1 Frühkindliche Hirnentwicklung – Möglichkeiten und Grenzen einer pädagogischen Interpretation aktueller Erkenntnisse aus der Hirnforschung Dr. Nicole Becker Georg-August-Universität Göttingen Die Erforschung frühkindlicher Entwicklungs- und Lernprozesse ist erst in der jüngeren Vergangenheit verstärkt in den Blick von Öffentlichkeit und Fachwelt gelangt. Aktuell gibt es eine Vielzahl von politisch und pädagogisch ambitionierten Stellungnahmen und Programmen, alle mit dem Ziel, sowohl die institutionellen als auch die familiären Bedingungen des Aufwachsens zu verbessern. Die Debatte zeichnet sich insbesondere durch die starke Betonung kognitiver Entwicklung im frühen Kindesalter aus und in diesem Kontext wird auf Erkenntnisse der Hirnforschung verwiesen, die nicht nur das große Lernpotenzial von Säuglingen und Kleinkindern, sondern angeblich auch Hinweise für die Gestaltung früher Fördermaßnahmen und Interventionen bieten können. Zunehmend möchten pädagogische Fachkräfte ihr Handeln nicht mehr „nur pädagogisch“, sondern auch neurowissenschaftlich begründen. Man verspricht sich von der Hirnforschung jene harten Fakten über frühkindliche Entwicklung und begünstigende Faktoren, die Erziehungswissenschaft und (Entwicklungs-)Psychologie anscheinend bislang nicht liefern. Tatsächlich gibt es von Seiten der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung interessante Erkenntnisse über (früh-)kindliche Hirnentwicklung und die Stoßrichtung, dass sich während der frühen Kindheit entscheidende grundlegende Entwicklungen vollziehen, ist in dieser allgemeinen Form richtig. Dennoch beruhen einige der aktuell vorgetragenen Forderungen nach möglichst früher, anspruchsvoller kognitiver Stimulation auf falschen Vorstellungen. Die Krux liegt im Detail: zunächst einmal muss danach gefragt werden, was die Neurowissenschaften gegenwärtig über Hirnentwicklung – genauer gesagt über den Zusammenhang zwischen Hirnentwicklung auf physiologischer Ebene und Entwicklung auf der Verhaltensebene – wissen. Anders formuliert: auf welche Entwicklungsprozesse beziehen sich eigentlich die bisherigen Studien? Im Anschluss daran kann man sich dann der Frage widmen, ob sich daraus Konsequenzen für die pädagogische Praxis ergeben. Um darauf antworten zu können, sind forschungsmethodische Aspekte maßgeblich: entgegen stark vereinfachenden, populärwissenschaftlichen Darstellungen ist der Blick ins denkende Gehirn mit großem Aufwand verbunden und stellt sich die Interpretation der daraus resultierenden Ergebnisse keineswegs einfach und eindeutig dar. Bildgebungsstudien mit Kleinkindern bilden eine seltene Ausnahme; das meiste, was man derzeit über funktionelle Prozesse der Hirnentwicklung und erfahrungsabhängige Veränderungen weiß, stammt aus Studien mit Jugendlichen und Erwachsenen. In-vivo-Einblicke in die zellulären Prozesse des sichentwickelnden Gehirns sind bislang nicht möglich: was die Neurowissenschaften über die grundlegenden zellulären Mechanismen der Hirnentwicklung wissen, beruht zum großen Teil auf Autopsiebefunden und tierexperimentellen Studien. Im Vortrag werden einige zentrale Erkenntnisse über Hirnentwicklung dargestellt und anschließend im Hinblick auf deren pädagogische Reichweite diskutiert. Dabei wird auch ein kritischer Blick auf Konzepte geworfen, die von sich behaupten, „hirngerechtes Lernen“ anleiten zu können oder Lernstörungen durch bestimmte „Integrationsübungen“ beheben zu können. März 2012