Thema Friedensethik in Zeiten von Kriegen Handeln an der Grenze: die Bundeswehr heute Ethische Herausforderungen für Individuum, Kirchen und Gesellschaft von Sybille C. Fritsch-Oppermann Die Einsätze der Bundeswehr stellen vollkommen neue ethische Herausforderungen an Politik, Kirchen und Gesellschaft. Unterschiedliche ethische Konzepte prallen aufeinander. Ein Schaden für Unschuldige ist heute bei einer pazifistischen Haltung ebenso wenig auszuschließen wie im Falle kriegerischer Handlungen, wenn man von der Situationsethik. Auch eine (christliche) Friedensethik hat sich der realpolitischen Annahme zu stellen, dass es für Fälle militärischen Eingreifens nur um eine Zusammenschau des ethisch Gebotenen, des politisch Erforderlichen und des militärisch Durchsetzbaren gehen kann. So, wie jeder zukünftige Einsatz der Bundeswehr institutionell durch das Parlament legimitiert sein und eine dezidiert politische Begründung aufweisen soll. historischen Erfahrung ausgeht und nicht von vornherein ein göttliches und sofort alles zum Guten wendendes wunderbares Eingreifen einer höheren Macht postulieren will. “Die Gewalt lebt davon, dass anständige Menschen sie nicht für möglich halten.” Dieses Zitat von Jean Paul Sartre erinnert daran, dass sich Friedensarbeit sowie Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit von einem Sinn für Realität und für das Machbare leiten lassen müssen. Dies gilt auch und gerade nach Ende des Kalten Krieges in einer sich zunehmend globalisierenden Welt und angesichts eskalierender internationaler Konflikte und Kriege, in einer eben noch lange nicht friedvollen und von Gott erlösten Welt. Nirgends sonst wie im Falle militärischen Eingreifens – sei dies im Sinne humanitärer Interventionen, im Falle eines Verteidigungskrieges oder bei präventiven/präemptiven Angriffen zum Zwecke der Verteidigung – kommt es (in der Friedensethik) immer wieder zu Überschneidungen von Verantwortungs- und Konflikt-, von Gesinnungs- und 4 evangelische aspekte 1/2008 Krieg und Politik Es ist eine realpolitische Tatsache, dass Krieg – wie schon bei Clausewitz formuliert – die Fortsetzung staatlicher Politik mit anderen Mitteln ist. Im anderen Fall wäre der Entscheidungszusammenhang zwischen politischen Institutionen und dem Einsatz der Bundeswehr ad absurdum geführt. Für deutsche Politik heißt das politische Ziel nach wie vor: Neuaufbau stabiler ziviler und staatlicher Strukturen zum Wohle des betroffenen Landes und der Gemeinschaft der Völker. Es muss aber deutlich bleiben, dass in diesem Konzept mit dem militärischen Scheitern zugleich das politische Scheitern einhergeht. Soldaten als Staatsbürger in Uniform leisten einen Dienst für Frieden, Freiheit und Recht. Und dieser Dienst muss im jeweils aktuellen Kontext mit verständlichen, (auch für die Soldaten und Soldatinnen) nachvollziehbaren Argumenten belegt werden. Dazu gehört eine klare Definition des Einsatzzieles. Thema Friedensethik in Zeiten von Kriegen Prinzipien für die Anwendung militärischer Gewalt Beim präventiven Eingreifen im Sinne einer rechtzeitigen Reaktion auf Kriegs- und Gewaltursachen, das heißt also im Sinne der vorbeugenden Selbstverteidigung bei sicherheitspolitischen Risiken, gewähren nicht zuletzt die völkerrechtlichen Vorgaben der Vereinten Nationen minimale Handlungsmaximen im ethischen Bereich. Daher müssen detailliertere (gegebenenfalls unter anderem auch interkulturelle) Prinzipien für die Anwendung jeglicher militärischer Macht und Gewalt weiterentwickelt werden. Hier muss die Selbstbindung der Politik an ethische Normen deutlicher heraustreten. Aus der Bundeswehr werden Stimmen deutlich hörbar, die bei dieser Frage eine enge Aufeinanderbezogenheit der Politischen Bildung und der Militärseelsorge erkennen. Hier muss ganz deutlich angemerkt werden, dass die allgemeinen und wohl auch exemplarischen Handlungs- und Entscheidungshilfen zwar von Philosophen, Theologen und Vertretern der Politischen Bildung und auch verschiedener Religionen und Weltanschauungen vorgedacht und vorgeschlagen werden können. Aber sie müssen in noch viel weiterem Umfang interdisziplinär, also unter Beteiligung von Politikern und Militärs ebenso wie Psychologen, Medizinern, Sozialwissenschaftlern und so weiter und besonders auch Vertretern der Praxis weiterentwickelt werden. Die auch aus Kreisen der Bundeswehr geforderte nachhaltige berufsethische Aufklärungs- und Bildungsoffensive darf und muss nicht Sache der Militärseelsorge allein sein und bleiben. Es ist wünschenswert, aber eine schwierige Frage, ob sich darüber und über das Exemplarische hinaus Richtlinien entwickeln lassen, die dann in einer konkreten Einzelsituation hilfreich sind, in der von der Waffe Gebrauch zu machen ist. Fest steht allerdings, dass es nach einem Waffeneinsatz für den Ausführenden wie für die direkt oder indirekt für diese Handlung Verantwortlichen leichter und angemessener sein dürfte, diesen Einsatz aufgrund der vorher bekannten allgemeinen Richtlinien zu analysieren und zu verarbeiten. Christlich gesprochen wird es immer wirkungsvoller und angemessener sein, von Schuld und deren Vergebung, von Gnade und Rechtfertigung dann zu sprechen, wenn sich die in Frage stehende Tat nicht willkürlich und ohne jede ethische Grundhaltung ergeben hat. Das gilt selbst dann noch, wenn im Affekt oder aus anderen Gründen von eben dieser grundsätzlichen Haltung abgewichen wurde. Auch der kategorische Imperativ wird im übrigen sinnlos, beziehungsweise verblasst zu einer rein zukünftigen Forderung, wenn er erst im Nachhinein den bereits geschehenen Taten unterlegt wird. Das idealiter Erstrebenswerte und das Machbare Nun gibt es deutlich eine grundsätzlich pazifistische Haltung, die anzuerkennen ist. Sie geht davon aus, dass Krieg nach Gottes Willen nicht mehr sein dürfe, und sie leitet daraus ganz realpolitische Forderungen und die Aufforderung zur Kriegsdienstverweigerung ab. Im besten Fall sind dann auch die aus dieser Haltung entstehenden realpolitischen Folgen abzuwägen und ethisch zu legitimieren. Und das heißt: eine Friedensethik zu legitimieren, die aus pazifistischen und/oder religiösen Gründen Schaden für Unschuldige hinnimmt. Denn ein solcher Schaden ist bei der pazifistischen Haltung ebenso wenig auszuschließen wie im Falle kriegerischer Handlungen, wenn wir aus der historischen Erfahrung und der realistischen Einschätzung des technisch Machbaren ausgehen und nicht von vornherein ein göttliches und sofort alles zum Guten wendendes wunderbares Eingreifen einer höheren Macht postulieren wollen. Wo christliche Ethik das idealiter Erstrebenswerte mit dem realistisch zu Erwartenden und Machbaren abwägt, hat sie sich damit auseinanderzusetzen, was derzeit die politische und damit auch militärische Tagesordnung vorgeben. Jedenfalls solange sie noch insgesamt und von Einzelfällen abgesehen davon ausgeht, dass politische/militärpolitische und militärische Entscheidungen letztlich die Sicherung von Frieden und Menschenrechten zum Ziel haben. Hiermit ist nicht die Frage gestellt, ob in einer christlichen Friedensdenkschrift von “gerechtem Krieg” zu sprechen sei oder gerade von ihm die Rede sein muss. Dies ist eine Frage der Abgrenzung ihres jeweiligen Gegenstandsbereiches und theologisch-hermeutisch-politischen Ansatzes. Es ist aber sehr wohl gefordert, Fragen nach Sinn und Grenzen eines Konzeptes “gerechter Krieg” angesichts weltpolitischer Realität nicht aus dem theologischen Diskurs als ganzem auszuschließen. evangelische aspekte 1/2008 5 Thema Friedensethik in Zeiten von Kriegen Soldaten sind Menschen in ethischen Konflikten In besonderem Maße haben über diese Fragen – das ist wahr! – auch und gerade die Militärseelsorger und Militärseelsorgerinnen nachgedacht, die sich im lebenskundlichen Unterricht der Soldatinnen und Soldaten, in der Seelsorge vor und nach Auslandseinsätzen und eben auch bei Auslandseinsätzen vor Ort existentiell und bis in den Kern ihres Glaubens, ihrer Theologie und Ethik sowie ihrer Pastoral mit ihnen konfrontiert sehen. Es wäre zu einfach sowie theologisch und kirchenpolitisch höchst unbefriedigend, diese Gruppe von Pfarrern und Pfarrerinnen wie ihre Vorgesetzten und geistlichen Supervisoren als Exotikum zu behandeln. Ebenso erscheint es ethisch und intellektuell verwerflich, Soldaten und Soldatinnen in ihrem Tun und in ihrer Gefährdung zwar wahrzunehmen, aber als irgendwie aus der Gesellschaft ausgegrenzten Teil einer besonderen Spezies zu betrachten anstatt, wie im Militärseelsorgevertrag benannt, als “Bürger in Uniform”. Nur “Bürger in Uniform” sind davor gefeit, Krieg als Handwerk und abgetrennt von gesamtgesellschaftlichen Überlegungen zu verstehen. Ebenso wie Militärseelsorger im geistlich-theologischen Bereich immer Pfarrer und Pfarrerinnen ihrer Kirche bleiben. Ethik und Theologie heute können sich nur dann als überzeugend und kohärent erweisen, wenn sie es vermögen, ihre jeweiligen Entwürfe, Stellungnahmen und Grundsatzerklärungen so zu fassen, dass die Anfragen der “Bürger in Uniform” einen notwendigen Bestandteil bilden oder doch mindestens als Konkretisierungen, als Fälle angewandter Friedensethik gesondert und doch auf einander bezogen mit verhandelt werden. Gerade in Konfliktsituationen und Grenzbereichen hat sich ethisches und theologisches Allgemeingut zu bewähren, wenn es wirkungsvoll und gesellschaftlich relevant bleiben, beziehungsweise protestantisch gesprochen: mit der Rechtfertigung sola gratia ernst machen will. Soldaten agieren in Grenzsituationen Bei einer so verstandenen Friedensethik beziehungsweise dieser folgenden angewandten Friedensethik wird ernstgenommen, dass im Falle Waffen tragen- 6 evangelische aspekte 1/2008 der Soldaten und Soldatinnen die Devise “Tue das Gute und meide das Böse” an ihre Grenze geführt wird. Der Dienst von Soldaten und Soldatinnen für die Bürger des demokratischen Rechtsstaates verlässt die ethische Alltagsnormalität. Evangelische Friedensethik, die immer den Frieden zum Ziel hat, muss angesichts realpolitischer Verhältnisse darauf bestehen, dass eine Gleichrangigkeit zwischen Waffendienst und Waffenverzicht besteht, und den Staat in die Pflicht nehmen “unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen” (so etwa in der Barmer Theologischen Erklärung V), also immer auch Konfliktethik sein. Der verantwortet vorläufige Charakter jeder protestantischen Ethik unter dem “Schon jetzt/Noch nicht” ist an dieser Stelle besonders offen für kritische Einwürfe und verwiesen auf den Diskurs mit pointiert und fundiert Andersgesinnten. Die Grenzsituation, die Dilemmasituation im Einsatz – das heißt eben auch im Gebrauch von Waffen – ist die Situation, an der sich die Haltbarkeit einer Evangelischen Friedensethik als Konfliktethik zu erweisen hat. So wie die Haltbarkeit von Theologie und Evangelischer Ethik, die Tragfähigkeit von Glauben und Bekenntnis sich gerade in Grenzsituationen zwischen Erlösungshoffnung und Heilsgewissheit einerseits sowie Sündhaftigkeit und gegenwärtigen realen Verstrickungen dieser Welt und unserer Leben andererseits erweisen muss und will. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Konkretisierung und Zuspitzung einer Ethik politischen Handelns im Kräfteparallelogramm zwischen Kirche, Gesellschaft, Staat und Militär (etwa am Beispiel der Militärseelsorge). “Verantwortete Vorläufigkeit” In Konfliktsituationen stehen sich ausschließende Handlungen gegenüber. In Extremsituationen wird es noch schwieriger: Es geht nicht mehr um das relativ Gute oder Böse, sondern nur noch um die Wahl zwischen zwei oder mehreren Übeln. In solchen Grenzfällen unterscheidet sich Konfliktethik von gängigen ethischen Diskursen, denn im Konfliktfall stellt sich Verantwortungswahrnehmung als ethisches Dilemma dar. Wer sich nur den Opfern zuwendet, lässt den Ursache-Folge-Zusammenhang außer Acht. Ebenso führt Toleranz gegenüber Intoleranz zur Komplizenschaft. Thema Friedensethik in Zeiten von Kriegen Hier sei der Begriff der “verantworteten Vorläufigkeit” aufgenommen. Als möglicher theologischer, ethischer und hermeneutischer Ausgangspunkt vermittelt er eventuell zwischen Anliegen der Verantwortungs- und Konfliktethik einerseits sowie einer eher pazifistischen Gesinnungsethik andererseits. Der Treffpunkt beider Standpunkte läge dann in einer immer wieder und gerade auch in Konfliktsituationen, die noch dazu schnelles Handeln und Entscheiden fordern, nötigen Situationsethik: Wer nicht in der Theorie des Evangeliums verharren, sondern sie – gläubig, jedoch nicht schwärmerisch – Schritt für Schritt in die Tat umsetzen will, wird sich schmutzige Hände machen. Das kann und darf nicht den – dann noch dazu ethisch verurteilten! – Akteuren vor Ort überlassen werden. Auch das ist ein Gebot christlicher Nächstenliebe und Solidarität. Das Konzept der verant- worteten Vorläufigkeit geht davon aus, dass Menschen in den Glauben und ins Handeln gerufen sind. Sie leben in der Hoffnung auf Gottes Reich, das Reich eines umfassenden Schalom im Sinne von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, hin. Aber sie tun dies in einer gleichermaßen erlösten wie nach wie vor sündigen Welt. In diesem Zustand des “Schon jetzt/ Noch nicht” kann es nicht genügen, sich in theoretische Ideale und damit eine reine Gesinnungsethik zurückzuziehen. Es ist der Realität dieser Welt und dem Ziel des Wohlergehens möglichst vieler auch nicht angemessen, neue Formen schwärmerischen Glaubens und Tuns anzustreben. Deshalb geht mit dem Konzept der “verantworteten Vorläufigkeit” immer auch das aus der Befreiungstheologie übernommene Konzept der “strukturellen Sünde” einher. Menschen sind unschuldig- Vielfältige Dialoge sind notwendig ein Kommentar von Sybille C. Fritsch-Oppermann Die Unterscheidung zwischen militärischen Einsätzen zum Zwecke der Verteidigung beziehungsweise auch aus Gründen der zivilen Prävention, zwischen humanitären und stabilisierenden Maßnahmen einerseits und präventiven militärischen Maßnahmen andererseits wird fließender. Zumal durch die internationale Verflechtung – auf operativem Gebiet – die politische, mindestens aber ethische Verantwortung nicht mehr wirklich national und nach Einsatzbereichen beziehungsweise Art der Maßnahmen aufgeteilt werden kann. Tatsächliches Geschehen und völker- wie verfassungsrechtliche Verankerungen klaffen hier und da auseinander. Ebenso politischer Wille und militärische Realität. Die vor allem US-amerikanische Forderung von “preemptive strikes” als notwendigen anti-terroristischen Maßnahmen ist noch viel zu wenig diskutiert worden. Ebenso die neuen Asymmetrien in der Kriegsführung, die durch die Ent-nationalisierung von kriegerischen Handlungen entstehen. Beides war aber immerhin andererseits der Ausgangspunkt für einen fortschreitenden Unilateralismus der Vereinigten Staaten und für eine Infragestellung der unausweichlichen Notwendigkeit eines UN-Mandates bei bewaffneten Einsätzen. Deshalb muss in der tatsächlichen politischen Situation neu nachgedacht, müssen gegebenenfalls neue (international-) rechtliche und politische Regelungen für ein zukünftiges Vorgehen diskutiert werden. Das gilt besonders auf dem Gebiet der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik sowie Außenpolitik. Für Kirche und Theologie bedeutet dies andererseits, dass mit Hilfe der neuen Friedensdenkschrift der EKD aus dem Jahr 2007 und diese im aktuellen Fall und auch Grenzfall auslegend und erweiternd, nach neuen Modellen der Militärseelsorge und einer angewandten Friedensethik gesucht werden. In der Bundeswehr steht neben dem fortlaufenden Transformationsprozess auch das bewährte Modell der Inneren Führung zu neuer Diskussion an. Besonders von hier aus werden Rufe nach interinstitutioneller und interdisziplinärer Zusammenarbeit, nach Ressort übergreifendem Diskurs laut. Schließlich macht die neue Situation auch ganz neu den Dialog zwischen Pazifisten und Militärs, zwischen denen nötig, die den Dienst am Frieden durch Wehrdienstverweigerung oder eben durch den Dienst an der Waffe verstehen und doch beiderseits überzeugte Mitglieder der Evangelischen Kirche sind, ihre jeweiligen Entscheidungen in Gewissensprüfung christlich begründen. evangelische aspekte 1/2008 7 Thema Friedensethik in Zeiten von Kriegen schuldig in oft sündigen Strukturen der Realität gefangen. Ihnen bleibt oft nur, zwischen zwei Übeln das Kleinere, zwischen Gut und Böse das möglichst Gute zu wählen und das Reich Gottes anzustreben und dessen Eintreten zu erhoffen. Deshalb muss Gesinnungsethik immer um Verantwortungsethik ergänzt werden. Besonders in Grenzsituationen ist in aller verantworteten Vorläufigkeit das Richtige zu tun. Und je schneller die Entscheidung sein muss, desto weniger kann sich Konfliktethik auf feste und immergültige Gesetze stützen. Das Gewissen als anthropologische Instanz legt: Gewissen sei Manifestation des Menschseins und damit Inbegriff verantwortbarer Existenz. Der Mensch ist Gewissen, sofern er sich als Mensch begreift.” (Ulrich von den Steinen, Unzufrieden mit dem Frieden, Göttingen 2006) Gewissenskonflikte sind so immer auch Normenund Wertekonflikte. Paulus, der das Wort Gewissen (syneidesis) im Sinne von Bewusstsein gebraucht, und das Alte Testament, das dieses Wort nicht kennt und als Äquivalent das Wort “Herz” benutzt, stimmen dennoch darin überein, dass es in beiden Fällen um Wissen beziehungsweise Handeln und Urteilen in Beziehungen geht. Es geht um eine anthropologische Instanz, in der sich die Spannung des Menschen als Geschöpf Gottes und als Sünder entscheidend auftut. Für Luther ist das Gewissen als letzte Instanz der Entscheidung in (gebrochener?) Gewissheit letztlich mit der Stimme Gottes gleichzusetzen, der Luther einen nicht überbietbaren Grad unbedingter Verbindlichkeit zuspricht, wo es gilt, menschliche Entscheidungsschwäche zu überwinden. Gewissen ist stets gebundenes Gewissen, ja sogar Garant von Bindung. Mit einer in allgemeine Regeln der Verantwortungsethik als Konfliktethik eingebundenen Situationsethik befinden wir uns immer auf dem schmalen Pfad zwischen subjektiver Willkür und ethischer Verbindlichkeit und damit auch beim Nachdenken über die (anthropologische) Dimension des Gewissens als letztem Bezugspunkt des handelnden Menschen. Dessen Freiheit wird sowohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Artikel 1) als auch im Grundgesetz der BRD (Artikel 4) für unverletzlich befunden. Gewissen bedarf der Orientierung Gewissensfreiheit gehört zum Grundbestand der “Gewissen kann nicht aus sich selbst heraus zwiFreiheitsrechte des Individuums und korrespondiert schen gut oder böse, richtig oder falsch, verwerflich gleichwohl mit der Gewissensverantwortung, die oder lobenswert unterscheiden. Aus diesem Grunde ein mündiger Mensch wahrzunehmen verpflichtet bedarf es einer Orientierung an Werten, Normen, ist. Nun kann man gemäß Artikel 4,3 Grundgesetz Ordnungen, an Recht und Gerechtigkeit – und es ist sowohl über die Gewissensfreiheit und Gewissenszugleich deren Träger … Daher ist eine Gewissensverantwortung der Wehrpflichtigen und der Soldaentscheidung stets reflexiv; sie ten als auch der Pazifisten und führt den Menschen zu sich Kriegsdienstverweigerer diskutieEs gibt keinen Teil selbst und über sich selbst ren. Man kann außerdem beides des Menschen, der hinaus. Insofern fragt er: Was nochmals vor dem Hintergrund gebietet Gottes Wort im Kontext der christlichen Rechtfertigungsals das “Gewissen” meines praktischen, vernünftigen lehre bedenken – und damit vor definiert werden Sollens und Könnens? Idealerweieinem für evangelische Theologie könnte. Gewissen ist se findet in der Gewissensentund kirchliche Bekenntnisschriften scheidung eine Verschmelzung wichtigen, ja verbindlichen HinManifestation des von Offenbarung und Vernunft tergrund. Menschseins und statt. “Der Mensch erweist sich daZu beachten ist, dass die Gedurch als sittliches Wesen, dass er damit Inbegriff verwissensentscheidung nicht sagt, Gewissen hat, besser: dass er Geantwortbarer Exiwas zu tun oder zu lassen ist, wissen ist. Es gibt keinen Teil des stenz. Der Mensch sondern unser Tun und Lassen Menschen, der als das ‘Gewissen’ am Ethos christlicher Überliefedefiniert werden könnte. Gerhard ist Gewissen. rungen misst. Daher gründet sich Ebeling hat überzeugend darge- 8 evangelische aspekte 1/2008 Thema Friedensethik in Zeiten von Kriegen Gewissen auf einer Botschaft, einem Glauben, die Entscheidungshilfe anbieten, aber nicht selbst entscheiden … Das Gewissen meldet sich als Ruf beziehungsweise Impuls gegenüber dem, was abendländisch-christliches Ethos vernünftigerweise als Wahrheit meiner Existenz gebietet.” (Ulrich von den Steinen, Seite 110) Das Kollektiv kann letztlich keine Gewissensinstanz sein. Sicherlich stellt es den Menschen vor Situationen, verantwortlich zu handeln und Gewissensentscheidungen zu treffen. Während Menschen vor Gott und nach Gottes Willen und in seinem Namen Verantwortung übernehmen sollen und wollen, können sie ihre Entscheidungen, besonders zugespitzt in Konflikt- und Grenzsituationen, letztlich nur nach ihrem Gewissen treffen. Im Gewissen als letzter subjektiver Instanz müssen sie sich einerseits darauf verlassen und darum bemühen, auf andere hin zu entscheiden, andererseits sind sie in letzter Instanz hier Gott allein verantwortlich – überspitzt formuliert, als würde Gott in uns sich zu Wort melden. Dies Wagnis äußerster Subjektivität und gleichzeitig äußersten Gottesgehorsams muss als Kehrseite äußerstes Gottesvertrauen haben. Dies liegt für evangelische Christen und Christinnen in der Rechtfertigungslehre begründet. seelsorge in ihren “Gemeinden auf Zeit”, aber auch insgesamt vor neue Herausforderungen gestellt. Geistliche teilen den soldatischen Alltag, sind neutrale Zuhörer auch für nichtchristliche Ratsuchende, heben in den Gottesdiensten den Sonntag heraus; auch Taufen sind keine Seltenheit. Besonders nötig werden seelsorgerliche Kompetenzen in Extremsituationen und bei der Konfrontation mit existentiellen Fragen. Dann sollte in einem überarbeiteten Konzept etwa des Lebenskundlichen Unterrichts mehr Freiraum, auch für ethische, religiöse und politische Urteilsbildung vor dem Hintergrund der Erfahrungen seit 1989 gegeben sein. Nicht zuletzt angesichts der zunehmenden Zahl von Nichtchristen (aus den neuen, aber auch alten) Bundesländern und Freikirchlern, aber auch aufgrund der Konfrontation von Ethnien, Kulturen und Religionen gerade in den Auslandseinsätzen stellen sich Fragen des gerechten Friedens – als Leitmotiv für die Überwindung von Gewalt – beziehungsweise Fragen des gerechten Krieges neu. Dies gilt auch, weil Militärseelsorge heute eine internationale Aufgabe in enger Kooperation mit den Militärseelsorgern unterschiedlicher Religionen etwa bei den Partnern in der NATO ist. Die Friedensdenkschrift der EKD Militärseelsorgerliche Arbeit Die beiden Kernstücke militärseelsorgerlicher Arbeit sind und bleiben vor diesem Hintergrund die persönliche Begleitung von Soldatinnen und Soldaten sowie ihrer Angehörigen und der lebenskundliche Unterricht, in dem gesellschaftliches Orientierungswissen ebenso vermittelt wird, wie Fragen nach dem Sinn (des Lebens) gestellt werden und solche, was eine Gesellschaft lebenswert und verteidigenswert macht. Ebenso eine Rolle spielen – beziehungsweise sollten spielen, wie besonders in jüngerer Zeit – eine Vergewisserung über die eigene kulturelle Identität und die Schärfung des Gewissens sowie eine gute Ergänzung des Gesamtkonzeptes der Inneren Führung. In den Auslandseinsätzen werden die Soldaten und ihre Familien vor besondere Belastungen gestellt. Sie wirken für den Frieden in der Welt und internationale Sicherheit und damit auch für die Interessen ihres Landes. Mit diesen Wandlungen und Transformationsprozessen ist auch die Militär- Die neue Friedensdenkschrift der EKD aus dem Jahr 2007 gibt Christen und Christinnen eine exzellente Grundlage zur Friedensethik an die Hand. Umso wünschenswerter ist es nun, ihr würde mit christlichen Überlegungen zu einer angewandten Friedensethik geantwortet und sie würde interdisziplinär und interinstitutionell empathisch-kritisch gewürdigt und auf den Einzelfall hin angewendet und ausgelegt. Sollten sich dabei Aspekte ergeben, die auch ihre Grundaussagen in verantworteter Vorläufigkeit fortschreiben und erweitern helfen, wäre dies in guter reformatorischer Tradition ein sicher von dieser Schrift und ihren Verfassern selber intendiertes Ziel. Dr. Sybille C. Fritsch-Oppermann ist Mitglied in der Redaktion der evangelischen aspekte. Das Sartre-Zitat und grundsätzliche Anregungen und Leitlinien dieses Beitrages verdanken sich dem in dieser Ausgabe der evangelischen aspekte besprochenen Buch von Ulrich von den Steinen, Unzufrieden mit dem Frieden. evangelische aspekte 1/2008 9