5. Regionale Fachkonferenz NRW Bewegt IN FORM Bewegung und Ernährung - im Alltag! 22. November 2012 in Stadthalle Bonn Bad Godesberg in Bonn "Wie stark beeinflussen die Lebenswelten unser Ernährungsverhalten?" - zu einer gesundheitsförderlichen Esskultur im Alltag einladen Prof.'in Dr. Barbara Methfessel, Pädagogische Fachhochschule Heidelberg Guten Tag, meine Damen und Herren. Ich hoffe, ich enttäusche Sie nicht, wenn ich heute in meinem Beitrag nicht auf Details der „gesunden“ Ernährung eingehen, sondern vorrangig den Zusammenhang von Ernährung und Lebenswelt thematisieren werde. Ich möchte an den Ausführungen meines Vorredners anknüpfen, nämlich an der Frage: Was tun wir eigentlich, damit Menschen, angeregt durch die Bedingungen, das tun, was für sie sinnvoll ist? Was tun wir, damit sie nicht durch die Bedingungen dazu ge- oder verführt werden, etwas weniger Sinnvolles zu tun? Dabei möchte ich zunächst den Schwerpunkt darauf legen zu verstehen, was Menschen zu einem Verhalten treibt, welches aus unserer Sicht vielleicht für sie nicht gesundheitsförderlich ist? Nur aus diesem Verständnis heraus können Alternativen für die alltägliche Arbeit entwickelt werden, die Sie tun, wenn Sie zum Beispiel Interventionen begleiten oder gesundheitsförderliche Strukturen schaffen. Die ernährungswissenschaftlichen Zusammenhänge können Sie in der Dokumentation von der letzten Tagung, beziehungsweise in den Ernährungsartikeln, die ich in die Literaturliste angebe, nachlesen. Ich werde dazu auch auf eine Reihe von Projekten zurückgreifen, die ich Ihnen heute nicht alle vorstellen kann, sondern auf die ich dann entsprechend in der Dokumentation verweise. Das war meine Vorrede. Warum isst der Mensch, wie er isst? Die Frage zum Ernährungsverhalten ist immer: Warum isst der Mensch, wie er isst? Darauf gibt es eine ganz alte Antwort: ‚Das Essverhalten wird vorrangig durch eines gesteuert, nämlich durch das Essen!’ Nicht im Sinne des Rhythmus von Hunger und Sättigung, sondern dadurch, was wir essen, was wir als ‚gutes Essen‘ empfinden, was wir gerne essen! Ernährungsverhalten ist somit zunächst vorrangig Gewohnheit. Wir werden geprägt durch das, was wir tun! Dies gilt aber nicht absolut nach dem Motto: Was man einmal gegessen hat, das isst man sein ganzes Leben! Man verliert den Geschmack der Kindheit zwar nie, aber man verändert den Geschmack laufend. Denken Sie einmal zurück, wie die Ernährung in Ihrer Kindheit war? Und denken Sie dann daran, was Sie heute vielleicht essen, was Ihre Großeltern nicht kannten, weil es dies damals noch nicht gab. Die Frage nach der Entwicklung von Geschmack und Essstilen ist außerordentlich wichtig, um zu verstehen, warum Menschen sehr beharrlich an ihrem Essverhalten festhalten. Generell gilt: Essverhalten ändert man nur schrittweise. Es kann nicht von heute auf morgen verändert werden. Unterschiedliche Gene, unterschiedliches Verhalten Wir sind in unserem Essverhalten natürlich auch beeinflusst durch unsere Gene. Menschen haben eine Präferenz für süß und fett, welche ihnen angeboren ist. Sie zieht sich durch die ganze Entwicklungsgeschichte und hat damit zu tun, dass die Menschen, die viel gegessen und vor allem gut zugenommen haben, unsere Gattung gesichert haben. Ohne das heute problematisierte Fett hätten sie damals Notzeiten nicht überlebt. Man brauchte Reserven, denn die nächste Hungersnot kam bestimmt. Wir wissen inzwischen, dass es genetische Dispositionen gibt, die dazu führen, dass man durch Bewegung unterschiedlich viel Energie verbraucht. Es gibt Menschen, die speichern viel schneller Fett als andere, welche viel mehr essen können und dennoch schlanker bleiben. Viele der Menschen, die schnell zunehmen, kontrollieren sich auch viel stärker. Das ist wichtig zu wissen, denn das Vorurteil, dass ‚Dicke immer selber schuld sind‘, ist inzwischen wissenschaftlich widerlegt. Diese Erkenntnis stellt nun nicht infrage, was der Vorredner zur Bedeutung von Bewegung und Übergewicht gesagt hat. Das unterstreiche ich alles! Ich möchte hier nur betonen, dass man sehr vorsichtig sein muss, die Frage von Gewicht und Essensquantität immer in einen einfachen direkten Zusammenhang zu bringen. Zudem beinhaltet dies, dass erstens die einen Menschen mehr gegen Übergewicht kämpfen müssen als die anderen und dass zweitens das Gewicht noch keine Auskunft über die Qualität des Essens – und damit der Ernährung – gibt. Essverhalten ist kulturell bestimmt Wenn ich auf die Frage eingehe, warum die Menschen essen, wie sie essen, komme ich auf Esskultur zu sprechen. Menschen haben keinen Instinkt, der ihnen sagt, wie sie „richtig“ essen sollen. Das haben manche Tiere, allerdings auch nicht alle. Menschen müssen sich Strukturen des ‚richtigen‘ Essens aneignen und entwickeln damit ihre Esskultur. Jede Gesellschaft, jede Kultur – auch die sogenannten Subkulturen (einzelne soziale Milieus oder Altersgruppen wie Jugendliche) – entwickelt eine Esskultur, welche sie auch immer weiterentwickelt. Ich kann es auch so formulieren: So wie Sie heute essen, bestimmen Sie die Esskultur von morgen mit, weil Esskultur sich permanent durch das Essverhalten der Menschen wandelt. Wenn wir also Essverhalten ändern wollen, dann dürfen wir nicht nur auf das einzelne Verhalten schauen, sondern wir müssen das einzelne Verhalten in einem Zusammenhang mit den gegebenen kulturellen Strukturen betrachten. Die Einzelnen können nur mit hohem Aufwand permanent gegen die Grenzen der Kultur angehen. Wichtiger ist, dass innerhalb des Bedingungsrahmens einer Kultur auch ein sinnvolles Essverhalten erworben, behalten und weiterentwickelt werden kann. Wenn ich über Essverhalten rede, muss ich auch klarstellen, dass Menschen nicht essen, damit die Ärzte sich freuen, dass sie so gesund sind (vielleicht würden sie sich ja gar nicht darüber freuen), sondern sie essen aus sehr unterschiedlichen Gründen. Und auch das, was sie essen, hat verschiedene Hintergründe. Essverhalten ist sozial beeinflusst Natürlich isst man, weil man Hunger hat. Der Hunger-Sättigungsmechanismus spielt zwar eine wesentliche Rolle, aber, was wir essen, wie wir essen, wie viel wir essen, wie oft wir essen, dies hat auch andere Gründe, vor allem soziale Gründe. Wenn Sie daran denken, dass jetzt die „Plätzchen-Zeit“ kommt – die Zeit der Martinsgans ist gerade vorbei, die Weihnachtsgans wartet auf uns, das Zuckerfest ist auch vorbei, aber Ostern kommt auch schon wieder – dann sehen Sie, dass wir eine Reihe von kulturellen Strukturen haben, die mit Speisen und Ritualen und so mit unserem Essverhalten verbunden sind. Diese entsprechen nicht unbedingt den Regeln der Ernährungswissenschaft, aber sie stimmen mit den Regeln unserer Kultur überein, also Regeln, nach denen man sich in sozialen Gruppen verhält. Weihnachten ist zum Beispiel ein großes „Fest des Essens“. Man wandert mit mehreren Generationen von einem Essen zum anderen, und plötzlich isst man über die Weihnachtstage mehr als vorher. Die Weihnachtstage sind nicht das Entscheidende, das hat der Vorredner klar gemacht. Was ich ausdrücken möchte ist, dass die sozialen Verbünde, denen wir angehören und deren sozialen Regeln wir unterliegen, sehr stark unser Ernährungsverhalten mitbestimmen. Darüber kann sich der Mensch nicht ohne Anstrengung hinwegsetzen. Wenn wir also Ernährungsverhalten ändern wollen, müssen wir auch beachten, unter welchen sozialen Bedingungen und Regeln Ernährungsverhalten stattfindet und welche Impulse dort gegeben werden. Essen ist auch Ausdruck der Psyche Aus psychologischer Sicht ist Essen ein ganz wichtiger Entspannungsfaktor. Mit dem Essen sinkt der Adrenalinspiegel. Menschen werden friedlicher. Das kennen alle. Wenn man z. B. Friedensverhandlungen führen will, ob in der Familie oder in der Politik, sollten sie möglichst mit Essen verbunden werden. Denn hungrige Menschen sind eher aggressiv, und da wird es schwieriger, sich zu einigen. „Unser aller Großmutter“ sagte immer schon: "Erzähl das Papa erst nach dem Essen". Von Oscar Wilde wird der Spruch überliefert: "Nach einem guten Essen verzeiht man allen, sogar den eigenen Verwandten". Diese psychische Wirkung des Essens, Ruhe und Entspannung zu geben, ist enorm wichtig. Viele Menschen haben nur das Essen, um sich in diese positive Stimmung zu bringen, oder sie haben nur gelernt, Stimmungen über essen zu regeln. Letzteres hat leider bedenkliche Ausmaße erreicht: Wenn Sie z. B. junge Mütter mit kleinen Kindern auf dem Spielplatz beobachten, sehen Sie häufig, dass die Mutter, wenn ein Kind den Mund aufmacht und einen etwas lauteren, unzufriedeneren Ton ausstößt, sofort mit einer Flasche oder einem Plätzchen kommt und das Kind damit beruhigen will. Dies ist eine Ernährungssozialisation, was diese Mütter gar nicht bedenken. Kinder lernen nämlich darüber: „Wenn ich ein ungutes Gefühl habe, sollte ich was essen oder etwas trinken“. Damit gewöhnen sich Menschen an, dieses Gefühl des inneren Friedens über essen zu erlangen. Dieses Gefühl des inneren Friedens, des Wohlbefindens kennen Sie vielleicht alle: Nach einem harten Arbeitstag abends in Ruhe ein leckeres Essen, ein Glas Wein dazu, dann ist das Leben wieder in Ordnung. Wenn ich lerne, dieses positive Gefühl nur über das Essen zu bekommen, dann ist es sehr schwierig, jemandem zu sagen: "Das darfst Du nicht". Denn diese innere Ruhe ist ein Stück Lebensqualität, die man in seinem Leben benötigt. Ich muss also erst Alternativen anbieten bzw. für mich akzeptieren, die genauso viel Spaß machen oder Genuss oder Ruhe bieten. Hier kann ich gut an den Vorredner anknüpfen; Auch über Bewegung kann man sehr gut Spannung abbauen. Bei Stresssituationen also erst einmal eine Runde Bewegung!? Dafür muss ich allerdings auch die Möglichkeiten haben. Ebenso muss ich erfahren, dass Bewegung Spaß macht und dass sie einen Gewinn bringt. Es darf keine zusätzliche Belastung sein, z. B. weil man erst noch ins Auto steigen muss, um in den Wald zu kommen oder weil man keine Bewegungsart kennt, die wirklich Freude bereitet. Esskulturen geben Strukturen Auch hier gilt, was ich zu Beginn ausgeführt habe: Der Mensch benötigt Kulturen mit Rhythmen und Gewohnheiten. Ich kann nicht jeden Tag von Neuem überlegen: "Was esse ich denn jetzt mal oder was esse ich morgens, mittags und abends?". Weiterhin: "Kann ich die Fliege essen oder die Mücke oder die Rose oder den Blumenkohl?". Das wären nämlich alles Möglichkeiten, die ich ohne Wissen darüber zunächst erforschen müsste, bevor ich das entscheiden könnte. Wissenschaftlich gesehen kann man Fliegen essen, kann man Mücken essen, kann man Rosen essen und auch Blumenkohl. Aber normalerweise ist nur das Letztere als Speise auf unserem Teller. Dies sind Ergebnisse kultureller Entwicklungen, und die verlaufen sehr unterschiedlich. Eine Kalbshaxe auf Kohl mit Kümmel gehört eher zum süddeutschen Raum, denn da wird der Kümmel im Kohl verwendet. Wäre das eine Schweinshaxe, würden Sie das weder im jüdischen noch im muslimischen Bereich finden. Diese wunderbar angerichteten Wasserkäfer gehören dagegen zum asiatischen Raum. Dieses Bild mit den angerichteten Wasserkäfern ist eines meiner Lieblingsbilder. Wenn man mir das anböte, würde ich sagen: "Danke. Ich habe gerade sehr gut gefrühstückt". Käfer gehören nicht zu unserer Esskultur, aber Wasserkäfer kann man genauso gut essen wie Krabben. Diese Käfer beinhalten Eiweiß, Vitamine und weitere wertvolle Nährstoffe. Behalten Sie bitte dieses Bild in Erinnerung zusammen mit dem Gefühl des Ekels, das vielleicht entsteht, wenn man Ihnen abverlangte, dieses Gericht oder auch Würmer zu essen. Dann stellen Sie sich vor, Sie würden jemandem Schweinefleisch anbieten, der gelernt hat, vor Schweinefleisch genauso viel Ekel zu empfinden wie Sie bei der Aussicht auf Würmer oder auf diese Wasserkäfer. Was würde dieser Mensch empfinden? Diese Strukturen der Esskultur, die auch beinhalten, was man zu essen bereit ist sowie wie die Speisen zubereitet werden und schmecken sollten, haben wir so inkorporiert, dass wir uns darüber nicht einfach hinwegsetzen können. Wir können uns an neue Lebensmittel, an neue Speisen gewöhnen, das ist völlig klar, aber wir können uns nicht radikal umgewöhnen. Man muss immer einen kleinen Schritt vom Bekannten in das Unbekannte gehen. Dazu gibt es übrigens sehr viele schöne Projekte, wie solche, die z. B. in Verbindung mit Eltern in Schulen oder in Stadtteilgruppen durchgeführt werden, u. a. in der Arbeit mit Migranten und Migrantinnen, bei denen deren traditionelle Rezepte gekocht werden können, um etwas über ihre Essgewohnheiten zu lernen. Ein nächster Schritt könnte die gemeinsame Überlegung sein: "Vielleicht könnte man dieses Rezept etwas weniger fettreich erstellen. Vielleicht könnte man etwas mehr Gemüse verwenden". Es gilt: Kleine Schritte tun, um die Ernährungsgewohnheiten langsam zu verändern. Esskultur wird also durch sehr viele Aspekte beeinflusst: - Sie wird stark beeinflusst durch die Geschmackserfahrung. Kinder, die zum Beispiel beim Familiengeburtstag Kuchen essen, verknüpfen den süßen Geschmack des Kuchens mit Familienfeiern, und je nachdem, wie schön die Familienfeiern waren, sind auch die Geschmackserinnerungen dabei positiv. - Essen hat religiöse und soziale Bedeutungen. Wenn Sie in einem Haushalt groß werden, in dem regelmäßig Austern gegessen werden, dann lernen Sie Austern zu unterscheiden. Wenn Sie, wie ich, in einem bäuerlichen Betrieb in der Nähe von Unna groß werden, dann sagen Sie: "Das ist etwas dickes Salzwasser". Dahinter steht eine andere Sozialisation, in der man nicht gelernt hat, Austern entsprechend zu mögen und einzuordnen. Die soziale Wertung von Austern als hochwertig, als Speise für reiche, wichtige Leute, kann dazu führen, dass auch mancher aus Unna irgendwann gelernt hat, Austern zu essen, und auch durchaus gelernt haben kann, Qualitäten zu unterscheiden. - Die soziale Bedeutung des Essens spielt ebenfalls eine große Rolle, weil sie in den verschiedenen sozialen Milieus sehr unterschiedlich ist. Wenn man mit Personen zum Thema ‚Adipositas‘ oder zum Thema ‚Gesundheit‘ arbeitet, sollte man sich nicht darüber hinwegsetzen, welche sozialen Bewertungen zum Essen vorherrschen, sondern sich mit diesen Personen auch über die jeweiligen sozialen Bewertungen austauschen. - Ebenso zu beachten ist, dass wir tagtäglich vielen Verlockungen ausgesetzt sind. Werbung kann sehr raffiniert an grundlegenden Bedürfnissen der Menschen ansetzen, um dann Produkte zu deren Erfüllung anzubieten. Das System funktioniert, auch wenn man tagtäglich erfährt, dass die grundlegenden Bedürfnisse so unerfüllt bleiben. - U. v .a. m. Gesellschaftlicher Wandel Um menschliches Handeln zu verstehen, ist auch die Frage danach zu stellen: "Wie handhabbar ist was?", d. h. danach, wie ein bestimmtes Handeln und Verhalten in die Zwänge des Alltags passt. Hierzu möchte ich gerne auf den gesellschaftlichen Wandel zu sprechen kommen und einige Aspekte benennen, die den Alltag bestimmen. Wir leben in einer Welt, die bestimmt ist durch Vielfalt, durch Verfügbarkeit und durch Verführung. In vielen Familien können und dürfen schon Kinder an einen vollen Kühlschrank gehen, wenn sie hungrig sind. Jugendliche tun dies sowieso. Dies beinhaltet, dass sie essen können, bevor das Mittag- oder Abendessen auf den Tisch kommt. Während die Abwechslung der häuslichen Küche bisher dazu führte, dass sich Kinder nach und nach an die jeweiligen kulturellen Geschmäcker gewöhnen, haben sie nun die Möglichkeit, immer wieder auf das Bevorzugte und Vertraute zurückzugreifen. Diese neue Liberalität führt zu einer Verengung von Geschmackserfahrungen. Denn mit bereits gefülltem Magen haben Sie keinen Hunger mehr, um beim Mittagsessen neue Geschmäcker auszuprobieren wie z. B. beim Rosenkohl, an welchen man sich im Laufe des Lebens erst gewöhnen muss. Denn die Bitterstoffe im Rosenkohl sind eigentlich nichts für Kinder. Daran kann man sich aber gewöhnen, wie viele der Anwesenden bestätigen können. Wenn die Vielfalt des Angebots so genutzt wird, dass man nicht gezwungen wird, sich auch an eine Vielfalt von Nahrungsmitteln zu gewöhnen, sondern immer nur das Gleiche wählt, kommt es schnell zur Verengung der Akzeptanz, vor allem auf süße und fette Produkte und Speisen und nicht zur Nutzung der Vielfalt der Aromen und der Lebensmittel. Wenn ich permanent denselben Verführungen unterliege und keine Breite an Alternativen erlebe (im wahrsten Sinne des Wortes), dann kann ich auch keine Lösung finden, wenn fette und süße Fertigprodukte oder Fast Food meine Gesundheit beeinträchtigen. Vielfalt überfordert Verbraucher Ein kleiner Ausschnitt aus einem großen Supermarkt macht deutlich, dass man mindestens Marketing, Ernährung, Chemie und vieles anderes studiert haben muss, um kompetent vergleichen zu können, um zu entscheiden, wie die Qualität dieser Lebensmittel zu bewerten ist. Den ‚souveränen Verbraucher‘ kann es gar nicht geben. Das kann ein normaler Mensch nicht alleine entscheiden. Wir benötigen also auch Rahmenbedingungen, die uns helfen, mit dieser Vielfalt fertig zu werden. Das ist ein wichtiger Aspekt bezogen auf die sogenannte ‚adipogene‘ Umwelt. Zusätzlich zur gesundheitlichen Problematik kommt hinzu, dass man auch verführt werden kann, auf Produkte zurückzugreifen, die, wie zum Beispiel viele Fertigoder Halbfertigprodukte, letztendlich überhaupt nicht sinnvoll sind, weil ich viele Speisen in der gleichen Zeit wie ein Fertigprodukt zubereiten könnte. Ich kann einen Kuchen genauso schnell ohne eine ‚Fertigpackung‘ backen. Das Gute daran ist, dass ich bei der ‚Eigenproduktion‘ u. a. bestimmen kann, wie viel Zucker in den Kuchen kommt und welche Aromen oder sonstigen Zusätze ich zulasse. Viele Kinder sind leider gar nicht mehr gewohnt – das merken wir in der Schule – mit einem Messbecher oder einer Waage umzugehen. Wenn ich dies aber kann, geht die Zubereitung genauso schnell und ist dabei meist noch halb so teuer. Diese Erfahrung muss man gemacht haben, wenn nicht in der Familie, dann in der Schule. Leider geht diese Erfahrung verloren, während die Erfahrung im Umgang mit Fertigprodukten steigt. Übergewicht – die neue Diskriminierung Sieht man einen schwer übergewichtigen Menschen wie dieses Mädchen auf dem Foto, denn denkt man schnell: "Puah! Wie kann man nur so dick sein". Wir wissen aber gar nicht, was hinter diesem starken Übergewicht des Mädchens steckt. Wir wissen dagegen z. B. aus Studien, dass viele dieser ganz stark übergewichtigen Mädchen Missbrauchs- oder andere traumatische oder problematische Erfahrungen haben. Man denkt dagegen eher, dass schwer Übergewichtige sozial Schwache sind, die nicht ‚richtig essen‘. Das Mädchen auf dem Bild kann auch dem genetischen Typus angehören, der schnell zunimmt, und sie kann zudem durch einen problematischen elterlichen Ernährungsstil sozialisiert worden sein. Ihre Eltern haben vielleicht gelernt, ihren ganzen Stress mit essen zu bewältigen und das Kind dabei immer ‚mitgenommen‘. Ursache kann auch eine körperliche Krankheit sein. Wir wissen es nicht. Aber unsere Reaktion, wenn wir diese Menschen sehen, zeigt oft, dass diesem Mädchen eigentlich gar keine Normalität mehr zugestanden wird. Wenn Sie die schlanke Jugendliche daneben betrachten, dann scheint diese ‚normal‘, aber wir wissen nicht, ob sie gut ernährt ist, und wir wissen gar nicht, wie ihr gesundheitlicher Zustand ansonsten ist. Die Bewertung nach dick oder schlank (= normal) ist das vorrangige Bewertungsmuster. Hierin ist übrigens eine Ursache für die Zunahme von Adipositas zu finden, dem alten und immer nur gültigen Satz folgend: "Dick wird man besonders gut durch Diäten". Denn wer in der Jugend und in der stark auf Attraktivität ausgerichteten Zeit sehr darauf geachtet hat, möglichst schlank und attraktiv zu sein, kann in dem Moment, in dem die Kontrolle nachlässt, weil zum Beispiel der Stress im Beruf oder in der Familie zunimmt, besonders schnell zunehmen, weil man nicht gelernt hat, ein sinnvolles Ernährungsmuster und ein Bewegungsmuster, das nicht auf Kontrolle beruht, zu entwickeln. Man fällt dann von einer großen Kontrolle in eine nicht mehr funktionierende Kontrolle. Dies ist auch zu beachten, wenn wir darüber diskutieren: "Woher kommt das Übergewicht?" Portionsgrößen: Billiger und schneller zum Übergewicht Zunehmendes Übergewicht kommt auch von den mittlerweile üblichen Portionsgrößen. Dieser abgebildete ‚Whopper’ von 274 g hat 633 Kal. und bietet für eine mittelgroße sitzende Angestellte knapp ein Drittel des Tagesbedarfs. Er wird aber ‚zwischendurch‘ gegessen, und darauf wird dann anschließend, weil er nicht gut sättigt, oft noch ein weiteres Essen verzehrt. Dies ist ein Beispiel dafür, wie wir inzwischen eine Esskultur entwickelt haben, die darauf baut, dass ich permanent Zwischenmahlzeiten einnehme, welche aber nicht den Energiegehalt einer Zwischenmahlzeit von ca. 100 Kalorien – ich rechne immer noch mit Kalorien – also gut 400 Joule hat. Wenn ich dann zu dem ‚Whopper’ noch diese Portion Pommes von 160 g mit 470 Kalorien nehme, dann erreiche ich kalorisch ca. die Hälfte des Tagesbedarfes. Meist ist dies aber nur eine Mahlzeit, die von manchen als kleine oder Zwischenmahlzeit gegessen wird. Und wenn sie als Hauptmahlzeit verzehrt wird, muss man auch feststellen, dass sie einen verhältnismäßig geringen Anteil an Gemüse und weiteren wertvollen Nähr- und Wirkstoffträgern hat. Wir haben also eine Lebenswelt, in der uns permanent Ess-Angebote gemacht werden, welche weder vom Sättigungs- noch vom Nähr- und Wirkstoffgehalt das Gefühl einer ‚richtigen Mahlzeit‘ geben, die aber einen größeren Energiegehalt als eine traditionelle Mahlzeit haben können. Damit kommen wir zu Ernährungsstrukturen, in denen der Körper keinen schützenden Hunger-Sättigungs-Rhythmus mehr entwickeln kann, weil dazu Ballaststoffe, welche ‚Masse‘ und damit Sättigung durch Fülle schaffen, ebenso benötigt werden wie die Vielfalt der Inhaltsstoffe. Nur ‚Whopper’ und ‚Pommes‘ sind eine einseitige Ernährung. Wenn nicht die entsprechende Vielzahl der Nährstoffe als ‚Information‘ mit an den Körper gegeben wird, dann kommt der Hunger. Sättigung benötigt nicht nur Kalorien, sondern ebenso eine ‚Fülle‘, das Gefühl des ‚richtigen Essens‘, verschiedene Geschmäcker sowie eine Vielzahl von Nährstoffen, sonst hält die Sättigung nur kurzfristig. Diese verschiedenen Zusammenhänge, die ich jetzt aufgezeigt habe, tauchen natürlich in den unterschiedlichen Lebenswelten unterschiedlich auf. Ich will hier auf die Lebenswelten Familie (in unterschiedlichen sozialen Milieus), Peergroup und Schule eingehen. Familie In der Familie erwirbt man den Geschmack der Kindheit. Als ich als Westfälin nach BadenWürttemberg gezogen bin, erlebte ich zum ersten Mal den Geschmack von Maultaschen. Für unsere Studierenden sind die Maultauschen genauso wichtig wie Linsen mit Spätzle und Würstchen. Damals habe ich gesagt: "Linsen mit Spätzle? Linsen gehören in die Suppe und es gehören Kartoffeln dazu und die Würstchen kommen dazu". Die schwäbische Version kannte ich nicht, ebenso nicht ‚Maultaschen’. Gerichte wie solche, die man zu Hause kennengelernt hat, bieten das Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Heimat. Sie sind nicht einfach zu ersetzen. Aber die Zeiten haben sich auch verändert. So sind inzwischen Spaghetti mit Tomatensoße oder Hackfleischsoße ebenfalls selbstverständlich geworden. Mein Großvater hätte diese Gerichte nicht als Essen akzeptiert, denn seiner Gewohnheit nach musste es Fleisch, Gemüse und Kartoffeln – erkennbar auf dem Teller – geben. Dies zeigt, dass sich auch das Bild des „richtigen“ Essens ändert. Spaghetti mit HackfleischTomatensoße ist ein Gericht, das bei Kindern wie bei Erwachsenen beliebt ist. Es ist auch einfach und schnell zuzubereiten. Es ist, bezogen auf die geforderte Nährstoffvielfalt, allerdings etwas einseitig. Der Gemüseanteil ist zu gering. Solch ein Gericht müsste noch ergänzt werden. Solche Bewertungen setzen Ernährungswissen voraus, die Umsetzung (mehr Gemüse oder Salat) zudem noch Zeit und Kraft und die Akzeptanz der Familienmitglieder, welche sich zunehmend an Gerichte gewöhnen, in denen zugunsten von Fleisch auf Gemüse verzichtet wird. Familien sind zudem Teil eines bestimmten sozialen Milieus. Der Begriff Milieu beinhaltet das Zusammenwirken von sozialer Lage, Lebensstil und Werten. Jede/r lebt in einem Milieu. Soziale Milieus werden im Alltag oft diskriminierend diskutiert und meist auf randständige und/oder sozial schwache Milieus bezogen. Die Menschen dieser Gruppen gelten als ungebildet, und das Vorurteil geht davon aus, dass sie ‚ja nicht richtig essen, weil sie sich nicht richtig um das Essen kümmern‘. Wenn man aber genauer nachfragt, dann kann man erkennen und verstehen, dass und wie die Entwicklung des Ernährungsverhaltens in verschiedenen sozialen Milieus eine Geschichte und sogar eine Logik hat, die ich hier nur kurz ansprechen möchte. Welche allgemeinen Faktoren bestimmen unser Ernährungsverhalten? Es sind u. a. ökonomische Fragen: "Wie viel Geld habe ich zum Einkaufen?". Es sind soziale Ressourcen. Das heißt: "Was ist in meiner Familie, was ist in meinem Umkreis sozial akzeptiert?". Eine vegetarische Ernährung wird inzwischen mehr akzeptiert, allerdings eher bei Akademikern als beim ordentlichen Dortmunder Hüttenarbeiter. Für dessen Ernährungsgewohnheiten fehlt noch Fleisch. Die soziale Akzeptanz hat eine große Bedeutung. Es sind kulturelle Ressourcen, die wir zur Verfügung haben und die uns begrenzen und durch die Menschen unterschiedlich geprägt sind. Die Unterschiede reichen von der Fähigkeit der Nahrungszubereitung bis zu den Vorgaben durch die Religion. Hinzu kommen die psychischen und physischen Ressourcen: "Wie viel Kraft spüre ich noch?". Wenn ich abends oft auf dem Sofa liege und nach einem langen Arbeitstag die Müdigkeit kommt, kann ich mir zehnmal sagen: "Du könntest jetzt gut noch die Blätter von der Treppe fegen. Das wäre ein Stück Bewegung!" Dann kommt mein innerer Schweinehund und sagt: "Ich will aber nicht mehr". Ich muss also auch ausreichend psychische und physische Ressourcen bewahren, um mein Verhalten zu verändern. Im Projekt Ernährungswende wurde versucht, Bewusstseins- oder Vorstellungstypen zur Ernährung zu entwickeln. Man hat verschiedene Typen benannt, die auch zu unterschiedlichen Altersgruppen gehörten: Jugendliche sind danach eher „desinteressierte Fast Fooder“. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass Jugendliche andere Probleme haben als die Frage, ob das Essen gesund ist. Dann gibt es u. a. die Gruppe der „Billig- und Fleischesser“. Essen darf nicht viel kosten, aber Fleisch muss dabei sein. Dieses – oft kritisierte – Verhalten kann Ausdruck einer sozialen Begrenzung (geringes Einkommen, wenig andere Lebensfreuden als Essen) sein, die nicht selbst gewählt ist. Die Gruppe der „gestressten Alltagsmanagerinnen“, die Familie, Hausarbeit und Erwerbsarbeit unter einen Hut bekommen müssen, sind häufig entweder Alleinerziehend, oder sie haben einen Mann, der der Frau das Feld der häuslichen Arbeit überlässt. In dieser Gruppe ist der gute Wille größer als die Ressourcen, ihn umzusetzen. Die meist jüngeren „Fitnessorientierten“ achten mehr auf Ernährung, was aber nicht immer unbedingt gesundheitsförderlich ist. Denn wenn ich für den Muskelaufbau und für Schlankheitsdiäten ständig zusätzliches Eiweiß zu mir nehme, bedankt sich meine Niere irgendwann. Der Mythos, dass mehr Eiweiß Muskeln und Schlankheit sichert, findet aber immer mehr Anhänger – auch und gerade in der Sportszene. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung könnte mit dem Eiweißanteil, den sie alltäglich zu sich nimmt, erfolgreich Kraftsporttraining machen, ohne zusätzlich noch ein Ei essen zu müssen. Es gibt leider Sportwissenschaftler, die empfehlen, das Doppelte an Eiweiß von dem zu sich zu nehmen, was derzeit schon gegessen wird. Das ist, wie erwähnt, schädlich für die Niere und für die Umwelt. Als letzte Gruppe gibt es noch die „Ernährungsbewussten Anspruchsvollen“. Das sind die, die eine höhere Bildung und mehr Geld haben. Und höhere Bildung bedeutet: Ich hatte ein "Privileg" (ich sage bewusst Privileg), mehr über Ernährungsgewohnheiten kennenzulernen und den ökonomischen Freiraum, nämlich das, was ich kennengelernt habe, auch zu nutzen. Für diese Gruppe gibt es auch keinen Widerspruch zwischen sozialen Erwartungen und vorhandenen Ressourcen. Im Entwurf zum neuen Armuts- und Reichtumsbericht wird sehr deutlich, dass es eine durchgängige Benachteiligung der Armen gibt. Armsein bedeutet bei uns auch eine höhere gesundheitliche Beeinträchtigung und z. T. schlechtere Versorgung. Das liegt sowohl am geringeren Wissen als auch an der Tatsache, dass Menschen zum Teil „durch das medizinische System fallen“ oder dort auch anders behandelt werden. So wurde z. B. beim (nicht privat versicherten) Mann einer Kollegin immer nur von einem Quartal zum anderen eine weitere Untersuchung zu den Ursachen seiner großen Knieschmerzen durchgeführt und erst nach einem Jahr hatte man die Diagnose, die man eigentlich mit vier Untersuchungen in einem Monat auch hätte stellen können. Aber während des Jahres konnte er kaum laufen. Das sind Beeinträchtigungen, die auch psychische Folgen haben können. Das Gefühl "Ich bin fit" ist bei den sozial Schwächeren auch weniger vorhanden. Auch psychische Störungen bis hin zur Depression können stark mit der sozialen Lage verbunden sein. Benachteiligte Lebenslagen und ungesunde Lebensweisen aus der Kindheit setzen sich häufig im jungen Erwachsenenalter fort, wie der Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichtes deutlich macht. Diese Zusammenhänge sollte man beachten. Wenn man mit Akademikern arbeitet, kann man bezogen auf das Gesundheitsverhalten ein anderes Wissen und eine höhere Motivation voraussetzen. Ihre Zukunftsorientierung und die sie betreffenden sozialen Normen geben der Gesundheitsförderung eine relativ große Bedeutung. Eine ganz andere Situation findet man zum Beispiel bei der Arbeit mit Arbeitslosen oder mit Menschen, die in prekären Arbeitszusammenhängen arbeiten. So habe ich in der ‚Putzkolonne‘ der Pädagogischen Hochschule Menschen kennengelernt, die drei verschiedene – schlecht bezahlte – Jobs haben, damit sie ihre drei Kinder ernähren können. Dass diese Menschen dann psychisch nicht die Bereitschaft haben, noch zu überlegen, wie sie jetzt ihren Fitnessstand erhöhen, ist verständlich. Hinzu kommt: Wenn das Leben wenig Freuden bietet, kann das Essen ein wichtiger „Freudengeber“ und eine „Bastion“ der Selbstbestimmung werden. Jugendliche zwischen Peers und Elternhaus Sogenanntes ‚ungesundes Essen‘ ist sehr oft sozial begründet, was im Rahmen der Gesundheitsförderung beachtet werden muss. Dies gilt auch für Jugendliche: Man isst, was ‚angesagt‘ ist, zumindest in der Öffentlichkeit. Dieselben Jugendlichen können zuhause aber auch das essen, was ‚auf den Tisch kommt‘. Silke Bartsch hat in ihrer Untersuchung das Essverhalten von Jugendlichen in Berlin erkundet und dies eindrücklich beschrieben. Ich kann aus Zeitgründen hier nur ein paar Aspekte anführen. Das Essverhalten Jugendlicher ist durch andere Gründe bestimmt als durch Gesundheit. Sie sind mit ihren Entwicklungsaufgaben beschäftigt, und das Ernährungsverhalten wird dem untergeordnet. Zur Entwicklung zum Mann und zur Frau gehört bei Jungen z. B. der Wunsch nach Muskeln, bei Mädchen der nach Schlankheit. Wenn man dies bei Interventionen zur Motivationsförderung zu sehr betont, dann muss man aufpassen, dass das Ernährungsverhalten nicht in Diäten oder in eine vermehrte Einnahme von Eiweißpräparaten ‚abrutscht‘. Bei Projekten mit Jugendlichen muss man diese entwicklungsspezifischen Besonderheiten beachten. Eines der empfehlenswerten Projekte mit Jugendlichen ist ‚Gut drauf’ von der BZgA. ‚Gut drauf’ bietet sehr gute Beispiele dafür, wie man jugendgerecht eine gesundheitsgerechtere Esskultur fördern kann. Zugleich sind Jugendliche in ihrem Wunsch nach Ungebundenheit und direkter Bedürfnisbefriedigung die Wegbereiter für die neue Snackkultur – und ihre bevorzugten Snacks sind leider meist hochkalorisch und beinhalten dafür wenig notwendige Nähr- und Wirkstoffe. Man sollte aber nicht die Hoffnung verlieren: Jugendliche sind ein gutes Beispiel dafür, wie man sich durch den Druck der Peers und gegen die Natur an neue Ess- und Trinkweisen gewöhnen kann. Menschen haben z. B. eine Bitteraversion. Ich glaube, fast alle im Saal haben das erlebt: In der Pubertät muss man da durch, muss so lange Bier trinken, bis es einem schmeckt. Wichtiger als die Bitteraversion ist die Vorstellung: "Dann gehöre ich zu den Erwachsenen". Warum soll man dies nicht auch bei anderen Geschmäckern nutzen? Probleme: Gefährliche Schlankheit und Diskriminierung Übergewichtiger Die öffentliche Diskussion beschäftigt sich vor allem mit Übergewicht bzw. Adipositas. Die Zahl der schlecht oder falsch ernährten Nicht-Adipösen bitte ich jedoch ebenfalls im Blick zu behalten, weil viele Schlanke und vor allen Dingen viele Essgestörte sich nicht gesundheitsförderlich ernähren. Wir reden immer über Adipositas. Wir reden nicht über das „normal verrückte Ernährungsverhalten“, das zudem beinhaltet, dass ‚normale‘ Jugendliche sich für zu dick halten und problematisches Diätverhalten entwickeln. Die unreflektierte Bevorzugung der Schlankheit führt auch zu einer Bevorzugung der Schlanken. Daten aus der KiGGS-Studie und aus anderen Studien zeigen, dass Schlanke aber noch lange nicht gesund und Übergewichtige eher die Verlierer in der Gesellschaft sind. Ich möchte zu diesem Punkt noch hervorheben, wie problematisch der Umgang mit Übergewichtigen ist. Die Ergebnisse der Studie von Deutschle und Sonnenberger zeigen beispielsweise, dass übergewichtigen Kindern geringere Intelligenz und geringeres Sozialverhalten attestiert wird. Übergewichtige Kinder will man weniger als Freunde und Freundinnen haben. Die hier Schülern und Schülerinnen gestellten Fragen erhielten auch Lehrer und Lehrerinnen. Das Ergebnis ist dasselbe. Das heißt, dass auch von Seiten der Lehrkräfte eine Diskriminierung derer stattfindet, die ja eigentlich nichts dafür können, denn Kinder sind in aller Regel Opfer der Gesellschaft. Sie sind nicht die Täter. Bildung und Schule Ich hatte schon gesagt, dass Bildung immer noch ein Privileg ist. Bildung ist eine zentrale Grundlage für jegliche Form von Gesundheitsprävention, für die Fähigkeit und Bereitschaft, selbst- und eigenverantwortlich aktiv zu werden. Unser Schulwesen bietet diese Möglichkeit unterschiedlich wirksam an. Immer noch werden (strukturell) diejenigen bevorzugt, die ein Elternhaus mit höherer Bildung haben. Benachteiligte Lebenswelten bleiben damit eine der Hauptursachen für weniger gesundheitsförderliches Verhalten. Neben der Vermittlung von Wissen könnte die Institution Schule vor allem auch über die Schulverpflegung die große Chance für eine Veränderung des Essverhaltens nutzen. Eine gute Verpflegung wäre die preisgünstigste Variante, ein sinnvolles Ernährungsverhalten von größeren Gruppen zu entwickeln. Von der Krippe und dem Kindergarten über die Schule könnte ein Essverhalten gefördert werden, mit dem Kinder und Jugendliche einen guten Einstieg für die weitere Entwicklung mitnehmen könnten. Nur leider versteht das die Politik nicht. Dass eine solche Konditionierung des Essverhaltens funktionieren kann, hat (leider) die USA bewiesen. Bush sen. hat in seiner Präsidentschaft dafür gesorgt, dass Schulen mit Produkten von Fast Food Anbietern ausgerüstet wurden, um die nächste Generation zum ‚amerikanisches Essen‘ zu führen. Wie wir heute wissen, war dies erfolgreich und viele Menschen wurden in den USA auf diese Ernährungsmuster geprägt. Man hätte sie auch für Gemüse gewinnen können. All das ist möglich. Nicht nur das Mittagessen, auch viele anderen Angebote in deutschen Schulen sind zur Entwicklung sinnvoller Essgewohnheiten ungeeignet. Während zum Beispiel für die Turngerüste, die im Schulhof stehen, viele DIN-Normen entwickelt wurden, die eingehalten werden müssen, ist es erlaubt, Ernährungsangebote zu machen, welche im Grunde eine Form der Körperverletzung darstellen. Die Angebote eines ‚normalen‘ Schul-Kiosks beinhalten vor allem energiedichte Snacks mit reichlich Zucker, Weißmehl und geringwertigem Fett. Das ist aber nicht das, was empfohlen wird. Solange jedoch die Hausmeister in der Schule daran verdienen (müssen), dass Kinder solche Dinge kaufen, solange bekommen wir kein verändertes Angebot. Ein gesundheitsförderlicheres Angebot müsste aber, um seine Akzeptanz zu sichern, als gemeinsame Aktion der Schule entwickelt werden, man kann es nicht einfach den Kindern und Jugendlichen aufzwingen. Sonst verlassen wahrscheinlich die über 16-Jährigen den Schulhof und kaufen sich das, was sie möchten, im Kiosk nebenan. Die Verantwortung für die Ernährung in der Schule muss von den Bildungsinstitutionen übernommen werden! In der Schule können Verhaltenskonditionierungen stattfinden, die sehr weitreichend sein können. Diese Chance ist bis heute meist ungenutzt, obwohl es wirklich sehr gute Beispiele gibt, wie man innerhalb von einem Jahr das Wahlverhalten schon wesentlich ändern kann, wenn es eine gute Schulkantine gibt – eine, die nach und nach intelligent langsame Übergänge z. B. von den Nudeln hin zu anderen Angeboten mit höherem Gemüseanteil macht. „Der Mensch ist, was er isst!“ Warum ist die Ernährung so wichtig? Unser Körper wird permanent umgebaut. Die Körperzellen werden – während des ‚laufenden Betriebes‘ – je nach Struktur sekündlich, minütlich, stündlich … also permanent verändert. Diese Zellen können aus nichts anderem um- oder aufgebaut werden als aus dem, was Menschen essen. Der Mensch ist also materiell das, was er isst. Das sollten wir ernst nehmen, wenn wir die Verantwortung für unsere Kinder ernst nehmen wollen. Das heißt dann: entsprechende Angebote ermöglichen, positive Gewohnheiten schaffen und vor allem das Bessere als das Leichtere anbieten. Das Bessere muss eine Verlockung werden. All das ist möglich. Beispiele gibt es genügend dafür. Gesundheitsförderliches Essen baut nicht auf einer Kultur der Entsagung auf, sondern auf einer Kultur der Wertschätzung und des Genusses sowie der Freude an dem Guten. Mit anderen Worten: Wer Ernährungsverhalten verändern will, sollte vor allem Ernährungsverhältnisse verändern. Ich kann Ihnen leider keine wichtigere Botschaft geben. Sie können nicht 80 Millionen Deutschen all das, was ich Ihnen sehr kurz vorgestellt habe, differenziert und unterlegt mit wissenschaftlichen Daten etc. vermitteln. Stattdessen gilt: „Das Bessere muss das Leichtere sein!“. Das gilt genauso für die Bewegung wie für die Ernährung. Und da das Leben zu kurz und für viele auch zu schwer ist, um mit zu vielen Entsagungen gelebt zu werden, muss Essen Genuss bieten. Vielen Dank. Literatur Bartsch, S. (2008): Jugendesskultur: Bedeutung des Essens für Jugendliche im Kontext Familie und Peergroup, in Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung (Bd. 30), BZgA, Köln. http://www.bzga.de/botmed_60630000.html Deuschle, J. & Sonnberger, M. (2011). Zum Stereotypus des übergewichtigen Kindes. In Zwick, M.; Deutschle, J. & Renn, O. 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