Diskussion Aus der Diskussion∗ zu: Mensch · Gott · Welt Philosophie des Lebens, Religionsphilosophie und Metaphysik im Werk von Hans Jonas Hg. von Dietrich Böhler, Horst Gronke und Bernadette Herrmann. Rombach Verlag, Freiburg i. Breisgau 2008 Die Diskussion geht auf zwei Kolloquien zurück, die das Hans JonasZentrum am 4. / 5. Dezember 2006 und am 22. Juni 2007 an der Freien Universität Berlin veranstaltet hat. ∗ Die Fußnoten wurden von den Herausgebern hinzugefügt. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 1 Diskussion Inhalt 1. Nachidealistisches Philosophieren: Zur Frage des Zusammenhangs und der Selbsteinholung von Jonas’ Denken………………………….Seite 5 2. Wie wird menschliche Freiheit und moralische Verantwortung möglich? Zu Hans Jonas’ Konzeption eines „reichhaltigen Monismus“…………………Seite 14 3. Der Gottesbegriff von Hans Jonas – seine philosophischen, biblischen und kabalistischen Spuren / Traditionen………………………….Seite 30 4. (Selbst-)Verantwortung versus Nihilismus im Kontext von Paulus und Augustinus, Gnosis und Heidegger. Zu den Vorträgen von Udo Lenzig, Claudio Bonaldi und Christian Wiese……………Seite 37 2 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion Ständige Bezugspunkte der Diskussion oder auch ihre direkten Gegenstände sind folgende Vorträge: Horst Gronke Phänomenologie und Ontologie – Wie philosophiert Jonas? Ein Versuch Bernadette Herrmann Hans Jonas’ frühe Grundlegung der Veranwortungsethik. Komplementarität von ontologischer Freiheit und moralischer Verantwortung Jens Peter Brune Können wir Leben verstehen? Hans Jonas’ Kritik des systemischen Lebensbegriffs Dietrich Böhler Hans Jonas – Denken zwischen Verstehen und Verantworten Michael Bongradt Immanente Religion oder idealistische Spekulation? Zum Verhältnis von Gott und Mensch im „Gottesbegriff nach Auschwitz“ von Hans Jonas Udo Lenzig Selbstobjektivation und Entmythologisierung. Hans Jonas’ Deutung der Gnosis Claudio Bonaldi „Der Mensch vor Gott“: Hans Jonas’ Interpretation der paulinischen Erfahrung Christian Wiese Gegen Weltverzweiflung und Weltangst: Hans Jonas als Interpret der Gnosis und Kritiker des Nihilismus © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 3 Diskussion An allen Diskussionen haben folgende Mitglieder des Hans JonasZentrums teilgenommen: Prof. Dr. D. Böhler Herr Jens Peter Brune M.A. Dr. Horst Gronke M.A. Frau Bernadette Herrmann M.A. Dr. Ingeborg Krebs, Bonn Pfarrer Dr. Isbert Schulte-Heimbrok An einigen Diskussionen haben sich beteiligt: Dr. Christina Auras, Berlin Prof. Dr. Micha Brunlik, Universität Frankfurt a. M. Dr. Claudio Bonaldi, Universität Mailand Prof. Dr. Michael Bongardt, Freie Universität Berlin Herr Günther Peill-Meininghaus, Berlin Prof. Dr. Wolfgang Erich Müller, Universität Oldenburg-Hamburg Dr. Jürgen Sikora, Universität zu Köln Botschafter a. D. Dr. Rudolf Schmidt, Berlin Prof. Dr. Christian Wiese, Universität Sussex Prof. Dr. Walther Christoph Zimmerli, Technische Universität Cottbus 4 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion „Zur Ontologie des Lebens Schmerzlich verzichtend schob der Ontolog Das Mikroskop zurück, in das zu schauen Er nicht vermochte, ohne dass ein Grauen Ihn packte, wenn er sich darüber bog. Er wusste jetzt, dass keine Konstruktion Den ewig rastlos wimmelnden Amöben Entlocken konnte, was an ihnen Leben Und was nur res extensa sei. Der Lohn Der nächtelangen Analyse waren Schwindelnde Schauer, die ihn leis verzückten, und die den Interpret des Seins gelind Aus dem Bezirk des ontologisch Klaren In jenen absoluten Rausch entrückten, Wo Schauender und Geschautes Eines sind.“ Shmuel Sambursky für Hans Jonas 1. Nachidealistisches Philosophieren: Zur Frage des Zusammenhangs und der Selbsteinholung von Jonas’ Denken U. Lenzig: In Ihren Darlegungen zum Methodenrelativismus, Herr Gronke, haben sie darauf hingewiesen, daß Jonas kritische Analyse, phänomenologische Deskription und metaphysische Spekulation als Methoden benutzt, um sein Denken in „Organismus und Freiheit“ zu entfalten. Dann haben Sie gefragt, warum Jonas diese Sammlung von Aufsätzen nicht zu einem zusammenhängenden Gesamtwerk hat konzipieren können. Sie vermuteten, das könne vielleicht darauf zurückgeführt werden, daß er seinen Reflexionsstandpunkt nicht klarbekommen hat. Meine kritische Anmerkung dazu ist: Im „Prinzip Verantwortung“ ist es Jonas ja gelungen, ein zusammenhängendes Gesamtwerk zu entwerfen. Nach Ihrer Deutung müßte es ihm hier folglich gelungen sein, einen anderen, konsistenten Reflexionsstandpunkt einzunehmen. Diese Schlußfolgerung halte ich nicht für plausibel. Ich glaube nicht, daß die Einnahme eines anderen Reflexionsstandpunktes maßgeblich für die Abfassung des „Prinzips Verantwortung“ war. Ich bin vielmehr der Auffassung, daß er diesen Methodenrelativismus von „Organismus und © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 5 Diskussion Freiheit“ eigentlich beibehalten hat und im „Prinzip Verantwortung“ nicht grundsätzlich methodisch neu ansetzt. Unter dieser Voraussetzung müßte man sagen: Wenn er seine Naturphilosophie nicht geschrieben hätte, hätte er auch das „Prinzip Verantwortung“ nicht schreiben können. H. Gronke: Ich würde Ihnen erst einmal in einer Hinsicht zustimmen, nämlich daß er sich dem Phänomen Verantwortung zuwendet und auch hierbei wiederum seinem neuen Gegenstand „Verantwortung für die Menschheit und die Natur“ gerecht werden will. Diese methodenrelativistische Einstellung ändert sich nicht gegenüber „Organismus und Freiheit“. Er nimmt auch nach „Organismus und Freiheit“ Umbildungen vor, die er immer vornimmt, wenn er sich einem neuen Gegenstand zuwendet und diesem gerecht werden will. Nur fällt dies, was den Gesamtzusammenhang des Werkes betrifft, im „Prinzip Verantwortung“ nicht so sehr ins Gewicht, weil die Hauptarbeit in „Organismus und Freiheit“ geleistet worden ist. Er kann sich beim „Prinzip Verantwortung“ darauf konzentrieren, die reifen Früchte zu ernten, die in „Organismus und Freiheit“ gesät worden sind, und er kann gewisse Grundproblematiken hierbei außen vor oder im Hintergrund lassen. Das ist meine These. „Organismus und Freiheit“ ist eigentlich das entscheidende Werk, das „Prinzip Verantwortung“ tritt dahinter zurück. Es stellt gleichsam eine Auswertung dessen dar, was in „Organismus und Freiheit“ schon eingeschlossen vorliegt. Ich glaube, er hat es vielleicht nicht geschafft, „Organismus und Freiheit“ in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen, aber für ein spezielles Problem, das Problem der Verantwortung, hat er eine Möglichkeit gesehen. W. Zimmerli: Kann man das nicht anders herum lesen und fragen, ob Hans Jonas nicht stärker daran gelegen war, das „Prinzip Verantwortung“ konsistent durchzuformulieren, und weniger daran, „Organismus und Freiheit“ noch mal neu zu schreiben? Jonas war ja auch ein Pragmatiker. Wenn er schon einmal Schwierigkeiten gehabt hat, einem Verlag ein Gesamtmanuskript anzubieten, dann hat er eben eine Zusammenstellung von Aufsätzen gemacht, zumal sein Argument ja klar vorliegt, sogar so klar, daß er es später in Ultrakurzform – am Rande bemerkt: bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde an der Universität Bamberg – in drei Sätzen darlegen kann. Die Frage ist, ob er es noch einen Schritt weiter hätte treiben können – in Bezug auf die Grundlegung. 6 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion Hier fällt mir ein, daß ungefähr in demselben zeitlichen Zusammenhang auch Carl Friedrich von Weizsäcker die These von der informationstheoretischen Uralternative formuliert hat. Darin wird Freiheit, die Möglichkeit zur Freiheit, im Prinzip informationstheoretisch gefaßt. In allen kosmologischen Theorien der Naturwissenschaften, des mechanistischen Modells, wird ein erster Anfang angenommen: Es gibt einen Urknall oder wir brauchen theologisch einen Schöpfungsakt. Irgendwas passiert am Anfang, und damit entsteht eine erste Differenz. Und Differenz setzen, heißt Freiheit investieren. Es kann niemand Differenz setzen, wenn er nicht entweder als göttliches Subjekt oder als Informationsdifferenz diese Möglichkeit hat, entweder es zu lassen oder es zu tun. Mit anderen Worten, wenn man physikalisch von einem Freiheitsgrad, der dann im mechanistischen System genau definiert ist, spricht, muß auf mindestens zwei Zustandsmöglichkeiten zurückgegriffen werden. Die ganze Informationstheorie und auch die Diskurstheorie beruht darauf: ja oder nein. Das ist vielleicht die schwache Form, wie man Hans Jonas in die Letztfundierung hineinhelfen könnte, wobei es, das muß man sich klarmachen, natürlich ein transzendentales Modell ist. Es geht ja nicht darum – wie in den naiven Kosmogonien –, zu erzählen, wie die Welt entstanden ist, so als ob man dabei gewesen wäre. Es geht darum, aus dem, was Faktum ist, die Bedingungen der Möglichkeit des Faktums zu rekonstruieren. Es geht also, wenn man so will, um eine schwache Form der Letztbegründung. Es wird nur behauptet, so ist es möglich, sprich konsistent denkbar. Und mehr scheint Hans Jonas, wenn ich ihn recht verstanden habe, auch nicht gewollt zu haben. Als eigentliche Aussage ergibt sich dann die ontologisch begründete Ethik, die, wenn nicht stark, doch immerhin schwach begründet ist, freilich mit starken Forderungen versehen wird. Man kann Jonas vorwerfen, daß er sich mit dem „Prinzip Verantwortung“ auf eine neue Ebene eingelassen hat, andererseits hat genau das seine Wirksamkeit ausgemacht. Warum soll jeder Mensch aus ein paar Aufsätzen ein Buch machen müssen? Das muß gar nicht so sein. Das ist sozusagen die klassisch-idealistische Vorstellung, daß es ein System geben müsse. D. Böhler: Daß es ein System geben müsse, so habe ich die Überlegungen von Herrn Gronke gar nicht verstanden. Der idealistische Systembegriff, die Idee eines geschlossenen und eigentlich alles enthaltenden Systems, ist ja nicht der Grund für seine Frage der Selbsteinholung. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 7 Diskussion H. Gronke: Bevor ich darauf eingehe, möchte ich noch etwas zu Ihrer informationstheoretischen Grundlegung in Bezug auf den ersten Anfang, den Urknall, anmerken. Jonas sagt dazu folgendes: Nach dem Urknall ist die Situation so chaotisch gewesen, daß es kein Substrat für Information gibt, und daher kann man nicht informationstheoretisch ansetzen. Man kann in der Materie lediglich so etwas ansetzen wie einen Eros, der eine Tendenz hat, die Möglichkeit für Information zu geben. W. Zimmerli: Eben darin liegt das Problem. Ich wollte Jonas mit von Weizsäcker aufhelfen. Es gibt auch viele Stellen, wo man von Weizsäcker mit Jonas aufhelfen kann, das will ich gar nicht bestreiten. Aber an dieser Stelle ist bei Jonas eine zu starke semantische Interpretation von Information vorhanden. Wir brauchen nicht mehr für Information als einen schlichten Unterschied, die Urdifferenz. Diesen Unterschied kann man dann iterieren – zwischen vorher-nachher; zwischen ja-nein; zwischen der Welt als zusammengeballtem Energiebündel und einem explodierendem Chaos, welchen Mythos Sie da auch immer erzählen. Man muß am Anfang nur einen Unterschied setzen. Dieser Unterschied reicht, wenn Sie ihn iterieren, bis zur biologischen Information, und dann noch einmal iterieren, bis zum Geist. Sie brauchen nicht mehr als eine Selbstanwendung dieses Unterschiedsmodells zu machen. Hans Jonas hat dieses Hilfsangebot abgelehnt, weil er einen viel zu starken Informationsbegriff hat. H. Gronke: Die Ja-Nein-Situation ist offen oder nicht offen für Leben oder für Geist, das ist die eine Seite, aber – so sagt Jonas – die Entwicklung zu Leben und zum Geist wäre gar nicht nachvollziehbar oder zumindest äußerst unwahrscheinlich, wenn nur das gegeben wäre. Deshalb muß zusätzlich so etwas wie dieser Eros, diese in der Materie liegende Tendenz zum Leben oder zum Geist, hinzutreten. Das ist sein Argumentationszug, und zwar gegen von Weizsäcker. Ch. Zimmerli: Manfred Eigen hat Maschinen gebaut, in denen man das machen kann, in denen man nur durch Iteration von Differenz organische Materie kreieren kann. Das ist ein Beleg dafür, daß wir mit einer ganz schwachen Informationsdefinition auskommen, um organisches Material aus anorganischem Material herzustellen. Wenn wir die Belege der 8 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion Naturwissenschaft hier nutzen, dann kann man Jonas damit aufhelfen. Er käme dann ohne diesen Vitalismus, diese Triebkraft aus. H. Gronke: Ich muß da noch einmal insistieren. Das würde doch eine Veränderung des Jonasschen Gesamtkonzeptes bedingen. Denn diese Triebkraft, der Eros zum Leben, ist für sein „Prinzip Verantwortung“ von zentraler Bedeutung. Daß das Leben ja zu sich sagt, das muß doch vorausgesetzt werden, damit der ganze Entwurf gelingt. Ich möchte gern noch auf Herrn Böhlers Frage eingehen, ob es Jonas gelingt, seinen Reflexionsstandpunkt einzuholen, und welchen Stellenwert dies für die Gesamtkonzeption von „Organismus und Freiheit“ hat. Biographisch gesehen, hat Jonas im Grunde genommen mit der Arbeit an „Organismus und Freiheit“ direkt nach „Sein und Zeit“ begonnen. Da hat er etwas entdeckt, das ihn nicht mehr losgelassen hat, und das hat er verstärkt seit 1943/44 aufgegriffen. Er hätte diese Arbeit sicher gern in ein zusammenhängendes Werk gebracht, aber, pragmatisch und tätig, wie er war, hat er es eines Tages sein gelassen und sich einem von der Aktualität her drängenden Thema, nämlich dem Thema der Menschheits- und Naturgefährdung, zugewandt. Meine Überlegung war: Woran hat es gelegen, daß ihm in immerhin zwanzigjähriger Arbeit dieses Zusammenbinden der Abhandlungen zu einem konsistenten und kohärenten Werk nicht gelungen ist? Er wollte das ja, und ein kohärentes Werk schreiben zu wollen, heißt noch nicht, einem idealistischen Systemdenken anzuhängen. Meine Überlegung ist nun gewesen, daß er in der Kritik an den idealistischen Konzeptionen von Edmund Husserl, dann besonders von Martin Heidegger einerseits pragmatisch-intentional argumentiert, also diese tätige Intentionalität des organischen Lebens und des menschlichen Daseins stark macht, auf der anderen Seite aber wieder zur theoria zurückkehrt und das „Sehen“ adelt, um gegen Martin Heidegger den Wert der Dinge und der Natur sowie die Würde des Menschen in seiner Unvollkommenheit im Hier und Jetzt zu begründen. Das ist ja auch das, was er in seiner Argumentation gegen Ernst Bloch im „Prinzip Verantwortung“ wieder aufgreift. Da zeigt sich doch ein Changieren, einerseits mit Heidegger gegen die theoria-Verhaftetheit Husserls anzuargumentieren, andererseits wiederum diese theoria-Konzeption gegen Heidegger auszuspielen. Wie kann dieser offensichtliche Widerspruch aufgelöst werden? Das ist meine Frage. Da bedarf es einer Selbsteinholung des Reflexionsstandpunktes, © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 9 Diskussion der dahinter steht, und einer entsprechenden Aufhebung der beiden Argumentationshinsichten. Denn beide Argumentationen sind ja nachvollziehbar, aber sie widersprechen sich, so daß es einen Standpunkt jenseits oder hinter diesen zwei Positionen geben muß. Jonas hat mehrere Ansätze zur Selbsteinholung seines Standpunktes unternommen, die in die Richtung einer kommunikativen Freiheit weisen, freilich verstreut und nicht so, daß sie systematisch genutzt worden wären. Seine starke Vorannahme ist, daß das Subjekt und das, wozu es sich verhält, nur als werthaft zu verstehen ist, wenn es selbst ontologisch gegründet, wenn es selbst in einen Seinszusammenhang eingebunden ist. Das wollte er immer wieder aufzeigen. Diese Tendenz, ethische Gehalte in dem Verhältnis des Menschen zum Sein des Seienden zu gründen, hat ihn davon abgehalten, den ethisch substantiellen Gehalt der Subjekt-Subjekt-Relation vollständig zu erfassen, obwohl er doch immer wieder in der konkreten Argumentation gegen bestimmte, vor allem objektivistische Ansätze gerade das ins Spiel gebracht hat. W. Zimmerli: Da bin ich einig mit Ihnen. Hier ist einer, der weiß, daß er es sowieso nicht vollständig schaffen kann, weil er Mensch ist. Das muß Stückwerk bleiben. Alle Versuche, sich selbst am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, sind Jonas fremd gewesen. Das ist der eine Punkt. Der andere ist: Warum soll man die Methoden, die gerade passend sind, nicht anwenden? Ob die nun alle zueinander passen, ist eine andere Frage. D. Böhler: Ich möchte dazu noch einen Einwand vorbringen, Herr Zimmerli. Die Selbsteinholung meiner Denkvoraussetzungen ist etwas anderes als die Vorlage eines geschlossenen Werks. Man kann auch in einem Aufsatz die Strategie der Selbsteinholung meiner Denkvoraussetzungen angeben, ohne gleich diese Selbsteinholung zu einem großen Werk auszubauen. Ich bin oft darauf gestoßen, daß Jonas kommunikative Argumente bringt, etwa in diesem schönen Vortrag „Wandel und Bestand“, in dem er die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens rekonstruiert. Auch in „Technik, Medizin und Ethik“ gibt es ein Prinzip Verantwortung, das die Einbeziehung der Anderen fordert. Überall in seinem Werk finden sich solche kommunikativ-reflexiven Ansätze, aber nirgendwo sagt er, das ist jetzt was Neues, da bin jetzt auf einer neuen Ebene angelangt, das ist jetzt weder eine Husserl-Kritik, wie ich sie früher geübt habe, noch deckt das meine Heidegger-Kritik ab, sondern hier bin ich irgendwie weitergekommen, das ist jetzt was Drittes. 10 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion Er hat das nie versucht zusammenzufassen, und wenn es nur in wenigen Sätzen gewesen wäre. Er hat vielmehr gesagt, daß sich nichts grundlegend verändert habe. Daher hat er nicht auf Gadamers Angebot in seinem Brief an ihn reagiert, als Gadamer ihn auf die Entsprechung seines Ansatzes zu Kants Lehre vom „Vernunftfaktum der Freiheit“ hingewiesen hatte, wobei Gadamer sich wohl darüber bewußt war, daß die Lehre vom Faktum der Vernunft zuvor von Dieter Henrich und dann von Karl-Otto Apel rekonstruiert und dechiffriert worden war, so daß Jonas sich auf dieses neue Angebot hätte beziehen können.1 Daß es sich hierbei um ein neues Angebot handelte, hätte Jonas spüren können, auch aufgrund der Argumente, die er selbst immer schon gebracht hat, er hat es aber nicht gespürt. So hat er auf die Frage von Horst Gronke an ihn2, ob man Kant nicht intersubjektivitätstheoretisch aufheben und auf diese Weise Jonas’ Intentionen einer Begründung des Prinzips Verantwortung gerecht werden könne, ausweichend reagiert, indem er kritisch auf Kant selbst Bezug nahm, auf dessen Verhaftetsein in der Gegenwartsdimension des Handelns. Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen. Als Sie, Herr Gronke, uns dieses schöne Bellini-Zitat von Hans Jonas aus dem „Prinzip Verantwortung“ vortrugen, da haben Sie gesagt, er rekonstruiere hier die Idee der ewigen Gegenwart und greife von daher positiv auf die metaphysische theoria-Tradition zurück. Er könne damit Heideggers radikale Zeitlichkeit und radikalen Zukunftsbezug distanzieren, da sie mit der Vorstellung von Werten an sich nicht vereinbar sei. Diese Idee der ewigen Gegenwart kommt ja bei ihm auf verschiedenen Ebenen vor, etwa in seinem „späten Nachtrag zu den sogenannten Gottesbeweisen“.3 Und es kommt dort vor, wo er erwähnt, man müsse eine Chronik der Taten denken, nichts könne eigentlich verloren gehen. 1 2 3 Siehe Hans-Georg Gadamer und Hans Jonas, Briefe über die Zukunftsethik, kommentiert und herausgegeben von D. Böhler, in: D. Böhler u. J. P. Brune, Orientierung und Verantwortung, Würzburg 2004, S. 471-482, bes. S. 474 ff., 481. M. Dammaschke, H. Gronke, Ch. Schulte im Gespräch mit Hans Jonas: Der ethischen Perspektive muß eine neue Dimension hinzugefügt werden. Zuletzt in: H. Jonas, Dem bösen Ende näher. Hg. von Wolfgang Schneider, Frankfurt a. M. 1993, S. 24-39, hier besonders S. 32f. H. Jonas, Vergangenheit und Wahrheit. Ein später Nachtrag zu den sogenannten Gottesbeweisen, in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1992, S. 173-189. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 11 Diskussion Hier frage ich mich als jemand, der große Schwierigkeiten mit der Vorstellung einer ewigen Gegenwart und der theoria-Tradition hat und der von der kommunikativen Freiheit her denkt, ob hier die Voraussetzung einer Instanz des Diskursuniversums hinreichend beachtet wird, in das alle anderen, alle möglichen, besonders auch die zukünftigen Vernunftsubjekte einbezogen sind. Jonas selbst hat ja in einem Gespräch mit Ulrich Beck betont, daß man sich auch in öffentlichen Diskursen stärker an die Subjekte, die in den Institutionen drin sind oder die über die Institutionen reden, als an die Institutionen selbst wendet. Und als Ulrich Beck zu Jonas meinte, daß das naiv sei, daß es doch um Institutionen und Systeme gehe, antwortete Jonas in etwa folgendermaßen: „Aber hier ist doch ein Saal voller Menschen, und an die adressiere ich mich. Das sind doch auch die Leute, die in den Institutionen tätig sind und die sie tragen.“ Der Inbegriff der Subjekte, an die man sich wendet, ist die ideale Kommunikationsgemeinschaft. Nun fragt sich, ob man nicht zusätzlich auch an so etwas denken müßte wie eine Chronik der Taten, in der Buch geführt werde über die Taten des Menschen, so daß die Geschichte gleichsam begleitet würde von einer ewigen Gegenwart qua Repräsentanz der vergänglichen Taten, die hinsichtlich ihrer Geltungsfähigkeit zu beurteilen sind und damit aus ihrer bloßen situativen Bezüglichkeit herausgelöst werden. Ließe sich eine Metaphysik, eine Ontologie, die der idealen Kommunikationsgemeinschaft als Pendant zur Seite stünde, als notwendig erweisen? Eine transzendentale Reflexion kann ja zu einer Ontologie führen, wie Kant gesehen hat: „Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung“. U. Lenzig: Dieses Modell entfaltet Jonas in dem Aufsatz „Unsterblichkeit und heutige Existenz“4, da kommt das zum ersten Mal vor, und zwar unter dem Begriff der Verantwortung. Da geht es um die Frage der Opfer von Auschwitz. Wir müssen ihnen eine Antwort geben. Und obwohl wir nicht von individueller Unsterblichkeit ausgehen können, dürfen wir trotzdem nicht sagen, das, was ihnen angetan wurde, verpufft ins Nichts. Deshalb entwickelt Jonas den Gedanken, daß die Taten der Menschen das das Antlitz der Gottheit prägen. Werkgeschichtlich betrachtet hat Jonas 4 12 H. Jonas, Organismus und Freiheit, Göttingen 1973, S. 317-339. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion diesen Gedanken schon in dem Aufsatz „Plotin über Ewigkeit und Zeit“5 entwickelt. In dieser Schrift, die er Rudolf Bultmann zugesandt hatte, hat er das Konzept, wie man als aufgeklärter Zeitgenosse Ewigkeit denken kann, zum ersten Mal gefunden und für sich übernommen. Er ist hier zu weitreichenden Erkenntnissen gekommen, die mir als Theologen auch einleuchten und helfen. 5 H. Jonas, Plotin über Ewigkeit und Zeit, in:ders., Gnosis und spätantiker Geist.Zweiter Teil. Göttingen 1993, S. 289-312 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 13 Diskussion 2. Wie wird menschliche Freiheit und moralische Verantwortung möglich? Zu Hans Jonas’ Konzeption eines „reichhaltigen Monismus“ D. Böhler: Frau Herrmann, Sie sagten in Ihrem Vortrag, Jonas sehe die ontologische Basis des Lebens in der Gleichursprünglichkeit von Freiheit und Notwendigkeit. Stimmen Sie dieser Auffassung zu? B. Herrmann: Nein, ich referierte zunächst nur Jonas’ eigene Auffassung. Er führt das Beispiel des Metabolismus an. Für das Leben schon in seinen ursprünglichen Formen (etwa bei der Amöbe) sei durch den Stoffwechsel auf der einen Seite zugleich die mehr oder weniger ausgeprägte Freiheit mitgegeben, den Stoff zu wählen, auf der anderen Seite bestehe für den Organismus die Notwendigkeit, überhaupt einen Stoff zu wählen, um sich am Leben zu erhalten. D. Böhler: Wobei man im Hinblick auf den in unserer Diskussion geäußerten Vorwurf eines flachen oder nicht hinreichend differenzierten Begriffs von Natur bei Hans Jonas wohl nicht von einer Gleichursprünglichkeit von Freiheit und Notwendigkeit sprechen kann, sondern allenfalls von einer Gleichursprünglichkeit von Potentialität zur Freiheit und Notwendigkeit. B. Herrmann: Ich denke auch, daß man diese Differenzierung vornehmen müßte, denn Jonas spricht hier ja relativ undifferenziert von Freiheit. H. Gronke: Es leuchtet mir sehr ein, daß man in diesem Frühstadium des Lebens höchstens von einer Potentialität zur Freiheit sprechen kann, das gleiche gilt dann aber auch für Notwendigkeit, es muß ebenso eine Potentialität zur Notwendigkeit vorausgesetzt werden. I. Schultz-Heienbrok: Eine Frage an Herrn Zimmerli. Sie haben ja gesagt, bei Jonas sei der Informationsbegriff überbestimmt. Es reiche eigentlich, Freiheit mit einem ganz einfachen Dualitätsbegriff bestimmen zu können. Ein solcher elementarer Begriff von Information könne ausreichen, um die Entwicklung zu menschlicher Freiheit zu erklären. Denn auch dort gehe es ja auch immer nur binär um die Entscheidung von Möglichkeiten, um „Ja“ oder „Nein“, so daß die Frage nach Über- oder Unterbestimmung der Freiheit noch mal genauer zu klären wäre. 14 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion Vielleicht habe Jonas die elementare Grundbestimmung von Information schon zu komplex gedacht. Kann man auf diese Weise dann eine Freiheitslinie viel leichter von der Amöbe zum Menschen ziehen – und auch noch zur kommunikativen Freiheit, die nun ja gar kein qualitativer Sprung mehr ist, sondern die wiederholte Anwendung eines ganz elementaren Grundprinzips des Lebens? Ch. Zimmerli: Wir müssen allerdings noch ein definitorisches Element hinzufügen, und zwar „einen Unterschied, der einen Unterschied macht“, das ist eine Voraussetzung. Sie müssen immer einen Rezipienten haben oder Expressionen; ein Unterschied muß sich immer als andere Unterschiede Generierendes auswirken. Jonas macht eine Philosophie des Organischen, aber er könnte auch ins Anorganische zurückgehen, denn auch das Organische muß ja aus irgend etwas entstanden sein. Da reicht der fundamentale Informationsbegriff aus. Und der schwache Determinismus, das, was wir mit Emergenz meinen, daß da zwar etwas passiert, was wir wohl nicht vollständig prognostizieren, aber erklären können – diese merkwürdigen Prozesse funktionieren alle nach diesem Muster. Das wäre eine Hilfskonstruktion, die man Hans Jonas anbieten könnte, die er aber – wie viele andere – abgelehnt hat, aus welchen Gründen auch immer. U. Lenzig: Wozu reicht der Informationsbegriff genau aus? Ch. Zimmerli: Um die Form von Begründung von Freiheit, die Hans Jonas versucht, nämlich eine transzendentale Begründung – im Unterschied zu einer vollständigen kausalen Herleitung, die auch ganz entgegen Jonas’ eigener philosophischen Absicht wäre – zu geben. U. Lenzig: Reicht der Informationsbegriff zu einer ontologischen Begründung der Ethik aus? Ch. Zimmerli: Nein, nicht zu einer ontologischen Begründung von Ethik, aber zunächst einmal zu einer ontologischen Begründung von Freiheit. Wir haben hier ja das Theorem – und das ist ja nicht unumstritten –, daß Freiheit und Verantwortung eng zusammengehören. Das haben wir bei anderen Autoren, die Ethiken schreiben, nicht. Aber bis zu einer transzendentalen Begründung von Freiheit reicht der Informationsbegriff. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 15 Diskussion U. Lenzig: Frau Herrmann, Sie sprachen gegen Ende Ihres Vortrags von einem naturalistischen Fehlschluß, den Jonas eigentlich hätte vermeiden können. Ich glaube, daß es nicht einfach ist, Jonas einen naturalistischen Fehlschluß nachzuweisen. Für seinen Ansatz ist ja die Zwecklehre grundlegend. Diese ist bei ihm in dem von Ihnen hervorgehobenen ErosBegriff schon angelegt. Nun stellt sich die Frage: Genügt nicht dieser Eros-Begriff, dieser Zweckbegriff, um wirklich bei der ontologischen Begründung seiner Ethik anzukommen? Wenn man diese Tendenz nur auf die Bedingungen bezieht, daß dann auch etwas entstehen kann aus Information, und es nicht als intentional gesteuert ansieht wie bei Jonas, der es gewissermaßen mythologisch aufbläst und sagt, da kommt der Geist zur Entfaltung seiner selbst, wenn man also nur diese schwache Ausgangsbedingung annimmt, dann könnte die ontologische Begründung seiner Ethik doch gelingen. Ch. Zimmerli: Wenn er diesen – ich würde lieber sagen – anthropologisch aufgeblähten Teil am Schluß herauskriegen will, muß er ihn ja am Anfang hineinstecken. Aber diesen Teil braucht er nicht, das ist meine These. Er will ja nur Freiheit begründen, er muß ja nicht begründen, daß der göttliche Geist weht. Den zieht er zwar immer mit. Aber vom theoretischen Argumentationsziel her wäre es nicht nötig. D. Böhler: Dazu möchte ich zunächst nur eine kurze Bemerkung machen. Der naturalistische Fehlschluß hängt nicht daran, daß man gewisse Zweckrichtungen im Organischen und im außermenschlichen Leben auffindet, sondern er hängt daran, daß man sagt, weil das Zwecke sind, sind wir verpflichtet, dieses Zweckstreben zu fördern. Darin liegt dann der naturalistische Fehlschluß. J. P. Brune: Herr Zimmerli, Sie hatten von den frühen informationstheoretischen Modellen dynamischer Systeme etwa Manfred Eigens gesprochen, die mit einem recht einfachen Informationsbegriff, der sich in binären Strukturen niederschlägt, auskommen. Darin stecke doch schon so etwas wie eine Auswahl. Überall treffen wir auf binäre Strukturen und man müsse sich entscheiden: 0 oder 1. Habe ich das richtig verstanden? Ch. Zimmerli: Nein. Nur dann können Sie von einer Auswahl sprechen, wenn Sie einen wirklichen Geist voraussetzen, wie Jonas das tut, dann ja. 16 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion Sie brauchen aber keine Auswahl. Aus der Sicht einer transzendentalen Rekonstruktion müssen lediglich mindestens zwei Möglichkeiten vorausgesetzt werden, damit beim Menschen Freiheit überhaupt entstehen kann. Also wenn Sie diese Bifurkation nicht anlegen, dann kriegen Sie nie Freiheit. Freiheit selbst aber ist viel mehr als das, denn Freiheit heißt, daß Sie den Unterschied, der einen Unterschied macht, als solchen reflektieren und einsetzen. Sich frei zu entscheiden, heißt ja, sich selber zu einer Ursache machen. J. P. Brune: Dann würde ich vorschlagen, es so wie Jonas zu sehen und nicht so, wie ich es Manfred Eigen hier einmal unterstelle. Nämlich doch vom Komplexesten auszugehen, vom Höchsten. Das ist Jonas’ Ansatz. Ob Jonas das Höchste wirklich zureichend bestimmt, ist eine andere Frage. Das Komplexeste ist der Mensch in seiner ontologischen Vollständigkeit, denn der Mensch hat Freiheit im eigentlichen Sinne. Und dann ist zu überlegen, was wir im Elementarsten als notwendig schon ansetzen müssen, damit wir das als eine Vorstufe von menschlicher Freiheit verstehen können. Das ist eine andere methodologische Perspektive, als zu sagen, im Einfachsten ist das und das schon angelegt und jetzt schauen wir, wie sich aus irgendwelchen Emergenzen das Höchste daraus hat entwickeln können. Mit der einen Perspektive, nämlich dem Ansatz am Einfachsten, am Organismus, an der 0- und-1Differenzierung wird im Grunde genommen das Höchste in seinen Bestimmungen präjudiziert. Es ist gar nicht ohne weiteres klar, daß wir beim Höchsten, einer Freiheit im emphatischen Sinn, landen. Darum würde ich vorschlagen, vom Höchsten auszugehen und zu schauen, wie wir das Einfachste auffassen müssen, um es als unsere eigene Vorstufe überhaupt verstehen zu können. Daraus ergibt sich, daß man zunächst einmal, bevor man Theorien über das Einfachste aufstellt, das Höchste bestimmen muß und sich damit deutlich macht, wo man selbst als Rekonstrukteur steht, worin die eigene Freiheit des Rekonstrukteurs besteht. Das bedeutet meines Erachtens, daß man den Standpunkt, von dem aus man die Evolutionsgeschichte aus rekonstruiert, als Standpunkt kommunikativer Freiheit aufdecken muß. Das wäre der logische Ausgangspunkt der Rekonstruktion, den auch der Emergenztheoretiker nicht ausklammern kann. Ch. Zimmerli: Da sind wir ganz beieinander. Worin wir nicht ganz übereinstimmen, ist die Frage, wieviel wir dazu brauchen. Die Frage ist, © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 17 Diskussion was müssen wir, wenn wir rekonstruieren, wenn wir eine ontologische Begründung oder gar eine Rechtfertigung des freien Willens leisten wollen, voraussetzen, um das herzuleiten. Vielleicht hat das Jonas aus seiner historischen Verortung ein bißchen zu stark instrumentiert und sich damit Probleme eingehandelt, zum Beispiel das Problem des objektiven Geistes, den man vielleicht gar nicht brauchen würde, um beim Menschen anzukommen. J. P. Brune: Mein Vorschlag war, zunächst nur die beiden Perspektiven zu unterscheiden. Ich glaube nicht, daß man durch ein einfaches Modell dynamischer Systeme, durch Iterierung, durch eine Simulation systemischer Prozesse irgendwann zu so etwas kommt wie menschlicher Freiheit. Wir müssen immer schon ein hermeneutisches „als“ einführen, wir müssen eine Unterscheidung machen, die – mit Luhmann gesprochen – „einen Unterschied ausmacht“. Da ist ja schon mehr drin, 0 und 1 muß etwas bedeuten, und das ist in der Maschinensprache nicht mehr möglich. Deswegen kann man nicht vom binären Code einer Maschine ausgehen. D. Böhler: Denn dieses Eigensche Modell hat die Suggestion des bloß Induktiven. Jonas hingegen macht gewissermaßen eine entwicklungsteleologische Perspektive auf, die eine Selbsteinholung ermöglicht. Und deswegen war es auch kein Zufall, daß Herr Gronke gegen Ende seines Vortrags diesen kritischen Punkt gegen die Kybernetiker und materialistischen Metaphysiker hervorgehoben hat. Gegen die Objektivisten sollten wir ins Spiel bringen, daß auch sie (z.B. die Hirnforscher, die Freiheit als eine bloße Illusion ansehen) uns nicht verstehen können, daß sie uns gegenüber nicht ihren Anspruch auf Verständlichkeit einlösen können – das ist immerhin der elementarste kommunikative Anspruch, daß ich für andere verständlich bin, andere mich befragen können und so ein Gespräch mit mir eröffnen können. Sie können uns nicht als Versteher ihrer Theorie einbeziehen – und daher uns auch nicht als mögliche Prüfer ihrer Theorie anerkennen. H. Gronke: Ich würde noch ergänzen: Sie können uns auch gar nicht deutlich machen, wie, auf welche Art und Weise, mit welchen Geltungsansprüchen wir ihre Thesen prüfen sollten. D. Böhler: Ja, daran sieht man, das ist doch ein geschlossenes, selbstreferentielles, selbstgenügsames System. Das ist eben die fatalste 18 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion Metaphysik, die sich, wie das Hans Albert nennen würde, vollständig, gegen jegliche Kritik, immunisiert. Ch. Zimmerli: Ich möchte hier doch daran erinnern, daß Habermas von einem systematischen Kannitverstan gesprochen hat. Ich fürchte, wir tun jetzt etwas ähnliches, wenn wir ein gegenseitiges Nichtverstehen behaupten. D. Böhler: Inwiefern das? Jetzt laden wir den Systemtheoretiker dazu ein, selbstreflexiv zu sich Stellung zu nehmen und den Diskurs mit uns aufzunehmen – und damit auch die Verständigung mit uns – und damit die Anerkennung kommunikativer Freiheit nicht aufzugeben. M. Brumlik: Ich wollte mich nur noch einmal vergewissern, ob es bei diesen reduktionistischen Argumentationen um ein Problem in der Sache oder um ein Problem im der Bewertung geht. Denn man könnte ja eingestehen, daß sogar unser Argumentieren möglicherweise letzten Endes auf Determinationen zurückzuführen ist, welcher Art auch immer. Aber damit müßte man ja nicht eingestehen, daß das nur Determinationen sind. Denn phänomenal ist es offensichtlich mehr. Also scheint es sich mir doch als eine Frage der Bewertung darzustellen. Das ist ja eine alte Diskussion. Früher hat man auch gesagt: „Das ist doch überhaupt nicht rot. Das sind lediglich Sensationen unserer Sehstäbchen.“ Das Problem mit dem Reduktionismus ist doch lediglich immer dieses „Es ist nichts weiter als …“. Beruht nun Ihre Widerlegung der Deterministen, Herr Brune, auf deren abwertender Bewertung oder grundsätzlich auf deren deterministischem Programm? J. P. Brune: Eine kurze Antwort wäre: Wenn Sie die Position des Determinismus so verstehen, daß sie besagt, es gibt nichts anderes Relevantes als determinierte Prozesse, dann würde ich das ablehnen. Ich würde in keinem Fall ablehnen, daß unsere Hirnfunktionen irgendwie auch determiniert sind. Das würde auch Jonas nicht tun. Er würde aber ablehnen – und ich denke, er hat das in diesem Zitat deutlich gemacht –, daß wir z. B. unsere spezifisch menschlichen Aktivitäten – hier landet er zufälligerweise bei Argumentationen – auf determinierte Prozesse reduzieren könnten. Dann gibt es natürlich verschiedene Möglichkeiten, mit diesem Problem umzugehen. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 19 Diskussion Gerhard Roth etwa erörtert einen sogenannten Kompatibilismus, also eine Sicht, die im Grunde genommen bei zwei verschiedenen Beschreibungssystemen stehen bleibt: Der Kompatibilismus besagt, wir könnten unter einer bestimmten Perspektive Hirnprozesse als determiniert beschreiben. Das geht unter dieser Perspektive nicht anders. Dann können wir aber eine ganz andere Perspektive einnehmen, und darunter unsere Praktiken beschreiben. Das eine habe mit dem anderen nicht viel zu tun – solange nicht die Frage aufkommt, welche Funktion denn die Perspektive praktischer Beschreibung eigentlich für den neuronalen Prozeß habe.6 Letztlich, so denke ich, landen wir damit entweder wieder in einem Dualismus, den Jonas überwinden wollte, oder wir landen bei dem, was Habermas an der Position des Kompatibilismus kritisiert, daß wir nämlich von uns sagen müssen: ex ante handeln wir zwar in dem Bewußtsein, uns frei an Gründen und Gegengründen zu orientieren, bei Lichte besehen sind wir aber determiniert.7 Das wäre eine Zumutung für unser Selbstverständnis. Daher funktioniert der Kompatibilismus auch nicht. Wir können uns nicht in ein und derselben Hinsicht diesen beiden Beschreibungssystemen unterwerfen. M. Brumlik: Aber da würde ich noch einmal gerne entgegnen. Ich finde, mit den beiden Beschreibungssystemen, denen wir überhaupt nicht entgehen können, kann man doch gut leben. Und das haben Sie selbst in Anspruch genommen, indem sie Kambartels kritischen Einwand gegen die naturwissenschaftlich inspirierten Überschreitungen aufgenommen haben. Also setzt doch offenbar auch jemand wie Kambartel voraus, daß es diese beiden grundsätzlich unterschiedenen Beschreibungssysteme gibt. Dann wäre meine erste Rückfrage: Versucht Jonas, diese beiden Beschreibungssysteme letztlich doch ineinander zu überführen? Zweitens habe ich Habermas immer anders verstanden. Ich meine, er hätte in den letzten Jahren immer zu sagen versucht, eigentlich ist das kein 6 7. 20 G. Roth, Worüber Hirnforscher reden dürfen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2004), S. 223-234, hier S. 227. „Die Kompatibilisten muten der handelnden Person zu, aus Gründen zu handeln, die bei Licht betrachtet zu kausal erklärten Effekten erstarren und damit jeder Argumentation entzogen sind.“ (J. Habermas, Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft. Probleme der Willensfreiheit, Typoskript des Vortrags anläßlich der Verleihung des Holberg-Gedenkpreises 2005, Berlin 2006, S. 11; vgl. ders., Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft und das Problem der Willensfreiheit: Wie lässt sich der epistemische Dualismus mit einem ontologischen Monismus versöhnen?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 [2006], S. 669-706, hier S. 684-688.) © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion Problem, weil es doch die im Wechselspiel von Stochastik und Determination prozessierende Evolution ist, die unsere Fähigkeit zum freien Argumentieren hervorgebracht hat. J. P. Brune: Zum ersten Punkt: Jonas diskutiert das ganze nicht auf der Ebene von Beschreibungssystemen, sondern ontologisch. Insofern stellt sich ihm diese Frage auf eine andere Weise. Und ontologisch betrachtet will er sozusagen einen reichhaltigen Monismus vertreten, indem er sagt, das Sein selber sei in gewisser Weise immer schon mit Vernunft ausgestattet. Insofern vertritt er keinen materialistischen Reduktionismus. Was Habermas’ Analyse angeht, so gebe ich ihnen recht. Habermas ist ja der Auffassung, daß „in the long run“ erstens nicht auszuschließen ist, daß wir doch eine Art Abwärtskausalität annehmen können, d.h. daß der Geist oder die Kommunikation Einfluß auf Gehirnprozesse und die Strukturen des Gehirns hat. Dann würden wir gleichsam unser Gehirn über kulturelle Errungenschaften formen. Da gibt es sozusagen eine Verbindung und nicht zwei völlig dualistische Systeme. Einerseits können wir unter einer naturwissenschaftlichen Beschreibungsperspektive eine Kausalwirkung auf unsere menschlichen Praktiken feststellen, andererseits gibt es aber auch eine Rückwirkung kausaler Natur der menschlichen Praktiken auf das physiologische Substrat. Das vertritt Habermas, und das halte ich auch erst einmal für sehr vernünftig. M. Brumlik: Aber wenn es wirklich so wäre, daß – wie Jonas meint – gewissermaßen schon in den ersten Bausteinen der Materie Vernunft angelegt ist, dann grenzt das doch an intelligent design. H. Gronke: Ich glaube nicht, daß Jonas sagt, in der Materie sei Vernunft schon angelegt. Er sagt lediglich, daß die Materie in sich eine gewisse Tendenz habe, für die Integration von Vernunft offen zu sein. Wenn der Zufall es so will, dann ergeben sich Bedingungen, unter denen etwas Neues, etwa organische Materie oder vernünftiges Leben, entstehen kann. Also nicht in der Materie – das will er gerade gegen die üblichen Deutungen sagen – liegt schon Vernunft verschlossen, die sich dann ausdifferenziert, sondern die Materie hat nur eine Tendenz zur Freiheit, zur Vernunft. Aber die Bedingungen müssen von woanders hinzukommen. Von daher glaube ich, müßte man noch einmal neu diskutieren, ob Jonas einen – wie immer differenzierten oder reichhaltigen – Monismus überhaupt vertritt, und nicht vielleicht doch einen © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 21 Diskussion Dualismus. Daß es also doch so etwas gibt wie eine Wechselwirkung in irgendeiner Weise. Es gibt auch bestimmte Äußerungen von Jonas, die in diese Richtung gehen. Das scheint mir konsequenter zu sein in der ganzen Anlage seines Denkens. Wenn man gegen die Neurophysiologen und ihre Schlußfolgerungen argumentiert, muß man dann doch vielleicht wieder eine dualistische Position beziehen, die über die Bestimmung eines „differenzierten Monismus“ oder eines „reichhaltigen Monismus“ hinausgeht. J. P. Brune: Ich habe mich ja auf die Philosophie des Organischen beschränkt. Wahrscheinlich ergibt sich ein anderes Bild, wenn man den Blick erweitert und sozusagen Jonas’ kosmogonische Vermutung mit einbezieht. I. Krebs: Also ich glaube, wir kommen da überhaupt nicht darum herum, die philosophischen und die naturwissenschaftlichen Perspektiven und die jeweiligen Sprachen nebeneinander gelten zu lassen und miteinander in einen Zusammenhang zu bringen. Gerhard Roth, der ja auch eine doppelte Fakultas besitzt, versucht das auf eine beeindruckende Weise. Er ist gewissermaßen den Weg gegangen, das naturwissenschaftlich einzuholen, was philosophisch (vor-)gedacht worden ist. So etwa in seinem Buch „Das Gehirn und seine Möglichkeiten“, wo er beschreibt, welche Rolle das limbische System beim Aufbau eines Wertbewußtseins spielt. J. P. Brune: Gerhardt Roth ist differenzierter und insofern anschlußfähiger für die philosophische Diskussion als z. B. Wolf Singer. Inzwischen ziehen aber wohl beide radikale Schlußfolgerungen, etwa für das Strafrecht: Wir sollten aus dem Strafrecht, so wie wir es kennen, den Gedanken der Schuldfähigkeit tilgen und Strafe aus anderen Aspekten heraus begründen: dem Schutz der Gesellschaft oder der Generalprävention. Singer will Zurechnungsfähigkeit und Schuldfähigkeit im Grunde genommen streichen. Er versucht das, was uns in einem Beschreibungssystem vertraut ist, auf das andere Beschreibungssystem zu reduzieren. Und da mache ich nicht mehr mit. H. Gronke: Ich würde gerne noch eine weitere Anmerkung machen – und zwar bzgl. des von Herrn Brune angeführten Jonasschen argumentationsreflexiven Widerlegungsarguments, das gegen die reduktionistischen Monisten bzw. Materialisten vorgebracht werden kann. 22 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion Jonas wäre hier sozusagen zum höchsten Punkt seiner Philosophie, zur Spitze der Vernunftreflexion gekommen. Nun gibt es aber doch auch ganz andere Überlegungen, die Jonas anstellt. Argumentationsreflexive Überlegungen hat es eigentlich immer schon gegeben – von Aristoteles angefangen. Das Problem liegt darin, daß das argumentationsreflexive Argument einerseits von Platon bis zu Descartes, Kant und Husserl nicht angemessen ausgeführt oder daß es andererseits von Aristoteles bis zu Hegel, Habermas und Jonas nicht als zureichend angesehen wurde. Argumentations- und vernunftreflexive Argumente werden von Jonas häufig verwandt, aber dann im nachhinein abgeschwächt, indem die Schwäche des appellierenden Wortes gegenüber der Kraft des Seinsanspruchs angeführt wird. Deshalb brauchen wir nach Jonas nochmals eine ontologische Fundierung. Daher würde ich den Stellenwert des reflexiven Arguments bei Jonas nicht so hoch ansetzen. J. P. Brune: Ja, Jonas traut diesem Argumenttypus nicht. Und Habermas tut das auch nicht. Habermas hat in seinem Vortrag zur Verleihung des Holberg-Preises Anfang 2006 versucht, ein solches Argument anzuführen.8 Im zweiten Satz sagt er dann gleich, mit diesem Argument kommen wir nicht sehr weit, wenn wir mit Leuten wie mit Wolf Singer diskutieren, wir brauchen noch weitere Argumente. Darin zeigt sich: Der Status und die Zugkraft der reflexiven Argumention ist nicht wirklich allen klar. H. Gronke: Ich denke, daß man in dieser Hinsicht Jonas und Habermas, so unterschiedlich ansonsten ihre Ansätze sind, zusammenbringen kann. Denn beide argumentieren aus der Perspektive des Theoretikers und beziehen daher nicht die aktuelle Argumentationssituation und damit auch nicht die Sinnvoraussetzungen ihres eigenen Argumentationsvollzugs ein. Sie gehen davon aus, daß man sich immer geltungskritisch von den eigenen Sinn- und Geltungsunterstellungen – und damit folglich auch vom Anspruch auf argumentative Freiheit und Verantwortung – distanzieren kann. G. Peill-Meininghaus: Meine Frage bezieht sich auf den Schluß Ihres Vortrages, Herr Böhler. Sie haben auf einen Irrtum bei Jonas hingewiesen, 8 Dazu die erweiterte Fassung: J. Habermas, Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft und das Problem der Willensfreiheit: Wie lässt sich der epistemische Dualismus mit einem ontologischen Monismus versöhnen?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54, 2006, S. 669-706, hier S. 683. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 23 Diskussion der in seiner Kontinuitätsannahme der Evolution der Freiheit liege. Sie sprachen von einem Sprung zur menschlichen Freiheit, den Jonas nicht gesehen habe. Könnten Sie diesen Sprung noch einmal verdeutlichen? D. Böhler: Hans Jonas hat den Sprung zur menschlichen Freiheit schon gesehen. Wenn er über den homo pictor schreibt, dann ist er damit bereits auf einem anderen Niveau angekommen. Die Frage ist nur, wie sich dieser Sprung vereinbaren läßt mit seiner Kontinuitätsthese. Wie müßte man hier seinen monistischen Ansatz weiter differenzieren, so daß er diese evolutionären Sprünge hinreichend rekonstruieren kann, bzw. wie müßten die Begriffe, die er seinem Ansatz zugrunde legt, expliziert werden – etwa der Begriff der „Wahlfreiheit“? Was setzt „Wahlfreiheit“ voraus? Wie müßte Jonas den von ihm beanspruchten Begriffsapparat entfalten, damit er sich nicht gleichsam naivisch bei der Amöbe wiederfindet? M. Bongardt: Natürlich ist das bei Jonas ein riesiges Problem, wie Organismus und Freiheit zusammenkommen und wie weit der Monismus reicht. Vor dem Hintergrund hirnphysiologischer Debatten müssen wir klug entscheiden, wie wir auf dieses Problem eingehen. Ich sehe da nur zwei Möglichkeiten: Entweder man führt gegen Jonas das alte dualistische Materie-Geist-Modell ins Feld und sagt, hier werde etwas zusammengeschoben, was nicht zusammengehört, oder umgekehrt, man sieht Jonas’ Monismus als eine Chance, in diese monistischen Debatten der Hirnphysiologen einzusteigen und genau das versuchen, was Sie eben angedeutet haben, nämlich zu fragen, wie innerhalb eines monistischen Ansatzes Differenzierung möglich ist. Ist es möglich, mit einem Hirnphysiologen in einer Weise über Freiheit zu sprechen, die sich nicht in diesen fruchtlosen Debatten einer angeblichen oder tatsächlichen chemisch-neurologischen Bedingtheit und Bestimmtheit verliert, sondern die versucht, die Komplexität des Themas so zu begreifen, daß sie dem Freiheitsproblem gerecht wird, ohne sich damit in einen alten Dualismus zu flüchten? Von wo aus und mit welchem Ziel geht man dieses Problem bei Jonas an: mit dem Ziel, alte Dualitäten weiter für unverzichtbar zu erklären, oder mit dem Ziel, sein Denken daraufhin zu untersuchen, ob es einen Ansatz bietet, mit der neueren Forschung zusammenzukommen? J. P. Brune: Zum einen, Herr Böhler, vertritt Jonas einen differenzierten, reichhaltigen Monismus, und zwar in expliziter Abkehr von einem 24 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion reduktionistischen und demonstrativen Monismus, wie er von publikumswirsamen Vertretern der Hirnphysiologie ja zumeist vertreten wird. Zum anderen sehe ich doch so etwas wie differenzierte Stufen in seinen evolutionstheoretischen Überlegungen. Er will höheren Tieren eine gewisse Innerlichkeit zurückgeben, die sie in der damaligen Diskussion der kybernetischen Ansätze ja schon verloren hatten. Er versucht nachzuweisen, daß wir einen verstehenden Zugang zu höheren Tieren haben können. Das sind für ihn alles Voraussetzungen für höhere Freiheitsstufen. Insofern würde ich an dieser Stelle schon die Position vertreten wollen, daß Jonas einen differenzierten monistischen Ansatz entwickelt hat. Im Grunde genommen entfaltet er einen Ansatz „von oben“, d. h. er geht, wie er sagt, vom Höchsten und ontologisch Komplexesten aus. Der Ansatz mag Probleme haben, sicherlich, weil Jonas die Stufe des Höchsten vielleicht nicht ausreichend bestimmen kann. Dennoch liegt es durchaus im Selbstverständnis von Jonas, daß er „von oben“ ansetzt. D. Böhler: Ich möchte zunächst auf Herrn Bongardts Überlegung und dann auf Herrn Brunes Plädoyer eingehen. Herr Bongardt, ich würde die von Ihnen vorgeschlagene Strategie, sich auf die hirnphysiologische Diskussion einzulassen, um die Diskussion zu Jonas’ Ansatz zu erweitern, nicht als hinreichenden Ausgangspunkt einer Philosophie gelten lassen. Sicherlich steht es einem philosophischen Ansatz gut zu Gesicht, anschlußfähig an die Wissenschaften zu sein, und seit Habermas redet das die gesamte scientific community nach, aber Anschlußfähigkeit ist nur ein schwaches Kriterium. Was wir als Philosophierende tun müßten – und Peter Brune behauptet, Jonas habe es eigentlich schon getan –, ist wohl dies: Wir müßten die Voraussetzungen, die wir als Philosophierende in Anspruch nehmen, uns erst einmal klarmachen und im Blick behalten als das, was ganz „oben“ ist, und von daher eine entwicklungslogische und in der Tat monistische Perspektive aufbauen. Wir müssen also Roth und den anderen, die objektivistisch-metaphysische Hirnphysiologen sind, erst einmal sagen, daß sie als Diskutierende Geltungsansprüche erheben. Wir müßten sie fragen: „Was setzt ihr für Geltungsansprüche voraus? Ihr setzt doch sicherlich nicht nur voraus, daß da bei euch irgendetwas funktioniert, sondern doch auch, daß eure Argumente zutreffen. So setzt ihr aber Ansprüche auf logische Geltung voraus, ihr habt damit kommunikative Freiheit in Anspruch genommen. Jetzt müßten wir erst einmal sehen, wie eure Theorie beschaffen sein muß, © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 25 Diskussion damit ihr das einholen könnt und euch nicht ständig in pragmatische oder performative Widersprüche verstrickt.“ Das muß das Ziel sein. Natürlich, Herr Brune, gibt es bei Jonas schon Stufen – etwa die Stufe zum Tier, die er sehr deutlich gemacht hat, und den Sprung zum homo pictor. Was mir fehlt, ist die Explikation der Möglichkeit der Übergänge und die Möglichkeit der Unterschiede zwischen der kruden Vorfreiheit beim Stoffwechsel eines primitiven Organismus und der Wahlfreiheit. H. Gronke: Noch eine Anmerkung zu der Frage, ob und wie man hier auf die Hirnforschung eingehen sollte. Die Forderung, auf die empirische Forschung, etwa die Hirnforschung einzugehen, entspräche zunächst der Art des Philosophierens und des Einbeziehens der Wissenschaften bei Hans Jonas. Er wollte ja ganz explizit die Ergebnisse der Naturwissenschaft aufnehmen und hat das auch getan. In dieser Hinsicht wäre das ein angemessenes Vorgehen. Diese Einbeziehung beschränkt sich allerdings – und das kann eigentlich nicht deutlich genug hervorgeheoben werden – auf die Ergebnisse der Naturwissenschaft und bezieht sich nicht in gleicher Weise auf deren Philosophie, auf deren Vorannahmen und Schlußfolgerungen, die über das, zu was es empirische Forschung jemals bringen kann, hinausgehen. Erst wenn die Hirnforscher aus den Erkenntnissen, die sie gewinnen, selbst noch mal eine Metaphysik machen, dann entsteht das Problem. Die philosophischen Annahmen der Hirnforscher wären jedenfalls sinnkritisch daraufhin zu überprüfen, ob sie denn tragfähig sind. Unabhängig davon steht es natürlich außer Frage, daß die Philosophie durch die Einbeziehung der Ergebnisse der Naturwissenschaft wichtige Impulse für ihre Weiterentwicklung erhalten kann, aber niemals kann sie durch Naturwissenschaft gleichsam abgelöst werden. Freiheit, Rechte, Pflichten usw. lassen sich naturwissenschaftlich weder beweisen noch widerlegen. Eine weitere Anmerkung bezieht sich wiederum auf die Frage: Gibt es einen Sprung zur menschlichen Freiheit oder nicht? Wenn man von einer Entwicklungslogik der Freiheit ausgeht, dann gibt es vielleicht zwei Möglichkeiten, diesen Übergang zu deuten. Die eine ist, daß es schon so etwas wie eine Vorfreiheit gibt. Das war der Begriff, den Sie, Herr Böhler, verwendet haben. Diese Vorfreiheit solle sich dann zu einer spezfisch menschlichen Freiheit ausdifferenzieren. Solche Ansätze werden z. B. in der ontogenetischen Entwicklungspsychologie von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg vertreten und können auf die Phylogenese übertragen 26 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion werden. Das aber ist, so meine Hypothese, nicht der Weg, den Jonas geht. Ich glaube, Jonas nimmt nicht mehr als eine Disposition zur Freiheit in der Materie und im Organismus an, die sich in gradueller Abstufung realisiert. Beim Übergang zur menschlichen Freiheit, zur Verantwortungsfähigkeit, sieht er dann einen wirklichen Sprung, der etwas qualitativ Neues hinzubringt, und wo sich nicht einfach etwas, was vorher schon verschlossen angelegt war, ausdifferenziert. Vielleicht läßt sich mit dieser Deutung der Ansatz, den Jonas in „Organismus und Freiheit“ macht, stärker verteidigen. D. Böhler: Mit metaphysischen Argumenten, letztlich mit einer spekulativen Theologie? Daß da ein Urgeist angenommen werden müsse, der den Weg zum Geist gewollt habe? W. E. Müller: Genau das sagt Jonas ja auch in „Organismus und Freiheit“, daß „Geist“ nur von höherem Geist kommen kann. Nur deshalb hat der Mensch ja auch Geist und die Möglichkeit zur Selbstreflexion und damit auch die Möglichkeit zur Metaphysik. D. Böhler: Sagt er das in „Organismus und Freiheit“ oder in der sehr viel später gehaltenen Vorlesung „Materie, Geist und Schöpfung“? Dort ist es Gott, der die Freiheit herabschweben läßt, wobei sich Gott erst klar machen muß, daß das sein Hauptgeschenk ist und welche Konsequenzen das für ihn hat, nämlich daß er die Menschheit in Freiheit das Böse muß tun lassen. Das ist der Lernprozeß Gottes, und hier zeigt sich auch ein ungeheuer hebräischer Gedanke, daß nämlich ein Gott einen Lernprozeß haben kann; er ist eben kein griechischer Gott, der vollkommen ist und ewig so bleibt, wie er ist. W. E. Müller: Aber Jonas sagt es auch in „Organismus und Freiheit“. U. Lenzig: Ich möchte an dieser Stelle noch ein Plädoyer dafür halten, die Freiheit des Organismus und die Freiheit des Menschen doch enger zusammenzusehen. Von Heidegger herkommend, überträgt Jonas den Existenzbegriff, daß sich das Leben um sein eigenes Dasein sorgt, auf die Natur. Auch das organische Leben hat ein Interesse an seiner Existenz und sorgt sich darum. Der Amöbe ist es nicht gleichgültig, ob sie existiert oder nicht, sie hat ein Interesse an ihrem Dasein. Darin könnte sich – das ist vielleicht ein wesentlicher Impuls für Jonas – so etwas wie Freiheit © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 27 Diskussion artikulieren. Man könnte sagen: die Amöbe wählt Bedingungen, in denen sie überleben kann, und sie vermeidet Bedingungen, in denen sie sterben wird. Die Kluft zwischen dem Lebewesen und seiner Umwelt wird immer größer, je mehr sich das Leben entwickelt. Bei höheren Organismen schließlich kommt es dahin, daß das Leben sich seiner Umwelt gegenüber als Subjekt verhält – hier kommt eine Subjekt-Objekt-Spaltung ins Spiel –, und auf der höchsten Ebene kommt es dazu, daß sich der Organismus selber als Objekt wahrnimmt. Das ist dann der Übergang zum Transzendenten und Metaphysischen. Ch. Auras: Sie würden sagen, daß Jonas hier anthropomorph argumentiert? Das würde ich nicht akzeptieren. H. Gronke: Sie meinen offenbar, Frau Auras, daß man von einem Interesse der Amöbe hier eigentlich gar nicht sprechen dürfte, daß Interessen spezifisch menschlich sind und nicht auf das Tierreich übertragen werden dürfen. D. Böhler: Ein Interesse an etwas als etwas Bestimmbarem und von mir Bestimmtem muß ich ja nehmen können, d.h. ich muß eines etwas anderem gegenüber auszeichnen. Da ist schon dieser reiche Begriff des Sehens im Spiel, auf den vorhin auch Frau Krebs schon hingewiesen hat9, den Heidegger verdienstvoll – man kann es drehen und wenden, wie man will – in Sein und Zeit in Anschlag bringt, indem er sagt, wenn wir etwas sehen, dann ist das nicht nur ein sensomotorischer Vorgang, dann bedeutet das, etwas als etwas zu verstehen. Dieses bedeutende Sehen, etwas als etwas zu verstehen, liegt natürlich dem Ein-Interesse-an-etwas-Nehmen zugrunde. Demnach hielte ich es für sinnlos zu behaupten, die Amöbe habe ein Interesse an irgend etwas. Wohl aber kann man – und Jonas gibt hier selbst Beispiele – vorsichtig sagen, daß die Evolution gewisse Präferenzen gibt, so daß wir dann das sich entwickelnde Leben so verstehen können, als habe da ein bestimmtes Interesse vorgelegen. So wie dann auch die moderne, genstrategische Ethologie, etwa Richard Dawkins, Wolfgang Wickler und Ute Seibt10, das 9 10 28 Frau Krebs bezog sich auf Jonas‘ Beitrag „Der Adel des Sehens“ in „Organismus und Freiheit“. W. Wickler u. U. Seibt:, Das Prinzip Eigennutz. Ursache und Konsequenzen sozialen Verhaltens, Hamburg 1977 und München 1981; R. Dawkins, Das egoistische Gen, Berlin / Heidelberg / New York 1978. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion Verhalten der Organismen als Strategie der Gene, sich selbst zu vervielfältigen, rekonstruiert. Das ist dann aber eine evolutionsstabilisierende Strategie und nicht etwas, was das Individuum bzw. die individuelle Amöbe in Besitz nehmen kann. Der Amöbe ist das evolutionsstrukturell vorgegeben. Das ist nicht die „Gänschen-GänschenPhänomenologie“ von Konrad Lorenz, der ein moralanaloges Verhalten der Gänse unterstellt. Da widerspricht Wickler, die Gänse haben nicht selbst ein Interesse, hier liege vielmehr eine Evolutionsstrategie der Gene vor, die bewirkt, daß sich die Gänse auf eine bestimmte Art und Weise verhalten. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 29 Diskussion 3. Der Gottesbegriff von Hans Jonas – seine philosophischen, biblischen und kabbalistischen Spuren/Traditionen M. Brumlik: Ich denke, man kann mit den systematischen Konsequenzen, die Sie, Herr Bongardt, in Ihrem Vortrag gefolgert haben, durchaus übereinstimmen. Ich habe mich freilich gewundert, warum Sie diese Umwege gegangen sind und nicht den Spuren in Bezug auf den Mythos gefolgt sind, die Jonas selbst gelegt hat. Jonas hat sich ja ausdrücklich auf die kabbalistische Konzeption und deren Weltschöpfungsbild oder mythos bezogen. Ich glaube, daß man Jonas zu Recht, und er hat das ja auch selbst getan, in diese Tradition des Nachdenkens über Probleme der Theodizee im Verlauf der jüdischen Geschichte einbezieht. Dann kann man drei oder vier oder vielleicht auch fünf Schwellen ausmachen. Die erste Schwelle ist sicher mit dem Buch Hiob benannt und dann denjenigen, die Unerwartetes erlitten haben, die sich eben darin schicken, daß es Gott am Ende besser weiß und daß man eben nicht verzweifeln soll. Dann gibt es eine zweite Schwelle nach der Zerstörung des Zweiten Tempels, nach den furchtbaren Erfahrungen, die die Juden in Judäa mit jeder Form des Messianismus gemacht haben. Sie sagen daraufhin: Schluß mit der Geschichte, wir halten uns jetzt an den Alltag und an das gute und gerechte Leben im Alltag. Dann haben wir eine dritte Schwelle im 15. und 16. Jahrhundert. Nachdem die Juden erst aus Spanien vertrieben worden sind und dann im 16. Jahrhundert unter entsetzlichen Pogromen in der Ukraine zu leiden hatten, ist in Spanien und aber auch in der osmanischen Provinz Palestin das kabbalistische Denken entstanden, das nun, und Jonas hat das selbst ausgeführt, tatsächlich eine andere Konzeption der Schöpfung aufweist – das kann man bei Habermas nachlesen in seinen Arbeiten über Schelling – , nämlich daß am Anfang Gott sich selbst in sich zusammenzieht: Zimzum. In diesem gnostisch-mythischen Denken, darauf hat Scholem hingewiesen, gibt es dann auch so etwas wie einen ersten Menschen, der dann aber auch zerbricht. Im Zuge des Zusammenziehens Gottes zerbrechen die Gestalten, die Gefäße des göttlichen Lichts, die jetzt in die Schöpfung, in die Materie zerstreut und dort eingeschlossen werden wie Kerne in Nußschalen. D. h. Gott selbst hat sich nach kabbalistischem Glauben in die Schöpfung verbannt. Und dann weiß man schon im 15. Jahrhundert, daß es nicht mehr Gott sein wird, der die Menschen erlöst, sondern daß es die Aufgabe des Menschen ist, Gott zu erlösen. Ich würde fast sagen, das geht einher mit Hypostasierungen dieser göttlichen © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 31 Diskussion Verbannung in die Schöpfung: Schechina. Das ist die göttliche Anwesenheit, die Martin Buber in seinem Roman „Gog und Magog“11 als eine Frau, die mit blutigen Füßen über die Erde gehetzt wird, allegorisiert. Das hat dann später im frühen politischen Zionismus dazu geführt, daß ein Teil der Orthodoxie nun ausgerechnet die atheistischen Siedler zu den Vollziehern der Befreiung Gottes gerechnet hat, weil diese durch das Bearbeiten des Bodens jene Funken göttlichen Lichts befreit hätten. Das ist gewissermaßen die Tradition. Besonders biblisch kommt mir das ehrlich gesagt nicht mehr vor. Daher meine ich, die biblischen Bezüge sind so weit entfernt wie nur möglich. Abschließend würde ich sagen, wenn man das in einer modernen Begrifflichkeit rekonstruieren will, kommt man vielleicht mit Whitehead und der Prozeßtheologie weiter, es sei denn, Sie würden die Prozeßtheologie in einer Peirceschen Weise zeichentheoretisch lesen. M. Bongardt: Warum habe ich mich für diese drei Herangehensweisen entschieden, auch wenn man vieles hätte einholen können auf dem Weg, den Sie dargestellt haben? Ich habe mich deshalb dafür entschieden, weil ich erstens finde, daß der Mythos, wie Jonas ihn erzählt, und auch Teile der Selbstdeutung dieses Mythos, Fährten legen, die zumindest in die von mir benannten Richtungen weisen, und Fährten legen, auf die sich viele Kritiker von Jonas dann mit besonderer Freude stürzen. Ich denke auch, daß es wichtig wäre, diese Fährten noch einmal deutlicher, als ich es hier machen konnte, auch in ihren positiven Anknüpfungspunkten zu erkennen, um deutlich zu machen, wie weit Jonas damit in diese Diskussion eingreift. Und ich habe sehr bewußt darauf verzichtet, das Thema „Gott, Menschen und Geschichte“ auf den Ernstfall der Theodizee zu konzentrieren, und habe deshalb nach einer grundsätzlichen Verhältnisbestimmung gesucht, die die Schechina, ist das sicher ein mögliches Modell. Aber es geht nicht ohne diesen Gedanken. Denn ohne ihn ist der Rückzug einfach nur ein Rückzug, bei dem die Verbindung überhaupt nicht mehr gedacht wird. Wenn man das beides zusammendenkt, dann ist man in der Tat sehr nah an dem, was ich zum Schluß zu entfalten versucht habe. D. Böhler: Ich finde diesen Dialog Brumlik-Kongardt hochinteressant. Erst einmal noch zu dem biblischen Leseversuch von Herrn Bongardt: 11 M. Buber, Gog und Magog, hebräisch: Jerusalem, 1943; deutsch: Heildeberg 1949 32 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion Könnte man nicht doch sagen, daß sich diese Elemente, die Herr Bongardt betont hat, bei Jonas finden und daß sie sehr wohl biblisch sind, etwa die Schöpfung aus dem freien Willen Gottes und die Schöpfung als Akt einer Freilassung, die in der priesterschriftlichen Version der NoahGeschichte noch einmal pointiert wird und auf die sich Jonas explizit beruft? Auch die Struktur des Siebentagewerks, offenbar mit Ausklammerung des Sabbats, finden wir in Jonas’-Mythos. Des weiteren wird es absolut vermieden und als sinnwidrig dargestellt, die Kosmogonie als Kampf zweier Prinzipien – Gut versus Böse – zu verstehen. Und schließlich – das ist meine Frage, und das ist ja offenbar auch Ihre Frage, Herr Bongardt – bleibt es bei Jonas deutlich, daß das Ziel der Welt in der Sorge Gottes als Heilstendenz ruht? Da würde ich doch gerne eine Explikation haben. Was die Hegelsche Lesung anbelangt, frage ich mich, ob bei Jonas diese Odyssee Gottes in die Zeit nicht deutlicher als in der kabbalistischen Tradition wird. Natürlich geschichtlich, geschichtsphilosophisch und geschichtstheologisch geht es in der Kabbala bis zur radikalen Perspektive, daß die Menschheit bzw. das Judentum die Schöpfung retten muß und Gott selbst einbezieht. Was ich nicht verstanden habe, das war ihr Anschluß, Herr Bongardt, an das Zitat von Rosenzweig: „Gott spricht: Wenn ihr mich nicht bekennt, so bin ich nicht“. Im Anschluß daran sagten Sie, endliche Macht schüfe Abhängigkeiten, aber unendliche Macht könne Abhängigkeiten überwinden, und daraus folgerten Sie, daß man doch am Begriff der Allmacht oder der unendlichen Macht theologisch festhalten solle. Da nun schlägt für mich die Sinnkritik am Allmachtsbegriff durch – bei aller Wertschätzung theologischer Perspektiven. Von Allmacht kann man nicht verständlich reden. Das ist au fond eine sinnlose Redeweise, und zwar aus verschiedenen Gründen: einmal weil sich jede Macht auf Anderes muß beziehen können und sich dadurch schon selbst begrenzt. Und die Schöpfungsidee ist ja eine solche Selbstbegrenzung; das ist ja auch theologisch schon eingeholt worden. Diese Sinnkritik muß nicht erst von außen, oder von den Philosophen, kommen. Deren Spuren kann man schon in der Bibel finden. Im Sinne der Selbtsbegrenzung göttlicher Macht kann Jonas ja auch den Noahbund auslegen. Wie Sie unendliche Macht denken wollen, verstehe ich daher nicht. M. Bongardt: Zunächst zu Ihrer letzten Frage, Herr Böhler. In der von Ihnen hervorgehobenen Stelle habe ich mich auf Kierkegaard bezogen. Ich © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 33 Diskussion knüpfte hier nicht an die Peschitta an, sondern bezog mich auf die christliche Tradition. Kierkegaard rettet den Allmachtsbegriff, indem er ihn radikal umdefiniert. Das, was er als Allmacht bezeichnet, nämlich die Fähigkeit, wirklich freizulassen, nimmt ja die Kritik, die Sie gerade nannten, auf. Ich finde das Beeindruckende an diesem Versuch Kierkegaards, daß er sehr deutlich sagt, Allmacht ist etwas völlig anderes als die Potenzierung von Macht, die sich zu bemächtigen versucht. Sie ist gerade das Gegenteil und ist darin etwas, was menschliche Machtversuche auch nur unvollkommen können. Kierkegaards Verdacht ist, menschliche Machtversuche oder überhaupt menschliche Handlungsversuche werden auf den Versuch, sich zu bemächtigen, nie ganz verzichten können. Und deshalb ist der Unterschied zwischen Macht und Allmacht bei ihm nicht ein quantitativer, sondern ein qualitativer. Die Allmacht zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie darauf verzichtet, sich über alles zu stellen und alles der eigenen Macht zu unterwerfen. Darin ist die Allmacht das qualitativ Andere zur Macht. D. Böhler: Aber das ist dann nicht mehr der Begriff von Allmacht, sondern eher von einer Kompetenz zur Selbstpreisgabe. M. Bongardt: Ob es noch sinnvoll ist, dafür den Begriff Allmacht zu verwenden, sei dahingestellt. Aber so definiert Kierkegaard Allmacht. Ich würde Ihnen sofort zustimmen: ob es sinnvoll ist, diesen Begriff beizubehalten, der völlig andere Assoziationen weckt, darüber kann man sich streiten. U. Lenzig: Sie hatten sich ja auf den Vortrag „Der Gottesbegriff nach Ausschwitz“ bezogen. Ursprünglich stammt dieser philosophische Mythos aus einem älteren Text „Unsterblichkeit und heutige Existenz“. Dort denkt Jonas im Vorwort, wenn man so will, darüber nach, wie der Begriff der Unsterblichkeit heute gefaßt werden kann, und spielt dann verschiedene Begriffe von Unsterblichkeit durch. Unter anderem spricht er von einem empirischen Unsterblichkeitsbegriff, der besagt, daß die Menschen unsterblich sind im Gedächtnis derer, die sich ihrer erinnern. Da habe ich Annäherungen an Ihren immanenten Religionsbegriff zu erkennen geglaubt. Aber das verwirft Jonas dann, indem er sagt: das, was selber sterblich ist, kann nicht gut zum Medium für Unsterblichkeit 34 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion werden. Und müßte man nicht unter diesem Aspekt den Ansatz doch noch einmal befragen? M. Bongardt: Ich würde Ihnen sofort zustimmen, daß das nötig ist. Diesen Aspekt nehmen zumindest weder Schleiermacher, der meines Wissens diesen immanenten Religionsbegriff eingeführt hat, noch Cassirer auf. Bei Cohen bin ich mir nicht ganz sicher, ob und wie er das Unsterblichkeitsmotiv noch einmal aufnimmt. M. Brumlik: Also naturalistisch nimmt er es auf keinen Fall auf. Wenn er es überhaupt aufnimmt, dann im Sinne der Erinnerung, des eschatologischen Geheimnisses. Es gibt in jedem Fall ein Bilderverbot. M. Bongardt: Aber Sie haben recht, daß die Transformation des Unsterblichkeitsparadigmas – entweder in dieses Erinnern, was ja auch heute recht verbreitet ist, oder wie bei Feuerbach in die Gattung des Menschen – höchst unbefriedigend ist. Deshalb läßt sich eine immanente Religion vermutlich nur unter Verzicht auf den Unsterblichkeitsbegriff konzipieren. U. Lenzig: In diesem Kontext finde ich es wichtig, daß Jonas den Mythos in seinem Aufsatz als Gegenbild zu einem Unsterblichkeitsbegriff, der sich allein mit der Erinnerung an die Verstorbenen begnügt, entfaltet. D. Böhler: Er entfaltet ihn auch als Gegenbild zu einer griechischen, einer neuplatonischen Idee der Unsterblichkeit der Seele. M. Bongardt: Er schreibt auch, der Tod gehöre zu dieser Entwicklung einfach dazu, weil es sonst die Entwicklung gar nicht gäbe. Und ich wüßte nicht, wo er das noch einmal einholt, in dem Sinne: die Gestorbenen sind mehr als die Teile dieses Prozesses. U. Lenzig: Das Ergebnis besteht dann im Prinzip darin – das wird im Dialog mit Bultmann noch einmal deutlich –, daß er einen individuellen Unsterblichkeitsbegriff ablehnt. Und er deutet das in dem Sinne um, daß das Gesicht Gottes Konturen gewinnt im ethischen Sosein der Individuen. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 35 Diskussion M. Brumlik: Noch eine Anmerkung zum Bezug von Jonas’ Gottesbegriff zur kabbalistischen Tradition und zur Bibel. Wenn man sich das metapherngeschichtlich vor Augen führt, dann sind das wirklich unterschiedliche Metaphern. Die entmythologisierende Kraft des biblischen Schöpfergottes beruht darauf, daß hier eine Metapher der Welterschaffung im Bilde des Handwerkers oder im Bilde des Herrschers vorliegt. Er spricht einen Sprechakt aus: „Es werde Licht“, und dann wird eben Licht. Genau so hat man sich das vorgestellt an den altorientalischen Höfen. Wenn da etwas angeordnet wurde, dann ist das auch sofort passiert. Wenn jemand einen Topf geformt hat, dann ist der eben entstanden. Demgegenüber ergibt die Vorstellung eines Gottes, der sich dadurch, daß er sich in sich zusammenzieht, also die Funken göttlichen Lichts freigibt in die Welt, ein ganz anderes Bild. In der Bibel könnte man tatsächlich sagen, am Anfang steht die Macht, im kabbalistischen Programm ist es eher die selbstgewollte Ohnmacht. Das sind andere Metaphern, deren Logik man schon folgen sollte. Man kann sie nicht so einfach ineinander überführen. Wobei ich schon sagen will, die kabbalistischen Gelehrten waren ja keine dummen Leute, aber sie haben sich einer Form der allegorischen Interpretation bedient, die wir heute weitestgehend ablehnen. M. Bongardt: Aber der Punkt, in dem sie sich einig sind, und nur auf den habe ich hier abgehoben, ist nicht die Form der Schöpfung, da haben Sie völlig recht, sondern die Tatsache, daß in beiden Fällen diesen sehr unterschiedlichen Formen ein Entschluß zugrunde liegt. Das ist der Vergleichspunkt. 36 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion 4. (Selbst-)Verantwortung versus Nihilismus im Kontext von Paulus und Augustinus, Gnosis und Heidegger. Zu den Vorträgen von Udo Lenzig, Claudio Bonaldi und Christian Wiese D. Böhler: Ich möchte eine Anmerkung zum Schluß Ihres Vortrags machen, Herr Lenzig, dann aber auch eine harsche sinnkritische Frage zu ihrem Teil I stellen. Die Anmerkung zuerst: In der Tat, wenn es zur Philosophie gehört, sich auf das Ganze zu besinnen, und das ist seit alters her das herrschende Verständnis der Philosophie, dann bedarf es symbolischer Rede. Und zugleich bedarf es jener Freiheit, die sozuagen der Maler – der symbolisch Redende ist ja auch eine Art Maler – hat, um sein Bild auszugestalten. Hier würde ich jetzt die Frage stellen, ob sich das gut verträgt mit Jonas’ anthropologischer Auszeichnung des Menschen als homo pictor, eines bildenden, symbolischen Wesens, ob er diese Auszeichnung hier vielleicht auf die Aufgabe der Philosophie angewandt hat, sich auf das Ganze zu besinnen. Übrigens stellt er in seinem Vortrag „Husserl und Heidegger“12 nicht nur die philosophische Aufgabe heraus, sich auf das Ganze zu besinnen, sondern weist auch darauf hin, daß mit Husserl etwas anderes zu dieser, eigentlich urgriechischen, Bestimmung der Philosophie hinzugekommen sei, nämlich die Rechtfertigungsaufgabe: die Bestimmung der Philosophie als absoluter Selbstverantwortung, als Rechenschaftslegung über die Voraussetzungen des Philosophierens. Und diese Selbstrechtfertigung sei ein eminent jüdisches Erbe. Man muß übrigens vielleicht nicht erst auf Husserl, sondern kann in gewisser Weise schon auf Kant zurückgehen, um diese Selbstrechtfertigung als Fundament der Philosophie zu würdigen. Kants Gerichtshofmetapher, sein Verständnis der Philosophie als Kritik sprechen dafür, wobei er dafür selbst einen griechischen Ursprung angibt, nämlich Sokrates. Auch bei Sokrates, bei dem logizesthai, ist schon ein solches Sich-selbstRechtfertigen da. Aber daß das vor allem ganz stark in dem Bundesverhältnis gegenüber Gott vorhanden ist und in der biblischen Tradition absolut in den Mittelpunkt tritt, ist auch eindeutig. 12 Das von Jonas nachträglich überarbeitete Manuskript des 1963 am Leo Baeck-Institut gehaltenen Vortrags wurde posthum veröffentlicht in: D. Böhler u. J. P. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung, Würzburg 2004, S. 17-33. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 37 Diskussion Bevor ich zu meiner sinnkritischen Frage komme, möchte ich noch eine Verständnisfrage stellen. Sie sagten, die höchste Freiheit sei die der Selbstobjektivation. In der Selbstobjektivation verlöre sich dann aber die Freiheit. Habe ich das so richtig wiedergegeben? Handelt es sich hierbei um Jonas’ Position oder ist das Ihre eigene Interpretation? U. Lenzig: Ich würde es vielleicht so ausdrücken: Ich habe versucht, die These des Paulus-Aufsatzes wiederzugeben. Jonas sagt dort, die Möglichkeit zur Selbstobjektivation ist Ausdruck der höchsten Freiheit des Menschen. Und dazu gehört schon die Freiheit, die nur dem Menschen zu eigen ist, nämlich daß er sich selbst als Objekt wahrnehmen kann. D. Böhler: Aber muß sich die Freiheit in dieser Selbstobjektivation wiederum verlieren? Oder verliert sie sich nicht allein dann, wenn die Selbstobjektivation die Form der Verdinglichung annimmt, die Form einer Projektion nach außen? Dann wird ein existentiales Verhältnis – Dialektik von Wollen und Nichtwollen – nach außen projiziert und als Schicksalsverhängnis, als Erbsünde, dargestellt. Darin verliert sich erst die Freiheit. Ich glaube, auch Jonas sieht das so. Aber dieses Verlieren der Freiheit ist nicht nötig. Jonas selbst zeigt in seinem Augustinus-Buch13, daß das nicht nötig ist. Er führt ja einen Diskurs darüber und eignet sich diese Selbstobjektivation, hier als Verdinglichung, als mythologische Selbstobjektivation verstanden, wieder an. Und er eignet sie uns an, indem er einen argumentativen Diskurs führt. Wenn aber der argumentative Diskurs die Aufhebung dieser Verdinglichung ist, dann ist er der Ort der höchsten Freiheit. Sonst könnte sich Jonas gar nicht selber einholen.14 U. Lenzig: Das mag sein. Ich habe hier versucht, Jonas’ Ausführungen zum Römer-Brief, Kapitel 7 wiederzugeben, und da argumentiert er folgendermaßen: Das „Volo me velle“ hat in sich die Möglichkeit, in ein „Cogito me velle“ umzuschlagen. Und dieses cogito bedeutet für ihn – wie Sie es eben darstellten – eine Projektion und damit eine Objektivierung und ein Einfrieren des Existenzvollzugs, der hierbei verloren geht. 13 14 38 H. Jonas, Augustinus und das paulinische Freiheitsproblem, Göttingen 1965. Vgl. D. Böhler, Nachwort, in: H. Jonas, Leben, Wissenschaft, Verantwortung. Ausgewählte Texte, hrsg. v. D. Böhler, Stuttgart 2004, S. 240 ff. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion D. Böhler: Die Frage ist, ob Jonas es sich da mit seinen Begriffen nicht zu schwer macht, insofern er nämlich in der Subjekt-Objekt-Relation verbleibt, wie das auch im Deutschen Idealismus, etwa bei Fichte, permanent praktiziert worden ist. Kann jedoch ein Über-etwas-Reden nicht gänzlich verschieden sein von einer Verdinglichung? Die intersubjektive, kommunikative Dimension des Über-etwas-Redens wird nicht getroffen, wenn man es bloß als Selbstobjektivation, als Vergegenständlichung begreift. Dann verbleibt man innerhalb der Subjekt-Objekt-Relation und merkt gar nicht, daß man als Subjekt schon mit anderen Kosubjekten über etwas in einer gemeinsamen Sprache kommuniziert und daß man das Dargestellte auch wieder kritisierend verändern kann. U. Lenzig: Das wäre sicherlich interessant. Aber was mir in der Beschäftigung mit Jonas aufgefallen ist, ist erst einmal, daß der 1964 veröffentlichte Aufsatz von 1929 stammt, daß also Jonas über 35 Jahre später es noch für wert hält, diesen Aufsatz zu veröffentlichen. Zudem verweist er sowohl in „Das Prinzip Verantwortung“ als auch in „Materie, Geist und Schöpfung“, wenn er über die Dialektik von Notwendigkeit und Freiheit spricht, auf diesen Aufsatz und auf Römer 7. Dieser Gedanke scheint sich in seinem Denken durchgehalten zu haben. W. E. Müller: Das möchte ich auch unterstreichen. Und ich meine, wir haben alle Schwierigkeiten, diese Dialektik von Paulus in Römer 7 nachzuvollziehen. Herrn Böhlers Weg der Bezugnahme auf kommunikative Freiheit ist an sich überzeugend, aber wir finden ihn nicht bei Paulus. Und Jonas verwendet interessanterweise diesen Text von Römer 7 wie eine gesicherte Erkenntnis vom Wesen des Menschen. Daher stellt sich die Frage: Warum entmythologisiert Jonas nicht Römer 7? Das wäre doch wohl nötig gewesen. U. Lenzig: Muß man aber nicht wenigstens in Ansätzen sagen, daß der Text „Philosophische Meditationen über Paulus“ in gewisser Weise doch auch eine Entmythologisierung von Römer 7 vornimmt? Denn da ist ja von Gesetz und Gnade die Rede, und Jonas überträgt das auf die menschliche Existenz. Also übernimmt er es ja nicht eins zu eins, sondern er bricht es schon. Er will seine Darlegungen als Analyse des Paulinischen Daseinsverständnisses verstehen, so daß er Paulus zumindest in Ansätzen existential interpretiert. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 39 Diskussion M. Brumlik: Meinen Erinnerungen an den Römerbrief nach findet man da nicht viel von Dialektik. Paulus glaubt schlicht nicht, daß Menschen die sittliche Freiheit haben. Wo finden wir da noch Dialektik? Wenn die Menschen Gutes tun, dann dank der Gnade. Man braucht nur an den Satz in Römer 7 zu erinnern: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht. Das Böse, das ich nicht will, das tue ich ja“. Wenn es denn überhaupt einen Ausweg aus dieser Bredouille gibt, dann ist es die Gnade durch den Messias Jesus. Ansonsten würde ich noch sagen, daß auch Paulus selbst sich eigentlich schon ein bißchen entmythologisiert hat. Denn das Gesetz ist auch das Gesetz des sündigen Leibes. Das ist doch eine ganz klare anthropologische Aussage, die man da herausfiltern kann. U. Lenzig: Jonas ist bewußt, daß er mit diesem Text erst einmal in einen theologischen Diskurs eintritt. Deswegen schreibt er auch einen Brief an Bultmann, der eine Reaktion auf einen Aufsatz von Bultmann über die Paulinische Theologie darstellt. Und an dieser entscheidenden Stelle, auf die Sie hinweisen, sagt er dann: Da Paulus das ganze christologisch auflöst, muß hier die Philosophie schweigen. Er bleibt in der dialektischen Spannung stehen. M. Brumlik: Mir ist das immer noch nicht klargeworden. Wo findet sich bei Paulus die dialektische Spannung? Er glaubt nicht an die menschliche Handlungsfreiheit. Sowohl Augustinus als auch Luther haben ihn hier ganz richtig verstanden. W. E, Müller: Jonas interpretiert Römer 7 dialektisch. Ob er damit Römer 7 richtig interpretiert, ist eine andere Frage. Aber er hat damit seine Dialektik von Freiheit und Unfreiheit. H. Gronke: Vielleicht kann ich eine grundsätzliche Überlegung anstellen, die an das anknüpft, was Herr Böhler gesagt hat. Ich möchte noch einmal auf die Subjekt-Objekt-Relation eingehen, die Sie, Herr Lenzig, angesprochen haben, und auf die Schwierigkeit, die sich ergibt, wenn das Subjekt sich selbst thematisiert, nämlich die Schwierigkeit, daß sich das Subjekt hierbei zum Objekt machen, sich selbst verdinglichen und damit seine Subjekthaftigkeit vermeintlich verdrängen muß. Nur wenn das das Grundverhältnis allen Denkens wäre, dann ergäbe sich möglicherweise diese Dialektik von Freiheit und Unfreiheit und ggf. ein existenzialer Aufhebungsversuch der Verdinglichung. Wenn man jedoch das 40 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion Grundverhältnis anders ansetzt, ergeben sich andere Möglichkeiten, vor allem jene einer kommunikativen Freiheit, die nicht mehr einem Verdinglichungsverdacht unterliegt. Das ist nicht der Weg, den Heidegger in der Selbstkritik seines Frühwerkes „Sein und Zeit“ eingeschlagen hat. In der Zurückführung des menschlichen Schicksals auf Existenzialien liege immer noch eine Tendenz zur Selbstobjektivierung, die dadurch zurückgenommen werden müsse, daß auf Aussagen über das Sein des Daseins, die letztlich doch noch am Sehen orientiert sind, verzichtet werden und an deren Stelle das Hören auf den Ruf des Seins treten solle. Damit ergibt sich aber eine andere Konstellation von Unfreiheit: wir werden in einen Entwurf hineingebracht und können uns nicht autonom bestimmen. Diesen Weg Heideggers kann Jonas natürlich nicht mitgehen, er will die Möglichkeit, ja die Existenz von Freiheit und Verantwortung erweisen. Jonas steht dem frühen Heidegger näher und ist von dem späten Heidegger so weit entfernt wie nur möglich. Aber auch er hat nicht die Kategorie der kommunikativen Freiheit zur Verfügung – das zieht sich durch sein ganzes Werk durch. Deshalb ist er gezwungen, auf eine letzlich unauflösliche Dialektik von Notwendigkeit und Freiheit zurückzugreifen. Daher rühren vielleicht auch in „Organismus und Freiheit“ seine Konstruktionen eines dualistischen Monismus oder eines Monismus mit dualistischen Aspekten. Diese Struktur verdankt sich meines Erachtens auch dem Festhalten an der Subjekt-Objekt-Relation, also einer subjektphilosophischen Denkweise, deren materialistische und idealistische Reduktionismen Jonas durch seinen dialektischen Ansatz vermeiden will. U. Lenzig: Jonas ist der Auffassung, daß sich der Begriff der Freiheit eigentlich gar nicht anders als dialektisch fassen läßt. Ich hatte ja eben dieses Augustin-Zitat gebracht, wo er wirklich sagt, der Freiheitsbegriff in der abendländischen Kultur leide unter diesen Kompatibilitätsfragen: entweder – oder, determiniert – nicht determiniert. So wie Sie es eben richtig in Bezug auf den Begriff der Allmacht sagten, Herr Böhler, indem sie Allmacht als einen sinnwidrigen Begriff kennzeichneten – wenn ich über Macht spreche brauche ich ein Gegenüber –, so kann Jonas in Bezug auf den Freiheitsbegriff analog sagen, wenn ich von Freiheit spreche, so braucht die Freiheit als Gegenüber die Unfreiheit, um frei sein zu können. Die Freiheit muß sich an der Unfreiheit abarbeiten. Daher faßt Jonas den Begriff der Freiheit von seinem Wesen her dialektisch. So setzt er auch in © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 41 Diskussion „Organismus und Freiheit“ an, indem er Freiheit und Notwendigkeit des Organismus zusammenbindet. Den Stoff wechseln zu können, heißt gleichzeitig, den Stoff wechseln zu müssen. Jonas dekliniert die Dialektik von Notwendigkeit und Freiheit durch bis auf die Ebene des Menschen. Bis zu dieser Ebene würde ich von einer positiven Dialektik sprechen, die Freiheit eröffnet. Aber auf der allerhöchsten Ebene der Selbstobjektivation als höchstem Ausdruck der Freiheit kollabiert das ganze und schlägt in eine negative Dialektik um. Hier verliert sich dann die Freiheit. Daher glaube ich nicht, daß Jonas von einem Freiheitsbegriff jenseits dieser dialektischen Figur sprechen wollte. D. Böhler: Aber er hat es getan. Auf der höchsten Stufe steht bei ihm nämlich die symbolische Rede, das symbolfähige Tier, der homo pictor. Der aber muß sich nicht in diese Selbstobjektivation im Sinne einer Verdinglichung verstricken, sondern kann ein Bild malen und sich sagen, daß das nur ein Bild ist, über das wir reden und das wir verändern können. Das ist eine symbolische Rede und nicht der Ausdruck einer objektiven Bestimmung, der ich unterliege. Bei Paulus unterliege ich hingegen einer objektiven Bestimmung. Das ist gewissermaßen ein Verhängnis, aus dem ich nur durch den Glaubenssprung zu Christus herauskomme, also – philosophisch streng gesprochen – durch eine Art „Zauberkunststück“, durch eine bloße Konversion. Der Mensch kann den Freiheitsverlust der Verdinglichung vermeiden, indem er über seine Selbstobjektivationen redet, also ohne irgendein Opfer des Intellekts erbringen zu müssen. Später, in seinem HermeneutikAufsatz15 und schon in dem Homo Pictor-Aufsatz aus „Organismus und Freiheit“, spricht Jonas mehr oder weniger auf dem Niveau einer sprachpragmatisch und transzendentalhermeneutisch gewendeten Philosophie. Was Sie jetzt hier zitiert haben, das ist in der Tat die traditionelle Philosophie in der Subjekt-Objekt-Perspektive, mit den von Herrn Gronke beschriebenen Aporien, aus denen eine Philosophie, die im Subjekt-Objekt-Schema denkt, gar nicht herauskommen kann. U. Lenzig: Darf ich noch einmal dagegen sprechen? Ich würde das, was Sie eben dargelegt haben, durchaus in Jonas’ evolutionären Entwurf von 15 42 H. Jonas, Wandel und Bestand. Von der Verstehbarkeit des Geschichtlichen, in: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1992, S. 50 – 80. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion der Freiheit bei Tieren bis zur spezifisch menschlichen Freiheit einbeziehen. Er spricht ja zuerst vom homo faber, der Werkzeuge herstellt, und damit in der Lage ist, die Welt zu bearbeiten, die Welt zu gestalten. Der homo pictor geht einen Schritt weiter, indem er die Welt im weitesten Sinne neu erschaffen kann, neue Objekte kreieren kann. Aber er ist immer noch auf ein Objekt bezogen. Dann – und ich denke, das ist bei Jonas angelegt, auch wenn er den Begriff nicht verwendet – kommt er zum homo religiosus, der sich auf einmal selbst als Objekt seines Denkens entdeckt. Und da ist Jonas wieder an dem Punkt in „Organismus und Freiheit“ angelangt, den er schon in seiner Paulus-Meditation entfaltet hat, an dem das ganze kollabiert. Diese Stellen kann man in „Organismus und Freiheit“ identifizieren. D. Böhler: Wäre das ein homo religiosus, der verdammt ist zur Selbstobjektivation, und trotzdem diese nicht mehr als Verdammnis erfährt, sondern irgendwie davon erlöst wird? H. Gronke: Diese Schrittfolge, die Sie, Herr Lenzig, angeutet haben, wird auch in dem schönen Aufsatz „Werkzeug, Bild und Grab“16 nahegelegt, wo das Bildvermögen des Menschen in der Mitte und nicht an der Spitze steht. Dann kommt eben noch der homo religiosus hinzu, so daß die von Ihnen dargelegte Stufenfolge zunächst einmal plausibel erscheint. D. Böhler: Aber das geschieht doch im Sinne einer Transzendierung, einer Transzendierung der Immanenz, nicht im Sinne einer erneuten Selbstobjektivation. Man kann das auch als fortdauernde Kommunikation verstehen. Es werden Zeichen über den Tod hinausgesetzt, die eine Kommunikation mit den Lebenden ermöglichen. H. Gronke: Sicher, so könnte man das deuten. Es fragt sich aber, ob das Jonas’ eigene Intention war oder ob er damit nicht hoch- bzw. überinterpretiert wird. Man müßte Belege dafür finden, daß Jonas selbst in diese Richtung einer kommunikativen Freiheit gedacht hat. Zusätzlich zu dem, was Herr Lenzig genannt hat, spricht ja einiges dagegen. Jonas legt auch das Verantwortungsverhältnis primär in der Subjekt-Objekt-Relation an. Hier wird das Subjekt von einem Objekt angesprochen; die 16 H. Jonas, Werkzeug, Bild und Grab. Vom Transanimalischen im Menschen, in: ders., ebd., S. 34-49. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 43 Diskussion Verantwortungszumutung an das Verantwortungssubjekt geht von dem Objekt aus. Das ist ein weiterer Beleg dafür, daß Jonas den Weg zur kommunikativen Freiheit, zur intersubjektiven Freiheitsrelation, zumindest nicht konsequent beschritten hat oder auch nicht beschreiten wollte. I. Schultz-Heienbrok: Nach Ihrem Vortrag, Herr Bonaldi, denke ich, von Paulus her führt eigentlich keine Linie zur Verantwortungsethik. Alles, was ich tue, ist ja etwas so Unvollkommenes, daß es letzten Endes egal ist, was ich da tue. Wenn ich etwas Gutes tun kann, kann ich es nur aus einem neuen Geist, aus Gnade, aus einem Transzendenzbezug tun. Es ist nicht meiner Natur zu verdanken. Daraus kann ich keine Verantwortungsethik für ein Weltethos entwickeln, denn das muß breitere Grundlagen haben als solch eine unverfügbare Transzendenz. Wie sehen Sie die Linie zur Verantwortungsethik? C. Bonaldi: Ich glaube, daß Jonas in der paulinischen Erfahrung keinen Weg zur Begründung einer Ethik der Verantwortung sieht. Der Mensch steht als Einzelner vor Gott, vor dem Gesetz, und er hat keine Beziehung mit der Welt und den anderen. Ich glaube, daß „Das Prinzip Verantwortung“ das Gegenstück zur Paulinischen Erfahrung darstellt. M. Bongardt: Ich glaube, daß die Paulus-Rezeption sehr deutlich macht, daß man das in der Tat so gegensätzlich lesen kann. Augustinus sagt, der Mensch ist derart grundlegend von der Sünde geprägt, daß da keine Verantwortung, die man übernehmen könnte, ableitbar ist. Luther hingegen, den ich näher an Paulus sehen würde, unterscheidet hier sehr deutlich. Das Problem der Rechtfertigung bei Luther ist ein Problem des Gottesverhältnisses. Davon unterscheidet Luther die Aufgabe, in dieser Welt ein menschenwürdiges Leben zu gestalten. Die Einschränkung bei Augustinus läuft m. E. sehr darüber, daß dieser die Stellen bei Paulus, die großen Wert auf die Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Zusammenlebens etwa in der Gemeinde legen, weitgehend ausblendet. Augustinus generalisert die Sünde in einer Weise, daß ein verantwortliches Handeln in der Welt nahezu unmöglich wird. Ich würde sagen, in einer Lutherschen Lesart von Paulus und in Luthers Ansatz etwa in der „Freiheit des Christenmenschen“ sieht das ganz anders aus. 44 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion U. Lenzig: Sie sprachen vom christlichen Glaubensbegriff, Herr Bonaldi. Ich möchte das noch ein bißchen präzisieren. Jonas reduziert diesen nämlich ganz klar auf den protestantischen Glaubensbegriff und setzt ihn gegen einen katholischen Glaubensbegriff ab. Hier ist er ganz dicht bei seinem Lehrer Rudolf Bultmann, der in dieser Zeit von Luther herkommend diesen Glaubensbegriff geprägt hat. Sein Grundentwurf in seiner frühen Paulus-Studie besagt, daß sich der Mensch vor Gott eigentlich nur als ein Ohnmächtiger empfinden kann, der aus eigener Kraft nichts vermag und alles nur als Glaubender geschenkt bekommen kann. Ein anderer Punkt: Ich hatte zur Vorbereitung dieser Tagung das Manuskript von 1929 mit der späteren philosophischen Meditation verglichen und alles, was wörtlich übereinstimmt, markiert. Und interessanterweise sind genau die Äußerungen zur Ethik 1929 noch nicht angelegt. Dieses große Kapitel über Kant und die Darlegungen über die Rolle des Miteinanders, das sind Einträge, die er gegenüber 1929 erst 1964 bringt, so daß ich schon denke, daß da eine Linie gezogen werden kann: 1929 nur Paulus, 1964 wird der Paulus-Aufsatz um Kant und Autonomie und menschliches Miteinander erweitert, und dann läuft das in das „Prinzip Verantwortung“ hinein. Daß Jonas am Ende immer noch davon ausgeht, auch im „Prinzip Verantwortung“, daß der Mensch letztlich ein unvollkommener ist, das wird auch deutlich, wenn man Jonas’ Anliegen im Gespräch mit Bloch untersucht. Worum geht es ihm da? Er wehrt sich gegen ein Prinzip Hoffnung, das die Möglichkeit eines vollkommenen, eines ethisch integren Menschen bietet. Nach Jonas müssen wir uns damit abfinden, daß der Mensch in letzter Konsequenz auch als Ebenbild Gottes ein Sünder, ein unvollkommener Mensch bleibt. D. Böhler: Vielen Dank, Herr Lenzig, auch für diese, unsere Editionsarbeit fördernde Bemerkung, die mich dazu bringt, noch einmal kurz an einen Dissens anzuschließen. Sie sagten, daß Jonas erst 1964 Kant in Bezug auf das menschliche Miteinander und weitere auf Verantwortung zielende ethische Aspekte eingetragen hat. Indem er das tut, geht er m. E. über das Denkschema hinaus, dem er zu Anfang noch stark verhaftet ist: das Subjekt-Objekt-Schema nämlich, das wir am Begriff der Selbstobjektivation diskutiert haben. Ich hatte Ihnen gegenüber, Herr Lenzig, eingewandt, daß die höchste Freiheit wohl kaum in der Selbstobjektivation bestehen könne, sondern im argumentativen Diskurs als © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 45 Diskussion der Fähigkeit bestehen müsse, auch faktische Selbstobjektivationen aufzulösen, vor allem dann aufzulösen, wenn sie zu einer Verdinglichung führen. Hier stellt sich nun die Frage auch an die Editionsarbeit: Wo unterscheidet Jonas eigentlich kritisch zwischen harmloser Selbstobjektivation, um die wir ja nicht herumkommen, und verdinglichender Selbstobjektivation in Form eines Mythos, der existentiale Innenphänomene, über die wir doch sprechen können, auf eine Kausalität des Schicksals projiziert? Denn die würde uns von außen determinieren: ‚Erbsünde’ als objektives Verhängnis. Diese Unterscheidung macht er jedenfalls im AugustinusBuch. Ist sie auch im Gnosis-Werk enthalten? Jedenfalls ist dies eine wichtige Unterscheidung – und in dem Augenblick, in dem Jonas sie trifft, wird er schon anschlußfähig an ein Denken jenseits der bloßen Subjekt-Objekt-Beziehung, an ein Denken, das von dem Gemeinsam-miteinander-Kommunizieren und Über-sich-selbstKommunizieren ausgeht, so daß es nicht diese Subjekt-Objekt-, IchNichtich-Problematik bei Fichte und in Jonas’ Paulus-Interpretation perpetuieren muß. Beim späten Jonas kommt dieses Kommunikations- und Diskursbezogene deutlicher heraus, obwohl er auch dann kein Kommunikationsdenker ist, aber er lässt sich dann noch leichter an ein Kommunikationsdenken anschließen. Im Referat von Herrn Bonaldi kam dieser implizite Überstieg zum kommunikativen Diskurs m. E. auch an verschiedenen Punkten ins Spiel, z. B. wo Sie sagten, Herr Bonaldi, daß Jonas gegen die Dialektik der Freiheit zwischen Objektivierung und Nicht-bleiben-Können in der Objektivierung eine entobjektivierende Methode ins Spiel bringt, die über das Subjekt-Objekt-Schema hinausdenkt und das Objektivieren kritisiert – zunächst mit hermeneutischen Mitteln. Beim späten Jonas kommt noch der Gesichtspunkt einer logischen Asymmetrie hinzu: zwischen dem, was wir, aristotelisch gedacht, eigentlich wollen und dem, was wir nicht wollen. Das, was wir nicht wollen, können wir viel eher greifen. Das kennzeichnet die metaethische Asymmetrie, über die ein norwegischer Kollege, Knut Erik Tranøy, nachgedacht hat und die sich in der thomasischen Tradition finden lässt.17 Und gerade weil wir das, was wir nicht wollen, wissen können, schlägt Jonas dann, um dieses Wissen zu kultivieren, die „Heuristik der Furcht“ als ersten Schritt vor, und dann als zweiten, viel präziseren und argumentativ 17 K. E. Tranøy, Asymmetries in ethics, in: Inquiry, vol. 10, S. 351ff. 46 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion greifenderen Schritt das „Gedankenexperiment der Wette“: Welche Wette können wir verantworten – wir als glaubwürdige Diskurspartner, die als solche die Zustimmungsfähigkeit der Menschheit beanspruchen und somit zur Einbeziehung des Anderen verspflichtet sind? (Dieser Ausdruck von Jonas wird übrigens später von Habermas verwendet.) Auf diese Weise versucht Jonas, das Wissen des Nicht-Wollbaren zu einem ausweisbaren Wissen zu machen. Und das wiederum könnte doch eine Verbindung zwischen seinem Rückgriff auf Paulus und seiner späten Verantwortungethik sein. Wenn wir nun zur Diskussion von Professor Wieses Vortrag übergehen und nach dem hermeneutischen Rahmen von Jonas’ GnosisRekonstruktion fragen, so möchte ich im Anschluss an mein Referat und einen früheren Essay18 behaupten: Jonas macht von Heidegger Daseinsanalyse einen moralsensiblen, verantwortungsbezognen und daher glücklicherweise unheideggerschen Gebrauch, dass er deren Geist pointiert überschreitet19 und ein entmythologisiertes Bewusstsein postuliert, welches Raum gibt für moralische Freiheit und Verantwortung. In Jonas’ Hermeneutik ist eine Idee der Selbstverantwortung am Werke, für die eine bloße „Hermeuneutik der Faktizität“ keinen Ansatzpunkt bietet. Und im Sinne dieser Idee entwickelt Jonas (zumal im Augustinus-Buch) eine Kritik an der Verdinglichungstendenz, die jedem Mythos und jedem mythisierenden Dogma, wie bei Augustinus dem Dogma von der Erbsünde, anhafte. Das arbeitet Jonas eher in der Nähe zu Hegel heraus und auch in einer gewissen Nähe zu Ernst Cassirer, der freilich kaum je zitiert wird, meines Wissens ein einziges Mal im ersten Gnosis-Buch. Daß der Weg der Symbolisierung, den der Mensch durch die Kulturgeschichte gehe, zunächst beginnen müsse mit einer naiven verdinglichenden Perspektive. Diese unterstellt, als seien auch die inneren Phänomene, etwa mein Empfinden, einerseits einen freien Willen (Paulus, Augustinus) zu haben, andererseits doch das zu tun, was mit diesem Willen letztlich gar nicht übereinstimmt, objektivierbar und kausal erklärbar. Denn solche 18 19 D. Böhler, Hans Jonas-Stationen, Einsichten und Herausforderung eines Denklebens, in: ders.(Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994, S. 45-47, bes. S. 50ff. Hier besteht Dissens zu der Darlegung von Professor Wolfgang Erich Müller, die er (nach dieser Diskussion) in Berlin vorgetragen hat: W. E. Müller, Hans Jonas und die Hermeneutik der Faktizität, Vortrag am Hans Jonas-Zentrum, Freie Universität Berlin, März 2008, bes. S. 5ff. und 11ff. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 47 Diskussion Phänomene werden vom Mythos objektiviert, als seien sie Naturverhängnisse oder eine schicksalhafte Kausalität. Jonas’ Kritik daran eröffnet den Blick auf Selbstverantwortung, der von Heidegger absolut nicht eröffnet wird. Das müßte man aus den GnosisBänden vielleicht herausholen und von dort her die Brücke schlagen zum Augustinus-Büchlein, in dessen Anhang das Konzept der Entmythologisierung noch deutlicher wird. Dort hat Jonas den Begriff der Entmythologisierung zum ersten Mal gebraucht, wohlgemerkt nicht Bultmann, nicht der Lehrer, sondern der Schüler, und zwar im Kontext einer Hermeneutik des verantwortungsbezogenen, daher moralischen Selbstverhältnisses. Was ich noch gern erfahren würde: Inwiefern werden denn die drei Gesichtspunkte, die Sie, Herr Wiese, herausgearbeitet haben, als Hauptelemente des Gnosis-Mythos, so wie Jonas ihn rekonstruiert, inwiefern werden sie heute radikal in Frage gestellt, also der Glaube an den Entfremdungscharakter der Welt, die Dualismus-Perspektive, die Vorstellung, ein böser Demiurg habe diese Welt erschaffen? Und man kann vielleicht noch hinzufügen: der antijüdische Affekt der Gnosis. Wird das alles von der gegenwärtigen Forschung in Frage gestellt? Eine weitere Anmerkung: Jonas übt Kritik, wie Sie mit Recht gesagt haben, an Heideggers nihilistischen Implikationen, sodann an dem Fehlen ethischer Kategorien bzw. an dem Fehlen der Kategorie Verantwortung, wofür bei Heidegger zunächst allenfalls Selbstsorge steht, was sich dann bis zu Foucault fortsetzt, die dann irgendwie – wohl durch das Hannah Arendt-Erlebnis – zur Fürsorge erweitert wird als ein defizienter Modus von Sorge, kein Begriff eigener Wertungskraft. Sind es nur ethische Kategorien, die fehlen? Oder ist es sogar sein Verständnis der Philosophie, welches bei Heidegger dazu führen muß, daß ethische Kategorien fehlen? Bei Husserl – und deshalb war ich auch so begeistert über Jonas’ kleinen Aufsatz über Husserl und Heidegger – rühmt Jonas die Auffassung der Philosophie als Selbstverantwortung und sagt, es sei typisch, daß ein Jude den Begriff der Selbstverantwortung in die Philosophie eingebracht habe. Und so hat es wohl ein gewisses ethisches Recht, ihn den „Rabbi von Göttingen“ genannt zu haben, obwohl er selbst mit dem Judentum, überhaupt mit Religiosität, gar nichts zu tun haben wollte. Man kann diese Aufforderung an die Philosophie, sie müsse sich selbst verantworten, sie müsse ihre Kategorien einholen können, auf Hegel zurückführen, jedenfalls auf die Tendenz, Hegels Philosophie deswegen 48 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion als spekulativ zu begreifen, weil sie im guten Sinne auf Selbsteinholung, auf ein Sich-Spiegeln, angelegt sei. Das ist auch der Begriff, der gewissermaßen von Hegel bis zu Apel und der Diskursethik geht. Bei Husserl wird dieser Begriff zwar auch aus dem Rahmen der Subjektphilosophie abgeleitet, doch erst bei ihm heißt er dann Selbstverantwortung. Es ist aber der Andere, vor dem ich mich verantworten können muß, das kommt bei Husserl auch irgendwie ins Spiel, wenngleich – Horst Gronke hat das in seinem Buch vor Augen geführt – Husserl die Intersubjektivität, die er damit in Anspruch nimmt, nie hat einholen können, sondern an „dem Denken des Anderen“ gescheitert ist.20 Das kritisiert Jonas auch ein wenig mit, wiewohl er vor allem Husserls idealistische Tendenz, diese Hilflosigkeit der Leiblichkeit gegenüber, kritisiert. Für die Leiblichkeit war in der deutschen Philosophie kein Platz, wie Jonas sie in Freiburg bei Husserl und dann in Marburg bei dem Denker von „Sein und Zeit“ kennengelernt hat. Leider arbeitet Jonas nicht in gleicher Weise das Fehlen der Intersubjektivität, der Dialogizität, der Reziprozität heraus. Ein letzter Punkt: Warum charakterisieren Sie die Verantwortung für das Projekt Gottes – und das ist ja das Projekt Welt, das Projekt Menschheit, als transzendente Verantwortung? Wenn es eine Verantwortung des Menschen oder der Menschheit sein soll, dann ist es doch eigentlich eine immanente Verantwortung. In der Immanenz soll die Verantwortung für das Projekt des Schöpfers, genannt Welt und Menschheit, von den Menschen wahrgenommen werden. Wenn es eine transzendente Verantwortung wäre, dann wäre es ja eine Verantwortung Gottes für dieses Projekt. Und von dieser Verantwortung hat Jonas nolens volens, aber eher doch volens, Gott entlasten müssen. Denn wenn Gott ein Wesen, welches frei ist, gewollt und geschaffen hat, dann kann er nicht zugleich die Verantwortung für den Fortgang dieses Projektes übernehmen. Dann liegt das Schicksal der Schöpfung nicht mehr in der Hand Gottes, sondern in der Hand der Menschen und ihrer Moral. Ch. Wiese: Wenn ich von transzendenter Verantwortung sprach, meinte ich die menschliche Verantwortung für das Transzendente. Es gibt natürlich das, was Sie beschrieben haben, die rein immanente Verantwortung des Menschen für das Projekt Leben, aber es impliziert auch diese sehr kühnen Spekulationen von Jonas über den Effekt 20 H. Gronke, Das Denken des Anderen, Würzburg 1999. © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 49 Diskussion menschlichen Handelns auf die Gottheit, die sich zurückgezogen hat aus jeglicher Möglichkeit des Einflusses auf die Welt. Es gibt einen Aspekt von Verantwortung für Gott selbst, für das Bild Gottes, das sich verändert mit menschlichem Handeln, also auch für ein vorausgesetztes Gefühlsleben Gottes. Der wesentliche Punkt ist – Jonas versucht, das über den Rückgriff auf die jüdische Mystik bildlich darzustellen –, daß Gott gar nicht eingreifen kann, daß er von seiner Verantwortung für das Böse entlastet ist. Das ist dieses Konzept der Selbstkontraktion Gottes, Zimzum, der sich zurückzieht, um Raum zu schaffen für die Freiheit und für das Handeln des Menschen. Aber dann radikalisiert Jonas dieses Konzept gegenüber der jüdischen Religionsphilosophie, denn in der jüdischen Mystik ist Gott natürlich, auch wenn er sich zurückzieht, um Raum außerhalb sich selbst zu schaffen, noch in der Lage, in diesen Raum hineinzuwirken. Bei Jonas hat Gott überhaupt gar keine Möglichkeit einzugreifen, selbst wenn er wollte, selbst im äußersten Augenblick von Auschwitz. D. Böhler: Gott kann – so Jonas – nur durch die Stimme der Propheten appellieren. Ch. Wiese: Wenn es um die Verantwortung für die Transzendenz geht, da gibt es Stellen bei Jonas, wo er davon spricht, wie Gott betroffen ist durch menschliches Leiden, aber dann besonders durch das Geschehen von Auschwitz, wie Gottes Antlitz dadurch zerstört wird, was auf Erden geschieht. Und Jonas meint nach Auschwitz auch immer das mit, was als Bedrohung der menschlichen Schöpfung geschieht. Durch die Infragestellung seines Projektes ist Gott selbst grundsätzlich in Frage gestellt. Sicherlich müssen die hermeneutischen Voraussetzungen von Jonas’ Deutung der Gnosis sehr viel genauer herausgearbeitet werden, als ich das hier tun konnte – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zum einen muß die ganze intellektuelle Gedankenwelt, die sich um die Gnosis der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts dreht, und nicht nur bei Heidegger und Bultmann, genauer herausgearbeitet werden, welche Vorstellungen von Gnosis dort auftreten und wie sie dann das zeitgenössische Denken beeinflussen. Auch – und das möchte ich hervorheben – müssen vor allem die Arbeiten vor „Gnosis und spätantiker Geist“ genauer analysiert werden. Denn hier liegt der Ideenpool, mit dem Jonas dann die Gnosis 50 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion interpretiert, etwa der Hintergrund Cassirer, die Kritik an der Verdinglichungstendenz usw. Sie fragten auch nach der Infragestellung der von Jonas behaupteten Hauptelemente der Gnosis. Was in Frage gestellt wird in der gegenwärtigen Forschung zur Gnosis ist sogar, ob eine gnostische Bewegung, die man als Gesamtphänomen beschreiben kann, überhaupt bestanden hat, oder ob es nicht eine Vielzahl von unterschiedlichen, nicht miteinander zusammenhängenden religionsgeschichtlichen Erscheinungen sind, ob Hans Jonas hier also nur ein Konstrukt entwirft. Die Frage ist, was bedeutet das, diese Kritik, für die Relevanz von Hans Jonas’ Interpretation? Ist es dann nur noch ein zeit- oder wissenschaftsgeschichtlich spannendes Buch, oder kann man mit Jonas noch arbeiten, wenn man über Gnosis spricht? Aber das betrifft ja dann die ganze Gnosisforschung bis in die neunziger Jahre hinein. Man kann sicherlich grundsätzlich sagen, daß die Grenzen von Hans Jonas’ Deutung darin liegen, daß er natürlich an einer bestimmten Stelle mit der religionsgeschichtlichen Forschung zu den Phänomenen hat Schluß machen müssen, die ganzen Einzelphänomene und die Zusammenhänge zwischen Christentum, Judentum und Gnosis nicht mehr religionsgeschichtlich beschrieben hat. Aber damit wäre nicht gesagt, daß sein philosophisches Verständnis deshalb obsolet ist. Mich interessiert es auch, abgesehen von der Wissenschaftsgeschichte, in erster Linie als ein Element von Jonas’ Werk, seines Denkens und der Entfaltung seines Denkens. Da kommt es sicher darauf an, die Anfänge seiner Interpretation genau deutlich zu machen und zu zeigen, wie sich Elemente seiner Deutung verändern, wie sie sich fortsetzen in anderen philosophischen Interessensgebieten und ob man sagen kann, daß, herausgefordert durch die Begegnung mit der Gnosis, ein antignostisches, antinihilistisches Grundgerüst seiner Philosophie zu erkennen ist, das sich bis in die äußersten Verästelungen durchzieht. Das war ja die These, die ich versucht habe, deutlich zu machen. Das ist sicherlich auch eine Frage, die für die Edition der Werke entscheidend ist. H. Gronke: Wenn ich an Ihre letzte Bemerkung anknüpfen dürfte. Es gibt ja diese merkwürdigen Äußerungen von Hans Jonas, wo er sagt, daß diese drei Phasen seines Schaffens: die frühe religionsphilosophische Phase der Gnosisforschung, dann die mittleren, interdisziplinär angelegten Arbeiten, die in „Organismus und Freiheit“ eingegangen sind, und schließlich das moralphilosophische Werk, das „Prinzip Verantwortung“ und die © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 51 Diskussion Überlegungen zur Anwendung des Prinzips Verantwortung, daß diese Phasen unverbunden sind, daß da kein interner Zusammenhang bestünde. Er habe schlicht mit dem einen begonnen, sich dann einem anderen Thema zugewandt und schließlich wiederum ein anderes Problemfeld bearbeitet. Andererseits ist es doch mehr als offensichtlich, daß es interne Bezüge gibt. Können Sie, als jemand, der sich mit der Entwicklung seines Denkens intensiv befaßt hat, hierzu eine Erklärung geben? Können Sie diesen Widerspruch aufklären? Chr. Wiese: Das ist eine der wichtigen Fragen der Jonas-Deutung. Was man sagen kann, ist, daß er die Bemerkung, die Sie zitieren, die Bemerkungen, in denen er die Unverbundenheit seines Werkes betont, in seinem Aufsatz aus den fünfziger Jahren über „Gnosis, Nihilismus und Existentialismus“ in einer gewissen Weise schon aufgehoben hat., weil er dort ja selber zumindest die Beziehung zur Philosophie des Organischen herstellt. Ich weiß auch nicht, was er dazu sagen würde, daß das antignostische Element auch im „Prinzip Verantwortung“ eine wichtige Rolle spielt. Aber wenn man berücksichtigt, daß er in seinen Vorträgen, die er vor jüdischen Auditorien in den USA hält (zur gleichen Zeit, als er am „Prinzip Verantwortung“ arbeitete), wo er besonders den Gegensatz zwischen Judentum und einer nihilistisch agierenden modernen Naturwissenschaft hervorhebt, dann sieht man, daß da eine Verbindung sein muß zwischen dem, was er in seiner Verantwortungsethik entfaltet, und dem, was ihn infolge seiner Gnosisforschung bewegt hat. B. Herrmann: Es ist freilich darauf hinzuweisen, daß er selbst zwischen seiner ersten und zweiten Phase einen Bruch gesehen hat. Das geht zum Beispiel aus einem Brief an Leo Strauss Ende der vierziger Jahre hervor, in dem er schreibt, daß er jetzt mit dem die Philosophie seiner Zeit kennzeichnenden Historismus nichts mehr zu tun haben wolle, an dem er auch teilgehabt habe, daß er sich nun gegen die verantwortungsfeindliche historistische Tendenz wenden möchte, eben mit seiner philosophischen Biologie. Und dann noch einen weiteren Hinweis: Später hat er ja die Philosophischen Mediationen über den Römerbrief geschrieben. Und zuvor, als er nach einem Beitrag zur Festschrift für Bultmann gefragt wurde, hat er geantwortet, daß er zwar jetzt mit der Thematik gar nichts mehr zu tun habe, sich aber für die Festschrift noch einmal an seine Wurzeln erinnern werde. 52 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion Chr. Wiese: Natürlich betonte Jonas immer wieder, wenn er auf die Gnosisforschung angesprochen wurde, seinen Bruch mit seinen Forschungsinteressen, auch seinen Bruch mit Heidegger, und setzte dagegen die neue Qualität seiner Philosophie des Organischen. Das möchte ich nicht in Frage stellen. Aber ich glaube, daß sich in den Fragestellungen etwas Verbindendes findet. Natürlich ist die Philosophie des Organischen eine Gegenphilosophie zu Heidegger und gegen die idealistische Tradition des 19. Jahrhunderts. Ich glaube, seine Werkphasen sind verbunden durch Widerspruch zu früheren Phasen zum Beispiel. Die Themen, die ihn verfolgen, der Bruch mit Heidegger, heißt ja nicht, daß er sich nicht mehr mit Elementen Heideggerschen Denkens befaßt oder daß diese ihn nicht mehr beeinflussen. Er greift Fragestellungen auf, die auch bei Heidegger zu finden sind, etwa die Frage des Todes oder der Technologie. Er greift sie im Widerspruch zu Heidegger auf und denkt sie neu. Es gibt Motive und Grundinteressen, die sich durchziehen, und es gibt Grundentscheidungen, die bleiben, zum Beispiel die gegen den Nihilismus. D. Böhler: Das könnte eine salomonische Perspektive für die Edition sein. Motive und Fragestellungen bleiben – natürlich werden sie weiter differenziert – vom Abituraufsatz an. Etwa das Motiv der Verantwortung für die Welt. Warum? Wenn der Schöpfer sie in seinen Händen hielte, würde uns ja nicht diese Verantwortung zufallen. Ich möchte auch auf das Gedicht des Physikers Shmuel Samburski über Jonas „Zur Ontologie des Lebens“ hinweisen, das während der vierziger Jahre im Jerusalemer „Pilegesch“-Kreis der deutschen Emigranten um Scholem enstanden ist.21 Chr. Wiese: Das ist für mich das Faszinierende an Jonas’ Werk, daß es diese fundamentale Grundidee gibt, die dann in den Erfahrungen und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts immer wieder neu gedacht und neuen Herausforderungen ausgesetzt werden muß. Bestimmt gibt es dort starke Neuaufbrüche an verschiedenen Stellen; aber im Lichte der Erfahrungen 21 Siehe oben S. 5 als Motto. Zum „Pilegesch“-Kreis: H. Jonas, Erinnerungen, Frankfurt a.M. 2003, bes. S. 146-166 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 53 Diskussion des 20. Jahrhunderts werden vergleichbare Fragestellungen in immer wieder neuen Kontexten gestellt, diese werden in rein philosophischen, ethischen und religionsphilosophischen Perspektiven entfaltet. Und das macht auch die faszinierende Vielfalt aus, wo man sich dann fragt, wie hängen diese Dinge miteinander zusammen; aber auf der anderen Seite ist das auch eine philosophische Vielfalt, die man sonst eher selten hat. Was die Gnosis-Rezeption im allgemeinen angeht, so ist sie sowohl in der deutschen als auch in der amerikanischen Forschung weiterhin von Bedeutung. Die Tatsache, daß Jonas’ englisches Gnosis-Buch immer wieder neu aufgelegt wird, zeigt, daß es in den USA, bei den amerikanischen Religionswissenschaftlern und Theologen, nicht an Wirkungskraft verloren hat. Es ist das Werk, über das man in den USA Jonas kennt. Daher ist es wichtig, gerade auch hier anzusetzen, wenn man Jonas’ Wirkungsgeschichte aufarbeiten und untersuchen möchte, was heute noch Bestand hat. Ein anderer Gesichtspunkt ist seine Einbettung in die religionsgeschichtliche Tradition seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, auf der seine Deutung basiert. Es ist sicherlich eine komplexe Aufgabe, das zu beschreiben. H. Gronke: Bei dem populären Gnosis-Band „The Gnostic Religion“, auf den Sie sich hier beziehen, stellt Jonas kaum methodologische Erörterungen an, er steigt sozusagen direkt in das Feld der Forschung ein. Bei seinen ursprünglichen Hauptwerken zur Gnosis hat er sehr ausführliche Einleitungskapitel, in denen er die Prinzipien seiner Herangehensweise darlegt, und das ist eben seine existenziale Herangehensweise. Nun hat ja unter anderem Micha Brumlik, z. B. unter Bezugnahme auf Schoeps und Aland, eine Kritik vorgebracht, die darauf hinausläuft, daß eine existenziale Deutung gar nicht möglich sei, daß auch Jonas letztlich psychologisch ansetze.22 Jonas thematisiere Stimmungen, etwa Neid, und solche Deutungen könne man nicht existenzial nennen. Um diesen Disput zu klären, wäre es erst einmal wichtig, genau zu fassen, worin eigentlich der Unterschied zwischen einer psychologischen oder soziologischen Deutung einerseits und einer existentialen Deutung andererseits besteht. 22 M. Brumlik., Ressentinment – Über einige Motive in hans Jonas’ frühem Gnosis-Buch. In: Chr. Wiese u. E. Jacobson (Hg.), Weiterwohnlichkeit der Welt. Zur Aktualität von Hans Jonas. Berlin 2003, S. 127 - 147 54 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 Diskussion Jonas selbst hat seine Vorgehensweise ja dadurch abgegrenzt, daß er folgendes nicht tun will: religiöse Elemente auffinden und sie nach einem gewählten, möglichst passenden Gesichtspunkt einander zuordnen. Wenn man existential vorgeht, dann sammelt man nicht Phänomene verschiedener Strömungen und schaut, was zufälligerweise zusammenpaßt, ordnet diese dann unter einem Gesichtspunkt und gewichtet sie schließlich. Das ist, und die klassische Gnosisforschung war dadurch stark gekennzeichnet, eine unphilosophische Zugangsweise. Was mich nun interessiert: Wie würden Sie, Herr Wiese, diese Unterscheidung sehen? D. Böhler: Es dürfte auch die Unterscheidung sein, existential versus existentiell. Chr. Wiese: Die Existentialanalyse des gnostischen Selbstverständnisses fasse ich so auf, daß sie ein Versuch der Interpretation des Daseinsverständnisses der antiken Welt ist. Jonas sucht und findet mit den Mitteln der Existentialanalyse etwas, was er als zusammenhängendes Element des antiken Daseinsverständnisses sehen kann, dieses Gefühl der Unbehaustheit im Kosmos. Und Jonas fragt sich dann, welche ethischen Verhaltensweisen aus diesem Daseins- und Kosmosverständnis, das im Gegensatz zum griechisch geprägten Verständnis des Kosmos als Harmonie steht, sich daraus ergeben. Jonas kann zeigen, daß das Daseinsverständnis, das Jonas in der Gnosis findet, Angst, Indifferenz oder Revolte gegen den Kosmos mit einschließt, aber nicht Verantwortung. J. Sikora: Hans Jonas hat ja noch einen weiteren Schritt getan, er hat nicht nur die Gnosis existential zu interpretieren versucht, sondern umgekehrt den modernen Existentialismus von Nietzsche, Heidegger und Sartre aus gnostischer Perspektive gedeutet. D. Böhler: Ja, er hat Heidegger gleichsam mit gnostischen Augen gelesen. Darin verkörpert sich eine hermeneutische Selbsterkenntnis: Ich bin mit Kategorien Heideggers (Angst, Geworfenheit, Sorge, Verzweiflung, Vorlaufen in den Tod usw.) ausgezogen, weil das transzendentale Kategorien zu sein beanspruchen – existential ist eigentlich der Folgebegriff von transzendental. (Heidegger hat sich ja zunächst als Aufheber des Neukantianismus und damit der Transzendentalphilosophie © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008 55 Diskussion verstanden. Das kann man in der kurzen Selbstdarstellung in der 2. Auflage der RGG unter „Heidegger“ nachlesen, einem Artikel, den Heidegger selbst geschrieben hat und der von Bultmann redigiert worden ist.) Jonas erkennt, daß es im Weltverhältnis selbst Entsprechungen zu dem Daseinsverständnis desjenigen gibt, der die Kategorien eingeführt hat, mit denen das Weltverhältnis gedeutet worden war. H. Gronke: Ich sehe hier ein Problem. Solche Kategorien wie etwa Geworfenheit zur Deutung zu verwenden, muß doch nicht unbedingt heißen, daß es Analogien im Daseinsverständnis zwischen moderner und antiker Zeit geben muß. Geworfenheit soll doch eine Grundhaltung des Menschen kennzeichnen. Der Mensch sei immer schon in eine bestehende, vorinterpretierte Welt geworfen. Dieses Vorverständnis soll es uns ermöglichen, historische Phänomene wie überhaupt die Welt zu verstehen. Es scheint mir ein Kategorienfehler zu sein, dieses Verständnis von Geworfenheit bestimmten Zeitepochen zuzuordnen und daraus Präferenzen für Deutungszugänge zu ihnen abzuleiten. Wäre damit die Transzendentalphilosophie resp. Existentialanalyse nicht historistisch mißverstanden? Chr. Wiese: Geworfenheit ist wohl eine immerwährende Konstante des Daseinsverständnisses, aber sie kann zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich aufgefaßt werden. Aus Jonas’ Sicht wird das Bewußtsein von Geworfenheit im 19. Jahrhundert nochmals radikalisiert, weil hier auch der Transzendenzbezug verloren geht. Das Gefühl der Unbehaustheit in einem seelenlosen Kosmos gewinnt so an Schärfe gegenüber der Daseinshaltung der Gnosis. Das schreibt Jonas, während er in der Philosophie des Organischen bereits das Andere des Nihilismus denkt, nämlich daß trotz dieser Situation eine Werthaftigkeit des Menschen und der Welt gegeben ist. 56 © Hans Jonas-Zentrum g.e.V. 2008