Komposition mit zwölf Tönen

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Komposition mit zwölf Tönen
Der Sinn der Methode, mit zwölf Tönen zu komponieren, liegt in der Wiederherstellung der Wirkungen, für die früher die strukturellen Funktionen der Harmonie
sorgten. Sie kann nicht alles ersetzen, was die Harmonie in der Musik seit Bach - und
seinen Vorgängern - bis in unsere Tage bewerkstelligt hat: Abgrenzung, Unterteilung, Zusammenhang, Verknüpfung, Assoziation, Vereinheitlichung, Gegenüberstellung, Gegensatz, Veränderung, Höhepunkt, Entspannung, Auflösung usw. Sie
vermag auch keinen ähnlichen Einfluß auf die innere Organisation der kleineren
Segmente auszuüben, aus denen die größeren Abschnitte und das ganze Werk
bestehen.
Indessen kann man schon in den Werken von Strauss, Mahler und - mehr noch Debussy die Gründe für das Aufkommen einer rieuen formalen Technik beobachten.
Wie ich in meiner f7'mmonielehre gezeigt habe, ist hier bereits zweifelhaft, ob eine
Tonika wirksam ist, die all die zentrifugalen Tendenzen der Harmonien beherrscht.
Gewiß, noch werden Methoden zur Befestigung einer Tonart angewandt, es gibt
sogar Kadenzen, die Abschnitte abschließen und sich dabei in die entferntesten
Beziehungen zu einer Tonart begeben. Aber das Problem ist nicht, 012 diese vielen
Tonarten noch Vereinheitlichung zulassen, sondern o b sie von einem Cravitationszentrum beherrscht werden, das die Kraft hat, ihnen das Umherschweifen zu
gestatten, weil es auch die Kraft hat, sie zurückzuholen. Es ist für den Analytiker ganz
offenkundig, daß hier lion~positorischeICräfte am Werli waren, die die fehlende Kraft
der Harrnonie ersetzen.
Dies beweist, daß die Harmonie auch in Epochen, die diesen Meistern voraufgehen, niemals die Aufgabe hatte, all diese strukturellen Techniken allein aus eigener
Kraft a~iszuführen.Es waren immer mehrere Kräfte am Werli, um Thema, Melodien
und all die größeren Abschnitte, aus denen eine Komposition besteht, hervorzubringen; die mannigfaltigen Kristallisationsformen von Intervallen und Rhythmen in
ihrem Verhältnis zu betonten oder unbetonten Taktteilen.
Dies beweist auch, daß viele Komponisten mit zwölf Tönen sich täuschen, wenn sie
zuviel von der bloßen Anwendung einer Zwölftonreihe oder von Hauers n'rropen.
erwarten. Diese allein könnten keine Musik hervorbringen. Zweifellos sind jene
anderen gestaltenden Kräfte, die die Konfigurationen und Veränderungen schaffen,
sogar wichtiger. Und die Musikgeschichte zeigt, daß die Harmonie der letzte Beitrag
zur Musik war zu einem Zeitpunkt, als Melodie und Rhythmus schon eine große
Entwicklung hinter sich hatten.
Die Konstruktion einer Grundreihe von zwölf Tönen geht auf die Absicht zurück,
die Wiederholung jedes 'Tones so lange wie möglich hinauszuschieben. Ich habe in
meiner Harmonielehre dargelegt, daß die Betonung, die ein Ton durch verfrühte
Wiederholung erhält, ihn in den Rang einer Tonika zu erheben vermag. Dagegen
werden durch die regelmäßige Verwendung einer Reihe von zwölf Tönen alle anderen
Töne auf die gleiche Weise betont, und dadurch wird der einzelne Ton des Privilegs
der Vorherrschaft beraubt. Es schien in der ersten Zeit ungeheuer wichtig, eine
Ähnlichkeit mit der Tonalität zu vermeiden. Das Gefühl war richtig, daß jene freien
Verbindungen von gleichzeitg erklingendenTönen - jene ,,Akkorde« -in eine 'Tonart
passen könnten. Das heutige O h r ist so tolerant gegenüber diesen Dissonanzen
geworden, wie es die Musiker seinerzeit gegenüber Mozarts Dissonanzen waren.
Man kann tatsächlich zu Recht behaupten, daß die Emanzipation der Dissonanz
gegenwärtig erreicht ist und in nächster Zukunft Musik nicht mehr aufgrund von
nMißklängen* abgelehnt wird.
Die andere Funktion ist die vereinheitlichende Wirkung der Reihe. Da es notwendig ist, neben der Grundreihe deren Krebs, deren Umliehrung und den Krebs der
Umkehrung zu benutzen, werden Tonwiederholungen öfter als erwartet auftreten.
Jedoch erscheint jeder Ton immer in der Nachbarschaft zweier anderer Töne in
unveränderlicher Kombination, die ein enges Verhältnis schafft, welches dem Veihältnis einer Tcrz und einer Quinte zum Grundton äußerst ähnlich ist. Es ist natürlich
bloß ein Verhältnis, aber sein wiederholtes Vorkommen kann psychologische Effekte
hervorrufen, die jenen näheren Beziehungen sehr ähnlich sind.
Solche Merkmale werden in jedem Motiv, jedem Thema, jeder Melodie auftauchen,
und obwohl Rhythmus und Phrasierung eine deutlich andere Melodie daraus machen
könnten, wird sie dennoch eine Verwandtschaft mit allen übrigen aufweisen. Die
Vereinheitlichung ist auch hier das Ergebnis der Beziehung zu einem gemeinsamen
Faktor.
Der dritte Vorteil der Komposition mit einer Reihe von zwölf Tönen ist, daß das
Auftreten von Dissonanzen geregelt wird. Dissonanzen werden hier nicht wie in
vielen anderen zeitgenössischen Kompositionen als Zutat, die die Konsonanzen
»würzigere machen soll, benutzt. Für das Auftauchen solcher dissonanten Töne gibt
es keine erkennbare Regel, keine Logik und keine andere Rechtfertigung als die
Diktatur des Geschmacks. Wenn in der Musik überhaupt andere als die erlaubten
Dissonanzen zugelassen werden, scheint es, daß als Möglichkeit, ihnen allen einen
Bezug zu geben, die Ordnung einer Grundreihe zu diesem Zweck das logischste und
überschaubarste Verfahren ist.
Wenn man Hauers Tropen benutzen würde, könnte man nicht einmal das Wiedererscheinen eines Tones so lange wie möglich hinauszögern. Er mischt Tropen, das
heißt Reihen von sechs Tönen, nach seinem eigenen Geschmacli oder dem Formgefühl, das nur er selbst besitzt. Es waltet sicherlich keine solche Logik darin wie in der
hier beschriebenen Methode. Außerdem bezeichnet Hauer seine Technik als die der
»Atonalität.. Das ist vermutlich ein Irrtum.
Dies scheint der gegebene Augenblick zu sein, von dem Weg zu erzählen, auf dem
ich zu meiner Methode gelangte.
Seit ich 1906-1908 mit Konlpositionen begonnen hatte, die zum Verlassen der
Tonalität führten, war ich unablässig mit dem Finden von Methoden beschäftigt, die
die strukturellen Funktionen der Harmonie ersetzten.
3 82 Axfsätze zirr Musik
Nichtsdestoweniger geschah mein erster deutlicher Schritt auf dieses Ziel zu erst
1915 . Ich hatte Pläne für eine große Symphonie entworfen, deren letzter Satz Die
Jukobsleiter sein sollte. Ich habe viele Themen skizziert, darunter eines für ein
Scherzo, das aus allen zwölf Tönen bestand. Ein Historiker wird möglicherweise
einmal in dem Briefwechsel mit Webern meinen und vielleicht auch seinen Brief an
mich finden, in dem er sich sehr enthusiastisch hierüber äußerte.
Den nächsten Schritt in dieser Richtung (inzwischen war ich in der österreichischen
Armee gewesen) tat ich 1917, als ich anfing, Die Jakobsleiter zu komponieren. Ich
hatte mir den Plan, der für Einheit sorgen sollte - was immer mein Hauptanliegen war
-, so ausgedacht, daß alle Hauptthemen des ganzen Oratoriums aus einer Reihe von
sechs Tönen gebildet wurden: Cis, D, E, F, G , As. Dies waren vermutlich die sechs
Töne, mit denen die Komposition begann, und zwar in der folgenden Anordnung:
cis, D , F, E, As, G.
Als ich, nachdem ich mich von meiner Tätigkeit bei der U C L A zurückgezogen
hatte, Die Jukobsleiter beenden wollte, entdeckte ich zu meiner größten Freude, daß
der Anfang eine richtige Zwölft~nlxom~osition
war. Zu einem Ostinato (den ich ein
bißchen veränderte) kamen die sechs übrigen Töne nach und nach hinzu, einer in
jedem Takt. Als ich die Hauptthe~nenaus diesen sechs 'Tönen bildete, hielt ich mich
nicht an die Reihenfolge ihres ersten Auftretens. Ich war zu dieser Zeit noch weit
entfernt von dem methodischen Gebrauch einer Reihe. Dennoch &ube ich, daß auch
dieser Einfall Einheit bis zu einem gewissen Grad versprach. Naeüilich, um ein Werk
von der Länge von Moses find Aron über einer einzigen Reihe aufzubauen, inui3te eine
'Technik entwickelt werden oder, besser gesagt, die Furcht, daß dies niche gelingen
würde, mußte besiege werden. Das brauchte etliche Jahre.
Bevor ich 1921 meine erste serenge Kocnposition mit zwölf Tönen schrieb, mufire
ich erst noch mehrere Stadien durchlaufen. Das ist zu bemerken in zwei Werken, die
ich teilweise unmittelbar vor der I(laviers~titeop. z j , teilweise sogar rgrg, geschrieben
hatte, die Fiinf IUavierstiicke op. 23 und die Serenade op. 24. In allen beiden Werken
gibt es Teile, die r9z2 und 1923 komponiert und streng zwölftönig sind. Aber das
übrige repräsentiert die zuvor erwähnten Stadien.
Wenn ich mit mir selber in meiner Arbeitssprache redete, nannte ich dies Verfahren
)>Arbeitenmit den Tönen des Motivs«. Dies war offenbar eine unerläßliche Ubung
zum Erwerb einer Technik, die Hindernisse zu überwinden, die eine Reihe von zwölf
Tönen dem freien Schaffen in flüssiger Schreibweise entgegenstellte. Ähnlich wie im
Fall der Jukobsleirev mußten auch hier alle Hauptthemen Transformationen der
ersten Phrase sein. Schon hier war das Grundmotiv nicht nur produktiv, indem es
durch entwickel~ideVariation neue Motivgestalten bereitstellte, sondern auch indem
es entferntere Bildungen hervorbrachte, die auf der vereinheitlichenden Wirkung
eines gemeinsamen Faktors beruhten: der Wiederholung der Ton- und Intervallverhältnisse.
Es ist ganz leicht, eine Grundreihe in einer oder mehr Stimmen immer wieder zu
wiederholen. Es ist keine Leistung, Kanons mit zwei oder mehr Stimmen zu
schreiben, weil die zweite, dritte, vierte und jede weitere Stimme nur zwei oder mehr
Töne später anzufangen braucht und Oktavparallelen nie vorkommen werden: und
wen kümmern schon Q ~ i n t ~ a r a l l e l e n ?
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Ich glaube, daß kanonische oder andere Imitationen nur dazu dienen sollten,
Begleitstimmen, die den Klang voller machen, auf eine engere Beziehung zur Hauptstimme zu stützen. Selbst ganze Fugen zu schreiben, ist unter diesen Umständen
etwas zu einfach. Diese Formen, in denen die höchste Vollendung bereits von
Komponisten erreicht wurde, deren Ausdrucksform die kontrapunktische Stimmkombination war - die Komposition dieser Formen sollte man nur aus besonderen
Gründen unternehmen. Zum Beispiel, wenn ein Komponist fühlt, daß er eine Art
sehnsüchtigen Verlangens nach der Schönheit vergangener Zeiten besänftigen muß;
oder, wenn er seine All-round-Technik vorführen möchte; oder, weil im Verlauf
eines längeren Werkes, einer Oper, eines Oratoriums, einer Kantate usw., einer der
Teile in altem Stil sein muß. Es gibt gewiß nur wenige zwingende Gründe für einen
Komponisten, mit den konkurrenzlosen Errungenschaften solcher großen Meister zu
wetteifern, deren »Muttersprache« der Kontrapunkt war.
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