialer Ausgrenzung nach Kronauer (Kronauer 1997, S. 38ff.)
Tabelle 3:
Vier Gruppenkorrelation aus Prekarität und gesellschaftlichem Exklusionsempfinden n.
Damnitz; Eierdanz (2008)
Abbildung 1:
Heuristik von Inklusion – Exklusion nach Robert Castel
Abbildung 2:
Heuristik von Inklusion – Exklusion nach Robert Castel: gesellschaftliche Selbstverortung der
Interviewpartner.
109
8 Anhang
Die auf der letzten Seite beiliegende CD enthält den gesamten Anhang:
Vorinformation zu den Interviews
Interviewleitfaden
Soziodemographischer Fragebogen
Postskriptum
Transkriptionsregeln
Alle vollständig transkribierten Interviews
110
9 Erklärung der Verfasserin:
Ich versichere, dass ich die Arbeit in allen Teilen selbständig und ohne Benutzung anderer als
der angegebenen Quellen und Hilfsmittel verfasst habe und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.
Prien am Chiemsee, 01.10.2008
Angela Wernberger
111
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