Gerechter Krieg - Gerechter Friede_Korrektur_RA

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III. Sicherheitsakteure und –instrumente
3. Konzepte der Konfliktbewältigung
Reiner Anselm
Vom gerechten Krieg zum gerechten Frieden?
Anmerkungen zur gegenwärtigen christlichen Friedensethik
„Für die Probleme von Gewalt und Krieg ist allein Friede der Maßstab. Krieg kann heute
nicht mehr als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ausgegeben werden. Krieg
bedeutet, prägnant und ohne Abstriche, das Scheitern von Politik. Das Drohen mit Krieg
ist keine verantwortbare Politik. Die politische Aufgabe ist es, Gewaltdrohung durch
Friedenspolitik zu überwinden. […] In der Zielsetzung christlicher Ethik liegt nur der
Friede, nicht der Krieg“.1 (Reader Sicherheitspolitik Ausgabe 4/2015)
Diese Formulierungen aus der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland
(EKD) „Frieden wahren, fördern und erneuern“ von 1981 stellen nach wie vor den
Grundkonsens kirchlicher Friedensethik dar. Man kann in dieser Forderung geradezu
den Ertrag der friedensethischen Diskussion der vergangenen Jahrzehnte in der
evangelischen Kirche erblicken. Sie zielt darauf ab, die traditionelle Lehre vom
gerechten Krieg durch eine Lehre vom gerechten Frieden abzulösen, wie sie bereits vom
Bund der Evangelischen Kirchen und von der ökumenischen Versammlung der Kirchen
in der DDR 1989 gefordert worden ist. Konkreter heißt dies, den Krieg als Mittel der
Politik zu ächten, die Rolle des Völkerrechts und der Vereinten Nationen zu stärken und
sich auf die „vorrangige Option für Gewaltfreiheit“ einzusetzen, also für den Vorrang
nicht-militärischer Elemente bei der Friedenssicherung und den Aufbau von Wegen
ziviler Konfliktbearbeitung.
Neue Debatten nach Ende des Ost-West-Konfliktes
Unter dem Eindruck der Veränderungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde
jedoch der innerkirchliche und – so wird man wohl rückblickend auch sagen können –
der gesellschaftliche Konsens der Nachkriegszeit brüchig, Konflikte nicht mit
militärischen Mitteln lösen zu wollen und militärische Macht lediglich zur
Friedenssicherung durch Abschreckung einzusetzen.
1
Frieden wahren, fördern und erneuern. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen
Kirche in Deutschland, Gütersloh 1981, S. 53.
1
Grund hierfür war die vermeintliche Evidenz lokaler humanitärer Katastrophen, auch
wenn an der Oberfläche offizieller Verlautbarungen nach wie vor an der vorgegebenen
Linie festgehalten wurde. Darum kam es vor dem Hintergrund der Kosovo-Krise zu
deutlich divergenten Einschätzungen der Situation. Jetzt zeigte sich schnell:
Aufflammende regionale Konflikte können es erfordern, notfalls und als ultima ratio,
den Krieg als kleineres Übel anzuerkennen, eine Tendenz, die schon vorher in den
entsprechenden Regionalkrisen wahrzunehmen gewesen war. Gleichzeitig aber wurden
die Bewertungsmaßstäbe auch unklar und die Positionen uneindeutig: Im zweiten
Golfkrieg 1991 zur Befreiung Kuwaits schien eine Positionsfindung noch
verhältnismäßig unproblematisch, insofern dieser die Legitimation entsprechend der
Charta der Vereinten Nationen für sich beanspruchen konnte und zudem von einer
breiten internationalen Koalition unterstützt wurde.
Viel schwieriger als diese kriegerische Auseinandersetzung zur Abwehr eines Aggressors
stellten sich diejenigen Probleme dar, die im Zuge der durch den Zusammenbruch des
Ostblocks ausgelösten Befreiungs-, Abspaltungs- und Nationalismus-Bewegungen
aufgebrochen sind. Hier stellte sich, zunächst im ehemaligen Jugoslawien, dann in
Tschetschenien und auch in Somalia die Frage, ob es nicht aus ethischen Gründen
gerechtfertigt sein müsse, in letzter Konsequenz denjenigen auch mit militärischer
Gewalt entgegenzutreten, die die Menschenrechte mit Füßen treten. Im Nachgang zu
den Ereignissen des 11. September 2001 und unter dem Eindruck zunehmender
Bedrohungen durch die Möglichkeit von immer mehr Staaten,
Massenvernichtungsmittel einzusetzen, haben sich diese Fragen nochmals verschärft
gestellt. Hier sei nur an die Äußerung des damaligen Bundesverteidigungsministers
Peter Struck erinnert, Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt.
Im Ukraine-Konflikt setzen
Bundeskanzlerin Angela Merkel
und der französische Präsident
François Hollande auf Gespräche
mit dem russischen Präsidenten
Wladimir Putin.
Foto: Bundesregierung/Kugler
Die Ereignisse des vergangenen Jahres im Nahen und Mittleren Osten, in Teilen Afrikas
und jüngst vor allem auch in der Ukraine haben die hier bestehende Problematik in
ihrer ganzen Komplexität erneut vor Augen gestellt. Gleichzeitig, und darauf wird
später noch einzugehen sein, wuchs aber auch der Widerstand gegen eine allein aus
dem Gefühl der Bedrohung plausibilisierten unilateralen Interventionsdoktrin, wie sie
das Handeln der „Koalition der Willigen“ gegen den Irak bestimmte.
2
Diese Uneindeutigkeit christlicher Friedensethik zu beseitigen und stattdessen ein
deutliches, unverkennbares Zeichen zu setzen, dürfte wohl maßgeblich zu der in den
letzten Veröffentlichungen der Evangelischen Kirche in Deutschland immer deutlicher
zu vernehmenden Absage an eine an der Lehre vom gerechten Krieg orientierten und
durch die Zielsetzung der Durchsetzung der Menschenrechte motivierten
Interventionspolitik beigetragen haben.2
Die kritische Distanzierung gegenüber dem Afghanistan-Einsatz3 war dann die fast
notwendige Folge dieses Denkens, plakativ zusammengefasst in Margot Käßmanns viel
diskutierten Ausspruch „nichts ist gut in Afghanistan“.
Veränderungen der friedensethischen Grundkoordinaten
Ehe die Tragfähigkeit dieser Option hier genauer untersucht werden kann, ist es
lohnend, den Veränderungen der friedensethischen Grundkoordinaten genauer
nachzugehen. Denn der Verweis darauf, dass das Ende des Ost-West-Konflikts das
Aufflammen regionaler Emanzipationsbewegungen und ethnischer Spannungen
befördert habe, bekommt nämlich nur einen Aspekt der Problematik in den Blick.
Ebenso sehr, wie ethnische Konflikte und Bürgerkriege nach dem Ende des Kalten
Krieges und dem Zusammenbruch des Ostblocks möglich wurden, muss auch
berücksichtigt werden, dass gerade durch das Ende der Ost-West-Konfrontation
überhaupt erst die Möglichkeit zu militärischen Interventionen zur Wahrung von
Menschenrechten in Krisengebieten geschaffen wurde. Die Intervention in Afghanistan
wäre unter den Bedingungen des Kalten Krieges ebenso wenig möglich gewesen wie
der NATO-Einsatz im Kosovo oder auch das Eingreifen in Libyen oder im Irak. Wohl
nicht zu Unrecht betonen politische Analysten, dass die Ukraine-Krise auch mit der
Selbstwahrnehmung Russlands zu tun hat, durch das interventionistische Handeln des
Westens, insbesondere der USA, in seinen legitimen Eigeninteressen eingeschränkt zu
werden.
Zugespitzt formuliert: Auf ihre Weise belegen die Erfahrungen nach dem Ende der
Blockkonfrontation nach 1989, angefangen vom ehemaligen Jugoslawien, über
Afghanistan und den Irak sowie, mit umgekehrtem Vorzeichen, in Tschetschenien und
eben jetzt in der Ukraine die These von der friedenssichernden Kraft militärischer
2
Vgl. Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der
EKD, Gütersloh 2007; vgl. insgesamt: Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.): Die
Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bd. 1: Frieden, Versöhnung, Menschenrechte; 4
Teilbände., Gütersloh 2003, sowie Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland: Kirche und
Frieden. Kundgebungen und Erklärungen aus den deutschen Kirchen und der Ökumene (EKD-Texte 3),
Hannover 1982. Zur Entwicklung der evangelischen Friedensethik vgl. insbesondere Wolfgang
Lienemann: Frieden. Vom „gerechten Krieg“ zum „gerechten Frieden“ (= Ökumenische Studienhefte
10), Göttingen 2000, sowie für die gegenwärtige Diskussion die Beiträge in: Hans-Richard Reuter (Hrsg.):
Frieden - Einsichten für das 21. Jahrhundert. Juni 2008 in Münster, Berlin u.a. 2009.
3
Vgl. „Selig sind die Friedfertigen“. Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer
Friedensethik (EKD-Texte 116), Hannover 2014. Kritisch dazu äußert sich Ulrich Körtner: Neuer
Streit um die Friedensethik. Anmerkungen zur gegenwärtigen Diskussion in der evangelischen
Kirche in Deutschland, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 59 (2015), S. 3-7.
3
Abschreckung. Nur dort, wo die militärischen und politischen Risiken kalkulierbar
bleiben, ist es bislang zu militärischen Interventionen zur Abwendung einer
humanitären Katastrophe gekommen. Dies unterschied nicht nur den Kaukasus-Krieg
vom Kosovo-Konflikt, sondern unterscheidet eben auch den Einsatz im Nordirak gegen
den Islamischen Staat (IS) von der Zurückhaltung im Falle der Ukraine.
ISAF Einsatz. Troops in Contact
(TIC) im September 2010 in
Qala e Zal/Afghanistan.
Foto: Bundeswehr/vonSöhnen
Neubewertung der leitenden Paradigmen in Sachen Friedensethik
Die hier geschilderte Praxis legt es nahe, eine Neubewertung der leitenden Paradigmen
in Sachen Friedensethik vorzunehmen. Denn so sehr eine vollständige Ablehnung des
Krieges sich angesichts der konkreten politischen Herausforderungen nicht durchhalten
ließ, so sehr zeigte sich auch, dass eine rein deontologische, an einer unbedingten
Pflicht orientierte Argumentation mit Blick auf den Krieg als ultima ratio der
Menschenrechtspolitik offenbar zu kurz greift. Eine unbedingte politische Pflicht,
jedweden Menschenrechtsverletzungen notfalls auch mit militärischer Gewalt zu
begegnen, lässt sich nicht in die Tat umsetzen, sie lässt sich auch nicht ethisch
begründen. Vielmehr müssen die jeweiligen Umstände für eine derartige Intervention
sorgsam abgewogen werden. Man mag hierin eine Doppelmoral, das Messen mit
zweierlei Maßstäben erblicken und darum die unterschiedlichen, in sich letztlich
inkonsequenten Vorgehensweisen im Falle Tschetscheniens, des Iraks, den
Dauerkrisenherden mittleres Afrika und Naher Osten sowie und des ehemaligen
Jugoslawiens und der Ukraine kritisieren.
Diese Kritik trägt aber in sich das Problem, dass sie meint, mit unbedingten Maßstäben
operieren zu können – gerade auch dann, wenn die vermeintlichen oder realen
Interessen der Intervenierenden als moralisch illegitim kritisiert werden. So ist es trotz
allem Bestreben nach Eindeutigkeit irritierend, mit welcher Sicherheit die Vertreter der
Kirchen in der Irakkrise einen Militäreinsatz kategorisch ablehnten, obwohl sie ihn im
Falle des Kosovo für dringend geboten hielten und sich auch im Fall des IS eher
zustimmend geäußert haben. Nüchterner und mit einem für die theoretischkonzeptionellen Probleme geschärften Blick betrachtet, lässt sich dieses Messen mit
zweierlei Maß darum auch positiv beschreiben: Es ist kennzeichnend für ein
Handlungsprinzip, das es eben nicht bei unbedingten moralischen Ansprüchen
4
bewenden lässt, sondern die Folgen des eigenen Handelns mit ins eigene Kalkül
einbezieht. Es ist die Erweiterung einer gesinnungsethischen zu einer
verantwortungsethischen Position.
Weiterentwicklung zu einer angewandten Ethik
In dieser Perspektive wäre bei den Äußerungen zur Friedens- und Interventionsfrage
weniger eine Mehrperspektivität und eine situative Pluralität zu kritisieren, als vielmehr
eine vermeintliche Eindeutigkeit, die unbedingte Maßstäbe über eine Kultur des
Abwägens stellt. So betrachtet, fügen sich die unterschiedlichen Stellungnahmen
durchaus in einen größeren Theorierahmen ein, wobei das Bestreben nach
Eindeutigkeit in den jüngsten Veröffentlichungen der EKD wohl eher als Rückfall in alte
Positionen denn als Fortschreibung der friedensethischen Urteilsbildung zu verstehen
ist: Für die Ethik insgesamt, insbesondere auch die evangelische Ethik gilt, dass sie sich
in den letzten Jahren von einer vorrangig an Grundsatzfragen hin zu einer stärker an
materialen Einzelproblemen orientierten Fragestellung entwickelt hat.
Das Handbuch zur Friedensethik
der Militärseelsorge.
Foto: Militärseelsorge/Patrick Rossille
Die differenzierte Sicht militärischer Interventionen resultiert damit nicht allein aus
einer veränderten geostrategischen Gesamtlage. Vielmehr entspricht sie den
grundlegenden Veränderungen, die sich im Zusammenhang von Modernisierung und
Pluralisierung auf nahezu allen Feldern der ethischen Diskussion vollzogen haben und
für die der aus dem Englischen übernommene Begriff der applied ethics, der
angewandten Ethik steht. Der Begriff angewandte Ethik führt dabei leicht in die Irre: Es
geht hier gerade nicht darum, einfach bestimmte, aus der theoretischen Reflexion
gewonnene normative Leitvorstellungen auf eine bestimmte Situation anzuwenden.
Vielmehr gilt es, in den je spezifischen Konstellationen eine ethische Entscheidung zu
fällen, die beidem, den grundlegenden ethischen Prinzipien und den jeweiligen
situativen Erfordernissen gleichermaßen gerecht wird.
5
Leitlinien für situationsbezogene Entscheidungen
Vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage nach der Rechtfertigung der Androhung
und Anwendung militärischer Gewalt nicht grundsätzlich beantworten. Vielmehr
können hier nur Leitlinien für eine jeweils situationsbezogene Entscheidung angegeben
werden. Die konkrete Entscheidungsfindung kann jedoch nicht auf dem Feld der Ethik,
sondern nur auf der Ebene politischer Urteilskraft erfolgen. Eine solche Vorgehensweise
ist freilich mehr als die bloße Anpassung der Ethik an den Zeitgeist. Sie spiegelt – aller
Generalisierungsrhetorik gerade auch der evangelischen Kirche zum Trotz – vielmehr
eine grundprotestantische Tendenz wider: Die Entideologisierung und damit auch die
Pragmatisierung von Entscheidungsprozessen, bei der nicht allein moralische Maximen,
sondern vor allem auch die konkreten Konsequenzen mit bedacht werden.
Fortschreibung der Lehre von gerechten Krieg
Eine Schlüsselrolle dabei spielt, trotz aller immer wieder formulierten Kritik, die bereits
angesprochene Fortschreibung der aus der Antike herstammenden und im Kontext des
Christentums insbesondere durch Thomas von Aquin ausgearbeiteten Lehre vom
gerechten Krieg. Dafür lassen sich insbesondere zwei Gründe angeben: Diese Lehre
repräsentiert zum einen selbst einen Denkstil, der versucht, die Ziele, die besondere
Charakteristik und die Konsequenzen des eigenen Handelns in die Urteilsbildung mit
einzubeziehen. Zum anderen möchte diese Lehre den Krieg als unkontrollierten
Ausbruch von Gewalt dem Recht unterstellen. Dieser von ihr vertretene Vorrang des
Rechts macht sie, wenn auch erheblich modifiziert, in besonderer Weise anschlussfähig
für eine gegenwärtige Position. Die mittelalterliche Lehre basierte dabei noch auf der
Vorstellung der Welt als eines geordneten Kosmos, einer Welt, die durch grundsätzliche
Ordnung und durch ein als allgemein verbindlich und objektiv geltendes Wertesystem
gekennzeichnet wurde. In einer solchen Denkweise lässt sich eine Störung der
Weltordnung, eine Verschiebung des Gleichgewichts präzise und für alle Seiten
gleichermaßen evident verorten. Die ethische Legitimität des Krieges als
Verteidigungskrieg gegen denjenigen, der es unternimmt, die vorgegebene Ordnung
zu zerstören, musste in dieser Perspektive einleuchten: Krieg erscheint dabei als
legitimer, zeitlich befristeter Zustand der Unordnung, als ein Mittel, um die
vorgegebene Ordnung wieder herzustellen.
Dieser hier skizzierten Grundentscheidung sind alle weiteren Kriterien der Lehre
zugeordnet. Nicht jedermann, wie im mittelalterlichen Fehdewesen üblich, ist berechtigt,
Krieg zu führen, sondern nur die legitime Herrschaft, die selbst als Repräsentantin einer
höheren Ordnung fungiert. Zudem muss das Ziel des Krieges auch tatsächlich in der
Wiederherstellung des Kosmos liegen, nicht etwa in der Rache oder der Mehrung der
eigenen Einflusssphäre. Als Zustand der Unordnung und des Chaos darf der Krieg selbst nur
die ultima ratio darstellen, die letzte Möglichkeit, nachdem alle anderen Möglichkeiten, die
Ordnung wieder herzustellen, sich als untauglich erwiesen haben. Schließlich muss die
Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt bleiben. Die durch den Krieg verursachte Zerstörung
darf nicht größer sein als das Maß der Ordnungsstörung, der der Krieg begegnen soll.
6
Bedingungen der Moderne
Wenn die Lehre vom gerechten Krieg hier wieder ins Feld geführt wird, so bedeutet
dies freilich nicht, dass diese einfach unmodifiziert in die Gegenwart übernommen
werden könnte. Denn die Voraussetzungen eines einheitlichen, evidenten
Ordnungsdenkens, auf denen die Lehre vom gerechten Krieg beruht, sind unter den
Bedingungen der Moderne nicht mehr gegeben. Mit dem Zerfall des Wert- und
Deutemonopols der römischen Kirche und dem Zerfall vormoderner KosmosVorstellungen zerfällt auch die regulative Funktion einer dergestalt verstandenen Lehre
vom gerechten Krieg. Denn ohne eine allgemein evidente Auffassung dessen, was als
Verstoß gegen die naturgegebene Ordnung zu verstehen ist, wann mithin ein legitimer
Grund für eine Militärintervention vorliegt, ist die traditionelle Lehre vom gerechten
Krieg untauglich, um bewaffnete Konflikte einzugrenzen.
Auch der Verweis auf das Naturrecht hilft nicht wirklich weiter, denn gerade das
Naturrecht hat sich im Blick auf konkrete Handlungsfragen als hochgradig
ideologieanfällig erwiesen: Bei der Beurteilung dessen, was eine justa causa für einen
Krieg oder eine Militärintervention darstellt, kann es zu höchst unterschiedlichen
Ergebnissen kommen, da wir als endliche Subjekte über keinerlei absolute Maßstäbe in
Sachen wahr und falsch, gerecht und ungerecht, gut und böse verfügen. Sich auf
derartige Kriterien zu berufen, steht darum ständig in der Gefahr ideologischer
Absolutsetzung der eigenen Position, schlimmer noch: steht in der Gefahr, jede
kriegerische Auseinandersetzung zu einem „heiligen Krieg“ werden zu lassen, zu einer
Auseinandersetzung um die Vorherrschaft der eigenen Werteordnung.
Doch nicht nur die Individualisierung und Pluralisierung gesellschaftlicher
Wertvorstellungen lassen einen Rückgriff auf die Lehre vom gerechten Krieg in dieser
Fassung als obsolet erscheinen. Ohne eine zugrunde liegende Kosmos-Vorstellung fehlt
der Lehre auch ihre Zielorientierung. Unter den Bedingungen der Gegenwart gilt:
Ordnungen können nicht einfach wiederhergestellt werden. Vielmehr ist das Fehlen
von elementaren gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen selbst das Problem, das in der
Regel allererst zum Ausbruch von Konflikten führt. Auch hierfür sind sowohl der
Kosovo-Konflikt als auch die Beispiele von Afghanistan und des Iraks lehrreiche
Beispiele. Da eine klare Zielvorgabe für eine Ordnungsstruktur fehlt, ist derzeit ein Ende
der Militärintervention nicht in Sicht. Von der Wiederherstellung der Menschenrechte,
die ja zu ihrer Gewährung ebenfalls konstitutiv auf einen politischen Ordnungsrahmen
angewiesen sind, ist man derzeit weit entfernt.
Ordnungsvorstellungen neu entwickeln
In beiden Punkten, der Frage einer allgemeinverbindlichen und objektiven
Werteordnung und im Blick auf eine zugrunde liegende Ordnungsvorstellung, erscheint
also die traditionelle Lehre vom gerechten Krieg modifikationsbedürftig. Unter den
Voraussetzungen, dass eine allgemeine Ordnungsvorstellung mit unzweifelhaften, in
aller Regel durch die Religion legitimierten Herrschern nicht mehr existiert, gilt es,
7
solche Ordnungsvorstellungen positiv zu entwickeln. Darin liegt es auch begründet,
dass eine bloße Abwesenheit von Krieg und Gewalt als nicht suffizient erscheint,
sondern das Ziel eine entwickelte Ordnungsvorstellung sein sollte. Dabei ist allerdings
mit dem Problem adäquat umzugehen, dass solche Ordnungsvorstellungen durchaus
pluralen Charakter haben können, dass also nicht dieselben Vorstellungen von Freiheit
und Menschenwürde überall verbindlich gemacht werden können.
Am Ehrenmal der Bundeswehr.
Foto: Bundeswehr/Sebastian Wilke
Diese Überlegungen leiten dazu an, als Bezugsrahmen für die Weiterentwicklung einer
Lehre vom gerechten Krieg nicht mehr einen auf der Erkennbarkeit des objektiv Guten
durch die menschliche Vernunft gegründeten Denkstil zu wählen, sondern einen, der
auf der konstitutiven Begrenztheit menschlichen Urteilsvermögens und der Unfähigkeit
einer objektiven Erkenntnis des Guten basiert. Denn die Einsicht in die Begrenztheit der
eigenen Position bedeutet immer auch, auf Absolutheitsansprüche zu verzichten und
die grundsätzliche Pluralität von verschiedenen Wertesystemen und
Handlungsalternativen anzuerkennen. Es liegt in der Logik einer solchen Sichtweise,
den Entscheidungsprozess über die Vorherrschaft einer bestimmten Sichtweise strikt zu
formalisieren und auf die Ebene des Rechts, und zwar des positiven Rechts, zu
verlagern.
Zudem entspricht es auch der Erfahrung der europäischen Geschichte, dass eine
dauerhafte Friedensordnung nur dort möglich ist, wo der Konflikt unterschiedlicher
Wertesysteme und Auslegungen des überpositiven Rechts einem geregelten Verfahren
unterworfen wird. Das bedeutet aber auch: Anders als es oft in den entsprechenden
Verlautbarungstexten den Anschein haben könnte, bilden die Programme des
gerechten Friedens mit dem Verweis auf die Notwendigkeit einer Rechtsordnung und
die Lehre vom gerechten Krieg keinen Gegensatz, sondern sie müssen einander
ergänzen.
Der Gedanke einer internationalen Rechtsordnung
Die gilt nun auch noch in einer anderen Perspektive. Nicht nur ist die Lehre vom
gerechten Krieg nach dem Ende der Kosmos-Vorstellung und dem Zerfall des
Naturrechts auf eine weiterentwickelte Rechtsordnung angewiesen, sondern auch
8
umgekehrt gilt: Eine Rechtsordnung ist auf eine Macht- oder eine Gewaltordnung
angewiesen. Gerade von Seiten der lutherischen Staatslehre ist immer betont worden,
dass eine Rechtsordnung selbst schützender Institutionen, nämlich des Staates, bedarf.
Dementsprechend heißt es auch in der 1994 erstmalig erschienenen Erklärung der EKD
zur Friedensethik „Schritte auf dem Weg des Friedens“: „Eine Friedensordnung,
international ebenso wie innerstaatlich, die ihre Geltung jedoch ausschließlich auf den
Gedanken der Akzeptanz stützen wollte, entbehrt nach aller geschichtlichen Erfahrung
der Realität. Im Konfliktfall muss Recht auch durchgesetzt werden“.4 Diese Formel, die
das Gewaltmonopol des Staates aufnimmt und sowohl auf den nationalen, wie auf den
internationalen Kontext bezieht, zielt zunächst auf das in der UN-Charta festgehaltene
Gewaltmonopol der UN. Denn gemäß Artikel 2, Ziffer 4 der UN-Charta ist nur die
individuelle und die kollektive Selbstverteidigung durch Nicht-UN-Organe legitim. Alle
weiteren Interventionen, insbesondere die Abwehr von Aggressionen, Friedensbrüchen
und -bedrohungen sind, nach Vorbild der Polizeigewalt, allein durch die Organe der UN
selbst zulässig. Es ist deutlich: hier wird intendiert, die überkommene Lehre vom
gerechten Krieg durch den Gedanken einer internationalen Rechtsordnung zu ersetzen.
Soldatenseelsorge im Einsatz.
Foto: Bundeswehr/Bastian Fischborn
Staatliches Gewaltmonopol
Doch was passiert eigentlich, wenn die UN nicht in der Lage sind, das Recht
durchzusetzen? Oder wenn es eben nicht nur um rechtserhaltende, sondern um
rechtschaffende Gewalt geht?5 Die schwierige Frage, die sich hier stellt, gilt der
Abwägung, welche Mittel angewendet werden müssen und dürfen, damit es überhaupt
4
Schritte auf dem Weg des Friedens. Ein Beitrag des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD-Texte 48), Hannover 1994, 27. Der Anhang der 3., erweiterte Auflage von
2001 bringt dies sogar noch deutlicher zum Ausdruck.
5
Siehe dazu ausführlicher: Reiner Anselm: Staat – Frieden – Menschenrechte. Über die
Eigenarten des evangelischen Umgangs mit gegenwärtigen Konflikten, in: Zeitschrift für
Evangelische Ethik 54 (2010), S. 124-129.
9
zu einer Wiederaufrichtung des staatlichen Gewaltmonopols kommt. In diesem
Zusammenhang hilft es nicht weiter, einen Vorrang ziviler Friedensarbeit zu betonen,
sondern die drängende Frage besteht darin, wie Regeln für einen Einsatz von Gewalt
unter den geschilderten Bedingungen neuer Kriege gefunden werden können, wohl
wissend, dass die Errichtung eines staatlichen Gewaltmonopols einen komplexen Prozess
in der Kombination von militärischer Stärke und kulturell-politischer Entwicklung, von
Abschreckung und gesellschaftlicher Akzeptanz darstellt. Denn ohne staatliches
Gewaltmonopol ist schon die Unterscheidung in zivile und nicht-zivile Friedenssicherung
problematisch und genau mit der gewollten Unschärfe zwischen zivilgesellschaftlichem
und militärischem Engagement operieren auch die meisten Akteure in innerstaatlichen
Konflikten. Hier gilt es Elemente der traditionellen Lehre vom gerechten Krieg
weiterzuentwickeln und deren Zielrichtung, den Krieg an das Recht zu binden, so
aufzunehmen, dass kriegerische Gewalt die Bedingung für die Implementierung von
Recht sein kann, durch eben dieses Ziel jedoch auch begrenzt wird.
Zur Notwendigkeit einer Weltgewaltordnung
Man braucht hier mit Sicherheit nicht allem zustimmen, was der Soziologe Karl-Otto
Hondrich unter dem Stichwort Weltgewaltordnung schon unter dem Eindruck des
Kosovo-Krieges entwickelt hat, aber sich einer Ethik der Gewaltordnungsverhältnisse
vollständig zu verschließen, scheint ebenso unangemessen.6 Hondrich diagnostiziert
präzise die Problematik der Sichtweise, die vornehmlich auf die Etablierung einer
Friedensordnung setzt und dabei jedoch die Frage der Sanktionierbarkeit dieser
Ordnung vernachlässigt. Denn zu den Schwächen des Völkerrechts zählt noch immer
das Fehlen eines internationalen Gewaltmonopols. Mit der Bildung nationaler
Gewaltmonopole wurde ein historischer Prozess eingeleitet, der am Ende zum Aufbau
einer internationalen Weltgewaltordnung führen soll. Sie kann nach Hondrichs
Überzeugung jedoch nicht ohne einen Hegemon auskommen, „der die Einzelgewalten
entmachtet und im gleichen Zuge sich selbst als Übergewalt herausbildet“.7 Dies sei
derzeit die historische Rolle der USA.
6
Vgl. Karl Otto Hondrich: Wieder Krieg, Frankfurt /M. 2002.
7
Karl-Otto Hondrich: Auf dem Weg zu einer Weltgewaltordnung: Der Irak-Krieg als
Exempel: Ohne eine Hegemonialmacht kann es keinen Weltfrieden geben, NZZ vom
22/23.3.2003, S. 74.
10
Das zerstörte Bagdader Canal
Hotel nach dem Bombenanschlag
auf die United Nations Assistance
Mission for Iraq (UNAMI) 2003.
Foto: USAirforce/James Bowman
Aufgrund dieser Überlegungen fand der Irakkrieg bei Hondrich eine erstaunliche
Rechtfertigung: „Ginge es in ihm nur um den Irak, genügte die Kriegsdrohung. Aber
nur der Krieg selbst zeigt, was die Drohung allein nicht zeigen kann: dass die USA sie
wahr machen“.8 Da keine Ordnungsmacht und Gewalt stark genug sei, „um alle Gewalt
gleicher- und gerechtermaßen zu unterdrücken“, müssten einzelne „Exempel“ statuiert
werden, von denen eine abschreckende Wirkung ausgehe.9 Und genau das geschehe im
Krieg gegen Saddam Hussein. Damit aber verweist die Rechtsordnung als Grundlage
eines „gerechten Friedens“ wieder zurück auf die Lehre vom gerechten Krieg für den
Fall des Versagens der Rechtsordnung. Eine solche Anerkennung der eigenständigen
ethischen Theorie des gerechten Krieges wird dementsprechend auch von einigen
evangelischen Ethikern vertreten – eine Auffassung, die durchaus nachvollziehbar
erscheint.10
Allerdings gilt auch hier: Ebenso wie es naiv ist, beim Recht allein auf Akzeptanz ohne
die Androhung (und exemplarische Durchsetzung!) von Gewalt zu setzen, ebenso naiv
ist es allerdings auch, zu verkennen – was Hondrich in anderem Zusammenhang selbst
betont hat –, dass nämlich die dauerhafte Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols
nicht ausschließlich und primär auf Gewaltandrohung, sondern auf der Herrschaft des
Rechts und einer Ordnung beruht, die von den Bürgern und Bürgerinnen als gerecht
empfunden wird. Recht und Gewalt dürfen somit nicht als Gegensätze, sondern als
komplementäre Größen aufgefasst werden.
8
Ebd.
9
Ebd.
10
Vgl. dazu v.a. Ulrich Körtner: „Gerechter Friede“ – „gerechter Krieg“. Christliche
Friedensethik vor neuen Herausforderungen, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 100 (2003),
S. 348-377. Kritisch: Hans-Richard Reuter: Recht und Frieden. Beiträge zur politischen Ethik,
Leipzig 2013.
11
Militärgeneraldekan
Matthias Heimer im Gespräch
mit Soldatinnen und
Soldaten in
Karahmanmarasch/Türkei.
Foto: Militärseelsorge
Die Relevanz des Völkerrechts und die Theorie des gerechten Krieges
Das bedeutet aber eben auch: Durch das moderne Völkerrecht wird – unbeschadet aller
Vorzüge, die durch dieses geleistet werden – die so ungeliebte Lehre vom gerechten
Krieg nicht überflüssig. Zweifellos bedeutet das grundsätzliche Gewaltverbot der Charta
der UN völkerrechtlich wie friedensethisch einen großen Fortschritt. Aber es kann nicht
darüber hinwegtäuschen, dass es nur um den Preis zahlreicher Ausnahmetatbestände
aufrechterhalten werden kann. Um diese allerdings einer kontrollierten Bearbeitung
zugänglich zu machen und zu vermeiden, dass es zu einer Beliebigkeit in den
Ausnahmesachbeständen kommt, bleibt eine Theorie des gerechten Krieges auch
weiterhin notwendig.11
In diesem Zusammenhang ist außerdem die Unterscheidung zwischen Legalität und
Moralität in Erinnerung zu rufen. Auch wenn in der modernen Gesellschaft das Recht
teilweise die Funktion der Moral übernommen hat, wird diese doch nicht durch das
Recht vollständig ersetzt. In dem Fall, dass Instanzen des Völkerrechts versagen, bleibt
auch weiterhin eine eigene ethische Theorie des gerechten Krieges vonnöten.12
Diesbezügliche Vorbehalte gerade in der evangelischen Kirche beruhen möglicherweise
auf der Verwechslung von ethischer und theologischer Theorie des Krieges: Eine
theologische Legitimation des Krieges ist auf jeden Fall zurückzuweisen. Ethik aber,
jedenfalls wenn sie als Verantwortungsethik entworfen wird, setzt voraus, dass
Entscheidungen über Krieg und Frieden nach den Kriterien der Urteilskraft getroffen
werden und nicht einfach dem Ränkespiel der Kräfte überlassen werden dürfen.
11
In eine ähnliche Richtung argumentiert auch die Friedensdenkschrift der EKD von 2007
(s. Anm. 1), allerdings bleibt diese Argumentation gegenüber dem starken Akzent auf das
Paradigma des gerechten Friedens eher blass.
12
Vgl. Michael Haspel: Friedensethik und humanitäre Intervention. Der Kosovo-Krieg als
Herausforderung evangelischer Friedensethik, Neukirchen 2002, 63ff.
12
Autor
Dr. Reiner Anselm, Jahrgang 1965, ist Professor für Systematische Theologie und Ethik
an der Ludwig-Maximilians-Universität München und hat zahlreiche Publikationen zu
theologischen und ethischen Themen verfasst.
Literatur
Michael Haspel, Friedensethik und humanitäre Intervention. Der Kosovo-Krieg als
Herausforderung evangelischer Friedensethik, Neukirchen 2002.
Karl Otto Hondrich, Wieder Krieg, Frankfurt/M. 2002.
Wolfgang Huber/Hans-Richard Reuter, Friedensethik, Stuttgart u.a. 1990.
Ulrich Körtner, „Gerechter Friede“ – „Gerechter Krieg“. Christliche Friedensethik vor
neuen Herausforderungen, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 100 (2003), S. 348377.
Wolfgang Lienemann, Frieden. Vom „gerechten Krieg“ zum „gerechten Frieden“,
Ökumenische Studienhefte 10, Göttingen 2000.
Hans-Richard Reuter (Hrsg.), Frieden – Einsichten für das 21. Jahrhundert. Münster 2008
und Berlin u.a. 2009.
Jean-Daniel Strub, Der gerechte Friede. Spannungsfelder eines friedensethischen
Leitbegriffs, Forum Systematik 36, Stuttgart 2010.
Links
http://www.ekd.de/EKD-Texte/friedensdenkschrift.html
http://www.ekd.de/EKD-Texte/ekdtext_116.html
13
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