Innen-Außen-Spaltung SOFI-Mitteilungen Nr. 27/1999 7 Die Innen-Außen-Spaltung der Gesellschaft. Eine Verteidigung des Exklusionsbegriffs gegen seinen mystifizierenden Gebrauch Martin Kronauer Erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem Soziologentag “Grenzenlose Gesellschaft?”, Sektionssitzung “Soziale Ungleichheiten und soziale Ausgrenzungen in Deutschland und Europa”, Freiburg, 15. September 1998. Erscheint in: Sebastian Herkommer (Hrsg.), Soziale Ausgrenzungen - Gesichter des neuen Kapitalismus. Hamburg (VSA Verlag) 1999. I samkeiten in der Problemstellung abheben. Beide Begriffe zeichnen sich dadurch aus, daß sie Arbeitslosig- Seit dem Ende der 80er Jahre zeichnet sich eine bemer- keit und Armut als gesellschaftliches Verhältnis behan- kenswerte Akzentverschiebung in der internationalen deln, genauer, als ein Verhältnis von Zugehörigkeit und Diskussion über Arbeitslosigkeit und Armut ab, sowohl Ausschluß. Die gemeinsame Schnittmenge der Dis kus- in den Sozialwis senschaften als auch in der politischen sion um Exklusion und Underclass besteht in der Fest- Öffentlichkeit. Arbeitslosigkeit und Armut werden zu- stellung, daß für eine wachsende Zahl von Menschen in nehmend unter der Fragestellung wahrgenommen, wie den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften sich die Gesellschaft unter ihrem Einfluß verändert. Eine Marginalisierung am Arbeitsmarkt bis hin zu gänzli- Reihe neuer - oder neu interpretierter älterer - Begriffe chem Ausschluß von Erwerbsarbeit mit gesellschaftli- wurden in die Debatte eingeführt, an denen diese Ak- cher Isolation zusammenfällt.1 Dabei bedeutet “Margi- zentverschiebung deutlich wird. Die beiden prominente- nalisierung am Arbeitsmarkt bis hin zum Ausschluß von sten sind sicherlich “Exklusion” und “Underclass”. Erwerbsarbeit” Unterbeschäftigung, Langzeitarbeitslosigkeit oder aufgenötigten Rückzug vom Arbeitsmarkt “Exklusion” wurde zunächst in Frankreich in breiter (“labor-market detachment” in der amerikanischen Dis - Weise aufgegriffen und ging von dort in die politische kussion). “Ge sellschaftliche Isolation” meint, im weite- Programmatik und Forschungsförderung der Europäi- sten Sinn, den Ausschluß von Teilhabemöglichkeiten, schen Gemeinschaft ein. Das deutsche begriffliche gemessen an den jeweiligen gesellschaftlichen Stan- Äquivalent ist am ehesten “soziale Ausgrenzung”. “Underclass” wurde in den frühen 60er Jahren von einem Schweden, Gunnar Myrdal, überhaupt erst in die amerikanische Sprache eingeführt und nimmt seit den 80er Jahren einen zentralen Platz in der angelsächsischen Diskussion über Armut ein. Beide Begriffe werden äußerst kontrovers diskutiert. Auf diese Debatten kann ich hier nicht im einzelnen eingehen. Statt dessen möchte ich zunächst auf Gemein- 1 Für Frankreich siehe Robert Castel, De l’indigence à l’exclusion, la désaffiliation, in: Jacques Danzelot (Hrsg.), Face à l’exclusion. Le modèle français, Paris 1991; Serge Paugam, La constitution d’un paradigme, in: Serge Paugam (Hrsg.), L’exclusion, l’état des savoirs, Paris 1996; Claude Martin, French Review Article: The Debate in France over “So cial Exclusion”, in: Social Policy and Administration, 30. Jg., Heft 4, 1996. Für die USA siehe William J. Wilson, The Truly Disadvantaged. The Inner City, the Underclass, and Public Policy, Chicago 1987; William J. Wilson, When Work Disappears. The World of the New Urban Poor, New York 1996; Michael Katz (Hrsg.), The “Underclass” Debate. Views from History, Princeton 1993. SOFI-Mitteilungen Nr. 27/1999 8 Innen-Außen-Spaltung dards, die zugleich Verhaltensanforderungen an die In- tige Auswirkungen auf die empirische Forschung hat. dividuen darstellen. In einem engeren Sinn bedeutet ge- Aber auch: daß Mystifikationen, in diesem wie in ande- sellschaftliche Isolation die Auflösung sozialer Bindun- ren Fällen, von eminenter gesellschaftspolitischer Be- gen oder ihre Beschränkung auf den Kreis der Benach- deutung sind und deshalb soziologische Kritik heraus- teiligten, womit wiederum Möglichkeiten der wechsel- fordern. seitigen materiellen Unterstützung und der Hilfe bei der Arbeitssuche, somit der gesellschaftlichen Teilhabe, II schrumpfen. Gesellschaftliche Isolation hat eine eingebaute Tendenz zur Selbstverstärkung. Die Vorstellung von sozialer Ausgrenzung führt in die Im Begriff der Exklusion verschiebt sich demnach die Irre, wenn sie ein Herausfallen von Individuen oder Perspektive, in der sich soziale Ungleichheit darstellt. Gruppen aus allen gesellschaftlichen Zusammenhängen Das vertikale, um Erwerbsarbeit und die von ihr abge- suggeriert. Ein solches Ende aller Soziabilität ist allen- leiteten falls für Extremsituationen, die dem Tod nahekommen, Statuspositionen zentrierte Klassen- und Schichtungsbild sozialer Ungleichheit wird überlagert - denkbar. allerdings nicht außer Kraft gesetzt - von einer Polarisierung zwischen “Innen” und “Außen”. Diese läßt ih- Der Begriff der Exklusion führt aber auch bereits dann in rerseits abgestufte Positionen der Einbindung zu: Inte- theoretische Aporien, wenn er systemtheoretisch als 2 gration, Vulnerabilität, Exklusion. Aber wie ist das zu Ausschluß von Funktionssystemen verstanden und zu - verstehen? gleich auf die sogenannten modernen, differenzierten Gesellschaften angewandt wird. Halten wir uns Luh- Es ist nicht möglich, an dieser Stelle die vielen theore- manns Definition differenzierter Gesellschaften vor tischen und empirischen Probleme abzuhandeln, die mit Augen, dann beruhen sie auf einer Logik der Allinklu- dem Begriff der Exklusion oder sozialen Ausgrenzung sion. “Im Gegensatz dazu (zu stratifizierten Gesell- 3 verbunden sind. Ich werde mich deshalb auf ein zen- schaften, M.K.) ist das Gesellschaftssystem und sind trales Problem konzentrieren, das nur auf den ersten dessen Funktionssysteme auf Inklusion der Ge samtbe- Blick rein theoretischer Natur ist: auf die paradoxe Vor- völkerung angelegt”, schreibt Luhmann4. “Es gibt keine stellung einer Innen-Außen Spaltung der Gesellschaft, ersichtlichen Gründe”, fährt er fort, in diesen Gesell- wie sie im Ausgrenzungsbegriff mitschwingt. Um das schaften jemanden von einzelnen Funktionssystemen, Ergebnis vorwegzunehmen: Ich halte den Begriff der oder gar allen, auszuschließen. Einmal eingebunden in Exklusion für wesentlich, um die gegenwärtigen Struk- die Kommunikation der Systeme, unterliegen die Perso- turumbrüche in den hochentwickelten kapitalistischen nen dann allerdings deren immanenten Kriterien der Gesellschaften angemessen erfassen zu können. Voraus- Unterscheidung. setzung ist allerdings, daß er von Mystifikationen befreit wird, die sich an dem Dualis mus von Innen und Außen Es ist nicht ersichtlich, wie unter diesen Voraussetzun- festmachen. Am Ende des Beitrags sollte deutlich wer- gen Exklusion möglich sein soll. Selbst der zahlungs- den, daß diese theoretische Auseinandersetzung wich- unfähige Sozialhilfeempfänger hat Teil am ökonomischen Funktionssystem, selbst dem Asylbewerber, dessen 2 3 Siehe hierzu Robert Castel, De l’indigence, a.a.O. Für eine ausführliche Diskussion der in der internationalen Literatur abgehandelten Probleme siehe Enzo Min gione, Urban Poverty in the Advanced Industrial World: Concepts, Analysis and Debates, in: Enzo Mingione (Hrsg.), Urban Poverty and the Underclass, Oxford (UK) und Cambridge (USA) 1996, sowie Martin Kronauer, “So ziale Ausgrenzung” und “Underclass”: Über neue Formen der gesellschaftlichen Spaltung, in: Leviathan, 25. Jg., Heft 1, 1997. Antrag abgelehnt wird, geschieht dies innerhalb des Rechtssystems, usw. Es spricht für Luhmann, daß er die 4 Niklas Luhmann, Jenseits von Barbarei, in: Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 4, Frankfurt am Main 1995, S. 142. Innen-Außen-Spaltung SOFI-Mitteilungen Nr. 27/1999 9 Aporie offen benennt: “Die Logik der funktionalen Dif- Daß ein solches Verständnis der Kritik nicht standhält, ferenzierung schließt gesellschaftliche Exklusionen aus, habe ich angedeutet. Es führt zu theoretischen Aporien muß es dann aber erlauben, innerhalb der Funktions- oder zu vorurteilsbeladenen Konstruktionen von Wirk- systeme nach systemeigenen Kriterien zu differenzieren. lichkeit, die sich empirisch nicht halten lassen. Daß et- Aber ist diese Logik haltbar? Wie kann es Inklusion ge- was der Kritik nicht standhält, schließt allerdings kei- 5 ben, wenn es keine Exklusion gibt?” . Die Antwort auf neswegs aus, daß es als Mystifikation gesellschaftlich diese Frage steht aus. So bleibt die Systemtheorie hin- weiterleben und - wirken kann. Darauf komme ich zurück. und hergerissen zwischen der Leugnung des Exklu- Was aber wäre die theoretische Alternative zum Exklu- sionsproblems auf der einen Seite und der Überhöhung sionsverständnis als Entweder - Oder, es sei denn, der Exklusion zur logischen - und damit zugleich unab- diesen Begriff ganz aufzugeben? 6 wendbaren - Notwendigkeit andererseits. III Schließlich wird das Bild vom Innen und Außen fragwürdig, wenn es eine Dichotomie entgegengesetzter sozialer Welten nahelegt. Gerade in der Literatur über Eine weiterführende Antwort findet sich bei Georg Armut findet sich eine Fülle derartiger Dichotomien. Sie Simmel: Drinnen und Draußen bilden keinen logischen sind in der Regel moralisch begründet und laufen darauf Gegensatz, sondern ein soziales Verhältnis, das durch hinaus, die Lebensweise insbesondere der arbeitsfähi- Gleichzeitigkeit gekennzeichnet ist - Drinnen und Drau- gen, aber beschäftigungslosen und von der öffentlichen ßen. Wohlfahrt abhängigen Armen anzuprangern und dem Lebenswandel der ehrbaren, das heißt arbeitenden und Simmel vergleicht den Armen in dieser Hinsicht mit dem für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommenden Bürger Fremden. Fremdheit konstituiert sich für uns erst durch gegenüberzustellen. Die konservative Version des den Bezug des Fremden auf uns, dadurch, daß wir in ein “Underclass”-Begriffs bei Murray und anderen in der soziales Verhältnis mit ihm treten. “Die Bewohner des angelsächischen Diskussion lebt von dieser moralischen Sirius sind uns nicht eigentlich fremd”, schreibt Simmel9. Dichotomisierung.7 Letztlich reicht sie in ihren Wurzeln Ebensowenig bis zur mittelalterlichen, christlich begründeten Unter- exkludiert - auch wenn sie an den “Funktionssystemen” scheidung zwischen den “würdigen” und “unwürdigen” unserer Gesellschaft nicht teilhaben. Ausschließung 8 Armen zurück. sind sie, könnte man hinzufügen, setzt ein Verhältnis der Zugehörigkeit oder zumindest den Anspruch auf Zugehörigkeit voraus. Alle drei hier angesprochenen Positionen haben eines gemeinsam. Sie konzipieren Inklusion und Exklusion, Bekanntlich wurde für Simmel Armut erst dann zu einer Drinnen und Draußen als ein Entweder - Oder, im Fall eigenständigen sozialen Lage, wenn der Arme auf die der Systemtheorie geradezu als logische Alternative. öffentliche Fürsorge angewiesen war. In diesem Verhältnis der Fürsorge war der Arme ganz Objekt. Nicht als 5 6 7 8 Niklas Luhmann, Jenseits von Barbarei, a.a.O., S. 146 f. Eine ausführliche Kritik des Exklusionsbegriffs bei Luhmann und eine Diskussion der Unterschiede zwischen dem Exklusionsbegriff der Systemtheorie und dem der Armutsforschung findet sich in: Martin Kronauer, “Exklusion” in der Systemtheorie und in der Armutsforschung. Anmerkungen zu einer problematischen Beziehung, in: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 11/12, 1998. Siehe hierzu die Kritik von Herbert Gans, The War Against the Poor, New York 1995. Zum Verhältnis von Armut und Ausgrenzung in historischer Perspektive siehe Martin Kronauer, Armut, Ausgrenzung, Unterklasse, in: Hartmut Häußermann (Hrsg.), Großstadt. Soziologische Stichworte, Opladen 1998. sein Recht wurde ihm die Unterstützung gewährt, sondern aus dem Eigeninteresse der Gesellschaft und ihrer Organe heraus, sich selbst mit all ihren Macht- und Ungleichheitsstrukturen zu erhalten. In dem besonderen Status des Armen, nur Objekt der Gesellschaft zu sein, bestand für Simmel das Moment der Ausschließung. Zugleich blieb der Arme jedoch gerade dadurch, daß er 9 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1983, S. 509. SOFI-Mitteilungen Nr. 27/1999 10 Innen-Außen-Spaltung diesem Verfahren der Reproduktion von sozialer Un- problem heute, vor dem Hintergrund der aktuellen, in- gleichheit unterworfen wurde, mit der Gesellschaft ver- ternationalen Diskussion darüber, charakterisieren? bunden und ein Teil von ihr. “So ist der Arme zwar gewissermaßen außerhalb der Gruppe gestellt, aber dieses IV Außerhalb ist nur eine besondere Art der Wechselwirkung mit ihr, die ihn in eine Einheit mit dem Ganzen in dessen weitestem Sinne verwebt”10. Ich greife die beiden zentralen Merkmale des Problems, wie sie in dieser Debatte formuliert werden, wieder auf: Meines Erachtens liefert Simmels Analyse des Armen marginale Position am Arbeitsmarkt, bis hin zu gänzli- und seiner gesellschaftlichen Positionierung in einem chem Ausschluß von Erwerbsarbeit, und gesellschaftli- Verhältnis, das durch die Gleichzeitigkeit von “Drinnen” che Isolation. Das Exklusionsproblem läßt sich dann als und “Draußen” gekennzeichnet ist, einen Schlüssel zum ein gesellschaftliches Spannungsverhältnis begreifen, Verständnis des heutigen Exklusionsproblems. Sein in dem sich die Gleichzeitigkeit von “Drinnen” und analytischer Zugriff ist in gewisser Hinsicht sogar aktu- “Draußen” in verschiedenen gesellschaftlichen Dimen- eller denn je. Denn die heutige Arbeitslosigkeit und Ar- sionen manifestiert: mut in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften unterscheiden sich von der Arbeitslosigkeit 1. In der ökonomischen Dimension (Arbeitsmarkt und und Armut früherer Epochen grundlegend darin, daß sie Beschäftigungssystem): Die Umbrüche in der Er- vor dem Hintergrund einer historisch bislang einmaligen werbsarbeit seit den achtziger Jahren erzeugen eine Periode des materiellen Wohlstands und der rechtlich- neue Segmentation am Arbeitsmarkt, in der Qualifi- institutionellen Einbindung der arbeitenden Klassen in kation, ethnische Herkunft, Alter und Ge schlecht zu die bürgerliche Gesellschaft auftreten und erlebt wer- entscheidenden Kriterien für den Zuang zu Er- 11 den. Diese Einbindung ist noch weit umfassender und werbsarbeit und Arbeitsplatzsicherheit werden. Zu- stärker als zu Simmels Zeiten, vor allem aber beruht sie in nehmende Marginalisierung und Ausschluß aus Er- einem seinerzeit nicht bekannten Maße auf sozialen werbsarbeit an der Peripherie des Erwerbssystems, Rechten. Aus diesem Grund wirft die Rückkehr der Ar- bei den von vornherein am meisten unterprivilegier- beitslosigkeit und Armut als soziales Problem in den 80er ten Gruppen der Beschäftigen (die Un- und Ange- Jahren sogleich und auf neue, zugespitzte Weise die lernten; die Frauen; Migranten), haben ihr Gegen- Frage der gesellschaftlichen Teilhabe, nach dem sozialen stück in flexibler werdenden, aber noch immmer stark Verhältnis von Zugehörigkeit und Ausschluß auf, die geschützten, hoch qualifizierten Beschäftigtenkernen Simmel, als soziologischer Pionier, vor neunzig Jahren in den prosperierenden Bereichen von Industrie und gewis sermaßen erst entdecken mußte. Aus diesem Dienstleistungen. Unternehmen in diesen Bereichen besonderen historischen Kontext der Ge genwart heraus verlagern die Risiken für Beschäftigung und soziale erklären sich auch die Akzentverschiebung, von der an- Sicherheit auf einen weiteren Kreis abhängiger fangs die Rede war, und die zentrale Rolle, die der Ex- Firmen, die weniger Schutz bieten. Zwischen dem klusionsbegriff in der Diskussion um Arbeitslosigkeit (kleiner und Armut heute spielt. Integration in das Erwerbssystem auf der einen Seite werdenden) Pol der abgesicherten und dem (anwachsenden) Pol des Ausschlusses von Wenn Simmel einen “Schlüssel” liefert, das Verhältnis Erwerbsarbeit auf der anderen breitet sich die “Zone von Drinnen und Draußen sich jedoch zugleich histo- der Vulnerabilität” (Castel) aus. Inwiefern liegt hier risch verändert hat, wie läßt sich dann das Exklusions- ein Spannungsverhältnis vor? Die Zonen der Integration und der Exklusion sind aufs engste mitein- 10 Georg Simmel, Soziologie, a.a.O., S. 352 f. 11 Siehe hierzu Martin Kronauer, Armut, Ausgrenzung, Unterklasse, a.a.O., S. 19 ff. ander verknüpft. In ihrer gegenwärtigen sozialen Verfassung erzeugen und reproduzieren die meisten Innen-Außen-Spaltung SOFI-Mitteilungen Nr. 27/1999 hochentwickelten Gesellschaften einer Umkehr des von Marshall skizzierten Prozesses eine aussichtslose Alternative: Ein hoher Grad von nieder, also in einer formalen Rücknahme von Beschäftigungssicherheit für die, die Erwerbsarbeit Rechten, als vielmehr in deren innerer Aushöhlung. haben, eine hohe Produktivität und ein relativ hohes Dies gilt zumindest für Westeuropa. Hier droht den und einheitliches Lohnniveau werden um den Preis Armen, soweit sie Staatsbürgerrechte besitzen, bis - hoher (und vom Sozialstaat nicht mehr zu finan- lang kein Entzug des Wahlrechts oder allen sozial- zierender) Langzeitarbeitslosigkeit erkauft; oder aber staatlichen Schutzes (anders sieht es in den USA niedrigere Langzeitarbeitslosigkeit wird mit einem aus, wo das Recht auf Sozialhilfe mittlerweile zeitlich hohen Grad kapitalistischen 11 Beschäftigungsunsicherheit, befristet wurde; ebenfalls anders stellt sich die Situa- geringerer Produktivität und starken Einkommens- von tion für Migranten dar, bei denen häufig Armut und unterschieden bezahlt. Die “Überflüssigen” des minderer rechtlicher Status zusammenfallen). Dage- Arbeitsmarkts sind somit nicht nur Resultat unter- gen können jene Rechte die Teilhabe, die sie einmal nehmerischer Rationalisierungspolitik und deren in- gewährleisten sollten, immer weniger für alle sicher- stitutioneller und marktwirtschaftlicher Rahmen- stellen. Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe bedingungen, sondern ihre Existenz wirkt zugleich bleiben, längerfristig bezogen, selbst in der Bundes- auf die Beschäftigten und die Gesellschaft insgesamt republik Deutschland hinter den gesellschaftlich all- auf vielfältige Weise zurück - allerdings nicht mehr gemein anerkannten Konsumstandards zurück, die als industrielle Reservearmee im traditionellen Sinn, sich den Individuen gegenüber als Verhaltensanfor- sondern in erster Linie als “Kostenfaktor” für den derungen bemerkbar machen. Die Institutionen der Sozialstaat und damit indirektes Druckmittel zur sozialen Absicherung - Arbeitsamt und Sozialamt - weiteren Prekarisierung von Beschäftigung. geraten immer mehr zu Einrichtungen der Stigmatisierung und sozialen Kontrolle, des Einschließens 2. In der politisch-institutionellen Dimension (Sozial- und Ausschließens zugleich, je weniger sie dazu staat und politische Rechte): Exklusion als Span- beitragen können, ihrer Klientel aus ihrer Lage her- nungsverhältnis bedeutet hier eine wachsende Kluft auszuhelfen. Die Einrichtungen zwischen formal zuerkannten Rechten und ihrer so- systems, eigentlich in besonderem Maße mit der zialen Substanz, d.h. ihrer Fähigkeit, Teilhabe am Aufgabe der sozialen Integration betraut, verkehren gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Th. H. sich stattdessen in Institutionen der sozialen Selek- Marshall hatte die zunehmende Einbindung der ar- tion, wenn Qualifikation nicht mehr nur beruflichen beitenden Klassen in die bürgerliche Gesellschaft als Status innerhalb des Erwerbssystems vermittelt, son- einen - heftig umkämpften und national unterschied- dern zur Zugangsvoraussetzung wird, um überhaupt lich verlaufenden - Prozeß der qualitativen und im Erwerbsleben Fuß fassen zu können.13 Die politi- quantitativen Ausweitung von Rechten dargestellt. schen Teilhaberechte schließlich verlieren für dieje- Die Rechte der Person wurden durch politische nigen an Bedeutung, denen keine Machtressourcen Rechte und beide durch soziale Rechte ergänzt und zur Verfügung stehen, um sich Gehör zu verschaffen. jeweils gewis sermaßen unterbaut. Ge rade die für den Exklusion heute setzt die Demokratie nicht spekta- Wohlfahrtsstaat charakteristischen sozialen Rechte - kulär außer Kraft, sondern unterhöhlt sie von innen sie umfassen materielle Absicherungen ebenso wie heraus. des Bildungs- Zugangsgarantien zu Bildung und Gesundheitsvorsorge - lassen die politischen und persönlichen Rechte erst eigentlich zur Geltung kommen.12 Exklusion schlägt sich, institutionell gesehen, weniger in 12 Siehe Thomas H. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen. Frankfurt am Main und New York 1992. 13 Die zugleich einschließende und ausschließende Wirkungsweise des Bildungssystems haben Pierre Bourdieu und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dem Begriff der “in ternen Ausgrenzung” bezeichnet. Pierre Bourdieu u.a., Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz 1997, S. 527 f. SOFI-Mitteilungen Nr. 27/1999 12 Innen-Außen-Spaltung 3. In der kulturellen Dimension (Orientierungen und Werte): Die zugespitzte Diskrepanz zwischen den Es scheint, als ließen sich die Ergebnisse der Exklusi- eigenen Zielen sowie den Erwartungen, die andere an onsforschung im theoretischen Rahmen einer Gleich- einen richten, einerseits und den Möglichkeiten, die zeitigkeit des Innen und Außen angemessen interpretie- Ziele zu verwirklichen bzw. den Anforderungen zu ren. Vor allem aber erlaubt es die Konzeption von Ex- entsprechen andererseits, konstituiert die Erfahrung klusion als Spannungsverhältnis, neue Fragen aufzuwer- der Exklusion. Gesellschaftliche Isolation bemisst fen und zu verfolgen. Nicht zuletzt eröffnet sie einen sich an den Teilhabemöglichkeiten der anderen, die Weg, Exklusion als Prozeß - und nicht nur Resultat und “dazugehören”, und deren Erwartungen, das ist Zustand - zu begreifen. Als Prozeß betrachtet, stellt sich wichtig, man vielfach teilt. Diese Angleichung der Exklusion als eine Verschiebung entlang der beiden Erwartungen und sozialen Ziele über klassenmäßig Achsen von ökonomischer Position (am Arbeitsmarkt begrenzte Milieus hinweg ist selbst historisches Re- und im Erwerbssystem) und gesellschaftlicher Einbin- sultat und hat sich mit der Ausbreitung des Massen- dung dar, weg von stabiler Integration über Vulnerabi- konsums und der Massenmedien verstärkt. Geteilte lität bis hin zum Ausschluß aus dem Erwerbssystem und Orientierungen, die sich nicht oder nur schwer und gesellschaftlicher Isolation. Eine solche Prozeßbetrach- unter großen Konflikten realisieren lassen, sind für tung unterstellt weder, daß Exklusion notwendig, noch die Erfahrung von Exklusion weit mehr charakteri- daß sie unumkehrbar sei. Ob und wie die unterschiedli- stisch als die Herausbildung einer eigenständigen chen Dimensionen ineinandergreifen und sich zur Ex- “Kultur der Armut”, die der der “Mehrheitsgesell- klusion verdichten, bedarf ebenfalls jeweils der empiri- schaft” entgegengesetzt wäre. Dafür gibt es eine schen Klärung. Fülle empirischer Belege aus der internationalen Forschung.14 Ebenfalls gut belegt ist die Tatsache, Gibt es in diesem Prozeß, oder vielmehr: in diesen Pro- daß der Zugang zu Erwerbsarbeit, allen voreiligen zessen der Exklusion (denn sie nehmen in unterschiedli- Diagnosen vom Ende der Arbeitsgesellschaft zum chen nationalen Kontexten unterschiedliche Formen an) Trotz, nach wie vor eine herausragende Rolle bei der überhaupt Formierung der sozialen Identität spielt, vor allem hinauslaufen, wenn sie nicht aufgehalten oder revidiert was die Selbst- und Außenzuschreibung von gesell- werden? In Anlehnung an Simmel und unter Rückgriff schaftlicher Teilhabe und Nützlichkeit betrifft. Aus- auf eigene empirische Befunde ließe sich für die schluß von Erwerbsarbeit, wenn er nicht durch ein Bundesrepublik Deutschland ein solcher Fluchtpunkt anderes, positives Identitätsangebot kompensiert angeben. Exklusion führt dann in eine eigenständige wird, bildet deshalb einen wesentlichen Kern sozialer soziale Lage hinein, wenn die Abhängigkeit von Exklusionserfahrung. öffentlicher Fürsorge anhält, weil die Betroffenen an der Fluchtpunkte, Resultate, auf die sie ökonomischen Produktion und Reproduktion der Gesell4. In der Dimension sozialer Kontakte: Hier macht sich schaft nicht teilnehmen, im ökonomischen Sinne “über- das Spannungsverhältnis, das aus der Gleichzeitig- flüssig” geworden sind, aber auch sonst - und diese keit der Innen-Außen Position erwächst, als prekäres weitere Bedingung ist wichtig - keinen positiv definier- “Management” sozialer Situationen bemerkbar. Das ten Platz in der Ge sellschaft (Rentner, Vorruheständler Unvermögen, materiell mit anderen “mitzuhalten” usw.) einnehmen können. Diese Positionsbestimmung und die Erfahrung und Antizipation von Stigmatisie- charakterisiert recht genau die Situation der wachsenden rung treiben zum Rückzug in die Vereinzelung oder in Zahl von Langzeitarbeitslosen in Deutschland heute. Die den engen Kreis derer, die sich in ähnlicher Lage soziale Lage des “Draußen” wird reproduziert und damit befinden. zu einem Merkmal der Sozialstruktur, wenn einerseits die Gesellschaft Exklusionsprozesse in Gang hält, wenn 14 Siehe hierzu Martin Kronauer, “So ziale Ausgrenzung” und “Underclass”, a.a.O., S. 40 . andererseits die Individuen, die in diese Lage geraten, Innen-Außen-Spaltung SOFI-Mitteilungen Nr. 27/1999 13 keine Möglichkeit mehr sehen, aus ihr herauszukommen und sich ihr im eigenen Handeln schließlich unterwerfen. Tatsächlich spricht jedoch Vieles dafür, daß weniger das Auch dies trifft mittlerweile auf eine wachsende Zahl Verschwinden der Erwerbsarbeit das Problem darstellt, 15 von Menschen in der Bundesrepublik zu. als vielmehr ihre zunehmend, sowohl quantitativ wie qualitativ, ungleiche Verteilung. In der Bundesrepublik V hat noch in den achtziger Jahren trotz hoher Arbeitslosigkeit die Beschäftigung, wenngleich nicht in ausrei- Was bedeutet Exklusion, im oben umrissenen Sinn als chendem Maße, zugenommen. Dasselbe ist für die USA gesellschaftliches Spannungsverhältnis verstanden, in bis in die neunziger Jahre hinein der Fall. Das Exklu- gesellschaftspolitischer Hinsicht? Die Antwort, die sich sionsproblem stellt sich heute gerade deshalb so dring- mir nahelegt, unterscheidet sich beträchtlich von einer lich, weil Erwerbsarbeit auf absehbare Zeit die Lebens- verbreiteten Zeitdiagnose, die sich ihrerseits auf das Ex- chancen der Bevölkerungsmehrheit bestimmen wird, und klusionsproblem beruft. Dieser Zeitdiagnose zufolge ge- weil diejenigen, die im Erwerbssystem verankert sind, 16 hen wir einem “Kapitalismus ohne Arbeit” entgegen. In etwas zu verlieren haben. Um die neuen Segmen- ihrer neue tationslinien am Arbeitsmarkt aufbrechen zu können, Handlungsspielräume für die Individuen, in ihrer pessi- bedarf es einer Umorganisation der Erwerbsarbeit, eines optimistischen mistischen 17 Variante verheißt sie eine Ausweitung des Exklusionsproblems Niederreißens der Barrieren von Alter, Geschlecht und auf die Mehrheit der Bevölkerung. Beide Varianten ha- Qualifikation. Ob dafür die Beschäftigten gewonnen ben gemeinsam, daß sie sich über das Problem der zu- werden können, ist im besten Falle nicht entschieden, im künftigen Gestaltung von Erwerbsarbeit hinwegsetzen. schlechtesten Falle zweifelhaft. Die oben angesprochene Wenn deren Verschwinden absehbar ist, erscheint es Verschränkung des Integrations- und Exklusionsbe- sehr viel dringlicher, sich mental von der Arbeitsgesell- reichs von Arbeitsmarkt und Erwerbssystem läßt beide schaft zu verabschieden (Forrester) bzw. sich neuen Tä- Möglichkeiten offen: die Entsolidarisierung derer, die tigkeitsfeldern jenseits des klassischen Arbeitsmarkts Erwerbsarbeit haben, vor allem dann, wenn ihre Lage zuzuwenden (Beck). Aber noch in einer weiteren Hin- ihrerseits prekär wird; aber auch die Anerkennung ge- sicht besteht eine Übereinstimmung. Obwohl die These meinsamer Interessen, weil die Zumu tungen der “Flexibi- vom Kapitalismus ohne Arbeit das Exklusionsproblem lisierung” in der Arbeit, die Beschäftigungsunsicherheit scheinbar auf die Spitze treibt, läuft sie keineswegs nur in der “Zone der Vulnerabilität” und der Ausschluß von auf das Horrorszenario einer Diktatur der Minderheit Erwerbsarbeit die gleichen Ursachen haben. über die Mehrheit hinaus. Wenn der Ausschluß von Erwerbsarbeit zum Mehrheitsphänomen wird, könnte sich Ähnliches gilt für die Demokratie. Es ist keineswegs das Exklusionsproblem gewis sermaßen auch von selbst ausgemacht, wie die Bevölkerungsmehrheit auf die erledigen. Denn je größer die Mehrheit der Ausge- schleichende Erosion der sozialen Grundlagen demo - schlossenen, desto breiter die Basis gemeinsamer Inter- kratischer Teilhabe bei einer Minderheit reagiert. Auch essen und desto unhalt barer die Fiktion der Arbeits- hier muß sich erst zeigen, ob sich das Bewußtsein, daß gesellschaft. die Lebensqualität in einer Gesellschaft von der Lebensqualität aller ihrer Mitglieder abhängt, behaupten wird. Die USA liefert in ihrer Behandlung der städtischen 15 Dies haben wir in einer empirischen Untersuchung über die Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit gezeigt. Martin Kronauer, Berthold Vogel und Frank Gerlach, Im Schatten der Arbeitsgesellschaft. Arbeitslose und die Dynamik sozialer Ausgrenzung, Frankfurt am Main und New York 1993, S. 72208; 229-236. 16 Ulrich Beck, Kapitalismus ohne Arbeit, in: Der Spiegel, Heft 20, 1996. 17 Die pessimistische Variante wird vertreten von Viviane Forrester, Der Terror der Ökonomie, Wien 1997. Armut ein Beispiel dafür, daß dies nicht so sein muß. In diesem Zusammenhang wird deutlich, warum in der theoretischen Auseinandersetzung um die Formulierung des Exklusionsproblems zugleich weitreichende gesellschaftspolitische Implikationen enthalten sind. Je schärfer sich die neuen gesellschaftlichen Spaltungen profi- 14 SOFI-Mitteilungen Nr. 27/1999 Innen-Außen-Spaltung lieren werden, desto mehr müssen wir damit rechnen, typischen Muster sind bekannt: Wer “draußen” vor daß Begriffe wie Ausgrenzung, die Ausgegrenzten, Un- bleibt, ist selbst schuld und verdient keine Unterstüt- derclass oder Armutsghettos von denen aufgegriffen zung; Unterstützung verdirbt nur den Charakter und werden, die weit mehr um ihr eigenes Wohl als um das führt zu einer Kultur der Armut. Oder aber: Das “Innen” der Betroffenen besorgt sind. Das Drinnen-Draußen ist die beste aller Welten, deshalb muß man die, die Schema wird dann zur Waffe derer, die etwas zu “draußen” stehen, in die Gesellschaft hineinpressen, ver-teidigen haben. Der Ausgrenzungsbegriff, der dabei unter welchen Arbeits- und Lebensbedingungen auch in Anschlag kommt, ist der des Entweder - Oder. Die Ar- immer. gumente sind bereits deutlich vernehmbar und ihre Demgegenüber ist eine auf Aufklärung zielende Soziologie dazu aufgerufen, die Tatsache der Ausgrenzung nicht zu leugnen, aber der Mystifikation des Entweder Oder entgegenzutreten.