Institute for International Political Economy Berlin Soziale Rechte gegen Exklusion. Symposium zur Verabschiedung von Martin Kronauer Authors: Walter Siebel, Karin Gottschall und Emmerich Tálos Working Paper, No. 43/2014 Editors: Sigrid Betzelt Martin Kronauer Trevor Evans Birgit Mahnkopf Eckhard Hein Achim Truger Hansjörg Herr Markus Wissen Soziale Rechte gegen Exclusion. Symposium zur Verabschiedung von Martin Kronauer. Vorwort Am 2. Juli 2014 wurde Martin Kronauer, Professor für Strukturwandel und Wohlfahrtsstaat in internationaler Perspektive an der HWR und Mitglied des IPE, mit einem Symposium zum Thema „Soziale Rechte gegen Exklusion“ aus dem aktiven Hochschuldienst verabschiedet. Die Begriffe „Soziale Rechte“ und „Exklusion“ stehen für die Schwerpunkte der wissenschaftlichen und politischen Arbeit Martin Kronauers. Exklusion bezeichnet den Ausschluss von sozialer Teilhabe. Seit den 1980er Jahren, und vor allem seit Beginn der Wirtschaftskrise 2008, ist sie auch in Europa wieder zum Thema geworden. Martin Kronauer hat die Forschung zu Exklusion wesentlich geprägt. Ebenso hat er die Möglichkeiten untersucht, ihr durch die Stärkung sozialer Rechte zu begegnen. Die Fachvorträge des Symposiums widmeten sich aktuellen Erscheinungsformen von Exklusion. Der Stadtforscher Walter Siebel von der Universität Oldenburg zeigte, dass die räumliche Polarisierung von Städten sowohl Ergebnis als auch Verstärker von Exklusion ist. Karin Gottschall von der Universität Bremen beleuchtete Exklusion aus der Perspektive des Geschlechterverhältnisses und machte deutlich, dass die Bildungsgewinne von Frauen zwar dazu beitragen, das „Ernährermodell“ zu modernisieren, dabei aber gleichzeitig zu neuen Ungleichheiten zwischen Frauen unterschiedlicher Herkunft und Klassenzugehörigkeit beitragen. Emmerich Tálos von der Universität Wien zeigte die Ungleichheit verschärfenden Wirkungen der europäischen Krisenpolitik auf und plädierte für eine „Neukonstituierung“ des europäischen Projekts unter sozialen, ökologischen und (geschlechter-)demokratischen Vorzeichen. Wie freuen uns, die drei Vorträge als IPE-Working-Paper dokumentieren zu können. Markus Wissen Inhaltsverzeichnis Polarisierte Städte (S. 1 – 9) Walter Siebel Lohnende Investitionen? Zur Ambivalenz der Bildungsgewinne von Frauen in den Mittelschichten (S. 10 –18) Karin Gottschall Arbeit – Bildung – Armutsbekämpfung. Aktuelle Herausforderungen für die EU (S. 19 – 34) Emmerich Tálos Polarisierte Städte Walter Siebel Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Institut für Sozialwissenschaften Abstract Der fordistische Dreiklang aus Normalarbeitsverhältnis, integrativer Sozial- und Stadtpolitik sowie der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ist zerbrochen. Soziale Ungleichheit nimmt seit einiger Zeit wieder zu. Mit dem Begriff „Ausgrenzung“ hat Martin Kronauer einen wichtigen Beitrag zur Analyse sozialer Ungleichheit geleistet. Dynamiken sozialer Ausgrenzung lassen sich vor allem in den Städten beobachten. Sie äußern sich nicht nur in einer sozial-räumlichen Polarisierung, sondern auch in einer entpolitisierenden Desillusionierung und Fragmentierung der Benachteiligten. Die Stadt selbst wird zu einem eigenständigen Faktor, der soziale Ungleichheit überformt und Ausgrenzungsprozesse verschärft. Das Versprechen der europäischen Stadt auf Integration wird in Frage gestellt. Fordism assumed a golden triangle of standard labour relations and full employment, integrated social and urban politics as well as a gendered division of labour. This Fordist model has broken up. Social inequality is on the increase. By unfolding the concept of “exclusion”, Martin Kronauer has significantly contributed to the analysis of current social inequality. The dynamics of exclusion can be observed particularly in cities. Exclusion becomes manifest not only in the form of a rising socio-spatial polarization, but also in terms of a depoliticizing disillusionment and fragmentation of the disadvantaged. The city itself has become a factor which further amplifies and reinforces social inequality and exclusion. Thus the European city’s legacy to promise social integration is increasingly questioned. Keywords: social inequality, exclusion, urban development, housing, integration. 1 Liebe Studenten, Kollegen, Freunde von Martin Kronauer, vor allem aber: lieber Martin! Du wirst heute gefeiert anlässlich Deiner Verabschiedung aus dem Hochschuldienst. Wir alle wissen, dass es nicht Dein Abschied von der Wissenschaft sein wird. Du bist nur nicht mehr verpflichtet zu Lehre und Forschung. Das Schöne an unserem Beruf liegt unter anderem darin, dass man ihn solange betreiben kann, wie man möchte und solange man über die Grundqualifikationen menschlicher Zivilisation verfügt, also lesen, schreiben und reden kann. All das kannst Du in hervorragendem Maß. Ich beglückwünsche Dich deshalb zum Beginn Deines wohlverdienten lebenslangen Forschungsfreisemesters. Das einzig Traurige am heutigen Tag ist, dass Hartmut Häußermann nicht mehr dabei sein kann. Er hätte ebenso gern wie ich zu Deiner Verabschiedung beigetragen. Ich werde mich in meinem Vortrag mit neuen Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit in den Städten befassen, einem Thema, zu dem Hartmut wie Du wesentliche Beiträge geleistet habt. 1. Die Wiederkehr sozialer Ungleichheit In der Stadt gewinnt Gesellschaft räumliche Struktur. Die gesellschaftliche Formation, die in der europäischen Stadt des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts räumliche Gestalt angenommen hat, ist die bürgerliche Gesellschaft. Deshalb prägen zwei zentrale Merkmale der bürgerlichen Gesellschaft die Struktur der europäischen Stadt: die Polarisierung einer öffentlichen und einer privaten Sphäre, was Hans Paul Bahrdt zur Grundlage seiner Definition von Stadt gemacht hat, und die bürgerliche Gesellschaft als Klassengesellschaft. Engels hat in seiner „Lage der arbeitenden Klasse in England“ die Struktur der Stadt der Klassengesellschaft eindrucksvoll beschrieben. Aber beide Merkmale haben im Verlauf des 20. Jahrhunderts ihre stadtprägende Kraft eingebüßt. Die Erosion der Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit wird besonders deutlich an der Einhausung des Marktes in den großen Shoppingmalls. Mit ihnen wird eine zentrale Funktion des öffentlichen Raums der europäischen Stadt in privaten Räumen unter privatem Management organisiert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist auch die soziale Spaltung der europäischen Stadt nicht mehr erkennbar. In den goldenen Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war die Integration des Proletariats gelungen. Der fordistische Dreiklang von traditioneller Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, Wachstum und Sozialstaat, vermittelt nicht zuletzt 2 über eine sozial verantwortliche Stadt und Wohnungspolitik, hat die krassen Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit aus deutschen Städten verschwinden lassen. Die europäische Stadt ist heute weit entfernt vom Manchester des 19 Jahrhunderts. Aber ist es ausgeschlossen, dass die gespaltene Stadt des 19. im 21. Jahrhundert wiederkehrt? Es ist nötig, diese Frage zu stellen, denn alle drei Säulen des fordistischen Modells – Vollbeschäftigung, Sozialstaat und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung – sind brüchig geworden. Der „Traum immerwährender Prosperität“ (B. Lutz) konnte nur kurz geträumt werden. Seit den siebziger Jahren hat die Integrationskraft der Städte und der Arbeitsmärkte nachgelassen. Es zeigen sich neue Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit, die unter den Stichworten Polarisierung der Städte und Ausgrenzung diskutiert werden. Damit bin ich bei dem zentralen Forschungsthema von Martin Kronauer. Lieber Martin, erlaube mir bitte eine Bemerkung ad personam tuam: ich habe mich oft gefragt, warum gerade Du Dir dieses Thema zum zentralen Forschungsthema gewählt hast. Mit Deiner Begabung zur Freundschaft, Deiner Fähigkeit, Kontakt zu anderen zu finden und diesen Kontakt auch über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg aufrechtzuerhalten, bist Du die verkörperte Verneinung von Ausgrenzung. Wärst Du eine Gesellschaft, es wäre eine Gesellschaft gelungener Inklusion. Aber vielleicht liegt darin auch ein Grund für Deine Entscheidung. Jemand wie Du muss sich besonders empören, wenn Menschen die Teilhabe versagt bleibt an dem, was in einer Gesellschaft als menschenwürdiges Leben gilt. In diesem Sinne bist Du ein kritischer Wissenschaftler. Aber kann man Sozialwissenschaft anders als kritisch betreiben? Damit meine ich nicht die Poppersche Kritik, sondern durchaus die politische Dimension von Sozialwissenschaft. Was macht einen guten Wissenschaftler aus? Ein solides theoretisches Fundament, die geübte Handhabung der Methoden empirischer Forschung. Aber ein Wissenschaftler, der sich damit befasst, wie die Menschen ihre gesellschaftlichen Verhältnisse machen, und was diese gesellschaftlichen Verhältnisse wiederum aus den Menschen machen, also ein Sozialwissenschaftler, kann sich nicht gleichgültig gegenüber den Ergebnissen seiner Forschungen verhalten. Sozialwissenschaft ist notwendig kritische Wissenschaft, denn ihr Gegenstand ist immer auch ein historisch und – besonders im Fall der Stadt – ein auch politisch konstituierter Gegenstand. Gesellschaftliche Verhältnisse sind keine objektiven Gegebenheiten, denen man sich wie die Naturwissenschaften in theoretischer und methodischer Reflexion allmählich nähern könnte. Der Gegenstand der Soziologie ist ein historischer Gegenstand, er verändert sich kontinuierlich. Es ist die Aufgabe der 3 Sozialwissenschaften, diesen Wandel in seinen Erscheinungsformen und Ursachen nachzuzeichnen und damit auch die Veränderbarkeit jeglichen gesellschaftlichen Zustands herauszustellen, also sich kritisch zu verhalten. Allerdings entzieht sich die Gesellschaft immer aufs Neue den Theorien und Methoden, mit denen die Sozialwissenschaften sie zu fassen versuchen. Sozialwissenschaftler haben deshalb kaum akkumulierbare Erkenntnisgewinne. Sie können froh sein, wenn der Abstand zwischen ihrem Wissen und ihrem Gegenstand nicht größer wird. Sozialwissenschaftler müssen ihre Begriffe, ihre Theorien und Methoden immer wieder ändern, nur um ihrem Gegenstand auf den Fersen zu bleiben. Auch die Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit unterliegen sozialem Wandel. Deshalb sind heute andere Begriffe sozialer Ungleichheit notwendig als im 19. Jahrhundert. 2. Ausgrenzung als Schlüsselbegriff Martin Kronauer hat Entscheidendes dazu beigetragen, dass ein zentraler Begriff in dieser Diskussion geschärft wurde: Ausgrenzung. Liest man seine Arbeiten, dann merkt man, dass die Verhältnisse, die er analysiert, ihn nicht gleichgültig lassen. Seine Arbeiten sind Beispiele für methodisch kontrollierte und theoretisch reflektierte Forschungen, in denen stets auch die nicht zuletzt durch politisches Handeln möglichen Veränderungen benannt werden. Aus all diesen Gründen sind Kronauers Arbeiten hervorragende Beispiele für eine kritische Sozialwissenschaft. Martin Kronauer nennt vier Besonderheiten von Ausgrenzung: Erstens die Tendenz, Systemgrenzen zu überspringen. Ausgrenzung bleibt nicht beschränkt auf ein funktionales System, etwa die Ökonomie. Deshalb ist zweitens Ausgrenzung immer mehrdimensional. Ausgrenzungsprozesse erfassen die Situation eines Individuums im ökonomischen, sozialen und kulturellen System. Drittens besteht ein Primat des ökonomischen Systems: Ausgrenzung nimmt in der Regel ihren Anfang auf dem Arbeitsmarkt, nicht zuletzt wegen der Abwertung alternativer Rollen zur Berufsrolle, etwa der der Hausfrau. Viertens bestehen Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Dimensionen der Ausgrenzung, die sich zu Teufelskreiseffekten steigern können. Ausgrenzung ist fortschreitender Prozess der Marginalisierung und verfestigter Zustand der Randständigkeit. Dabei spielt auch die Stadt eine wichtige Rolle, denn die Filter werden schwächer, die bislang 4 das Arbeitsmarktschicksal vom Wohnungsmarktschicksal abgekoppelt hatten. Zu diesen Filtern zählen die sozialstaatlichen Sicherungen, die privaten Haushalte und eine sozial verantwortliche Stadt und Wohnungspolitik. Dass die sozialstaatlichen Sicherungen angesichts neuer Problemlagen nicht ausreichen, hat Martin Kronauer ausführlich analysiert. Ich will deshalb hier nicht näher darauf eingehen. Auch der zweite Filter, der das Schicksal auf dem Wohnungsmarkt von dem auf dem Arbeitsmarkt entkoppelt, ist schwächer geworden: die privaten Haushalte. Auf dem Arbeitsmarkt agiert das Individuum, auf dem Wohnungsmarkt der Haushalt. Mehr-PersonenHaushalte verfügen in der Regel über Ressourcen, um mögliche Folgen des Arbeitsplatzverlustes eines Mitglieds für die Mietzahlungsfähigkeit des Haushalts und damit für sein Wohnungsmarktschicksal aufzufangen. Seit den sechziger Jahren aber ist die Zahl der Ein-Personen-Haushalte ständig gewachsen. Heute machen sie ein knappes Drittel aller Haushalte aus, in den Städten mehr als die Hälfte. Zugleich hat die Zahl der Alleinerziehenden zugenommen, von denen ca. 50 % in Armut leben. Mit der steigenden Zahl von Ein-Personen-Haushalten und Alleinerziehenden wächst die Zahl der auf dem Wohnungsmarkt verwundbaren Haushalte. Auch der dritte Filter, eine sozial verantwortliche Stadt- und Wohnungspolitik, verliert an Wirksamkeit. Stadtpolitik verlegt sich mehr und mehr darauf, die Stärken zu stärken, was notwendig zulasten der sozialen Aufgaben einer Kommune geht. Der Bestand an sozial gebundenen Wohnungen, der vor 30 Jahren noch über fünf Millionen allein in Westdeutschland umfasste, ist heute in Gesamtdeutschland auf 1,8 Millionen gesunken. Dieses Segment marktferner Wohnungsversorgung ist aber nicht nur quantitativ geschrumpft, es hat sich auch qualitativ verschlechtert: Sozial gebundene Wohnungsbestände finden sich heute überwiegend in den für Privatisierung ungeeigneten, unattraktiven Bauformen an peripheren Standorten. Dort konzentrieren sich die Haushalte, die auf dem privaten Markt keine Chancen haben. Mittlerweile liegen Ergebnisse empirischer Untersuchungen zu den Folgen der Privatisierung gemeinnütziger Wohnungsbestände vor. Danach dominiert die sogenannte Hartz-IV-Strategie vor Portfolioverkäufen und der Mieterprivatisierung. Hartz-IV-Strategie beinhaltet, dass die Eigentümer bevorzugt Hartz-IV-Empfänger in ihren Beständen unterbringen. Das ist auch durchaus rational. Von diesen Haushalten sind weniger Widerstände zu erwarten, wenn der Eigentümer die Instandhaltung vernachlässigt, es handelt sich um eine relativ sichere Nachfrage angesichts wachsender Armut und trotzdem kann der Eigentümer auf einen 5 kontinuierlichen Mietfluss vertrauen, denn die Miete zahlt die Kommune. Carsten Keller (2005) hat am Beispiel zweier ostdeutscher Städte geradezu desaströse Strategien beschrieben. In beiden Fällen konzentrierten die Eigentümer die aus ihrer Sicht problematischen Haushalte in den für Privatisierung ungeeigneten Gebäuden, unterließen dort anschließend die Instandhaltung und konzentrierten ihre Mittel auf die privatisierbaren Bestände. Solche Strategien erzeugen gezielt soziale Brennpunkte. 3. Dynamiken sozialer Ausgrenzung in den Städten Die Städte sind die Orte, wo Ausgrenzungsprozesse sichtbar und dynamisiert werden. Hier vor allem vollzieht sich der ökonomische Strukturwandel von der Industrie zur Dienstleistungsgesellschaft, weshalb die städtische Arbeitslosigkeit in der Regel über dem Durchschnitt der Bundesrepublik liegt. Die verwundbaren Haushalte konzentrieren sich in den Großstädten und hier in den Innenstädten: 61 % der Haushalte sind Ein-Personen-Haushalte, jeder achte bezieht Hilfe zum Lebensunterhalt respektive Grundsicherung und jeder fünfte verfügt nicht über die deutsche Staatsbürgerschaft. Von den Bewohnern Stuttgarts, Frankfurts und Nürnbergs haben heute bereits 40 % Migrationshintergrund, bei den Kindern sind es 60 %. In den Städten formen sich die Zonen der Integration, der Vulnerabilität und der Ausgrenzung zu einem Mosaik aus luxuriös aufgewerteten Quartieren, Zonen des Übergangs und Räumen der Ausgrenzung. In den Quartieren der Ausgrenzung ist Stadt nicht nur Ort, wo Gesellschaft erscheint, sondern hier wird Stadt selber zu einer Ursache gesellschaftlicher Phänomene. In diesen Räumen ergeben sich Wechselwirkungen zwischen sozialer, kultureller und ökonomischer Randständigkeit mit einer heruntergekommenen Umwelt, die in einer besonderen Dynamik der Ausgrenzung resultieren. Kronauer (2010: 145) hat drei Dimensionen der Exklusion identifiziert: "Marginalisierung am Arbeitsmarkt bis hin zum gänzlichen Ausschluss von Erwerbsarbeit; Einschränkung der sozialen Beziehungen bis hin zur Vereinzelung und sozialen Isolation; Ausschluss von Teilhabemöglichkeiten an gesellschaftlich anerkannten Lebenschancen und Lebensstandards". Räume der Ausgrenzung entstehen in dem Maße, wie diese Dimensionen gesellschaftlicher Benachteiligung sich gegenseitig zu Teufelskreiseffekten verstärken. Solche nach unten gerichteten Dynamiken können sich in bestimmten städtischen Räumen durch selektive Wanderungen verschärfen, sie können dort Konflikte auslösen und sie werden durch die Verschränkung von Benachteiligung und negativer Selbstdefinition verfestigt. 6 Dynamiken selektiver Mobilität können dadurch ausgelöst werden, dass das Image eines Quartiers sich verschlechtert. In Reaktion ziehen Haushalte, die sich Mobilität leisten können, fort. Das sind in der Regel Haushalte der deutschen Mittelschicht aber auch integrationserfolgreiche Migranten. Mit dem Fortzug gerade dieser Haushalte sinkt die Kaufkraft in dem Gebiet, woraufhin private wie öffentliche Anbieter ihre Güter- und Dienstleistungsangebote einschränken, Banken werden zurückhaltend bei der Vergabe von Krediten, was wiederum Hauseigentümer veranlasst, nicht mehr ausreichend in ihre Gebäude zu investieren. Das Gebiet verkommt allmählich auch äußerlich. Wenn dann noch der Anteil von Kindern aus bildungsfernen Schichten in den örtlichen Schulen steigt, so ist das Anlass für weitere Fortzüge. Zurück bleibt eine benachteiligte Bevölkerung in einem heruntergekommenen Gebiet mit mangelhafter Versorgung, einem negativen Image und negativen Nachbarschaftseffekten, die sich zu einer Kultur der Randständigkeit verdichten können. Das Gebiet ist zu einer eigenständigen Quelle zusätzlicher Benachteiligung geworden. In diesen Räumen können sich die Konflikte um die Integration von Zuwanderern intensivieren. Fatalerweise nämlich sind diese Quartiere die Orte, in denen besonders häufig darüber entschieden wird, ob die neu Zugewanderten an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden oder ob ihre Integration gelingt. Die Filtermechanismen auf den Wohnungsmärkten bringen die Zuwanderer in der Regel nicht in die Quartiere der Wohlsituierten sondern in Nachbarschaft zu den deutschen Verlierern des ökonomischen Strukturwandels. Verlierer sind selten in der Lage oder auch nur willens, tolerant und offen mit Fremden umzugehen. Im Gegenteil, sie brauchen Sündenböcke, eine Rolle, für die sich Fremde immer schon besonders geeignet haben. Wenn dann in solchen erzwungenen Nachbarschaften eine heruntergekommene Umwelt ihren Bewohnern tagtäglich vor Augen führt, dass sie am Rand der Gesellschaft angekommen sind, dann ist es nicht verwunderlich, dass dies keine Orte gelingender Integration sind, sondern im Gegenteil Orte konfliktträchtiger, gegenseitiger aggressiver Abgrenzung. Situationen objektiver Randständigkeit bleiben subjektiv nicht folgenlos. Wer den schlechten Ruf seiner Wohngegend täglich durch eine heruntergekommene Umwelt, durch problematische Nachbarn und durch die Urteile Außenstehender bestätigt sieht, der hat es schwer, dagegen ein positives Selbstbild zu behaupten. Wer sich aber selbst als am Rande der Gesellschaft definiert hat, der hat die Hoffnung aufgegeben. Solche subjektive Verfestigung objektiver Ausgrenzungsprozesse hat auch politische Dimensionen. In den Quartieren der 7 Ausgrenzung werden Menschen in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen zusammengezwungen. Ihre dementsprechend divergierenden Interessen sind nur schwer politisch zu organisieren. Die Fragmentierung der Beherrschten war immer schon eine besonders effektive Form der Sicherung von Herrschaft. Das wiederum verstärkt den Eindruck versteinerter Machtverhältnisse, an denen nichts zu ändern sei. Die Reaktion ist politischer Rückzug. In der ältesten Untersuchung dazu, die mir bekannt ist, wurde festgestellt, dass sich im Hamburger Stadtteil St. Pauli Wahlenthaltung, fehlendes Wahlrecht und Stimmen für rechtsradikale Splitterparteien auf 70-80 % der erwachsenen Bevölkerung aufsummierten. D.h.: nur 20-30 % der Bevölkerung sind in der Bürgerschaft vertreten. Diese Ergebnisse sind in den jüngsten Kommunalwahlen wieder bestätigt worden. Gerade jene Stadtteile, die am meisten der Aufmerksamkeit der Politik bedürften, sind am wenigsten in der Politik präsent. In solchen Quartieren setzt sich die Überzeugung fest, von dieser Gesellschaft nichts erwarten zu können und deshalb ihr auch nichts schuldig zu sein. Man verfällt in Apathie, gelegentlichen Vandalismus und gewalttätige Ausbrüche. Ausgrenzung beinhaltet deshalb auch eine Entschärfung der politischen Konfliktpotenziale sozialer Ungleichheit. Ausgegrenzte sind weder besonders organisations-, noch besonders artikulations- und konfliktfähig. Als Konsumenten wie als Arbeitskräfte sind sie überflüssig. Dem Ausgegrenzten bleibt nur der Status eines Objekts von Moral, Fürsorge und Polizei. Der fordistische Dreiklang aus Normalarbeitsverhältnis, integrativer Sozial- und Stadtpolitik sowie der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ist zerbrochen. Wachsende materielle Ungleichheit, zunehmende kulturelle Heterogenität, eine sich verbreiternde Zone des Prekariats, eine auf Wachstumsförderung orientierte Stadtpolitik und die Deregulierung der Wohnungsversorgung – diese Tendenzen zusammen formen ein Szenario scharfer sozialräumlicher Polarisierung der Städte: hier die hoch qualifizierten und einkommensstarken Haushalte mit häufig nicht-familiären Lebensweisen, dort die Menschen in prekären Lebensverhältnissen. Und wo Langzeitarbeitslosigkeit, schwache soziale Netze, Rückzug des Sozialstaats und vernachlässigte städtische Räume zusammentreffen, können Ausgrenzungs-Dynamiken in Gang gesetzt werden. Damit wird die Stadt zu einem eigenständigen Faktor, der soziale Ungleichheit überformt und Ausgrenzungsprozesse verschärft. Die Stadt als eine Ursache von Ausgrenzung aber wäre die schärfste Verneinung des Versprechens der europäischen Stadt auf Integration. 8 Ob die Tradition der europäischen Stadt als einer sozialstaatlich regulierten Institution gesellschaftlicher Integration sich dagegen behaupten wird, ist eine offene politische Frage. Was aber zu tun wäre, das kann man bei Martin Kronauer nachlesen. Literaturverzeichnis Keller, Carsten. 2005. Leben im Plattenbau. Zur Dynamik sozialer Ausgrenzung. Frankfurt/Main, Campus. Kronauer, Martin. 2010. Exklusion. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Frankfurt/Main, Campus. 9 Lohnende Investitionen? Zur Ambivalenz der Bildungsgewinne von Frauen in den Mittelschichten Karin Gottschall Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik Abstract Der Beitrag thematisiert die in der Phase der Wohlfahrtsstaatsexpansion realisierten und auch unter sozio-ökonomischen Krisenbedingungen stabilen Bildungsgewinne von Frauen in Deutschland in soziologischer Perspektive mit Blick auf „Klasse“ und „Geschlecht“ als Dimensionen sozialer Ungleichheit. Unter Rückgriff auf jüngere empirische Befunde wird das Verhältnis von Bildungsgewinnen zu Bildungsrenditen, Lebensformen und Statusreproduktion beleuchtet. Die Analyse zeigt, dass Geschlechterungleichheiten für qualifizierte Frauen nicht nur in der Arbeitswelt bei Entlohnung und Aufstiegschancen sondern auch im Privatleben bei den Optionen der Partnerwahl und Familiengründung wie auch der Verteilung von Familienorganisation und Care-Aufgaben fortbestehen. Gleichzeitig besteht die mittelschichtsspezifische privilegierte Lösung der Vereinbarkeitsproblematik häufig entweder in einer Modernisierung traditioneller Ernährer-Arrangements durch Teilzeitarbeit von Müttern oder aber in der Delegation von Haushalts- und Care-Tätigkeiten an „Dienstbotinnen“. So gehen die mit den Bildungsgewinnen von Frauen gestiegenen Chancen für eigenständige Existenzsicherung und Individualisierung nicht nur in Deutschland vorerst weniger mit egalitären Arbeits- und Lebensformen als vielmehr mit steigender Ungleichheit unter Frauen und zwischen den Mittel-und Unterschichten einher. Against the background of welfare state expansion in the past and the more recent socioeconomic crisis the paper sheds light on the impact of educational gains of women on gender and class inequality. Drawing on empirical evidence from Germany, the analysis examines effects of the inroads of women in skilled work and professions focusing on the gender pay gap, family formation and earner-carer arrangements. The results show a persistence of gender inequalities in the labour market regarding wages and career advancement as well as in private life regarding the choice of family status and in the division of work within the household. At the same time privileged dual career couples either opt for modernized male breadwinner arrangements with mothers working part-time or pass on household and care 10 obligations to ‘maids’. Thus, moving up the educational and job ladder does not only allow for more gender equality and independence for women in Western market societies, but also generates more inequality among women and between middle and working class families. Keywords: gender inequality, middle class, gender pay gap, dual career couples, work-life balance, social structure, status reproduction 11 „Früher heiratete der Arzt die Krankenschwester, heute die Ärztin“, lautet eine in Feuilletons und Talkshows zunehmend thematisierte Alltagsbeobachtung, die auch wissenschaftlich belegt ist. Die in den letzten Jahrzehnten verstetigten Bildungsgewinne von Frauen haben, so scheint es, zu einem Wandel auf dem Heirats- wie dem Arbeitsmarkt geführt. Bei der Partnerwahl verliert das traditionelle Schema der Überlegenheit des Mannes bei der Verfügung über kulturelle und materielle Ressourcen, das ihn zugleich als Familienernährer qualifizierte, an Bedeutung. In der Arbeitswelt wiederum treffen Männer Frauen nicht mehr nur als Sekretärinnen, Krankenschwestern oder Hilfskräfte, sondern auch als Berufskolleginnen und in leitenden Positionen. Bei der Partnerwahl und im Arbeitsalltag stellt sich so immer häufiger Augenhöhe ein, auch wenn die traditionellen Über- und Unterordnungsverhältnisse keineswegs verschwunden sind. All dies signalisiert in einer Gesellschaft, für die GIeichberechtigung, Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit konstitutiv sind, einen erheblichen sozialen Fortschritt. Doch wie nachhaltig und umfassend ist der durch Bildungsgewinne der Frauen ausgelöste Abbau von Ungleichheit wirklich? Was bedeutet er für die Statusarbeit in den Mittelschichten und die soziale Ungleichheit unter Frauen? Hier lohnt ein näherer Blick auf Klasse und Geschlecht als wohlfahrtstaatlich moderierten Ungleichheitsdimensionen zum einen und die sozialen Praktiken in den Mittelschichten zum anderen. 1. Klasse und Geschlecht als Dimensionen sozialer Ungleichheit In kapitalistische Marktgesellschaften stellt nicht nur die die Verfügung über materielle Ressourcen, d.h. Besitz, und vor allem die Erwerbsposition, sondern auch Geschlecht eine wichtige Ungleichheitsdimension dar: Frauen sind als soziale Gruppe, unabhängig von sozialer Herkunft, gegenüber Männern im Zugang zu materiellen, kulturellen und sozialen Ressourcen benachteiligt. Dies zeigt sich nicht nur im Erwerbssystem sondern auch in dem dominanten Familienmodell, das eine Abhängigkeit der für die unbezahlte Sorgearbeit zuständigen Hausfrau vom männlichen Familienernährer beinhaltet, der durch seine Erwerbsarbeit über die höheren materiellen Ressourcen verfügt. Allerdings wird die über den Markt vermittelte primäre Ungleichverteilung in Wohlfahrtsstaaten abgemildert, indem sie den Zwang zur Erwerbsarbeit als Mittel der Existenzsicherung durch soziale Sicherung lockern und soziale Dienstleistungen und Bildung bereitstellen, um die Chancen für Markteilhabe zu verbessern. Auch die spezifische Abhängigkeit von Frauen in der Familie wird abgeschwächt, etwa durch sozialstaatliche Kompensationsleistungen, wenn der Ernährer-Ehemann ausfällt wie im Fall der Witwenrente. Ein weiterer, in so genannten 12 meritokratischen Leistungsgesellschaften zentraler dem Markt zugeschriebener Mechanismus ist die Belohnung von Leistung, die sich in der Mobilität zwischen sozialen Gruppen und insbesondere auch Bildungsaufstiegen zeigt. Diese Mechanismen haben in der Geschichte der Bundesrepublik bis zur Wiedervereinigung eine wichtige Rolle gespielt. In der Wirtschaftswachstumsphase expandierte auch der Sozialstaat und avancierte durch die Ausweitungen von öffentlichen Infrastrukturen und sozialen Dienstleistungen in Bildung und Gesundheit selbst zu einem wichtigen Arbeitgeber. Dabei ist eine relativ breite Mittelschicht entstanden, zu der neben Selbstständigen, Beamten und Angestellten auch Facharbeiter und Beschäftigte im gewachsenen Öffentlichen Dienst zählen. Zugleich konnte sich in dieser Phase in Westdeutschland durch kontinuierliche Einkommenssteigerungen auch in der Arbeiterschaft das zunächst nur für bürgerliche Familien geltende Modell der männlichen Ernährer-Ehe mit weiblicher Hausfrau und Mutter in breiteren Schichten durchsetzen, während sich in der DDR, flankiert durch flächendeckende öffentliche Kinderbetreuung, ein Zwei-Verdiener-Modell etablierte. Im wiedervereinigten Deutschland wurde der westliche Trend der Wohlstandssteigerung dann jedoch durch sinkende Wachstumsraten, wachsende Staatsverschuldung, die Liberalisierung der Arbeitsmärkte und wohlfahrtsstaatliche Einschnitte gebremst. Nicht nur die höhere Konzentration von Reichtum bei Wenigen und eine steigende Armut, sondern auch die im Ländervergleich starke Strukturierung von Bildungschancen durch soziale Herkunft, wie sie in den PISA Studien deutlich geworden ist, signalisieren, dass traditionelle Mechanismen der Nivellierung von sozialer Ungleichheit gegenwärtig nur noch begrenzt funktionieren. 2. Bildungsgewinne und Bildungsrenditen Mit Blick auf die Geschlechterungleichheit ergibt sich freilich zunächst ein weniger pessimistisches Bild. Frauen haben am „Fahrstuhleffekt“ des gesamtgesellschaftlichen Aufstiegs nachhaltig teil und konnten und können bezogen auf ihre Herkunft die unteren Klassen immer häufiger verlassen (Datenreport 2013). Sie haben vom Ausbau der höheren Bildung ebenso wie von der Ausweitung der öffentlichen Dienste profitiert. So stellen Frauen inzwischen bei den Abgängern mit Hochschulreife und den Studienberechtigten die Mehrheit und haben auch bei den höheren wissenschaftlichen Qualifikationen deutlich aufgeholt. Weiter ist der generelle Trend höherer Erwerbsbeteiligung bei akademisch qualifizierten Frauen besonders ausgeprägt; auch sind sie eher vollzeiterwerbstätig, weisen eine höhere 13 Erwerbskontinuität auf und unterbrechen, wenn sie Kinder haben, in geringerem Maß ihre Erwerbstätigkeit (BMJFFS, 2013). Ein genauerer Blick auf die Arbeitsmarktposition von Frauen zeigt allerdings, dass die Renditen ihrer Bildungsinvestitionen begrenzt sind. Bereits im Bereich mittlerer Qualifikationen, d.h. bei Facharbeiter- und Fachangestelltenberufen, sind bei vergleichbaren Bildungsvoraussetzungen die Einkommens- und Karrieremöglichkeiten in den industriellen und industrienahen Tätigkeiten, die in der Regel männerdominiert sind, deutlich höher als bei den frauendominierten personenbezogenen und sozialen Dienstleistungstätigkeiten. So lag bspw. 2010 die tarifliche Jahresgrundvergütung für berufsfachlich qualifizierte Anfänger/innen in der Altenpflege (26.300 Euro) ca. ein Drittel unter der entsprechenden Vergütung in der Metallindustrie (38.500 Euro). Diese Differenzen haben im Zeitverlauf aufgrund höherer Tarifsteigerungen in den industriellen Kernsektoren im Vergleich zu den Gesundheitsdienstleistungen noch zugenommen (Bispinck, 2013). Auch bei Tätigkeiten mit Fachhochschul- oder Hochschulqualifikation schlagen geschlechtsspezifische Fächerwahlpräferenzen deutlich als gender pay gap durch. Nicht nur sind generell die Verdienstmöglichkeiten mit einem geisteswissenschaftlichen Abschluss deutlich geringer als mit einer natur- oder ingenieurwissenschaftlichen Ausbildung. Auch in jenen Bereichen wie Medizin und Jura, wo die Frauenanteile bei den Absolventen im Zeitverlauf deutlich gestiegen sind, zeigt sich auf dem Arbeitsmarkt nicht nur eine generelle Unterrepräsentanz von Frauen in Leitungspositionen, sondern auch eine ungleichheitsrelevante innerprofessionelle Differenzierung: Facharztkategorien, in denen Frauen stärker vertreten sind, wie etwa Kinderärzte, genießen deutlich weniger Einkommen und Prestige als etwa die nach wie vor männlich geprägte Chirurgie (Faktenblatt Ärztevergütung, 2013). Gängige Erklärungen, die hier auf Erwerbsunterbrechungen und Teilzeitarbeit bei Frauen mit Kindern rekurrieren, greifen nur zum Teil, denn Einkommensunterschiede und Unterrepräsentanz in Leitungspositionen bestehen auch fort, wenn Frauen arbeiten „wie ein Mann“, d.h. kontinuierlich und vollzeiterwerbstätig sind. 3. Bildungsgewinne und Lebensformen Darüber hinaus zeigen Studien, dass beruflich erfolgreiche Frauen neben Einkommenseinbußen und Karrierehemmnissen oft noch einen weiteren „Preis“ zahlen: Hochqualifizierte vollzeiterwerbstätige Frauen sind häufig alleinstehend, was für ihre männlichen Kollegen so nicht gilt (Lengerer, 2011). Auch Kinderlosigkeit ist bei 14 hochqualifizierten Frauen vor allem in Westdeutschland stark ausgeprägt, was mit dem schlechteren Kinderbetreuungsangebot im Westen, aber auch geringer ausgeprägten familialen Werten bei westdeutschen im Vergleich zu ostdeutschen Akademikerinnen in Verbindung gebracht wird (Boehnke, 2013). Studien zur Kinderlosigkeit im Paarkontext in Westdeutschland zeigen, dass bei einer insgesamt relativ konstanten Kinderlosenquote von ca. 25% diese zwischen 1987 und 2004 insbesondere bei jenen Paaren angestiegen ist, wo die Frauen über einen Hochschulabschluss verfügen (Duschek und Wirth, 2005). Auch jenseits der Kinderfrage gilt für hochqualifizierte Frauen, dass das Verfolgen der eigenen beruflichen Karriere im Rahmen einer Partnerschaft aus verschiedenen Gründen nicht einfach ist. So gehen hochqualifizierte Frauen anders als hochqualifizierte Männer in höherem Maß eine Partnerschaft mit akademisch gebildeten Männern ein (Wirth, 2013: 152/153). In dieser Konstellation wollen in der Regel beide Partner eine berufliche Karriere verfolgen, was angesichts der beruflichen Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen einerseits wie auch der Ansprüche an die Paarbeziehung anderseits nicht einfach zu bewältigen ist. Karriereplanung und die Abstimmung von beruflichen Karriereschritten erfordern nicht nur komplexe und langwierige Aushandlungsprozesse, sondern meist auch das „Zurückstecken“ eines Partners mit der Ungewissheit, ob sich dies im weiteren Verlauf kompensieren lässt. Sind, was durchaus häufiger vorkommt, beide Partner in denselben Professionen oder Organisationen tätig, können sich Konkurrenz und Wettbewerb in die Partnerschaft übertragen und diese gefährden. Tatsächlich sind entgegen dem normativ-egalitären Idealbild von so genannten Dual-Career-Partnerschaften, das Gleichheit in der Berufs- und Privatsphäre unterstellt, die Arbeitsteilungsarrangements im häuslichen Kontext und Anerkennungsstrukturen innerhalb der Partnerschaft nicht ohne weiteres egalitär (Solga und Wimbauer, 2005). Ökonomische Gleichheit bzw. Unabhängigkeit der Frau kann Irritationen auslösen und von Frauen wie Männern als Gefährdung der „Liebe“ bzw. Stabilität der Beziehung erlebt werden, und Ausgleichsbewegungen in Gang setzen, die zu einer Re-Traditionalisierung des privaten Arrangements führen, indem die Frauen mehr Hausarbeit übernehmen oder aber eher bereit sind, beruflich zurückzustecken (Wimbauer, 2003). Insbesondere die Geburt eines Kindes erweist sich oft als Auslöser einer ReTraditionalisierung partnerschaftlicher Arrangements, die sich im weiteren Ehe- und Beziehungsverlauf verfestigt, indem Männer unabhängig von Arbeitszeit und Einkommen der Frauen geringere Anteile an Hausarbeit übernehmen (Grunow et al., 2012). Befördert wird diese Tendenz nicht nur durch traditionelle kulturelle Muster sondern auch durch die weit 15 verbreitete Flexibilisierung in hochqualifizierten Berufsfeldern. Die entsprechenden Anforderungen und Zumutungen reichen von der Erwartung selbstverständlicher räumlicher Mobilität über Vollverfügbarkeitsansprüche, die dank technischer Entgrenzung räumlich und zeitlich auch die Privatsphäre okkupieren, bis hin zur Befristung von Arbeitsverhältnissen bei Neueinstellungen vor allem bei Berufsanfänger/innen. Angesichts des von beiden Partnern wahrgenommen beruflichen Drucks und zum Teil auch fehlender sozialstaatlicher Unterstützung für eine gleichberechtigte Erwerbstätigkeit beider Elternteile erscheint daher auch bei hochqualifizierten Paaren ein so genanntes modernisiertes Ernährermodell mit Teilzeitbeschäftigung der Frau häufig als rationale Lösung, zumal wenn berufliche Position und Einkommen des Partners dies unter Wahrung eines gehobenen Lebensstandards zulassen. 4. Bildungsgewinne und Statusreproduktion Der partielle Arbeitsmarktrückzug hochqualifizierter Frauen stellt aus makroökonomischer wie gesellschaftspolitischer Sicht durchaus ein Problem dar, und die in den letzten Jahren verstärkten familienpolitischen Anstrengungen, die Einführung des Elterngeldes und der Ausbau von Kinderbetreuung und Ganztagsschulen, zielen entsprechend auf eine Mobilisierung gerade der qualifizierten Frauen und Mütter (Henniger et al., 2008). Ganz verloren ist deren Bildungskapital gleichwohl auch als Hausfrau und Mutter nicht, denn Zeit und Kompetenzen, die nicht für Erwerbsarbeit verausgabt werden, stehen für die Förderung der Entwicklung und Bildung der Kinder, die Entlastung des beruflich hoch eingespannten Partners, die Pflege sozialer Netzwerke sowie ehrenamtliches Engagement zur Verfügung. Alle diese Aktivitäten sind Investitionen, die sich im Sinne der Statusreproduktion des Paares auszahlen und helfen können, Irritationen in der Lebensführung und Verunsicherungen in der Lebensplanung durch verschärften Wettbewerbsdruck im Arbeitsleben oder aber auch Volatilität von Geldanlagen zu begegnen. Diese mittelschichtstypische geschlechtsspezifisch geprägte Statusarbeit dürfte auch ein Grund für die in Deutschland besonders stark ausgeprägte Herkunftsabhängigkeit von Schulerfolg und Bildungsweg der Kinder sein; sie markiert zugleich Abstand und Aufstiegshindernisse für die unteren Schichten, deren kulturelle und materielle Ressourcen deutlich geringer sind. Wenn Mittelschichtspaare statt des modernisierten Ernährermodells den Weg der Doppelkarriere wählen, gelingt die Vereinbarkeit von Karriere und Familie oft nur, wenn familiale Unterstützung und vor allem auch marktliche Dienstleistungen in Anspruch genommen werden. Die entsprechenden alltäglichen Lebensführungsmuster sind dann zum 16 Teil ähnlich durchorganisiert wie der betriebliche Arbeitsplatz und die berufliche Karriere. Paradoxerweise gehen auch diese hochmodernen Arrangements nicht selten mit einer ReTraditionalisierung einher, indem nicht nur den Frauen die Hauptlast des Vereinbarkeitsmanagements obliegt, sondern auch eine bürgerliche Dienstbotenkultur wiederbelebt wird (Wimbauer, 2012). Mehr Gleichheit zwischen Männern und Frauen in den Mittelschichten geht so zugleich mit mehr Ungleichheit unter Frauen einher. Ohne Zweifel haben sich für Frauen mit den Bildungsgewinnen die Möglichkeiten zu eigenständiger Existenzsicherung und Individualisierung jenseits von Rollenzuschreibungen erhöht. Die neue Augenhöhe zeigt sich auf dem Arbeits- ebenso wie auf dem Partnermarkt, wo nun auch Frauen bildungsunterlegene wie bildungsgleiche Partner wählen können. Das gesellschaftsstrukturelle Problem der Verrichtung und Verteilung von Sorgearbeit holt freilich Frauen (und Männer) auch in den zunehmend statusgleichen Partnerschaften ein. Im Fall der Dual-Career-Partnerschaften besteht bei Instrumentalisierung der Partnerschaft für die Karriere und einer weitgehenden Delegation der Familienarbeit die Gefahr, dass die entgrenzte Arbeitswelt übergreift und eben jene lebensweltliche Qualitäten von „Liebe“ und Familie schwinden, die diese bürgerlichen Lebensformen für weite Bevölkerungsschichten, unterstützt durch Interessenvertretungen und Sozialstaat, im 20. Jahrhundert so attraktiv gemacht haben. Stecken Frauen im Rahmen eines modernisierten Ernährer-Arrangements zugunsten von Partnerschaft und Familie zurück, so riskieren sie die alten Abhängigkeiten vom Ernährer-Ehemann, oder aber im Fall von Trennung, vom Staat, der freilich, wie die Reform des Unterhaltsrechts zeigt, nunmehr auch Mittelschichtsfrauen stärker auf den Arbeitsmarkt verweist. So bleibt eine alternative, nachhaltig egalitäre Perspektive, in der berufliches Fortkommen und Partnerschaft und Familie für beide Partner möglich sind, vorerst vor allem als Wunsch auf der gesellschaftlichen Tagesordnung, ein Wunsch freilich, der in Umfragen immer nachdrücklicher insbesondere von jüngeren Frauen und Männern geäußert wird. Literaturverzeichnis BMFSJ Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 2013. Atlas zur Gleichstellung für Frauen und Männern in Deutschland, 2. Auflage. Bispinck, Reinhard. 2013. Tarifvergütungen für berufsfachlich qualifizierte Beschäftigte. In: WSI Mitteilungen, Jg. 66, 201-209. 17 Boehnke, Mandy. 2013. Hochschulbildung und Kinderlosigkeit. Deutsch-deutsche Unterschiede. In: Konietzka, Dirk; Kreyenfeld, Michaela (Hrsg.), Ein Leben ohne Kinder, Ausmaß, Strukturen und Ursachen von Kinderlosigkeit, 2. Auflage, Springer VS, 81-100. Duschek, Klaus-Jürgen; Wirth, Heike. 2005. Kinderlosigkeit von Frauen im Spiegel des Mikrozensus. Eine Kohortenanalyse der Mikrozensen 1987 bis 2003. In: Wirtschaft und Statistik Heft 8, 800-820. Faktenblatt Ärztevergütung 2013. URL: http://www.gkv-spitzenverband.de/media/ dokumente/presse/presse_themen/aerzteverguetung/Faktenblatt__Aerzte_Verguetung_2 013-08-16.pdf). Grunow, Daniela; Schulz, Florian; Blossfeld, Hans-Peter. 2012. What determines change in the division of housework over the course of marriage? In: International Sociology 27, 289-307. Henninger, Annette; Wimbauer, Christine; Dombrowski, Rosine. 2008. Geschlechtergleichheit oder „exklusive Emanzipation“? Ungleichheitssoziologische Implikationen der aktuellen familienpolitischen Reformen. In: Berliner Journal für Soziologie 18(1), 99-128. Lengerer, Andrea. 2011. Partnerlosigkeit in Deutschland. Entwicklung und soziale Unterschiede. Wiesbaden, VS Verlag. Solga, Heike; Wimbauer, Christine. 2005. „Wenn zwei das Gleiche tun…“ – Ideal und Realität sozialer (Un-) Gleichheit in Dual Career Couples. In: Solga, Heike; Wimbauer, Christine (Hrsg.), „Wenn zwei das Gleiche tun…“. Opladen, Verlag Barbara Budrich. Statistisches Bundesamt. 2013. Datenreport 2013, ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bundeszentrale für Politische Bildung. Wimbauer, Christine. 2003. Geld und Liebe. Zur symbolischen Bedeutung von Geld in Paarbeziehungen. Frankfurt, New York, Campus. Wimbauer, Christine. 2012. Wenn Arbeit Liebe ersetzt. Frankfurt, New York, Campus. Wirth, Heike. 2013. Kinderlosigkeit von hoch qualifizierten Frauen und Männern im Paarkontext – eine Folge von Bildungshomogamie?. In: Konietzka, Dirk; Kreyenfeld, Michaela (Hrsg.), Ein Leben ohne Kinder, Ausmaß, Strukturen und Ursachen von Kinderlosigkeit. 2. Auflage, Springer VS, 137-170. 18 Arbeit – Bildung – Armutsbekämpfung. Aktuelle Herausforderungen für die EU Emmerich Tálos Universität Wien, Institut für Staatswissenschaft Abstract Seit der Finanzmarktkrise ist die EU mit beträchtlichen Herausforderungen konfrontiert. Im Beitrag werden diese an drei Bereichen gezeigt: Arbeit, Bildung und Armutsgefährdung. Die Antworten der EU darauf sind von einer Engführung auf ökonomische Prioritäten geprägt. Der notwendige Kurswechsel in Richtung eines sozialeren Europa ist nicht erfolgt. Ohne diesen verliert das EU-Projekt seine Existenzberechtigung. Since the global financial crisis the EU has been facing dramatic challenges. The article examines them with regard to employment, education and poverty. Until now, EU answers to these challenges are focusing exclusively on economic priorities. A change of policies towards a social Europe hasn’t been carried out. However, without such a change of policies the “project EU” loses its right to exist. Keywords: work, unemployment, atypical employment, poverty, education, youth unemployment, social exclusion, financial crisis, Europe 2020 19 Einstieg Die soziale Entwicklung in der Europäischen Union ist seit der Finanzmarktkrise 2008/2009, die zu einer Krise der Realwirtschaft und der staatlichen Budgets wurde, durch massive Problemlagen gekennzeichnet – ablesbar exemplarisch an einer Rekordarbeitslosigkeit und an steigender Armut. Wachsende Skepsis gegenüber und Kritik an dieser Entwicklung ist, wie auch die Wahlen zum EU Parlament zeigten, die unübersehbare Folge. Wie reagierte die EU auf diese soziale und ökonomische Entwicklung? Welche Antworten hat die Europäische Union auf diese Problemlagen? eicht das traditionell schwache soziale Profil der EU aus oder bedarf es eines Kurswechsels, der die in den letzten Jahren noch offenkundiger gewordene Schieflage der Prioritäten der EU (zugunsten des Marktes, wirtschaftlicher Interessen und der Interessen des Bankkapitals) und der damit verbundenen forcierten Sparpolitiken ändert? Meine Position ist, dass ein Kurswechsel unumgänglich ist, wenn das Europa-Projekt eine Überlebenschance haben soll. In meinen Ausführungen werde ich erstens einen Blick auf die aktuellen sozialen Probleme und Herausforderungen werfen, in einem zweiten Punkt der Frage nachgehen, in welche Richtung sich die EU seit der Finanzmarktkrise bewegt bzw. worum es bei der EU-Strategie 2020 (formuliert im Jahr 2010) geht. Ob dabei nicht wieder wie schon in früheren Tagen das alte Problem der Diskrepanz zwischen verbalen Zielvorstellungen und realer Orientierung der EU- Politik auftritt? In einem dritten Punkt werde ich einige Ansätze/Schritte eines Kurswechsels anführen. 1. Welches sind die aktuellen Problemlagen, die beträchtliche Herausforderungen an die sozialpolitische Gestaltung der EU darstellen? Ich werde diese entlang von drei Bereichen skizzieren: Erwerbsarbeit, Bildung, Armut. Es handelt sich dabei um Themen, zu denen Martin Kronauer wesentliche Beiträge geliefert hat (z.B. 2004, 2005, 2010, 2013). Erwerbsarbeit Aktuell und absehbar ist die Situation am Erwerbsarbeitsmarkt vor allem durch zwei Aspekte gekennzeichnet: Erwerbslosigkeit und Atypisierung der Erwerbsarbeit. 20 Die seit geraumer Zeit bereits andauernde Problematik der Erwerbslosigkeit erfuhr durch die internationale Wirtschaftskrise, die durch die hochspekulativen Strategien und Praktiken des Finanzkapitals ausgelöst worden war, eine beträchtliche Zuspitzung: Die Arbeitslosenquote als ein Grobindikator ist (mit Ausnahme von Deutschland) seit 2008 angestiegen. Seit Beginn der Krise 2008 sind in der Eurozone 3,5 Mio. Arbeitsplätze verloren gegangen. Es gibt heute um 10,8 Mio. arbeitslose Menschen mehr als vor der Krise. 2013 waren 26,6 Mio. Menschen, davon 5,5 Mio. Jugendliche arbeitslos. Die Arbeitslosenquote lag in der Eurozone im April 2014 bei 11,8%. Laut Sozialbericht der EU hat sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen (1 Jahr oder länger) seit 2008 verdoppelt. Die Situation in Österreich (siehe Daten von Statistik Austria) ist vergleichsweise günstiger, ungeachtet dessen sind auch hier ein Anstieg (2008: 3,8%; 2012: 4,3%, 2013: ca. 5%) bzw. die Andauer auf einem höheren Niveau zu verzeichnen. Für 2014 gesamt und 2015 wird die Fortdauer des Arbeitslosigkeitsproblems in Österreich prognostiziert. Auch in Deutschland ist laut Eurostat das Niveau der Arbeitslosigkeit vergleichsweise niedrig (2013: 5,3%, 2014: 5,1%). Die Zahl der Arbeitslosen ist 2014 im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen (2013: über 3 Mio.; April 2014 unter 3 Mio.). Das in der EU gewachsene Risiko der Erwerbslosigkeit trifft dabei insbesondere soziale Gruppen wie junge Menschen, Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Migrationshintergrund. Die Jugendarbeitslosigkeit (siehe näher dazu Tamesberger 2014) lag in der EU im zweiten Quartal 2013 bei 24%. D.h. annähernd jeder vierte Jugendliche ist arbeitslos. Die Jugendarbeitslosigkeit hat vor allem in den südeuropäischen Ländern ein enormes Ausmaß erreicht: 2013 betrug sie in Griechenland 58%, in Spanien 55%, in Kroatien 50%, in Italien 42%. Selbst in Luxemburg und Schweden ist die Jugendarbeitslosigkeit dreimal so hoch wie die der anderen Altersgruppen. Österreich hat mit Deutschland die niedrigste ausgewiesene Jugendarbeitslosigkeitsquote, doch auch in Österreich liegt diese nach EU Berechnung mit 8,6% merkbar über der Gesamtquote von annähernd 5%. Auch die Langzeitarbeitslosigkeit ist bei Jugendlichen sehr hoch: Im Durchschnitt der 27 EU Länder lag sie bei knapp 34% der arbeitslosen Jugendlichen. Einer von drei arbeitslosen Jugendlichen ist langzeitarbeitslos, d.h. länger als 12 Monate erwerbslos. Selbst EU Währungskommissar Rehn bezeichnete die Jugendarbeitslosigkeit in seinem Bericht zum österreichischen Wirtschaftsbericht 2013 als „die verheerendste Folgeerscheinung der Wirtschafts- und Finanzkrise“. 21 Wichtig in diesem Zusammenhang ist zu betonen: Jugendarbeitslosigkeit hat für die Betroffenen verhängnisvolle Einkommensverlust, und nachhaltige Lebenszufriedenheit, Folgen Gesundheit, auf mehreren Erwerbsbiographie, Ebenen: politisches Verhalten. Wer als Berufsanfänger zeitweilig ohne Job ist, muss noch Jahre später mit Nachteilen am Erwerbsarbeitsmarkt rechnen (siehe Böckler Impuls 11/2013). Es gibt keine Anzeichen für eine ernsthafte Entwarnung an der Arbeitslosigkeitsfront – im Gegenteil: teils Anstieg, teils Fortdauer auf einem hohen Niveau. Die zweite Facette von Veränderungen am Erwerbsarbeitsmarkt besteht in Veränderungen der lange Zeit dominanten Erwerbsarbeitsform, des sog. Normalarbeitsverhältnisses als dauerhafte, vollzeitige, arbeits- und sozialrechtlich abgesicherte Beschäftigung, mittels der ein ausreichendes Einkommen (für die Beschäftigten und ihre Familien) erzielt werden konnte. Davon abweichende, sog. atypische Beschäftigungen wie Teilzeitarbeit, befristete oder geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit und Scheinselbständigkeit, verzeichnen europaweit eine Zunahme – bei gleichzeitigem Rückgang von Vollzeitbeschäftigungsverhältnissen (siehe Bontrup, 2013: 75; Dribbusch und Birke, 2014: 10). Das Ausmaß der verbreitetsten Form, der Teilzeitbeschäftigung, an Österreich aufgezeigt: Im Jahr 2013 waren 26,5% der unselbständig Beschäftigten teilzeitbeschäftigt (siehe Statistik Austria). Das sind fast eine Million Beschäftigte, der weitaus überwiegende Teil (über 80%) davon sind Frauen. Anstiege verzeichnen auch die geringfügige Beschäftigung und die Leiharbeit. Atypische Beschäftigung hat für die Betroffenen mehr oder weniger weitreichende negative Auswirkungen: auf die Stabilität ihrer Beschäftigung, auf Einkommen, arbeitsrechtlichen Schutz, Weiterbildungschancen, die materielle und soziale Absicherung. Das Verarmungsrisiko ist sehr hoch. Bildung Die Anforderungen an die Beschäftigten hinsichtlich ihrer Qualifikation sind zum einen beträchtlich gestiegen, zum anderen dauern die Ungleichheiten der Möglichkeiten der Partizipation am Bildungssystem und des Erwerbs von Qualifikation, kurz gesagt die Bildungsbenachteiligung, an. Zur Gruppe der Bildungsbenachteiligten zählen sog. Schulabbrecher, d.h. Personen ohne Schulabschluss, und Personen mit max. Pflichtschulabschluss und ohne weiterführende Ausbildung. Die Schulabbrecherquote lag in Österreich im Jahr 2011 bei 8,3%. In Deutschland hatten 6,5% der Jugendlichen im Jahr 2010 22 keinen Abschluss. Die Gründe für Bildungsbenachteiligung liegen auf mehreren Ebenen: soziale Herkunft bzw. Bildungsniveau der Eltern, Migrationshintergrund, regionale Herkunft und Geschlecht. Annähernd 76% der 15- und 16jährigen mit mindestens einem Elternteil, der Matura oder einen höheren Bildungsabschluss hat, besuchen in Österreich eine weiterführende Schule mit Matura. Haben beide Eltern nur Pflichtschulabschluss, so sind es ca. 23%. An Migrantenjugendlichen wird die bestehende Chancenungleichheit im Bildungs- und Ausbildungssystem in mehrfacher Hinsicht ersichtlich: Ihr Anteil in Sonderschulen ist überproportional hoch. Sie sind überproportional in Hauptschulen, Neuen Mittelschulen sowie in Polytechnischen Lehrgängen und Handelsschulen vertreten. Der Übergang zwischen Ausbildungsabschluss und Arbeitsbeginn dauert länger, Abbrüche in der Ausbildung sind doppelt so hoch wie bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Eine fehlende Berufsausbildung (maximal Pflichtschulabschluss, keine weiterführende Ausbildung) hat massive Nachteile hinsichtlich der Partizipation am Arbeitsmarkt zur Folge: ablesbar an einem größeren Arbeitslosigkeitsrisiko, an größeren Schwierigkeiten beim Wiedereinstieg. Bildungsbenachteiligte Personen finden sich häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Oder anders gesagt: Menschen mit formell niedrigem Qualifikationslevel und ohne Berufsausbildung haben größere Probleme beim Berufseinstieg und ein höheres Arbeitslosigkeitsrisiko. Eine spezifische Gruppe, die auf EU Ebene ebenso wie in Österreich Aufmerksamkeit erfährt, sind die sog. NEETS (Not in Education, Employment or Training, siehe z.B. Bacher et al., 2014). Das sind Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 16 und 24 Jahren, die keine Schule besuchen, keiner Erwerbsarbeit nachgehen und sich nicht in einer Trainingsoder Bildungsmaßnahme befinden. In südlichen Ländern der EU wie Griechenland, Spanien und Italien lag deren Quote 2012 bei 20%, in den nördlichen Ländern wie Deutschland, Österreich, Niederlande unter 7%. In Österreich betrug die Quote 6,9%. Armutsgefährdung und soziale Ausgrenzung Seit einigen Jahren zeichnet sich ein Wandel ab. Armut ist als reales Phänomen selbst in reichen Gesellschaften der EU zu einem Thema geworden. Armut ist hier zwar wenig sichtbar, aber nichts desto weniger präsent: in anderen, differenzierten und vielfältigeren Formen, als es die lange Zeit verbreiteten Bilder signalisieren. Sie bedeutet nicht absolute 23 physische und soziale Verelendung. Armut bedeutet in reichen Ländern – in Relation zu gegenwärtig verbreiteten materiellen und sozialen Standards – Unterversorgung bzw. beträchtlich eingeschränkte materielle und soziale Teilhabechancen. Neu ist das Phänomen Armut nicht, auch wenn sich die Ausprägungen und die Betroffenheit geändert haben (siehe Tálos und Kronauer, 2011). In Österreich schwankte die Armutsgefährdungsquote, d.h. der Anteil jener Personen, deren Haushaltseinkommen den Schwellenwert von 60% des Medianeinkommens (2012: 21.809 Euro) unterschreitet, im letzten Jahrzehnt zwischen 11 und 13%. Die Erhebung EU-SILC (Statistik der Europäischen Union über Einkommen und Lebensbedingungen, siehe http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/microdata/eu_silc) weist für Österreich im Jahr 2011 eine Quote von 12,6% auf. In absoluten Zahlen sind das über eine Million Personen. Die Armutsschwelle lag nach EU-SILC für das Jahr 2011 bei 1.090 Euro monatlich für einen Einpersonenhaushalt – bei Einbeziehung aller Einkommen wie Sozialleistungen, Familienbeihilfen usw.. Mehrpersonenhaushalte werden bei der Berechnung der Armutsgefährdung gewichtet (die erste erwachsene Person mit Faktor 1, weitere erwachsene Personen mit Faktor 0,5, Kinder mit Faktor 0,3.). Vor Sozialtransfers und Pensionen läge die Armutsgefährdungsquote in Österreich bei 44%, im Fall der Arbeitslosigkeit von mindestens sechs Monaten gar bei 71%; nach Sozialtransfers und Pensionen beträgt die Quote 14%. Für Deutschland wurde für das Jahr 2012 eine Armutsgefährdungsquote von 15,2% und ein kontinuierlicher Anstieg für die letzten Jahre konstatiert (siehe Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013; Freund 2013). Zu den Zielen der EU-Strategie „Europa 2020“ zählt auch das der Armutsbekämpfung. Der europäisch verbindliche Indikator „Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung“ umfasst drei Zielgruppen: neben den (1) von Armutsgefährdung und (2) von erheblicher materieller Deprivation Betroffenen – bei Letzteren handelt es sich um eine Gruppe von Personen, die sich nach EU Definition Grundbedürfnisse wie Urlaub, angemessene Heizung der Wohnung oder unerwartete Ausgaben nicht leisten können – zählen dazu (3) „Personen in Haushalten mit keiner oder sehr niedriger Erwerbstätigkeit“. Demnach waren in Österreich im Jahr 2012 über 1,5 Mio. Menschen bzw. 18% der Bevölkerung armuts- oder ausgrenzungsgefährdet (Fakten zur Entwicklung von Hauptindikatoren für Armut in Österreich seit 2008; Statistik Austria). 24 Es gibt diesbezüglich enorm große Unterschiede zwischen den EU Mitgliedsländern. So liegt die Armutsquote in Spanien, Bulgarien und Rumänien bei über 22%, in Griechenland und Kroatien bei über 21%. Wer sind die davon betroffenen? Laut den Analysen der letzten Jahre sind von Verarmungsrisiken in Österreich vor allem Menschen ohne oder mit eingeschränkter Erwerbsarbeit, Langzeitarbeitslose, Ein-Personenhaushalte von Pensionisten, kinderreiche Familien, Alleinerziehende, Menschen mit geringer Schulbildung, Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft und mit Behinderung betroffen. Dass Erwerbsarbeit eine ausreichende materielle Existenzsicherung heute nicht immer gewährleistet, wird vor allem am Phänomen der so genannten „working poor“ deutlich. Dabei handelt es sich um Personen, die trotz Erwerbsarbeit mit Verarmung konfrontiert sind. Damit wird auch in Österreich ein Phänomen ersichtlich, das mit der Ausweitung tarifrechtlichen und sozialstaatlichen Schutzes ein für alle Mal gebannt zu sein schien: die Armut von Erwerbstätigen. Laut EU-SILC für das Jahr 2011 sind in Österreich insgesamt 5% der Erwerbstätigen im Erwerbsalter „working poor“ – d.h. 198.000 Personen, 121.000 Männer, 77.000 Frauen. Ganzjährig Vollzeitbeschäftigte haben das geringste Risiko (4%), bei ganzjährig Teilzeitbeschäftigten liegt das Risiko bei 8%, bei nicht ganzjährig Beschäftigten bei 12%. Kurz gesagt: Atypisch Beschäftigte sind von der Problematik „working poor“ stärker betroffen. Insgesamt betrachtet ist für die soziale Entwicklung in der EU ein merkbarer Trend zur sozialen Spaltung konstatierbar: zwischen nördlichen und südlichen, zwischen westlichen und östlichen Ländern der EU. Die Unterschiede im Niveau der Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit sind beachtlich: während in Griechenland und Spanien jeder Vierte keine Erwerbsarbeit hat, ist es in Luxemburg, Deutschland und Österreich jeder Zwanzigste. Krass divergieren die Arbeitsmarktchancen von Jugendlichen, wie die obigen Zahlen zeigten. Eine ähnliche Konstellation besteht bei Armutsrisiken: ein wachsendes Risiko ist für Menschen in EU-Mitgliedsstaaten im Süden und im Osten konstatierbar. 25 2. Was sind die Antworten der EU auf die zunehmenden Problemlagen, wie reagierte sie auf die Herausforderungen? Ich möchte drei Antworten kurz streifen: a) Wirtschaftliche Prioritäten Ganz wesentlich in diesem Zusammenhang ist die von der EU in Reaktion auf die Krise seit 2008 verfolgte prioritäre Orientierung – ablesbar an einer Reihe wirtschafts- und haushaltspolitisch relevanter Verordnungen und Richtlinien: Die VO über die Anwendung des Protokolls über das Verfahren bei übermäßigem Defizit aus dem Mai 2009 verpflichtet die Mitgliedsstaaten, die zur Einhaltung von Höchstgrenzen hinsichtlich Schuldenstand und Haushaltsdefizit verpflichtet sind, zur zweimaligen Übermittlung diesbezüglicher Informationen (z.B. Schätzungen des Defizits) pro Jahr an die EU-Kommission. Betont wird, dass bei Verstößen gegen die Haushaltsverpflichtungen Sanktionen vorgesehen sind. Im Mai 2010 wurde mit einer Verordnung des Rates der Europäische Finanzstabilisierungsmechanismus eingeführt: Damit sollte die Gewährung eines finanziellen Beistandes zur Hilfe für Mitgliedsstaaten im Fall gravierender finanzieller Störungen und in Form eines Darlehens oder einer Kreditlinie ermöglicht werden. Die Hilfe wird nur bei „Gegenleistung“, nämlich Vorlage eines wirtschaftlichen und finanziellen Sanierungsprogramms mit Maßnahmen zur Wiederherstellung der finanziellen Stabilität gewährt. Seitens der EU-Kommission wird regelmäßig die Einhaltung der Bedingungen überprüft. Diese Einrichtung wurde vom Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) im September 2012 abgelöst, dessen Instrumente Notkredite und Bürgschaften sind. Der Erhalt dieser Hilfe ist ebenso an Auflagen gebunden: Die unterstützten Staaten müssen ein Anpassungsprogramm umsetzen. Die jüngste Entwicklung zeigt, dass Länder wie Irland, Spanien und Portugal aus diesem Mechanismus geflüchtet sind: wegen der damit verbundenen gravierenden Auflagen für das Budget und wegen der weitreichenden Eingriffe in die Politik dieser Länder. Eine Richtlinie vom haushaltspolitischen November Rahmen der 2011 legte detailliert Mitgliedsstaaten (z.B. Vorschriften den für die mittelfristigen Haushaltsrahmen) vor – als Teil der haushaltspolitischen Überwachung in der EU. 26 Ende 2011 erfolgte eine umfassende Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes: Diese beinhaltete eine Reihe von Regeln, die eine wirtschafts- und haushaltspolitische Überwachung auf EU-Ebene einrichten. Damit sollten wirtschaftliche Stabilität und ein stabiles Finanzsystem der EU gewährleistet werden. Im Fokus: der Abbau des öffentlichen Defizits. Gefordert wird, dass im Zusammenhang mit dem Euro die Mitgliedstaaten in wirtschaftlich „normalen“ Zeiten einen ausgeglichenen Staatshaushalt (jährliches Haushaltsdefizit max. 3% des BIP) sowie eine Begrenzung ihrer öffentlichen Verschuldung (max. 60% des BIP) beachten. Die Mitgliedsstaaten sind zur jährlichen Vorlage aktualisierter Stabilitätsprogramme an den ECOFIN-Rat verpflichtet. Im Fall der Nichteinhaltung des Plans zum Abbau des Defizits sind als Sanktion Geldstrafen (von 0,2 bis 0,5 % des BIP des betroffenen Landes) oder die Hinterlegung einer unverzinslichen Einlage vorgesehen. Im März 2012 wurde der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (SKS Vertrag) unterzeichnet. Das damit angepeilte Ziel ist die Stabilität im gesamten Euro-Währungsgebiet. Der Vertrag verpflichtet die Mitgliedstaaten (mit Ausnahme von Großbritannien und der Tschechischen Republik) zum Ausgleich nationaler Haushalte oder zum Aufweis eines Überschusses sowie zur Aufnahme der Verpflichtung in die nationalen Rechtssysteme. Das Ziel des Ausgleichs ist dann erreicht, wenn das jährliche strukturelle gesamtstaatliche Defizit 0,5% des BIP und die Gesamtschuldenquote 60% des BIP nicht überschreiten. Die Vertragspartner müssen für eine ausreichend schnelle Anpassung zum mittelfristigen Haushaltsziel sorgen. Kommt es zu Abweichungen vom vorgeschriebenen Haushaltsziel, so wird ein automatischer Korrekturmechanismus ausgelöst: Innerhalb eines festgelegten Zeitraumes müssen geeignete Maßnahmen getroffen werden. Die Überprüfung erfolgt durch den Gerichtshof der EU, dessen Urteil verbindlich ist. Auch hier sind Sanktionen vorgesehen, wenn dem Urteil nicht nachgekommen wird. Diese Regeln traten mit 1.1.2013 als Europäischer Fiskalpakt in Kraft. An dieser kurzen Skizze ist ersichtlich: Die mit diesen Schritten geschaffenen wirtschaftsund finanzpolitischen Instrumente untermauern die oberste Priorität wirtschaftlicher Ziele in der EU. Das ist so neu nicht. Was allerdings im Vergleich zu früheren EU-Tagen neu ist, ist die ungleich größere Verbindlichkeit der budgetären und wirtschaftlichen Vorgaben – ablesbar an der Verankerung von Regeln der Überwachung und der Sanktionen im Fall des Abweichens. Insbesondere der letzte Schritt in einer Reihe von Akten, der Fiskalpakt, hat 27 einschneidende Konsequenzen für den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten hinsichtlich Gegensteuerung zu aktuellen Problemen am Arbeitsmarkt und zu sozialen Herausforderungen: er zwingt die Vertragspartner zur Sparpolitik und verschärft den Sparzwang. Bei Verletzung der Regeln kommt ein Automatismus von Sanktionen zum Tragen. Dass es bei diesen Vorgaben und Zwängen nicht bleiben soll, ist an den Bemühungen um die Herstellung globaler Konkurrenzfähigkeit durch Pakte für Wettbewerbsfähigkeit ablesbar. Damit sollten sich zumindest die Euroländer verpflichten, „Strukturreformen“ am Arbeitsmarkt (z.B. Lohnkosten), im Sozial- und Gesundheitssystem und bei den Pensionen anzugehen. Unter „Strukturpolitik“ sind im Wesentlichen sozialpolitische Eingriffe gemeint. Das Projekt Wettbewerbspakt wurde vorerst vertagt. b) Eine zweite Antwort als Konsequenz der ersten Antwort: wachsender Druck auf die Budget- und Sozialpolitik der EU Länder Die zunehmende Verschuldung der öffentlichen Haushalte war Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise und darauf bezogener Maßnahmen wie Bankenrettungsprogramme und Wirtschaftsankurbelungsprogramme. In der EU 27 stieg die Bruttoverschuldung im Verhältnis zum BIP von 59% (2007) auf 80% (2010) – mit einem weiteren Anstieg in den Folgejahren. Der öffentliche Schuldenstand Österreichs (in Prozent des BIP) gesamt erhöhte sich von 60,2% (2007) und 63,8% (2008) auf 73,2% im Jahr 2012. Für 2014 rechnete der Finanzminister in der Budgetrede von Ende April dieses Jahres mit einem Anstieg auf 79,2% des BIP, wobei dieser Anstieg zum Teil aus dem Desaster der Hypo-Alpe-Adria Bank resultiert. Obwohl nicht Verursacher der Krise waren die öffentlichen Haushalte der Mitgliedsländer davon einschneidend betroffen. In Reaktion auf die steigende Verschuldung konzentrierten sich die Gegensteuerungsmaßnahmen seitens der EU und auf deren Druck hin in den Mitgliedsländern auf die Haushaltskonsolidierung – fokussiert im Besonderen auf die Sozialbudgets. Umgesetzt wurde dieser Fokus vor allem in leistungsrelevanten Eingriffen in die sozialstaatliche Sicherung. Darüber hinaus betrafen Veränderungen – analog neoliberalen Vorstellungen über die Vergrößerung des Handlungsspielraumes der Unternehmen als Beitrag zur wirtschaftlichen Stabilisierung – auch die traditionellen Regelungen der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen. 28 Zur empirischen Relevanz einige Beispiele: Abbau des Kündigungsschutzes, Kürzung der Renten inkl. Anhebung des Rentenalters, Kürzung der Beschäftigung im öffentlichen Sektor, Abbau des Gesundheitssystems, Kürzung des Arbeitslosengeldes, Senkung der Löhne (siehe Filipič und Beer, 2013). An der von der sog. Troika verfolgten Politik mit ihren weitreichenden Eingriffen in die Budgetgestaltung, Löhne und Sozialleistungen der betroffenen Länder, die sich verheerend ausgewirkt haben (z.B. haben mehr als 40% der Griechen keine soziale Sicherung im Fall von Krankheit), hat das EU Parlament jüngst heftige Kritik geübt (Entschließung des Europäischen Parlaments v. 13. März 2014). c) Eine dritte Antwort: EU Strategie 2020 und Anpassung des ESF Das mit dieser Strategie angepeilte Ziel ist ein „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“. Im näheren konkretisiert geht es um: die Erhöhung der Beschäftigungsquote der Bevölkerung zwischen 20 und 64 Jahren von derzeit 69% auf mindestens 75%, die Erhöhung der Investitionen, die Reduzierung der Treibhausgasemissionen, die Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien, die Reduzierung des Anteils von Schulabbrechern, die Reduzierung des Anteils an Bürgern unterhalb der jeweiligen nationalen Armutsgrenze um 25%, was einer Herausführung von 20 Mio. Bürgern aus der Armut entspräche. Erreicht sollte dies auf dem Weg von mehreren Initiativen werden. Dazu zählen die Innovationsunion: mit Verbesserung der Bedingungen und mit der finanziellen Förderung für F+E-Investitionen im Privatsektor, die Initiative „Jugend in Bewegung“ mit Verbesserung des Bildungssystems, die Initiative „Europäische Plattform gegen Armut“ zur Gewährleistung sozialer und territorialer Kohäsion – mit Blickrichtung Sicherung aktiver Teilhabemöglichkeiten von Menschen in Armut. 29 Die zukünftige Rolle des Europäischen Sozialfonds (ESF) wurde in engem Zusammenhang mit dieser Gesamtstrategie der EU definiert. Seine Fördermöglichkeiten, die strikt an dieser Strategie ausgerichtet werden sollen, sollen vor allem auf drei Bereiche fokussieren: Beschäftigung, Bildung, Bekämpfung der Armut. Die Interventionsbereiche des ESF wurden im Vorschlag der Kommission zur Verordnung betreffend den ESF folgend umrissen: Förderung der Beschäftigung und Unterstützung der Mobilität der Arbeitskräfte durch Maßnahmen, die u.a. auf den Zugang zur Beschäftigung für Arbeitssuchende, auf die dauerhafte Eingliederung von jungen Menschen, auf die Gleichstellung der Geschlechter und auf die Anpassung der Arbeitskräfte und Unternehmen an den Wandel abzielen; Investitionen in Bildung, Kompetenzen und lebenslanges Lernen durch Maßnahmen wie Verringerung der Zahl der Schulabbrecher und Förderung eines gleichen Zugangs zu einer hochwertigen Grund- und Sekundarbildung, Verbesserung der Qualität, Effizienz und Offenheit der Hochschulen sowie Förderung des Zugangs zum lebenslangen Lernen und Steigerung der Kompetenzen der Arbeitskräfte; Förderung der sozialen Eingliederung und Bekämpfung der Armut durch Maßnahmen wie aktive Eingliederung, Eingliederung marginalisierter Bevölkerungsgruppen (z.B. Roma), Bekämpfung von Diskriminierungen, Verbesserung des Zugangs zu erschwinglichen sozialen Dienstleistungen. Insgesamt sind für die nächste Förderperiode des ESF Mittel in Höhe von 77 Mrd. Euro vorgesehen. Davon wieder sind mindestens 20% für Tätigkeiten in Bezug auf die soziale Eingliederung vorgesehen. Die Mittel sollen auf die angeführten drei Bereiche konzentriert werden. Wenn wir die Absichtserklärungen und Bemühungen der EU um ein „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ und die für 2020 angestrebten Ziele betrachten, so lassen sich diese dahingehend deuten, dass damit auch eine Konkretisierung sozialer Zielsetzungen auf der Agenda der EU und ihres wichtigsten Förderinstrumentes, des ESF, steht. Doch wie steht es um die realen Chancen einer Zielverwirklichung? Die aktuellen Politiken der EU, ihre Vorgaben für die Länder, ihre Fördermaßnahmen haben bisher in keiner Weise zur Lösung der angesprochenen Probleme beigetragen. 30 Besteht eine Diskrepanz zwischen sozialen Zielsetzungen der EU- 2020-Strategie und des ESF auf der einen und der Ausrichtung der realen Politik der EU am „Wohlergehen“ des Marktes auf der anderen Seite, die die Entwicklung der Mitgliedsstaaten wesentlich bestimmt? Bildet für die Konkretisierung sozialer Zielsetzungen nicht die reale neoliberale Ausrichtung der aktuellen EU Politik einen Hemmschuh? Stehen den im Rahmen der EU2020-Strategie propagierten Zielen, die selbst eine Reihe neoliberaler Anklänge wie die Betonung angebotsorientierter Maßnahmen beinhalten, nicht Entscheidungen der letzten Jahren wie der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung bzw. der Fiskalpakt entgegen? Laut Leschke et al. (2012) droht der durch die EU forcierte Austeritätskurs zu langwieriger und struktureller Arbeitslosigkeit zu führen, er läuft dem Streben nach integrativem Wachstum und Armutsreduzierung entgegen und würde damit die Zielsetzungen der Europa 2020 Strategie untergraben. Wie soll die Befreiung von 20 Mio. Menschen aus der Armut erreichbar sein, wenn der Handlungsspielraum für eine Konjunkturpolitik äußerst beschränkt ist? Wie soll sie erreichbar sein, wenn die prioritäre Ausrichtung an der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte durch Sparpolitiken und der diesbezügliche Druck seitens der EU, nicht nur auf die südeuropäischen „Krisenstaaten“, für die reale Entwicklung der EU bestimmend ist? Können die angeführten Ziele mit weniger Mittel erreicht werden? Die EU war – wie die Kommission in ihrer Bilanz selbst zugab – nicht in der Lage, die Lissabon-Zielvorgaben (wie die Anhebung der Beschäftigung, die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung) zu erreichen. Die Rahmenbedingungen für die Zielerreichung der Europa 2020 Strategie sind nicht günstiger, im Gegenteil: Realiter gibt es eine Zuspitzung von Arbeitslosigkeit, des Armutsrisikos und der Verschuldung der öffentlichen Haushalte. Die von der EU-Kommission forcierten Prioritäten und der damit zusammenhängende Sparkurs haben sich bisher im Hinblick auf die aktuellen Herausforderungen als erfolglos erwiesen: Sie waren nicht Problemlöser, sondern Problemverstärker, das Problem der öffentlichen Verschuldung dauert ebenso an wie das der Arbeitslosigkeit und der Armutsrisiken. Es besteht wenig Anlass zu Optimismus hinsichtlich der sozialen Problemlösungskapazität der EU wie auch der Mitgliedstaaten. Ob die Diskrepanz zwischen Zielen und realer, von den Prioritäten der wirtschaftlichen Stabilität gesteuerter Entwicklung der EU die Periode 2014-2020 tatsächlich prägen wird, wird davon abhängen, ob die marktbetonte Ausrichtung der EU die soziale Dimension auf Gemeinschaftsebene und in den Mitgliedstaaten erneut in den Schatten stellen wird. Oder ob 31 ein Kurswechsel vollzogen, d.h. eine Balance zwischen wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Menschen innerhalb der EU hergestellt, vom einseitigen Sparkurs abgegangen und der finanzielle Handlungsspielraum für sozialintegrative Politiken – wie beispielsweise für die Armutsbekämpfung mit Unterstützung durch den ESF in den Mitgliedsländern – erweitert wird. 3. Schritte zu einem sozialeren Europa Die Problemlagen sind so komplex, dass es der Schritte auf mehreren Ebenen bedarf: Ein zentraler Schritt bestünde in der Veränderung der Schieflage der die EU Entwicklung prägenden Prioritäten: Grundsätzlich ginge es um eine Balance von wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Prioritäten. Die Veränderung der Schieflage in den Prioritäten würde die Basis für konkrete Schritte in Richtung Ausbau der sozialen Dimension bilden. Mindestsozialstandards in den Mitgliedsländern: Hier ist exemplarisch auf die Entschließung der Europäischen Parlaments von 2011 zu verweisen, die sich für die Einführung von Mindestsicherungsregelungen in den Mitgliedstaaten ausspricht. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat sich dem angeschlossen. Die in Österreich in den letzten Jahren eingeführte bedarfsorientierte Mindestsicherung ist in der Palette möglicher Maßnahmen ein richtiger erster Schritt. Die derzeit geltende bedarfsorientierte Mindestsicherung ist aufgrund ihres Niveaus (2014: für Alleinstehende Euro 813,99 Euro bzw. 1.220,99 Euro/Monat) erst eine Minisicherung – sie ist von der für Österreich berechneten Armutsschwelle (2011: 1.090 Euro) weit entfernt. Stärkung der Beschäftigung, Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, längerer Verbleib Älterer in Beschäftigung, bessere Integration für Migranten und Menschen mit Behinderung, Ausbau der europäischen Sozialpolitik und der Gleichstellung, Einführung von Mindestvorschriften im Arbeitsrecht (Kündigungsschutz, Entgeltfortzahlung, Krankheit, Pflege, Mindestnettoersatzrate beim Arbeitslosengeldgeld, flächendeckende Gesundheitsversorgung, Bekämpfung von Lohndumping und Sozialdumping, Ausbildungsgarantie). Neuer Ansatz in der Steuerpolitik: Einführung der Transaktionssteuer, Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung, Bekämpfung des Steuerbetruges, Entlastung des Faktors Arbeit. Die Europäische Jugendgarantie bedarf der Aufstockung. Die Mittel dafür könnten 32 zum Teil durch wirksame Maßnahmen gegen die Steuerhinterziehung (Volumen jedes Jahr ca. 1 Billion Euro) aufgebracht werden. Nicht zuletzt Ausbau der Demokratie und Bekämpfung des Lobbyismus: Stärkung des EU Parlamentes, Ausbau der Mitbestimmungsrechte. Der bisherige Kurs ging mit einer Schwächung der Demokratie einher. So wurde beispielsweise der Fiskalpakt am Parlament vorbeigeführt. Katastrophale Auswirkungen auf die Demokratie in der EU hätte das seit einiger Zeit verhandelte Freihandelsabkommen mit den USA: Eine Schiedskommission aus drei Personen würde über die Klagen von Unternehmen gegen Staaten und damit gegen demokratische Entscheidungen in den Staaten entscheiden – etwaige Klagen der Unternehmen richten sich gegen demokratisch getroffene rechtliche Entscheidungen, von denen sich die Unternehmen in ihren Investitionserwartungen geschädigt fühlen. Kurz gesagt: Der Kurswechsel in Richtung eines sozialeren Europa erfordert Veränderungen auf verschiedenen Gebieten. Ob das so laufen wird, hängt wesentlich davon ab, ob es diesbezüglich den politischen Willen gibt – in den Mitgliedsländern wie auf der Gemeinschaftsebene. Was, wenn es zu keinem Kurswechsel kommt? Bei Andauer der Schieflage, bei unverändert aufrechterhaltenen wirtschaftlichen Prioritäten und Abbau der Demokratie hat das 1957 institutionalisierte EU-Projekt seine Existenzberechtigung verloren. Dann geht es darum, das EU-Projekt auf einer breiten Basis neu zu konstituieren – mit Berücksichtigung wirtschaftlicher, sozialer, ökologischer und demokratischer Ziele. Literaturverzeichnis Bacher, Johann; Dennis Tamesberger; Heinz Leitgöb; Thomas Lankmayer. 2014. Not in Education, Employment or Training: Causes, Characteristics of NEET - affected Youth and Exit Strategies. Working Paper. Institut für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Linz. Böckler Impuls 11/2013. 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