Henry Purcell im Umfeld von Geschichte/Gesellschaft/Politik

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Henry Purcell
–
der „Orpheus britannicus“
I
England im 17. Jahrhundert – Umfeld, Geschichte, Politik
I.I
Das Elisabethanische England 1585 - 1603
Mit der Thronbesteigung von Königin Elisabeth I. Tudor im Jahre 1585 begann das
„Elisabethanische Zeitalter“, welches bis zu ihrem Tode im Jahre 1603 dauerte.
Elisabeth hob die römisch-katholische Hoheit über die englische Kirche wieder auf
und erliess scharfe antikatholische Gesetze. Auch steigerte sie den Einfluss auf
Schottland, in dessen Zusammenhang sie die legitime katholische Königin Maria
Stuart 1587 hinrichten liess. Gleichzeitig verschlechterte sich das Verhältnis mit
Spanien, das seinen kriegerischen Höhepunkt 1588 fand, in welchem die englische
Flotte die „Armada“ der Spanier vernichtete. Damit begann der Aufstieg Englands zur
See- und Kolonialmacht.
Um 1550 war die englische Bevölkerung nach der Pest wieder auf rund drei Millionen
angewachsen, London hatte rund 60'000 Einwohner. Früher als in Kontinentaleuropa
begannen die Schranken zwischen niederem Adel (Gentry) und Bürgertum zu
verschwinden, so dass einflussreiche, vermögende und gebildete Bürgerliche auf die
Ebene des Adels gelangen konnten. Eng mit der Reformation verbunden war die
protestantische Arbeitsethik - Erwerbsarbeit war eine göttliche Pflicht und der daraus
erworbene Reichtum ein Gradmesser göttlicher Gnade.
Das Elisabethanische England war mit William Shakespeare kulturell ein „goldenes
Zeitalter“ – das mittelalterliche Theater wurde abgelöst durch die Figur des
selbstbestimmten und handelnden Einzelmenschen. Auch blühte das Musikalische
auf, insbesondere wurden am Königshof, den Höfen mächtiger Adliger und in
grossen Städten Instrumental- und Chorensembles gegründet – stilistisch mischte
sich englische volkstümliche mit italienischer Musik, vor allem als Tänze und
Madrigale.
II
Die Stuart-Epoche bis zu Wilhelm von Oranien 1603 - 1700
Nach dem Tode Elisabeth I. 1603 trat Jakob I., der Sohn Maria Stuarts, die
Herrschaft an. Mit ihm setzte das barocke, absolutistische Gottesgnadentum des
Herrschenden ein. 1625 starb Jakob I.
Charles I. war wie sein Vater Jakob I. an Kunst und Wissenschaft sehr interessiert
und führte eine prunkvolle Hofhaltung. Der Zusammenbruch der Staatsfinanzen und
der Auseinandersetzungen zwischen der absolutistischen Herrschaft und den
Rechten des Parlaments führten 1642 zum Bürgerkrieg der erst 1648 beendet
wurde. Wegen Tyrannei wurde der König 1649 hingerichtet. Unter Oliver Cromwells
Führung setzten sich die politischen und konfessionellen Auseinandersetzungen fort
– nach seinem Tode 1658 wurde der schottische König Charles II. als neuer König
Englands eingesetzt. Nachdem er England bis 1680 an den Rand eines weiteren
Bürgerkriegs gebracht hatte, verstarb er 1685. In dieser Krise wurde Wilhelm von
Oranien, nachdem er die „Bill of Rights“ unterzeichnet hatte, vom Parlament
1
legitimiert, die Regierungsgeschäfte zu führen. Als König war er nun durch diese
„Glorious Revolution“ vom Volk legitimiert – nicht mehr von Gottes Gnaden.
1650 erreichte England eine Bevölkerungszahl von 5.2 Millionen, London wurde zur
Metropole mit rund 400'000 Bewohnern – insbesondere dadurch bedingt, dass es
zwischen 1597 und 1646 ungewöhnlich lange keine Missernten gab! Auch löste nun
der Überseehandel den Kanalhandel ab.
Unter Jakob I. begann sich eine verfeinerte höfische Kultur zu entwickeln, die vom
Adel in Architektur, bildender Kunst, höfische Dichtung, usw. kopiert wurde. Unter
Cromwell erfuhr diese höfische Kultur einen jähen Rückschlag. Die Widerbelebung
der Musik ging nur zögerlich voran und drückte sich vor allem in der Entdeckung der
neuen Form der Oper aus, vorangetrieben durch Henry Purcell.
II
Henry Purcell – der „Orpheus britannicus“
Henry Purcell wurde 1659 (?) in Westminster geboren, 1695 verstarb er in London.
Henry Purcell war der Sohn eines Mitglied der um 1660 errichteten „Chapel Royal“,
der Sängerkapelle Charles II. Henry erhielt dort eine Ausbildung zum Chorknaben
unter anderem auch durch den Komponisten Matthew Locke (1621 – 1677). Mit 14
Jahren wurde Henry Aufseher, Erbauer, Verbesserer und Stimmer der Orgeln, Flöten
und weiterer Instrumente.
Nach dem Tod Lockes übernahm Purcell das Organistenamt an der Westminster
Abbey. In dieser Zeit schrieb Purcell Schauspielmusiken und Musik zu „Masques“,
der eigenständigen englischen Bühnengattung des höfischen Maskenspiels. Nach
Cromwells Tod sank die „Masque“ gegenüber der Oper ab und wurde zur
Volksbelustigung.
1682 wurde Purcell als Organist auch an der „Chapel Royal“ angestellt. Erste Werke
– geistliche Musik, Oden zu feierlichen Anlässen des Königshauses, Anthems und
Theatermusik – erschienen nun im Druck.
Ab 1690 schrieb Purcell neben vielem Anderen auch Lieder zu Shakespeares „The
Tempest“, Musik zu „King Arthur“, 1692 komponierte er Musik zu „The Fairy Queen“
nach Shakespeare, usw. Zu Purcells weiteren Meisterwerken dieser Zeit gehören
auch sein „Te Deum and Jubilate“ 1694, die „Ode on St. Cecilia’s Day“ 1692, die
„Funeral Music of Queen Mary“ 1694.
1695, in seinem 35sten Lebensjahr verstarb Henry Purcell im Zenit seines Schaffens.
Posthum veröffentlichte seine Witwe 1698 und 1702 einige Werke, darunter die
berühmte Sammlung „Orpheus britannicus“, eine Auswahl seiner Vokalwerke. Henry
Purcell wurde in der Westminster Abbey neben der Orgel begraben. Auf seinem
Grabstein steht: „Here lyes Henry Purcell Esq., who left his life and is gone to that
blessed place where only his harmony can be exceeded“. Anlässlich seiner
feierlichen Beerdigung unter riesiger Teilnahme der Bevölkerung wurde die „Funeral
Music for Queen Mary“ aufgeführt, die er ein halbes Jahr zuvor geschrieben hatte.
2
III
Purcells Rezeption und Wirkungsgeschichte
Purcell war zu seiner Zeit so berühmt, dass ihm - vergleichbar mit Joseph Haydn –
eine Menge musikalischer Werke anderer Komponisten unterschoben wurden. Die
bewegende Musik Purcells liess ihn zum bedeutendsten Komponisten Englands
werden was dadurch gewürdigt wurde, dass ihm der Ehrentitel „Orpheus britannicus“
verliehen wurde. Auch finanziell dürfte er erfolgreich gewesen sein.
Auf beinahe allen Gattungsgebieten hat Purcell massgeblich gewirkt und so den
Grundstein einer nationalenglischen Musik gelegt. Mit seiner expressiven, flexiblen
und dramatischen Gestaltung überragte er sämtliche zeitgenössische Komponisten.
Er verband die weitentwickelte Polyphonie des Elisabethanischen Zeitalters bzw. der
Renaissance (Thomas Tallis, William Byrd, John Dowland, Orlando Gibbons, usw.)
und den von ihm meisterhaft beherrschten Kontrapunkt mit italienischen Einflüssen
und der französischen Chortechnik. Mit Purcell setzte sich beispielsweise die DurMoll-Harmonik an Stelle der mittelalterlichen Kirchentonarten durch, ebenso wie der
Generalbass und das „konzertante Prinzip“ bzw. die Selbständigkeit und individuelle
Gestalt der einzelnen Stimme.
Nach dem Tod von Henry Purcell kam das britische Musikleben beinahe zum
Erliegen, nun beherrschten G.F. Händel und J. Haydn das Feld. Erst mit Edward
Elgar errang wieder ein britischer Komponist allgemeine Anerkennung und
Popularität.
Der Einfluss Purcells auf spätere Komponisten hielt bis heute an – auf moderne
Komponisten wie Benjamin Britten, Michael Tippett, Peter Maxwell Daviels, Michael
Nyman, usw.
IV
Die musikhistorische Bedeutung Purcells
IV.1
„Masques“, „Semioperas“, Opern
Henry Purcell war der wichtigste Vertreter des barocken „englischen Weges“ zur
Oper. In England entwickelte sich eine frühe, eigenständige Bühnengattung, die
„Masques“, ein höfisches Maskenspiel des 16./17. Jahrhunderts. Als typisch britische
Mischform folgt dem Prolog der Aufzug der maskierten Darsteller - den „Masquers“,
adeligen Laien - dann folgt das Hauptstück allegorischen oder mythologischen
Inhalts mit Pantomimen, Tänzen, Dialogen, Lautenlieder, Chören, usw., darauf folgt
der Ball aller Anwesender und die Demaskierung. Die „Masques“ entwickelten sich
dann zu den „Semioperas“, eine Mischung gesprochener und musikalischer Szenen.
Damit erfolgte die Abgrenzung zu italienischen und französischen Modellen.
Purcell komponierte 48 Schauspielmusiken und 5 „Semioperas“. Für das Jahr 1689
ist die Aufführung seiner einzigen ganz durchkomponierten Oper „Dido und Aenaeas“
belegt, die als die bedeutendste englische Oper gilt. Der Klagegesang der
verlassenen Dido zeigt Purcells innige und hohe Ausdruckskunst. Rezitativ und Arie
(Song) mit Lamentobass sind voller schmerzhafter Dissonanzen, aber mit einer
liedhaften schlichten Melodik. Die dramatischen Musikwerke – auf Texte von William
Shakespeare und John Dryden – erregten Aufsehen durch ihre Originalität und den
hohen Kunstwert der Musik.
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Purcells früher Tod verhinderte die Bildung einer englischen Opern-Tradition in
seinem Stil und seiner Art.
IV.2
Geistliche Musik
Die älteste mehrstimmige Gattung wird häufig als „Motette“ bezeichnet. Dazu gehört
auch das „Anthem“ aus lat. „antiphona“, das sich in England aus der lutherischen
Liturgie entwickelt. Unterschieden werden das „Full Anthem“ für Chor a capella und
das „Verse Anthem“ mit dem Wechsel von Chor und Soli. Beide klangvollen und
verständlichen Formen bleiben auch im 18. Jahrhundert beliebt, auch G.F. Händel
knüpft unmittelbar an diese „Anthems“ an.
Unter dem Sammelbegriff des Oratoriums entwickelt sich in England die Gattung der
„Ode“, einem mehrsätzigen Werk für Soli, Chor und Orchester. Oden waren
bestimmt für feierliche Anlässe am Hofe, aber auch der „Musical Society“ und der
traditionellen St. Cäcilien-Feiern. Poetologisch entsteht damit die „Sublimity“, die
„Erhabenheit“. Purcell war der führende Komponist, neu waren auch die gross
angelegten, klangprächtigen Chorsätze wie in der „Ode on St. Cecilia’s Day“. Mit
dem „Alexander Feast“ schuf G.H. Händel 1736 das Bindeglied zwischen Ode und
Oratorium.
IV.3
Weltliche Kompositionen
Ursprünglich wurde das Madrigal als eine strophisch gereimte, volkssprachige
Dichtung verstanden. Während sich in Italien die Komposition von Madrigalen zu
extremster Künstlichkeit (Gesualdo) entwickelte, blieb das englische Madrigal
schlichter in der Harmonik und liedhafter in der Melodieführung.
In England war das „Air“ („Songs“), das Lied zur Laute, von grösster Bedeutung.
Italienische Vorbilder erhalten nun englisches Kolorit. J. Dowland, H. Purcell und W.
Byrd schufen mit ihren Airs von den schönsten Werken der englischen Musik, zu
welchen auch die Sammlung „Orpheus britannicus“ zu zählen ist.
IV.4
Instrumentalmusik
Purcell komponierte auch eine grosse Zahl von Instrumentalstücken, als „Trios“,
„Fantasies“, „Sonatas“, usw. bezeichnet. Höhepunkte dieses Repertoirs sind unter
anderem seine drei- bis fünfstimmigen Sonaten für Streichinstrumente aus den
Jahren 1680 – 1695, die die Polyphonie im harmonisch anspruchvollen Gewand
perfektionieren.
IV.5
Werkverzeichnis
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Im Werkverzeichnis von F.B. Zimmerman werden aufgeführt:
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65 Verse and Full Anthems;
200 Hymnen, geistliche Lieder, Chants;
52 Catches (Kanons);
12 Services (für den Gottesdienst);
24 Odes and Welcome Songs;
196 Songs, Airs;
43 Theatermusik;
209 Instrumentalmusik
viele weitere Musikstücke, deren Autorschaft unklar ist;
V
Die wichtigsten geistlichen Werke
V.1
Die „Ode on St. Cecilia’s Day“
Die heilige „Cäcilia von Rom“, Geboren um 200, gestorben um 230, war der Tradition
zufolge ein Jungfrau und Märtyrerin. Sie versprach sich Jesus Christus, ihre Eltern
verheiratete sie mit dem heidnischen Jüngling Valerianus, mit welchem sie eine
„Josefsehe“ führte. Nachdem sie ihren Mann bekehrt hatte wurden die Beiden
hingerichtet, wobei sich allerlei Wunder ereigneten. Ihr Leichnam wurde im 9.
Jahrhundert unverwest (!) geborgen und in der Basilika Santa Cecilia in Trastevere
beigesetzt. Ihr Gedenktag in allen christlichen Konfessionen ist der 22. November.
Cäcilia ist die Patronin der Kirchenmusik, der Organisten, Instrumentenbauer,
Sänger, Musiker und Dichter.
Die Ode bezeichnete im Barock ein liedhaftes, strophisches Gedicht in der
Nationalsprache. Mit der Zeit grenzte sich die Ode durch ihren hohen, pathetischen
Stil vom einfachen Lied ab.
Am 22. November 1683 rief die Londoner „Society of Gentlemen, Lovers of Musick“
mit einem Bankett und der Aufführung der Ode eine Feierlichkeit ins Leben, die zur
Tradition wurde. Der von der „Society“ mit der Komposition dieser Ode beauftragte
Purcell soll gemäss einem Anwesenden „die Ode mit unglaublicher Grazie selbst
gesungen haben“. Seit dem 17. Jahrhundert wurden Cäcilienfeiern mit grossen
Kompositionen begangen, so auch G.F. Händel mit „Alexander’s Feast or the Power
of Music“.
Die meisten Oden Purcells wurden für kleine Ensembles geschrieben, aber für St.
Cecilia entschied er sich für grosse Besetzungen – grosse kontrapunktische Chöre
mit einer Reihe von Arien für Solisten und obligate Instrumente. Die Textvertonung
ist besonders gelungen und die Musik ist von verblüffender Individualität.
V.2
Music for the Funeral of Queen Mary
5
Das anlässlich des Todes 1694 der Königin Maria II. komponierte Werk besteht aus
einem Trauermarsch, drei „Funeral Sentences, Anthems“, Canzonas und Marsch.
„Es sei nie etwas so hinreissend Schönes und Feierliches und Himmlisches
dargeboten worden, was alle zum Weinen gebracht habe“. Dieses Werk kann in
jeder Auswahl und Anordnung aufgeführt werden, die „Anthems“ auch als
Einzelwerke.
V.3
Te Deum and Jubilate
Für die alljährliche St. Cecilia-Feier 1694 komponierte Purcell keine neue Ode,
sondern das Te Deum and Jubilate. Zu diesem hohen Anlass schrieb er ein Werk für
grosses Streichorchester, Trompeten, gemischten Chor und Solisten. Dies eröffnete
ihm die Möglichkeit, sein meisterhaftes Können zu zeigen – von wortmalerischen,
intimen Passagen bis zu grossen kontrapunktischen Chören. Ein charakteristisches
Beispiel dafür ist „Thou art the King of Glory“. Während Purcell im Te Deum aufgrund
des vielen Textes kürzere Abschnitte komponierte, erlaubte ihm das Jubilate längere
musikalische Passagen. Das eindrückliche Werk endet mit dem klangprächtigen
Amen aller Instrumente und Stimmen.
Purcells Te Deum und Jubilate war das erste in englischer Sprache, Es wurde seit
der Uraufführung 1694 bis 1712 jährlich anlässlich der St. Cecilia-Feiern aufgeführt
bis es von G.F. Händels „Utrechter Te Deum and Jubilate“ bzw. ab 1743 vom
„Dettinger Te Deum“ abgelöst wurde.
Hans-Peter Müller
März 2015
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