Station V – Heinrich Rickert

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STATION V – HEINRICH RICKERT
Station V – Heinrich Rickert
Biographie
Heinrich Rickert wurde am 25. Mai 1863 in Danzig geboren und starb am
30. Juli 1936 in Heidelberg.
Ohne Abitur verließ Rickert 1884 das Graue Kloster in Berlin, um in der
Folge literaturwissenschaftliche und philosophische Vorlesungen an der
Universität Berlin zu besuchen. 1885 wechselte er nach Straßburg, wo er
sein Abitur nachholte und begann dort auch mit dem Studium der Philosophie, der Nationalökonomie und der Psychologie. Seine Promotion wird
auf das Jahr 1888 datiert. 1891 folgt die Habilitation in Freiburg, wo ihm
1896 eine ordentliche Professur angetragen wird. Im Dezember 1915 folgt
die Berufung nach Heidelberg. Dort trifft er auf Karl Jaspers und tritt mit
ihm in eine wissenschaftliche Auseinandersetzung ein. Seine Lehre gilt als
vom frühen Fichte und von Kant beeinflusst, so dass man ihn als das
Haupt des südwestdeutschen Neukantianismus bezeichnen wird; diese
Deutung findet allerdings keine Zustimmung seiner Person.
Sein Werk Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, aus
dem die folgenden Passagen entnommen sind, erlangt interdisziplinäre
Aufmerksamkeit und Gegnerschaft. Seine Philosophie lässt sich vielleicht
am ehesten mit dem Begriff der Wertphilosophie umschreiben, in deren
Folge er in seiner Einteilung die Naturwissenschaften als generalisierende
und die Geisteswissenschaften als individualisierende Wissenschaften
unterscheiden wird.
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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK
Die Kurzbiographie stützt sich auf folgende Artikel:
Bost, Rainer A.: RICKERT, HEINRICH JOHN.
In: NDB. Hg. v. der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der
Wissenschaften. Berlin: Duncker und Humblot, 2003 (Bd. 21) S. 550–552.
Veraart, Albert: RICKERT, HEINRICH.
In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hg. v. Jürgen Mittelstraß.
Stuttgart, Weimar: Metzler, 1995 (Bd. 3) S. 621–622.
Literatur zum Werk Rickerts
Bohlken, Eike: GRUNDLAGEN EINER INTERKULTURELLEN ETHIK.
Perspektiven der transzendentalen Kulturphilosophie Heinrich Rickerts.
Würzburg: Königshausen und Neumann 2002.
Krijnen, Christian: NACHMETAPHYSISCHER SINN.
Eine problemgeschichtliche und systematische Studie zu den Prinzipien der
Wertphilosophie Heinrich Rickerts.
Würzburg: Königshausen und Neumann 2001.
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STATION V – HEINRICH RICKERT
Die folgenden Passagen sind entnommen aus Heinrich Rickert: Die Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Tübingen: Mohr Siebeck 1929. Die Teilüberschriften entsprechen dabei nicht unbedingt der Originalschrift.
Reale Vorgänge und irreale Gebilde
Die folgende Passage ist auf den Seiten 533 ff. zu finden.
Wir haben uns bisher bewußt auf das Material des Historikers beschränkt,
das zum wirklichen Geschehen zu rechnen ist. Das war berechtigt, ja notwendig, denn auf zeitlich ablaufende reale Vorgänge bleibt das Interesse
der Geschichte, die in dem angegebenen Sinn geradezu die Wirklichkeitswissenschaft genannt werden kann, in erster Linie als auf ihren eigentlichen Stoff gerichtet. „Historisch“ im weitesten Sinn sind reale Tatsachen
an bestimmten Stellen des Raumes und der Zeit. Von diesem Begriff des
Geschichtlichen gingen wir aus, und ihn können wir zwar inhaltlich näher
bestimmen, aber niemals aufheben wollen. Zugleich stellt der Historiker
jedoch, wie wir wissen, das wirkliche Geschehen nicht um seiner Wirklichkeit willen dar, sondern soweit, als an ihm etwas haftet, das über sein bloß
reales Dasein hinausweist. Das brachten wir bisher so zum Ausdruck, daß
wir sagten, es müsse die geschichtliche Realität theoretisch auf Werte bezogen sein, um für den Historiker „wesentlich“ zu werden, und wir haben
die Art der Werte, welche die geschichtliche Auswahl leiten, dadurch charakterisiert, daß wir sie die Kulturwerte nannten. Als Beispiel für die verschiedenen Kulturgebiete kamen unter anderem auch Recht, Moralität, Sittlichkeit, Religion, Kunst, kurz das in Betracht, was Hegel objektiven oder
absoluten Geist nennt. Solche Geistesgebilde gehören nun, falls man reale
Vorgänge im Seelenleben damit meint, nach den bisherigen Bestimmungen
nicht allein zum geschichtlichen Material überhaupt, sondern zu den historischen Zentren der geschichtlichen Darstellung, deren leitende Werte
an den genannten Kulturgütern haften, und soweit ist dann alles klar. Doch
kann man unter „Geistesgebilden“ zugleich noch etwas völlig anderes ver-
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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK
stehen, und zwar etwas Irreales, das uns in einem früheren Zusammenhang schon begegnet ist. Das wird jetzt, wo es sich um eine genauere inhaltliche Bestimmung des historischen Stoffes handelt, für uns wichtig.
Wir wiesen wiederholt darauf hin, daß „Unkörperliches“ nicht notwendig
reales Psychisches zu sein braucht. Es gibt vielmehr Gebilde, die weder
zum körperlichen noch zum seelischen Geschehen gehören, also überhaupt
nicht als empirische Wirklichkeiten, die zeitlich ablaufen, begriffen werden
können, trotzdem aber jedem unmittelbar bekannt sind und deshalb auch
nicht in ein metaphysisches Jenseits verlegt werden dürfen. Zu diesem in
jeder Hinsicht unwirklichen Reich mussten wir z.B. die „Bedeutung“ eines Wortes oder den theoretischen „Gehalt“ eines Urteils rechnen. Jeder
Denkende versteht ein solches Gebilde als dasselbe, der es überhaupt „versteht“. Daß umgekehrt zum „Verstehen“ notwendig ein irrealer „Gegenstand“ gehört, falls das Wort seine prägnante Bedeutung nicht verlieren
soll, werden wir später sehen. Zunächst ist wichtig: die realen Denkakte
des Verstehens oder auch des „Meinens“ sind trotz der Identität des verstandenen Gegenstandes in jedem Individuum andere, d.h. höchstens
einander gleich, soweit Realitäten überhaupt einander gleichen, aber
niemals wie das gemeinsam Verstandene identisch. Schon früher stellten
wir die Frage, ob solche von vielen Individuen gemeinsam unmittelbar zu
„erlebenden“ unwirklichen Gebilde nur im Gebiet des Theoretischen und
Logischen vorkommen, und es ist nicht schwer, zu zeigen, daß es noch
anderes Irreales gibt.
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STATION V – HEINRICH RICKERT
Im Blick auf die Geistesgebilde differenziert Rickert zwei Perspektiven.
123. Wie wäre der Bezug zwischen realen Vorgängen und dem, was über
das reale Dasein hinausweist, das Irreale, bei Rickert gestaltet und was
bedeutet dies im Hinblick auf Kultur, Werte und Gebiete? Setzen sie diesen Komplex in Zusammenhang mit dem Begriff des absoluten Geistes!
124. Erläutern sie die Aufteilung in Reales und Irreales und ordnen sie Begriffe bzw. Begriffspaare, welche Sie im Text finden, begründet darunter
ein!
Einige Begriffe entziehen sich einer eindeutigen Zuordnung. Erläutern
sie warum!
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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK
Kulturwissenschaft und irrealer Sinn
Die folgende Passage ist auf den Seiten 535 ff. zu finden.
Das wird jetzt bedeutsam, da unter der Voraussetzung, daß solche Gebilde
unwirklich sind, das, was die Kultur von „geistiger“ Art zur Kultur, d.h.
wertbezogen macht, ebenfalls eine unwirkliche Welt zu sein scheint. Ist
das aber zutreffend, dann sieht es so aus, als dürften wir das Material der
Geschichte nicht „Kultur“ nennen, denn die historischen Wissenschaften
wollen doch reale Vorgänge, nicht unwirkliche Gegenstände darstellen. Oder
sollte es etwa falsch sein, daß der Historiker stets wirkliches Geschehen,
das zeitlich abläuft, zu begreifen sucht? Ja, sollte die Geschichte vielleicht,
gerade insofern sie Kulturwissenschaft ist, eine Wissenschaft von irrealen Gebilden sein, also außer ihrem wirklichen auch ein unwirkliches „Material“ haben?
Um hierüber zur Klarheit zu kommen, fassen wir den Begriff der Kultur noch
von einer anderen Seite als bisher ins Auge. Es haftet an ihm in der Tat
eine Zweideutigkeit, die wir wenigstens soweit zu beseitigen haben, als
die genaue Bestimmung unseres Begriffes der historischen Kulturwissenschaften es erfordert. Zugleich werden wir im Zusammenhang damit zu einigen anderen viel behandelten Problemen der Geschichtstheorie
und zu einer endgültigen Erledigung der Gedanken kommen, die manchen
noch immer veranlassen, an dem Begriff der Geisteswissenschaft für die
Geschichte festzuhalten. Vor allem wird sich dann auch zeigen, wie wenig
unsere logische Untersuchung mit den Theorien der Geschichtswissenschaften in Konflikt zu kommen braucht, die von den Unterschieden in
den Stoffen der wissenschaftlichen Darstellungen ausgehen und dabei Begriffe wie den des historischen „Verstehens“ im Gegensatz zu dem des naturwissenschaftlichen „Erklärens“ in den Vordergrund rücken. Ja, es muß
sich ergeben, daß nur auf unserem Wege, der in der „Kultur“ das reale
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STATION V – HEINRICH RICKERT
geschichtliche Sein von den irrealen Gebilden begrifflich trennt, die daran
haften, Probleme wie die des geschichtlichen „Verstehens“ philosophisch
in Angriff zu nehmen und ihrer Lösung näher zu bringen sind. Auch bei
der Frage nach dem Wesen des Verstehens kommt man ohne den Begriff
des Irrealen nicht aus.
Schon der Umstand, daß wir bei der Bestimmung des historischen Materials von den Werten ausgehen mußten, welche die historische Begriffsbildung leiten, und von hier aus erst den Begriff der Kultur gewinnen konnten, unter den der Stoff der Geschichte fällt, macht die erwähnte Zweideutigkeit des Kulturbegriffs begreiflich, die für manche Theorien der
sogenannten Geisteswissenschaften so verhängnisvoll geworden ist. Der
Ausdruck Kultur teilt diese Zweideutigkeit nämlich mit manchen Begriffen, die sich nicht auf bloße Wirklichkeiten als solche beziehen, sondern
auf reale Vorgänge, die wegen ihrer Wertbezogenheit eine über ihr reales
Dasein hinausgehende „Bedeutung“ oder einen „Sinn“ besitzen. Werte sind
als Werte nie wirklich, sondern gelten, d.h. real dürfen nicht die Werte
selbst, sondern erst die Güter genannt werden, in denen sie sich „verwirklichen“, und an denen wir sie auffinden. Ebenso gehört der Sinn, den eine
Wirklichkeit mit Rücksicht auf einen Wert bekommt, nicht selbst zum wirklichen Sein, sondern besteht nur mit Rücksicht auf einen geltenden Wert
und ist insofern selbst unwirklich. Unter Kultur verstehen wir dementsprechend einmal das reale geschichtliche Leben, an dem ein Sinn haftet, der
es zur Kultur macht, und außerdem können wir damit auch den unwirklichen „Gehalt“ für sich genommen meinen, wie er als Sinn eines solchen
Lebens losgelöst von allem realen Sein zu denken ist und sich mit Rücksicht auf die Kulturwerte deuten läßt. Im „sinnvollen Leben“ selbst geht
beides ineinander. In seiner Theorie muß es getrennt werden.
Als Beispiel für die Scheidung von realem Sein und irrealem Sinn brauchen wir wieder nur auf das wirkliche psychische Urteilen einerseits und
auf seinen unwirklichen logischen Gehalt andererseits hinweisen, der allein in der eigentlichen Bedeutung des Wortes „wahr“ oder theoretisch
werthaft ist und insofern völlig unabhängig von dem psychischen, weder
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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK
wahren noch falschen, weil bloß realen Sein besteht, das ihn auffaßt. Die
wirklichen Akte des theoretischen Meinens und Verstehens fallen niemals
mit dem (immanenten oder transzendenten) logischen „Sinn“, der allein
wahr oder falsch, d.h. theoretisch wert- oder sinnhaft sein kann, zusammen. Diese Trennung müssen wir jetzt nicht nur auf die wirkliche Wissenschaft als einen historischen Vorgang, d.h. auf die forschenden und verstehenden Menschen mit ihren wissenschaftlichen Werken, sondern auch
auf die anderen, d.h. die atheoretischen Kulturgüter anwenden, welche die
Geschichte in ihrer einmaligen Entwicklung darstellt, also z.B. bei dem Worte
„Kunst“ nicht allein an die realen Kunstwerke und die Menschen, die sie
schaffen oder auffassen, sondern ebenso an den unwirklichen künstlerischen „Sinn“ denken, dessen Träger die historischen Vorgänge sind. Verallgemeinern wir diese Scheidung, so erhalten wir überall einmal die Kultur als die Realität, an der ein Sinn haftet, im andern Falle ist dagegen der
von ihr begrifflich abgelöste irreale Sinn oder „Geist“ gemeint. Mit anderen Worten: Kunst, Wissenschaft, auch Religion, Recht, Politik usw. bedeuten erstens sinnvolle Realitäten und zweitens Gebilde, die ebenso wenig wirklich sind wie der gültige Gehalt wissenschaftlicher Wahrheiten, und
die wir daher stets ausdrücklich irreale Sinngebilde der Kultur nennen
wollen, um sie, ohne auf ihre Unterschiede im einzelnen näher einzugehen, sorgfältig von den geschichtlichen Kulturwirklichkeiten, an denen
sie haften, zu trennen.
Halten wir daran fest, so ist schon dadurch die vorher berührte Schwierigkeit, nach der es ungewiß schien, wie weit die Geschichte es mit Wirklichkeiten zu tun habe, falls sie Kulturwissenschaft sein soll beseitigt. Wenn
wir nämlich sagen, alle Geschichte stelle menschliche Kultur in ihrem einmaligen Werden dar, dann haben wir nicht die Sinngebilde in ihrer begrifflichen Losgelöstheit als irreale Gegenstände, sondern die sinnvollen realen Vorgänge im Auge, die Träger dieser Sinngebilde sind, und auf deren
wirkliche Entwicklung es dem Historiker ankommt. Damit ist der Begriff der
historischen Kulturwissenschaft von jeder Zweideutigkeit befreit. Die Geschichte behandelt als Realwissenschaft nicht den unwirklichen Gehalt der
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STATION V – HEINRICH RICKERT
Kultur in seiner begrifflichen Isolierung, sondern die sinnvollen Kulturwirklichkeiten in ihrem einmaligen zeitlichen Verlauf.
125. Was hat Rickert an dem Begriff der Geisteswissenschaft für die Historie auszusetzen?
a)
Zeigen sie hieran, dass das Begriffspaar: materiell – immateriell zu einer problematischen Argumentationsebene führt. Inwiefern wird diese
Problematik nun durch das Begriffspaar: real – irreal aufgelöst.
b)
These: Die so genannten Natur- wie Geisteswissenschaften erfahren
dadurch eine Verschärfung ihrer Methode sowie eine Erweiterung ihres
Gegenstandsbereiches. Diskutieren Sie!
126. Ordnen Sie die Begriffe: Wirklichkeit, Unwirkliches, Sinn, Werte und Güter
und beziehen Sie sich dabei auf die Zweideutigkeit des Kulturbegriffs.
Inwieweit wird für die Kulturwissenschaft durch besagte Zweideutigkeit
der Sinn Gegenstand ihres Forschens?
127. Wieso kann psychisches Sein nicht mit den Begriffen ‚Wahr‘ oder ‚Falsch‘
in der eigentlichen Bedeutung der Wörter belegt werden?
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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK
Kulturwissenschaft als Anspruch einer kritischen Reflexion
geisteswissenschaftlicher Methodik
Die folgenden Passagen sind auf den Seiten 560–565 zu finden.
Es muß, damit das Wort nicht seine prägnante und in der Methodenlehre
brauchbare Bedeutung verliert, unter Verstehen das Erkennen eines
besonders gearteten Materials der Wissenschaft gemeint sein, was man
negativ so zum Ausdruck bringen kann, daß man sagt, es handle sich stets
um mehr als um ein Erfassen von realen Gebilden, die sich beschreiben
oder als bloß real auch erklären lassen. Positiv bedeutet das: was nicht in
irgendeiner Weise Wert und Sinn ist oder hat, bleibt „unverständlich“ und
kann daher, falls es überhaupt der Wissenschaft zugänglich ist, ebenso
wie die wert- oder sinnfreien Realitäten der Natur in der weitesten Bedeutung dieses Wortes, lediglich beschrieben oder erklärt werden. So allein
kommen wir über die meist vorhandene Unbestimmtheit des Begriffes vom
Verstehen hinaus. (Fußnote: Charakteristisch für sie ist z.B. Ditheys Satz
in der Sigwart-Festschrift, 1900: „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir
aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen,
Verstehen.“ Was ist ein Inneres? Darauf kommt doch alles an. Wir wissen,
wie nichtssagend der Begriff des Inneren ist, und selbst wenn wir davon
absehen: mit dem Inneren als dem Psychischen reicht man beim Problem
des Verstehens nicht aus. Die Zeichen, die „von außen“ gegeben sind,
müssen gerade mehr als ein reales „Inneres“ erkennen lassen. Sonst bleiben sie unverständlich.) [...]
Nehmen wir nun aber den Gegensatz von Verstehen und Erklären so, und
beschränken wir uns damit streng auf den angedeuteten berechtigten
„Kern“ der Theorien, die von der unerklärbaren Einheit der geschichtlichen Gegenstände sprechen, dann muß gegenüber dem Unterschied von
seelischem und körperlichem Sein der Unterschied von Verstehen und Er-
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STATION V – HEINRICH RICKERT
klären noch indifferent bleiben, denn es ist einerseits nicht einzusehen,
warum es nicht wert- und sinnfreies Seelenleben geben soll, das man erklärt, indem man es in seine Teile zerlegt, oder warum wir nicht Seelenleben so darstellen wollen, wie es unabhängig von einem daran haftenden
Wert oder Sinn als wirklicher, rein „natürlicher“ Vorgang zeitlich abläuft;
und andererseits lassen sich auch Körper verstehen, falls sie wie z.B.
Kunstwerke einen ästhetischen Wert oder Sinn zum Ausdruck bringen. Ja,
wenn wir uns auf unmittelbar gegebene Wirklichkeiten beschränken, bieten sich uns außer dem eigenen Seelenleben unmittelbar nur Körper dar,
an denen ein verständlicher Sinn haftet. Mit der Unterscheidung von Natur und Geist ist also die Unterscheidung von Erklären und Verstehen noch
nicht notwendig verknüpft, es sei denn, daß man bei dem Geist nur an
irreale Sinngebilde denkt. Der Gedanke an eine geisteswissenschaftliche
„Psychologie“ wird wieder völlig problematisch. […]
Das Material, um dessen geschichtliche Darstellung es sich handelt, d.h.
das sinnvolle Seelenleben der Vergangenheit, um jetzt mit ihm und seiner
sachlichen Eigenart zu beginnen, werden wir in seinem Wesen nur dann
begreifen, wenn wir uns stets gegenwärtig halten, daß es aus zwei Faktoren besteht, die in ihm für das unmittelbare „Erleben“ zwar ineinander gehen, von einer logischen Theorie aber streng auseinander gehalten werden müssen, weil sie in zwei völlig verschiedenen Begriffssphären liegen.
Damit ist nichts anderes gesagt, als das, was schon früher in der Bezeichnung „sinnvolles Seelenleben“ zum Ausdruck kam. Das Seelenleben ist
eine Realität. Der Sinn dagegen, von dem es voll ist, oder der es erfüllt,
liegt im Unwirklichen. Der Historiker will nun beides, das Wirkliche wie
das Unwirkliche, in seine Begriffe aufnehmen, und zwar das Wirkliche so,
wie er es als einen in der Zeit abgelaufenen einmaligen individuellen Vorgang faktisch konstatiert, das Unwirkliche so, wie er es in seiner Individualität versteht.
Halten wir das Wirkliche und das Unwirkliche begrifflich in dieser Weise
auseinander, so können wir sagen, daß die Schwierigkeit für den Historiker, sein Material an der Hand der Quellen zu finden, in manchen, ja
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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK
vielleicht in den meisten Fällen mehr auf der Seite des Wirklichen als auf
der des Unwirklichen liegen wird. Das wirkliche Seelenleben nämlich, das
er in seiner faktischen Individualität zu erfassen wünscht, bildet mit der
einzigen Ausnahme des Stoffes einer Selbstbiographie, bei der ein eigenartiger komplizierter Fall vorliegt, niemals das eigene, sondern stets fremdes Seelenleben, und alles Psychische, das in anderen Individuen wirklich
abläuft, kann nach der Voraussetzung, die wir bisher gemacht haben, dem
Historiker niemals direkt zugänglich, d.h. unmittelbar als reales Sein „erlebbar“ werden, während es im Wesen der irrealen Sinngebilde liegt, daß
sie von vielen Individuen, ja im Prinzip von allen unmittelbar zu erfassen
oder zu verstehen sind, wo überhaupt Quellen für sie vorliegen. Wir kommen mit anderen Worten beim fremden sinnvollen Seelenleben unmittelbar zwar eventuell an die Individualität seines irrealen Sinnes, aber
niemals an die Individualität seines realen Seins heran.
128. Wie definiert Rickert im Unterschied zu Dilthey das Verstehen?
129. Verstehen – Erklären, Geist – Natur: Wieso ist diese Analogie nicht
fruchtbar?
130. Welcher methodische Schritt ist für den Historiker notwendig, um das
Seelenleben als sinnvolles Seelenleben zu verstehen?
131. Warum stellt das Auffinden des Materials auf Seiten des Wirklichen für
den Historiker ein größeres Problem dar.
132. Was lässt sich unter der Individualität des irrealen Sinns bzw. der Individualität des realen Seins verstehen?
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STATION V – HEINRICH RICKERT
Die folgenden Passagen sind auf den Seiten 565–575 zu finden.
Um diesen Unterschied stets festzuhalten, den man berücksichtigen muß,
damit man sieht, worin die Schwierigkeit bei der Darstellung des sinnvollen Seelenlebens der Vergangenheit für den Historiker liegt, wollen wir terminologisch so scheiden, daß wir vorläufig nur das Erfassen des irrealen
Sinnes am fremden Seelenleben sein „Verstehen“, das Erfassen des realen fremden seelischen Seins dagegen sein „Nacherleben“ nennen. Dadurch
wird das Problem, das in dem gewöhnlich sogenannten nacherlebenden
Verstehen oder verstehenden Nacherleben steckt, und das in seiner
Ungeschiedenheit nicht einmal als Problem deutlich werden kann, sich klarer stellen lassen. Es muß sich beim historischen Verstehen dann um ein
verstehendes Nacherleben fremden sinnvollen Seelenlebens handeln, welches, wie wir jetzt sagen können, sowohl in der Individualität seines realen Seins „nacherlebt“ wie in der Individualität seines irrealen Sinnes „verstanden“ wird. So sehr dem Historiker nicht allein sein Material als etwas
„Einheitliches“ gelten, sondern auch das nacherlebende Verstehen sinnvollen Seelenlebens der Vergangenheit als ein einheitlicher Akt seiner wissenschaftlichen Erkenntnis erscheinen mag, den er dann mit einem Worte
wie „Einfühlen in fremdes Seelenleben“ bezeichnet, so gewiß ist darin das
Verstehen des irrealen Sinnes, der es erfüllt und das Nacherleben des realen psychischen Vorganges, der zeitlich abläuft, nicht identisch. Wie gehen beide trotzdem im nacherlebenden Verstehen zusammen, und wie ist
diese viel erörterte Tätigkeit des Historikers „möglich“? Das ist die eigentlich „kritische“ Frage nach einer Logik der sogenannten „Geisteswissenschaften“. […]
Wir halten, um uns nicht in uferlose Allgemeinheiten und begriffliche
Verschwommenheiten zu verlieren, an dem Begriff des Psychischen als dem
einer seelischen Wirklichkeit, die in der Zeit abläuft, fest, und solange wir
das tun, kann keine Rede davon sein, daß dasselbe psychische reale Sein
verschiedenen Individuen unmittelbar gegeben ist. Bedeutet „Leid“ einen wirklichen psychischen oder seelischen Vorgang, der an einem be-
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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK
stimmten Punkt der Zeit anfängt zu existieren und an einem anderen Zeitpunkt aufhört, dann können zwei Menschen vielleicht „gleiches“ Leid, aber
niemals „dasselbe“ Leid wirklich fühlen, und zwar ebensowenig wie zwei
Menschen dieselbe Sinnenlust oder denselben Schmerz wirklich empfinden. In dieser Hinsicht gibt es zwischen den verschiedenen psychischen
Vorgängen keinen Unterschied. Wir trennen mit Sicherheit räumlich ausgedehnte Realitäten, die wir Körper nennen, von seelischen Realitäten, die
nicht raumerfüllend sind, und meinen dann mit Recht, daß mehrere Individuen zwar denselben Körper wahrnehmen, daß dagegen alle nicht räumlich ausgedehnten, seelisch realen Gebilde jeder ausschließlich an sich
selbst unmittelbar erlebt. Wir nehmen gewiß an, daß bei den anderen Menschen seelische Vorgänge der Art nach wie bei uns zeitlich ablaufen, aber
niemals können wir an die fremden seelischen Wirklichkeiten unmittelbar
wie an unsere eigenen heran. […]
Das Seelische, das mir unmittelbar gegeben ist, ist doch eben stets mein
Seelisches, während ein mir unmittelbar zugänglicher Körper nicht mein
Körper zu sein braucht. Dieser Unterschied lässt sich nie aufheben. Wenn
ich glauben soll, ein anderer erfahre mein Seelenleben unmittelbar oder
ich das eines anderen, dann müsste doch mein eigenes Seelenleben mit
dem fremden identisch sein. Das aber gibt keinen verständlichen Sinn.
Oder: ist alles mir unmittelbar gegebene Seelenleben etwa nicht mein Seelenleben? Auch damit kann ich keinen Sinn verbinden. Wodurch wollte
ich überhaupt noch eigenes und fremdes Seeleleben voneinander scheiden, wenn nicht dadurch, daß ich das eine in seiner Realität unmittelbar
kenne, das andere dagegen mir nicht unmittelbar als Realität zugänglich
ist? Die Begriffe des „eignen“ und des „fremden“ Seelenlebens verlieren
ohne diese Trennung jeden greifbaren Inhalt. […]
Es gibt Unkörperliches nicht nur als reales psychisches Sein, sondern außerdem als irrealen Sinn, der nicht etwa in einem problematischen Jenseits
der Metaphysik liegt, sondern den wir ebenso unmittelbar und gewiß aus
der Erfahrung kennen, wie die Körper unserer Umgebung oder das eigne
psychische Sein, und der trotzdem weder psychisch noch physisch ist.
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STATION V – HEINRICH RICKERT
Diesen irrealen Sinn, der an körperlichen oder seelischen Vorgängen haftet, können wir alle „verstehen“. Daran zu zweifeln, wäre gerade in der Wissenschaft, die doch in ihrem Sinn verstanden werden soll, absurd. Der Sinn
aber ist, als vom seelischen und körperlichen Sein abgelöster Sinn, weder
unser eigner noch fremder Sinn, denn eigen und fremd in der strengen
Bedeutung der Wörter sind nur seelische oder körperliche Realitäten. Irrealer Sinn dürfte höchstens in übertragener Bedeutung eigen und fremd
genannt werden, insofern er in eignen und fremden Realitäten „lebendig“
geworden ist. Sinn wird auch, was vom psychischen Sein nie gesagt werden kann, von uns mit den anderen Menschen gemeinsam als derselbe
irreale Sinn unmittelbar erfasst, und zwar, wie wir gesehen haben, nicht
als inhaltlich allgemeines Gebilde, sondern in seiner Individualität, ebenso
wie wir alle denselben Körper als Individuum wahrnehmen. Weil wir nun
den irrealen individuellen Sinn des realen Seelenlebens einer fremden Individualität verstehen, eröffnet sich damit zugleich die Möglichkeit, daß
der Sinn die Brücke schlägt, die uns von dem eignen zum fremden Seelenleben auch nach seiner realen Individualität hinüberführt. Unter diesem
Gesichtspunkt gehen wir an das Problem des nacherlebenden Verstehens
heran. […]
Beziehen wir, um hier weiter zu kommen den früher angegebenen Unterschied von Verstehen und Nacherleben jetzt noch einmal ausdrücklich auf
den Unterschied von irrealen Sinn und realem psychischen Sein, und machen wir den Begriff des verstehenden Nacherlebens im Zusammenhang
damit zunächst an einem Beispiel klar, das der Erfahrung irgendeines Tages entnommen sein mag. […]
Nehmen wir an, es spräche jemand zu uns Worte, deren Sinn wir restlos
verstehen und uns insofern auch zu „eigen“ machen können, die uns aber
trotzdem zugleich sehr „fremd“ berühren. […] In unserer Terminologie läßt
sich das, worauf es dabei ankommt, so formulieren: wir „verstehen“ den
irrealen Sinn der fremden Worte, aber wir vermögen die fremden realen
seelischen Vorgänge des Menschen, der den Sinn zum Ausdruck bringt,
nicht „nachzuerleben“. Wir sagen in einem solchen Fall, obwohl wir die
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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK
Worte restlos verstanden haben, der fremde Mensch sei uns „unverständlich“, und wir meinen damit, dass wir sein reales Seelenleben nachzuerleben nicht imstande sind. Dabei hat es unter Umständen sein Bewenden,
und daran wird dann zunächst der Unterschied von Verstehen des irrealen Sinnes und Nacherleben des realen fremden Seelenlebens, wie wir die
Ausdrücke gebrauchen wollen, deutlich. Das Verstehen des Sinnes gelingt,
das Nacherleben des Seelischen gelingt nicht.
133. Wie unterscheidet Rickert ‚Verstehen‘ und ‚Nacherleben‘?
a)
Setzen sie dies in Bezug zu den Begriffen ‚reales Sein‘, ‚Unmittelbarkeit‘, ‚psychische Vorgänge‘ und ‚irrealer Sinn‘!
b)
Was meint vor diesem Hintergrund der Begriff des ‚Unverständlichen‘?
134. Warum wird das nacherlebende Verstehen in seiner Ungeschiedenheit
als Problem nicht deutlich?
135. Rickert formuliert: „In dieser Hinsicht gibt es zwischen den verschiedenen psychischen Vorgängen keinen Unterschied.“
a)
Welche Hinsicht meint Rickert hier?
b)
Erläutern Sie an diesem Satz das Zusammenspiel von Gleichheit und
Identität!
136. Warum ist dem Menschen nach Rickert notwendig nur das je ihm eigene Seelenleben unmittelbar zugänglich?
137. Warum lässt sich vom irrealen Sinn nicht als ‚eigener‘ bzw. ‚fremder
Sinn‘ sprechen? Wann würde er eigen bzw. fremd genannt werden?
138. Unterscheiden Sie die Begriffe Individuum und Individualität und beziehen Sie darauf, dass die Erfassung des irrealen Sinnes als ein nicht
inhaltlich allgemeines Gebilde trotzdem allen Menschen gemeinsam zugänglich ist!
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STATION V – HEINRICH RICKERT
Das nacherlebende Verstehen –
die Methode der Kulturwissenschaften
Die folgende Passage ist auf den Seiten 576–578 zu finden.
Solange wir einen „fremden“, d.h. von einem fremden Menschen gemeinten irrealen Sinn nur verstehen, bedeutet das: wir kennen den Sinn noch
nicht so, wie er in einem Seelenleben wirklich lebendig ist, oder wie eine
Seele in ihm wirklich lebt. Die Ausdrücke sind nicht sehr bezeichnend,
aber bessere lassen sich nicht leicht finden, und es ist daher auf den Zusatz „wirklich“ zu achten, damit sie eindeutig werden. Jedes Verstehen eines Sinnes können wir auch ein „Erleben“ nennen, und insofern wird ein
Sinn, den wir verstehen, in unserem Seelenleben immer „lebendig“. Deshalb müssen wir zwei Arten des „Lebendigwerdens“ eines Sinnes voneinander trennen und nur die eine als „wirklich seelisch lebendig werden“ bezeichnen, um von ihr erst dort zu sprechen, wo der Sinn nicht nur
verstanden wird. In unserem Beispiel bedeutet das: wir verstehen eventuell den Sinn der Worte, die auf fremdes Seeleleben hinweisen, ohne daß
wir zugleich einsehen, wie der Mensch, der die Worte spricht, in ihrem
Sinne wirklich seelisch lebt. Das meinen wir, wenn wir sagen, der Sinn der
Worte werde zwar von uns verstanden, der Mensch bleibe uns aber trotzdem „fremd“ und „unverständlich“. Dann wissen wir nämlich nur: der verstandene Sinn ist faktisch in dem Anderem wirklich seelisch lebendig, denn
er wird von ihm gemeint, aber wir vermögen das fremde Seeleleben, in dem
er wirklich lebendig ist, nicht nur nicht unmittelbar zu erleben, was nie geschieht, sondern auch nicht nachzuerleben. Wir können dann auch so sagen: der Sinn wird, obwohl wir ihn als irrealen Sinn restlos verstehen, von
uns eben bloß als irrealer Sinn verstanden und ist wirklich lebendig nur
in einem uns völlig unbekannten Seelenleben, das wir nachzuerleben daher unfähig sind.
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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK
Das Wesen des Nacherlebens besteht nun in diesem Falle darin, daß wir
den Sinn nicht bloß als irrealen Sinn verstehen, sondern uns zugleich in
ein Seeleleben „einzufühlen“ suchen, in dem er wirklich lebendig ist, oder
das in ihm wirklich lebt, und das kann dadurch geschehen, daß wir fragen: wie müßte unser Seeleleben beschaffen sein, falls wir die Worte sprächen, und falls ihr Sinn, den wir bloß verstanden haben, in ihm wirklich
lebendig geworden wäre? Das nennen wir dann ein „Hineinversetzen“ von
uns in die fremde Seele. Wir benutzen dabei die Kenntnisse, die wir von
dem verstandenen irrealen Sinn der fremden Worte einerseits und von unserem eignen realen Seelenleben, dem einzigen, das wir unmittelbar kennen, anderseits haben, um aus beiden zusammen ein fremdes Seeleleben
aufzubauen, in dem der Sinn der fremden Worte, der in unserem eigenen
Seeleleben nicht wirklich lebendig geworden ist, wirklich lebt. So muß sich
zeigen, was der Schritt vom bloß verstandenen irrealen Sinn zu dem in der
fremden Seele wirklich lebendigen Sinn bedeutet: der Sinn bleibt als Sinn
zwar immer irreal, aber er wird jetzt im fremden Seelenleben so als wirklich
geworden gedacht, wie wir aus Erfahrung am eignen Seelenleben zu wissen glauben, daß er in einem Seeleleben überhaupt, also auch in dem fremden, wirklich lebendig werden, d.h. von uns bloß verstanden werden kann.
Auf Grund dieser Auseinandersetzungen, in denen wir von der Individualität der fremden Seele noch abgesehen und auch nur eine besondere Art
des Sinnes in Betracht gezogen haben, weil es sich empfiehlt, die verschiedenen Seiten des Problems gesondert zu behandeln, trennen wir nun drei
Begriffe voneinander und wollen sie terminologisch so fixieren. Erstens:
das bloße „Verstehen“ eines irrealen Sinnes, der in seiner Abgelöstheit
von allem realen Sein weder eigner noch fremder Sinn ist, d.h. noch nicht
als ein Sinn verstanden wird, in dem irgend ein reales Seeleleben, das eigne oder das fremde, wirklich lebt. Zweitens: das ursprüngliche wirklich „Leben“ in einem Sinn, das wir als wirklich lebendiges Ineinander von eigenem realem seelischen Sein und irrealen Sinn unmittelbar kennen. Drittens:
das „Nacherleben“ eines fremden sinnvollen Seelelebens, das wir als
Ineinander des irrealen Sinnes mit der realen Seele zwar nie wirklich erle-
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STATION V – HEINRICH RICKERT
ben, also auch nicht unmittelbar kennen, das wir aber, weil wir den Sinn,
der darin wirklich lebt, als irrealen Sinn verstanden haben, aufgrund unserer Kenntnis vom Seeleleben überhaupt, die am eignen Seeleleben gebildet ist, so aufzubauen vermögen, daß wir es als nacherlebbares Ineinander
von irrealen Sinn und realem Seeleleben mittelbar kennen lernen.
139. Wieso wird nach Rickert das Verstehen zum Erleben?
140. Welche Arten von ‚Lebendig-Werden‘ gibt es laut Rickert?
141. Inwiefern ist das Nacherleben wirklicher als das bloße Erleben?
142. Erläutern Sie den Begriff des Hineinversetzens:
a)
Wie erklärt Rickert den Vorgang, der es dem Menschen möglich macht,
sich ein fremdes Seelenleben aufzubauen?
b)
Welche Bedeutung kommt hiermit der eigenen Erfahrung zu?
c)
Was genau wird im nacherlebenden Verstehen verstanden: das fremde
Seelenleben, der irreale Sinn oder sogar das eigene Seelenleben…? Erläutern Sie!
143. Bezogen auf das Wesen des Nacherlebens führt Rickert aus: „[…] Sinn
bleibt als Sinn zwar immer irreal, aber er wird jetzt im Fremden Seelenleben so als wirklich lebendig geworden gedacht […]“. Diskutieren
Sie ausgehend von diesem Satz die Frage von Mittelbarkeit bzw. Unmittelbarkeit in Bezug auf das nacherlebende Verstehen!
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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK
Rückblick – Ausblick
144. Was bedeutet es für das Selbstverständnis geisteswissenschaftlicher Disziplinen, insofern sie sich mit Rickert als Kulturwissenschaften bezeichnen lassen.
145. Beschreiben Sie den Vorgang des ‚nacherlebenden Verstehens‘ in drei
Schritten. Vergleichen Sie ihn mit dem ‚geisteswissenschaftlichen Dreisatz‘ Diltheys!
146. Rickert wirft den Begriff der irrealen Sinngebilde auf. Gibt es ähnliche
bzw. entsprechende Vorstellungen bei Schleiermacher, Droysen und
Dilthey? Wenn ja, erläutern Sie …!
147. Mit der Aufteilung von Gütern und Werten eröffnet Rickert eine strikte
Trennung von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘, welche die Grenze zwischen Geistesund Naturwissenschaften markieren soll. Erläutern Sie die Bedeutung
dieser Grenze im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Position
Diltheys, der ein ähnliches Vorhaben hatte. Wo könnten die Kritikpunkte
Rickerts an Dilthey liegen, der in diesem Zusammenhang eine Unterscheidung von Innen und Außen trifft.
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