Universität Rostock Institut für Soziologie und Demografie Seminar: Armut und Reichtum in Deutschland SS 2007 Dozent: Prof. Dr. Peter Berger Referenten: Kathi Beese, Catharina Trost, Jessica Klimaschewski 1. Armut und Exklusion - Armut, Ausgrenzung und Segregation hat es in der Geschichte der Menschheit schon immer gegeben - Da aber in der Zeit nach dem 2.WK eine lange Periode ökonomischen Wachstums herrschte, erscheinen diese Trends als neu - Arbeitslosigkeit und Armut waren in den 1960er Jahren ein der BRD kaum noch existent – gab es sie, war ihre Linderung durch die Perfektionierung des Wohlfahrtsstaates möglich - Seit Mitte der 70er jedoch zeigt sich eine Tendenz zu einer neuen sozialen Polarisierung – am deutlichsten in den großen Städten! Æ die Zahl der Armen steigt, ebenso die Zahl der Bewohner mit sehr hohem Einkommen während der Anteil der mittleren Einkommensschicht stagniert! - Arbeitslosigkeit + Armut seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert sind mit dem Niedergang den industriellen Beschäftigung und der zunehmenden Bedeutung der Dienstleistungsgesellschaft verknüpft: Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft!! - die Marginalisierung am Arbeitsmarkt und die Schwächung der sozialen Bindungen gehen einher mit einem weitreichenden Verlust von materiellen, kulturellen und politischen Möglichkeiten, am Leben der Gesellschaft teilzunehmen Æ Ausschluss - Nach der Sozialberichterstattung der EU-gültigen Definition handelt es sich dabei um einen „Prozess, durch den bestimmte Personen an den Rand der Gesellschaft gedrängt und durch ihre Armut bzw. wegen unzureichender Grundfertigkeiten oder fehlender Angebote für lebenslanges Lernen oder aber infolge von Diskriminierung an der vollwertigen Teilnahme gehindert werden“ (Europäische Kommission 2004) - 4 Dimensionen von Ausgrenzung: 1) Ökonomische Ausgrenzung: Verlust des Zugangs zum Arbeitsmarkt und damit zu einer gesellschaftlich anerkannten Rolle; Verlust von Einkommen und sozialem Ansehen und damit auch Kontaktmöglichkeiten; Absinken des Lebensstandards unter das gesellschaftlich als angemessen angesehene Minimum; 2) Institutionelle Ausgrenzung: Verlust von sozialen Schutzrechten und Möglichkeiten der Interessenvertretung; Benachteiligung in oder Ausschluss von der institutionellen Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen; einseitige Abhängigkeit vom Wohlfahrtsstaat bei gleichzeitigem Statusverlust („Sozialhilfeempfänger“) 3) Soziale Ausgrenzung: soziale Isolation durch Verringerung der sozialen Kontakte bzw. Einengung der sozialen Beziehungen auf ein homogenes Milieu mit geringer sozialer Reichweite und geringen Ressourcen; 4) Kulturelle Ausgrenzung: Diskriminierung kultureller bzw. ethnischer Eigenarten, negative Etikettierung, Stigmatisierung abweichender normativer Orientierungen und Verhaltensweisen; Verlust der Möglichkeiten, sein Leben entsprechend den in einer Gesellschaft möglichen und allgemein anerkannten Lebenszielen zu gestalten - der Exklusionsbegriff knüpft an dem der Armut an, er erweitert den Blick jedoch enorm: 1. zeichnet er sich gegenüber einem allein am Einkommen orientierten Armutsverständnis dadurch aus, dass er die Folgen von Armut + Arbeitslosigkeit von vornherein sozial und damit relational, als abgestufte Verhältnisse von Teilhabe bzw. Ausschluss bestimmt 2. lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Mehrdimensionalität von gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Teilhabe (Ökonomisch, kulturell, politisch – institutionell, soziale Beziehungen) 3. unterscheidet sich der Exklusionsbegriff vom herkömmlichen Armutsverständnis (in diesem Punkt auch vom Underclassbegriff!!!) darin, dass er auf den Prozesscharakter der Ausgrenzung hinweist! Æ als Prozessbegriff verstanden lenkt Exklusion den Blick nicht nur die Betroffenen, sondern v.a. auch auf die Akteure und Institutionen der Ausgrenzung - damit zielt der Exklusionsbegriff sehr viel deutlicher auf die Strukturen von Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat und ist deshalb weniger in der Gefahr, moralisierend missverstanden und gegen die Armen gewendet zu werden! --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Zentrale Kriterien gesellschaftlicher Zugehörigkeit: 1. die wechselseitige Abhängigkeit in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, insbesondere der Erwerbsarbeit und den sozialen Nahbeziehungen (Interdependenz) 2. Teilhabe am gesellschaftlich erreichten Niveau des Lebensstandards und der Lebenschancen Æ umgekehrt begründen Ausschluss aus Erwerbsarbeit, soziale Isolation und blockierte Teilhabemöglichkeiten Ausgrenzung! --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- 2.Handlungsmöglichkeiten a) Langfristig Erwerbslosen jeden sozialstaatlichen Schutz entziehen Bsp.: Sozialhilfereform in den USA (`96) ¾ formal kann die Gesellschaft ihren Anspruch eine Demokratie zu sein wahren, da aber den Armen die Voraussetzungen zur Wahrung ihrer persönlichen und politischen Rechte entzogen werden, wird sie zu einer Demokratie der Eliten ¾ es findet somit eine „doppelte Exklusion“ statt b) wohlfahrtstaatliche Verwaltung des Problems der Ausgrenzung am Arbeitsmarkt Bsp.: BRD ¾ moderne Form der Ausgrenzung, da die institutionelle Gleichzeitigkeit von Drinnen und Draußen vorangetrieben wird und für die Ausgeschlossenen die sozialen Bürgerrechte zunehmend ihre partizipatorische Substanz verlieren ¾ es findet somit eine „ einschließende Exklusion“ statt c) den „ Überflüssigen“ werden sozial anerkannte Alternativen zur Erwerbstätigkeit angeboten Bsp.: BRD bis in die 90er ¾ dies erfolgte durch Verminderung des Arbeitskräfteangebots zum einen durch Frühverrentung und zum anderen durch niedrige Erwerbsbeteilung von verheirateten Frauen ¾ stieß an finanzielle Grenzen und auf den Widerstand der Frauen d) Zugänge zur Erwerbstätigkeit schaffen > verschiedene Varianten: zum einen die der Schaffung von Erwerbstätigkeit um jeden Preis, wo der Sozialstaat als Hemmnis betrachtet wird und das Ausgrenzungsproblem instrumentalisiert wird um soziale Rechte aufzubrechen; zum anderen die Erhaltung des Sozialstaates, dies ist aber verbunden mit der Lösung einiger grundlegender Probleme (Altersproblematik, Qualifikationsfrage usw.) um die sozialen Schutzrechte zu erhalten --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- 3. Globalisierung und das Problem der Exklusion Globalisierung und Exklusion: - Soziologiedebatte der Soziologen: Armin Nassehi, Helmut Willke, Robert Castel, Rudolf Steinweh, Heinz Steinert u. Niklas Luhmann - wo Globalisierungsanhänger sind, gibt es auch kritische Stimmen - Die Globalisierten profitieren auf Kosten der Ausgeschlossenen - wer nicht über die Mittel (Bildung, Geld) verfügt – kann nicht global konkurrieren Verschobenes Kapital: - Theorie der Exklusion: „(...) die weltweite Arbeitsteilung produziert lokale Ausschüsse“ - durch Konkurrenz kommt es zur Verschiebung der Standorte - Häufung von Nachteilen führt zur Evakuierung durch die „Global Player“ - Staat hat zu wenig Steuereinnahmen, deshalb kann er nicht kompensatorisch eingreifen Æ „Waste Land“ – negative Spirale - Robert Castel: „Exklusion ist ein Prozess, der eine Person aus einer hohen Einbindung in Netze der Soziabilität gradweise hinausführt in Zonen hoher Integrationsdefizite, bis sie ganz vom Ausschluss bedroht ist durch eine räumliche Verbannung in z.B. Ghettos.“ - Heinz Steinert: „Viktimisierung und Personalisierung der Exklusion dient dazu, es als persönliches Problem der Überflüssigen zu denken statt als Strukturlogik der Gesellschaft.“ - Rudolf Stichweh: „Exklusion scheint ein lokales Phänomen zu sein, also als räumliche Ausgrenzung exkludierter Populationen in Form von Favelas, Slums oder in den U-Bahn-Schächten auftritt.“ Randgruppen im System: - Armin Nassehi: „Ein von Armut Betroffener ist keineswegs weniger in das Wirtschaftssystem inkludiert als jemand mit hohem Geldvermögen. (...) Exkludierte dürften eigentlich gar nicht sichtbar sein. Wir dürften nichts von ihnen wissen, denn sie hielten sich in einem Raum auf, der für soziale Systeme letztlich uneinsehbar bleiben muss.“ - Rudolf Stichweh: spricht von „extremen Sonderfällen“, die in der „faktischen Exklusion“ vorkommen, allerdings das auf dem Weg zu einem nationalen Wohlfahrtsstaat. - Niklas Luhmann: „Zur Überraschung aller Wohlgesinnten muss man feststellen, dass es doch Exklusionen gibt, und zwar massenhaft und in einer Art von Elend, das sich der Beschreibung entzieht. Jeder, der einen Besuch in den Favelas südamerikanischer Großstädte wagt und lebend wieder herauskommt, kann davon berichten. (...) Wer seinen Augen traut, kann es sehen, und zwar in einer Eindrücklichkeit, an der die verfügbaren Erklärungen scheitern.“ --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Die Intensität dieser Eindrücke mag bislang nicht theoriefähig sein; doch muss man dann eben solange nach neuen Erklärungen Ausschau halten, bis man sieht, was man bis jetzt offenbar nur übersehen kann: EXKLUSION! --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Literatur: Bude, H./Willisch, A. (Hg.) (2006): Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg; Drilling, M. (2004): Young Urban Poor, Wiesbaden 2004; Häußermann, H./Kronauer, M./Siebel, W. (Hg.) (2004): An den Rändern der Städte. Armut und Ausgrenzung, Frankfurt; Kronauer, M. (2004): Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, Frankfurt/New York, Zeitschrift: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung; Willke, Helmut. (2001) Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft. Frankfurt; Castel, Robert (2005): Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Hamburger Institut für Sozialforschung; Armin Nassehi, Armin (2006): Die paradoxe Einheit von Inklusion und Exklusion. Ein systemtheoretischer Blick auf die ‘Phänomene. in Bude/ Willisch; Sichweh, Rudolf/ Sträheli Urs (Hg.) (2002): Inclusion/Exclusion and Sociocultural Identities. Stuttgart; Luhmann, Niklas (1996): Jenseits von Barbarei. In: Miller M./ Soeffner H.-G. (1996): Modernität und Barbarei, Soziologische Zeitdiagnosen am Ende des 20.Jahrhunderts, Frankfurt/M.