Marina Hennig Individuen und ihre sozialen Beziehungen

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Marina Hennig
Individuen und ihre sozialen Beziehungen
Forschung Gesellschaft
Marina Hennig
Individuen
und ihre sozialen
Beziehungen
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VSVERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Bibliografische information Der Deutschen Bibliothek
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detaillierte bibliografische Daten sind im internet uber <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
l.Auflage Februar 2006
Alle Rechte vorbehalten
© VS Verlag fur Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006
Lektorat: Monika Mijlhausen / Bettina Endres
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Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany
ISBN 3-531-14833-8
Danksagung
Dieses Buch ist aus der Habilitationsschrift, im Ergebnis eines von der
DFG finanzierten und unter Leitung von Prof. Dr. Hans Bertram durchgefiihrten
empirischen Forschungsprojektes entstanden.
Daflir sei an erster Stelle der Deutschen Forschungsgemeinschaft ftir die
Finanzierung gedankt.
Des weiteren mochte ich an dieser Stelle Prof. Dr. Hans Bertram danken,
der es mir ermoglicht hat, im Rahmen seines Projektes, dass zum Teil von mir
entwickelte Netzwerkerhebungsinstrument einzusetzen und damit empirisch zu
uberprufen. Ohne seine Bereitschaft die damit verbundenen Risiken einzugehen,
ware meine Arbeit nicht moglich gewesen. Dank gilt ihm auch ftir seinen Vorsitz in der Habilitationskommission.
Bestarkt wurde ich in meinem Vorhaben durch die Unterstutzungsleistungen die ich aus den „starken" und „schwachen" Beziehungen erhalten habe. Zu
den starken Beziehungen gehort vor allem meine Familie, von der ich emotionalen Ruckhalt bekam. Dafiir danke ich besonders meinem Mann und meinem
Sohn, sowie meinen Eltern.
Zu den schwachen Beziehungen gehoren viele Personen, fiir die ich stellvertretend einige nennen mochte. PD Dr. Jurgen Hoffmeyer-Zlotnik, fiir seine
methodischen Tipps und Ratschlage, Prof. Dr. Karin Lohr, PD Dr. Christine
Hannemann, Ph.D. Sophie Mutzel, und Jan Hobohm ftir die fachlichen Diskussion und das kritische Lesen der Arbeit.
Prof. Dr. Barry Wellman von der Universitat Toronto, der mit groBer Begeisterung meine Forschung aufgenommen und durch sein Feedback unterstutzt
hat.
Henriette Urban, die in bewahrter Weise, das Korrekturlesen iibernommen
hat und Prof. Dr. Bernhard Nauck, der bereit war als Zweitgutachter fiir die dem
Buch zugrunde liegenden Habilitationsschrift zu fungieren.
Berlin, im Oktober 2005
Marina Hennig
Inhalt
Tabellenverzeichnis
10
Abbildungsverzeichnis
11
Einleitung
12
1 Gemeinschaft und Gesellschaft
21
1.1
Rationalisierung und Gemeinschaft
22
1.1.1
Max Webers handlungstheoretische Konsolidierung der Begriffe
Gemeinschaft und Gesellschaft
25
1.1.2
Die fiinktionalistische Weiterentwicklung der Theorie des
sozialen Handelns (Talcott Parsons)
27
1.1.2.1
Die ^Pattern Variables"
30
1.1.3
Die Funktional-strukturelle Systemtheorie von Niklas Luhmann.. 34
1.1.4
System und Lebensweh bei Jurgen Habermas
40
2 Die Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft in den
Gesellschaftstheorien
46
2.1
Die Gemeinschaft als Grundlage des sozialen Lebens
50
2.2
Zur Bedeutung der sozialen Beziehung
52
2.2.1
Gemeinschaftliche und gesellschaftliche Elemente sozialer
Beziehungen
56
3 Das theoretische Konzept des sozialen Netzw^erks
58
3.1
Das sozialeNetz
58
3.2
Hauptstromungen der Entwicklung eines Netzwerkansatzes
60
3.2.1
Die Sozialanthropologie
61
3.2.2
Formale Soziologie
66
3.2.3
Die sozialpsychologischeEntwicklungslinie
67
3.2.4
Die amerikanische Gemeinde- und Industriesoziologie
69
3.2.5
Die Harvard-Strukturalisten
70
3.3
Struktur und Handeln in sozialen Netzwerken
74
3.3.1
Die Starke schwacher Beziehungen
75
3.3.2
Strukturelle Locher
77
3.3.3
Identitat und Kontrolle oder die Bedeutung von Kognitionen fiir
die Muster sozialer Beziehungen
80
3.3.4
Kognitionen, Handlungsspielraume und Netzwerkstruktur
85
3.3.5
Strukturierungstheorie von Anthony Giddens
90
3.3.5.1
Kritik an der Theorie der Strukturierung
94
3.3.6
Strukturation von Unternehmensnetzwerken
95
4 Die Methode der Netzwerkanalyse
104
4.1
Zur Begriffsbestimmung sozialer Beziehungen
104
4.1.1
4.2
4.3
4.4
4.4.1
4.4.1.1
4.4.1.2
4.4.1.3
4.4.2
4.4.3
4.4.4
4.5
Interaktionstypologie
106
Strukturelle Eigenschaften von Beziehungen
108
Die Ego-zentrierte Netzwerkanalyse
113
Die Erhebung ego-zentrierter Netzwerke
114
Namensgeneratoren und Namensinterpretatoren
114
Kontextbezogene Namensgeneratoren
114
Stimulusbezogene Namensgeneratoren
115
Globalgeneratoren
115
Das Burt-Instrument
116
Das Fischer-Instrument
117
Das Wellman-Instrument
118
Mafizahlen fiir die Strukturbeschreibung Ego-zentrierte
Netzwerke
118
4.5.1
NetzwerkgroBe
119
4.5.2
Dichte
120
4.5.3
Multiplexitat
120
4.5.4
Reziprozitat
122
4.5.5
DiversitatsmaBe
122
4.5.6
Heterogenitat
124
4.6
MaBe zur Beschreibung der inneren Differenziertheit der
Netzwerkstruktur
125
4.6.1
strukturelle Einbettung
125
4.6.2
Anzahl der Netzwerkkomponenten
126
4.6.3
Clusteriiberlagerung
126
4.7
Reliabilitat und Validitat der Netzwerkinstrumente
126
4.8
Vergleich der Instrumente fur die Erhebung Ego-zentrierter
Netzwerke
128
5 Verlust oder Liberalisierung von Gemeinschaft?
131
5.1
Individualisierung und soziale Beziehungen
133
5.1.1
Die Verlustthese
136
5.1.2
Die Liberalisierungsthese
139
5.2
Die netzwerkanalytische Formulierung der
Community-Question
140
5.3
Eine empirische Analyse sozialer Beziehungen
145
5.3.1
Zur Auswahl der Stadtteile und zur Stichprobe der Befragung.... 146
5.3.2
Das eingesetzte Netzwerkinstrument
150
5.3.2.1
Exkurs „Focustheorie von Scott Feld"
150
5.3.2.2
Zuriickzum Netzwerkinstrument
152
5.3.3
Empirische Ergebnisse zur Validitat der Netzgeneratoren
154
5.3.3.1
Ausschopfungsquote
154
5.3.3.2
5.3.3.3
5.3.3.4
5.3.4
5.3.5
5.3.6
Primarnennungen von neuen Netzpersonen
157
Multiplexitat und Uniplexitat
159
Variationen sozialer Kontexte
161
Berechnung der StrukturmaBe
164
Ermittlung unabhangiger Strukturdimensionen
167
Zuordnung der ego-zentrierten Netzwerke zu den Wellman Thesen
169
5.3.7
Vergleich der Ergebnisse mitden Wellman-Thesen
171
5.3.8
Verteilung der Lebensformen nach Netzwerktypen
177
5.3.9
Merkmale der Befragten nach Haushaltsform und Netzwerktyp. 180
5.4
Starke und schwache Beziehungen
184
6 Schlussbetrachtung
192
7 Literatur
200
Tabellenverzeichnis
Tabellel: Die Unterscheidung zwischen den Begriffspaaren Gemeinschaft
- Gesellschaft und formell-informell
59
Tabelle 2: Struktur, System und Strukturierung
93
TabelleS: Interaktionstypologie
106
Tabelle 4: Hierarchie sozialer Interaktionen
108
Tabelle 5: Konzepte der Netzwerkstruktur fiir die sechs verschiedenen
Formen der Netzwerkanalyse
111
Tabelle 6: Vergleich der Instrumente
129
Tabelle 7: Idealtypen ego-zentrierter Netzwerke nach Wellman
144
Tabelle 8: Anteil der unter 18-Jahrigen an der Bevolkerung nach Stadtteilen 148
Tabelle 9: Verteilung der gezogenen Adressen auf die Stadtteile
148
Tabelle 10: Realisierte Interviews und Ausfallgriinde
149
Tabelle 11: Relative Haufigkeit der Stimulusbesetzungen
155
Tabelle 12: Mittlere Nennungshaufigkeit von Netzpersonen im Netzwerk
156
Tabelle 13: Korrelationstafel zum Zusammenhang zwischen Multiplexitat
und den einzelnen Stimulusvorgaben im Netzwerk
161
Tabelle 14: Variationen sozialer Kontexte im Netzwerk
162
Tabelle 15: Mittelwerte und Standardabweichungen der Strukturvariablen
165
Tabelle 16: Faktorladungen der Strukturvariablen
168
Tabelle 17: Mittelwertdifferenz fiir „Erwerbstatig/PartnerHausfrau/Hausmann" und „Hausfrau/Hausmann/Partner
erwerbstatig"
170
Tabelle 18: Erhaltene Clusterzentren
171
Tabelle 19: Korrelation zwischen Clusterzentren und Stadtteilen
176
Tabelle 20: Korrelation zwischen Clusterzentren und Lebensform
178
Tabelle 21: Mittelwerte derNetzstrukturdaten nach Lebensformen
179
Tabelle 22: Durchschnittliches Pro-Kopf-Nettoeinkommen nach
Lebensform und Netzwerktyp
180
Tabelle 23: Verteilung der starken und schwachen Bindungen
185
Tabelle 24: Mittelwerte fiir Einzelvariablen nach Bindungstyp
185
Tabelle 25: Kreuztabelle Kontaktpartner und Bindungen
186
Tabelle 26: Faktorladungen fiir die sozialen Beziehungen
187
Tabelle 27: Mittelwerte fiir die sozialen Beziehungen nach Kontaktpersonen. 188
Tabelle 28: Erhaltene Clusterzentren
189
Tabelle 29: Haufigkeitsverteilung der Beziehungstypen
190
Tabelle 30: Kreuztabelle Kontaktpersonen und Beziehungstyp
190
10
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1:
Abbildung 2:
Abbildung 3:
Abbildung 4:
Abbildung 5:
Abbildung 6:
Verbotene Triade nach Granovetter
76
Stratifikationsmodell des Handelns
91
Konstitution von Unternehmensnetzwerken
96
Schichtenmodell sozialer Systeme
98
Dualitat von Struktur in der Interaktion
100
Kognitive Dimensionen und Verhaltenskomponenten
eines sozialen Netzwerks
105
Abbildung 7: Haufigkeitsverteilung des Netzumfangs
155
Abbildung 8: Primarnennungen von Netzpersonen
158
Abbildung 9: Multiplexitat der Interaktionen im Netzwerk
160
Abbildung 10: Verteilung sozialer Kontexte auf die Stimulusvorgaben
163
Abbildung 11: GroBe der ego-zentrierten Netzwerke
166
Abbildung 12: Verteilung der Strukturvariablen fiir die erhobenen Netzwerke 167
Abbildung 13: Netzwerktypen nach sozialem Kontext
172
Abbildung 14: Raumliche Ausdehnung der Netzwerke nach Netzwerktypen.. 173
Abbildung 15: Dauer des Kennens nach Netzwerktypen
174
Abbildung 16: Kontakthaufigkeit nach Netzwerktypen
175
Abbildung 17: Verteilung von Netzwerktypen nach Stadtteilen fur
die Netzwerke
176
Abbildung 18: Netzwerktypen nach Lebensformen
178
Abbildung 19: Schulabschluss der Befragten nach Netzwerktypen
181
Abbildung 20: Anzahl der Kinder nach Netzwerktypen
182
Abbildung 21: Alter der Kinder nach Netzwerktypen
183
11
Einleitung
In den letzten Jahren hort man immer haufiger den Satz „Fruher war alles
besser" und spiirt dabei die Sehnsucht nach der „guten alten Zeit" in Deutschland. In zahlreichen Medien, wie z.B. im „Spieger' finden sich immer wieder
Hinweise darauf, dass sich Moral und Solidaritat aber auch Anstand und Gemeinsinn im Niedergang befinden. So wird unter dem Titel „Die Deutschen ein
Volk ohne Moral?" (Der Spiegel 1999/51:50), eine Erosion des „moralischen
Kitts, der die Gemeinschaft solidarisch zusammenhalt" und ein Verlust des
„Konsenses dartiber, was gut und bose ist" konstatiert. „Werte wie Pflichterflillung, Verantwortung tragen, Gemeinsinn uben" (Der Spiegel 1999/51:60) werden durch die Tendenz zu „einer individualistischen Orientierung auf Eigennutz,
Selbstverwirklichung und hedonistischen Materialismus" (Der Spiegel
1999/51:60) ersetzt. Ein halbes Jahr spater findet sich ein Aufsatz zum Werteverfall der „Generation Ich" (Der Spiegel 2000/21:22) und kurzlich titelte der
Spiegel mit der Ruckkehr der alten Werte bzw. mit alten neuen Werten: „Die
neuen Werte - Ordnung, Hoflichkeit, Disziplin, Familie" (Der Spiegel 2003/28).
Diese Artikel spiegeln die Sorge und die Angst vor dem Zerfall der Gesellschaft, vor einer zu starken Okonomisierung sowie vor dem Verlust der eigenen
Identitat wider. Politiker beklagen sich uber die Auflosung sozialstaatlicher
Grundsatze, wie dem nicht Funktionieren des Generationenvertrages usw. und
in der wissenschaftlichen Diskussion um die Gesellschaft und ihre Sozialstruktur steht die Frage nach der sozialen Einbindung der Individuen im Vordergrund. Dabei wird vor allem die Auflosung traditioneller Einbindungen beklagt.
1st die heutige Gesellschaft beziehungslos? Konnen Sozialformen ohne
gemeinschaftliche Bindungen uberhaupt bestehen? Wie sieht das Zusammenleben der Individuen in einer „individualisierten Gesellschaft" aus? Dies sind die
zentralen Fragen dieses Buches.
Dazu werde ich zu Beginn die Diskussion um Gemeinschaft und Gesellschaft emeut aufleben lassen, um am Beispiel der wichtigsten Protagonisten um
die Gemeinschaftsdebatte die unterschiedlichen Positionen zu verdeutlichen.
Der gesamten Debatte liegt eine Begriffsdichotomie zu Gemeinschaft und Gesellschaft zugrunde, die meines Erachtens nach nicht zu einem der Moderne
eigenen Gesellschafts- und Gemeinschaftsverstandnis ftihrt. Diese kritische
Diskussion kommt zu dem Ergebnis, dass in der modernen Gesellschaft nur eine
am Netz orientierte Lesart dieser Begriffe die Komplexitat von Gemeinschaft
und Gesellschaft erfassen kann. Daher orientiert sich die Schrift im weiteren
verstarkt auf die soziale Netzwerkperspektive, der einerseits durch unterschiedliche wissenschaftliche Stromungen beeinflusst wurde und andererseits durch
die in der Geschichte der Soziologie vorherrschende Aufeinanderfolge von
12
Begriffsdichotomien gepragt war, jedoch bis heute noch keine wirkliche Theorieperspektive darstellt. Vermutlich wurde aus diesem Grund die Diskussion in
diese Richtung auch nur sehr verhalten gefuhrt. Mit Hilfe einer empirischen
Netzwerkstudie werde ich im letzten Teil dieses Buches exemplarisch am Beispiel der Familienbeziehungen zeigen, dass vergemeinschaftete und vergesellschaftete Sozialformen zwei Teile eines Ganzen sind, die sich nicht gegenseitig
ersetzen sondern gemeinsam die soziale Einbindung von Individuen ausmachen.
Bereits seit den Anfangen der Soziologie im 19. Jahrhundert wird diese
Diskussion uber die Auflosung traditioneller Einbindungen und eine Zunahme
der Individualisierung in der Gesellschaft gefuhrt. Ulrich Beck, einer der gegenwartigen Vertreter dieser Diskussion, konstatiert, dass immer weniger Menschen in Gruppen und Gemeinschaften eingebunden sind, sozusagen „jenseits
von Stand und Klasse" leben (Beck 1994: 43) und sich damit in einer neuen
„Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft" befinden (Beck 1994: 58;
Beck 1986: 118). Der Prozess der Individualisierung wird fur ihn zu einer Befreiung aus Zugehorigkeiten, Bindungen, Positionen und sozialen RoUen. Aber
diese Freiheiten ftihren nicht zwangslaufig zu einer Erhohung der Lebenschancen, wie der Titel des Buches: „Riskante Freiheiten (1994)" von Ulrich Beck
und Elisabeth Beck-Gernsheim ausdriickt. Eine Befreiung bzw. Individualisierung ist immer mit einem gewissen Risiko verknlipft, welches ein Bestandteil
der Modeme und Anzeichen fiir die Zukunftsorientierung moderner Gesellschaften ist. Die Loslosung von Vergangenem und eine Ausrichtung auf eine
riskante Zukunft ist die Quelle der Energie und Produktivitat in modernen Gesellschaften (vgl. Giddens 2001: 33ff). Die Individualisierung wird in den letzten Jahren mit Prozessen in Beziehung gebracht, die unter der Bezeichnung
Globalisierung gefasst werden, da die Globalisierung in freiheitlichdemokratischen Gesellschaften zu einer starkeren Individualisierung der Lebensentwiirfe flihrt (vgl. Trabold 2000). Die Globalisierung wird als revolutionare Veranderung, vor allem in den Bereichen Wirtschaft, Politik, Technologic
und Kommunikation angesehen (vgl. Giddens 2001:1 Iff, 21), als eine „realgeschichtliche Transformation in Richtung auf globale Vernetzung und Abhangigkeiten" (Durrschmidt 2002:12).
Aus den traditionellen Biographien werden Wahlbiographien (Beck und
Beck-Gernsheim 1994b: 13), die immer auch mit dem Risiko behaftet sind, nicht
erfolgreich zu sein. Das eigene Leben verliert seine Selbstverstandlichkeit und
es muss in Eigenleistung ausgestaltet werden (Beck und Beck-Gernsheim
1994b: 14, 18). Die Individualisierung wird in diesem Bereich auch zu einem
Zwang, der den Individuen von auBen auferlegt wird und dem keiner entgehen
kann (vgl. Beck und Beck-Gernsheim 1994b:21). Auf der anderen Seite fmden
sich in dieser Art der Bastelbiographie (vgl. Beck und Beck-Gernsheim
13
1994b: 13) auch Vorteile, denn die Familie als Not- und Zwangsgemeinschaft, in
der die Solidaritat unhinterfragte Pflicht war, wandelt sich in eine postfamiliale
Familie, die auf den Interessen, Erfahrungen und Lebensplanen der Mitglieder
basiert (vgl. Beck-Gernsheim 1994: 134ff). Dennoch schwingt im Hintergrund
immer das Risiko mit, dass das Individuum nunmehr alle Risiken allein tragt, da
die Allgemeinheit immer seltener dafiir einsteht (vgl. Beck 1986: 144ff). Arbeitslosigkeit wird zum Einzelschicksal der Betroffenen, genauso wie Krankheit, Armut oder Alter zum individuellen Risiko werden. Beck zeichnet in diesem Zusammenhang das Bild vom einsamen Individuum (vgl. Beck 1986: 191),
welches mit neuen Abhangigkeiten konfrontiert wird, namlich der Abhangigkeit
vom Markt, insbesondere vom Arbeitsmarkt (vgl. Beck 1986: 212). Arbeitszeitflexibilisierung, Tele- und Leiharbeit, Dezentralisierung und Vertrage mit Zielvereinbarungen schaffen neue Anforderungen und erhohen damit den Druck auf
die Individuen. Sie erzeugen neue Unsicherheiten und schaffen neue Ungleichheiten (vgl. Beck 1986: 225ff). Richard Sennett bezeichnet den Zustand, in dem
sich der flexible Mensch (vgl. Sennett 1988) befindet, als Drift. Die erhohte
geographische und soziale Mobilitat aber auch neue Formen der Paarbeziehungen sind ftir ihn Indikatoren einer Herauslosung aus traditionellen Wertegemeinschaften. Dies flihrt zu einer standigen Ungewissheit und Unsicherheit im
Leben der Menschen (Sennett 1988: 38). Seiner Meinung nach flihrt die Flexibilisierung der Arbeitsverhaltnisse nicht zum eigenverantwortlichen Arbeiten,
sondern sie kaschiert vielmehr die Macht- und Abhangigkeitsstrukturen und
deren tiefgreifende Wirkung auf die Beschaftigten (vgl. Sennett 1988: 58). Die
zunehmende Technisierung der Arbeit ftihrt auf lange Sicht zum Verlust der
beruflichen Identitat und verstarkt damit die „Drift" der Individuen. Auch bei
Sennett fmdet sich der Gedanke des allgegenwartigen individuellen Risikos, wie
ihn Beck formuliert hat. Jedoch ist ftir ihn das Risiko die Antriebskraft des modernen Kapitalismus, denn nur wer ein Risiko eingeht, wer immer in Bewegung
ist, der zahlt in dieser dynamischen Welt. „In einer dynamischen Gesellschaft ist
der Stillstand wie der Tod" (Sennett 1988: 116). In einer solchen Vorgehensweise der Wirtschaft und in der immer weiter fortschreitenden Individualisierung und der damit verbundenen Steigerung der Drift der Individuen sieht Sennett eine Gefahrdung der Gesellschaft. So lautet der SchluBsatz in seinem Buch
„ein Regime, das Menschen keinen tieferen Grund gibt, sich umeinander zu
kiimmern, kann seine Legitimitat nicht lange aufrechterhalten" (Sennett 1988:
203). Aber auch bei Beck und Beck-Gernsheim (1994b:33) fmdet sich eine
ahnliche Frage: „Sind hoch individualisierte Gesellschaften iiberhaupt noch
integrierbar? ". An anderer Stelle wird die Frage noch etwas ausftihrlicher gestellt:
14
,,Gelingt es, an die Anspriiche und VerheiBungen des in Gang gekommenen Individualisierungsprozesses und des in ihm enthaltenen konkreten Aufklarungsimpulses anzukntipfen und jenseits von Stand und Klasse Individuen und Gruppen in
neuer Weise als selbstbewusste Subjekte ihrer personlichen, sozialen und politischen Angelegenheiten zusammenzufassen? Oder werden im Zuge von Individualisierungsprozessen die letzten Bastionen sozialen und politischen Handelns weggeschmolzen, und die sich individualisierende Gesellschaft versinkt an der Grenze
zwischen Krise und Krankheit in politischer Apathie, die nichts ausschlieBt, auch
nicht neue und schleichende Formen einer Modemisierung der Barbarei?" (Beck
1994:59).
Mit der Individualisierung verbunden ist die Vorstellung, dass die solidarischen Vermittlungsleistungen der Gesellschaftsmitglieder briichiger werden,
dass Eigenvorteil und Rationalitat in modernen Lebensformen im Vordergrund
stehen. Parallel dazu werden aber traditionelle, gemeinschaftliche Lebensformen
mehr denn je gewunscht und es kommt zu einer „Renaissance der Gemeinschaft"(Rehbergl993).
Dies ist der Widerspruch des Lebens in der Moderne: Auf der einen Seite
gibt es eine zunehmende Tendenz der Selbstverwirklichung und des Egoismus
und auf der anderen Seite wunschen sich die Menschen Nahe und emotionale
Verbundenheit. Die sozialen Beziehungen mtissen diese Kluft uberbrucken.
Starke und enge Beziehungen schaffen in der individualisierten Gesellschaft
solidarische Oasen, wie sie z.B. in Freundschaften zum Tragen kommen. Im
Berufsleben sind die sozialen Beziehungen immer starker mit der Berufsbiographie verbunden vor allem spielen die Kontakte beim Zugang zu neuen Arbeitsstellen oder bei Entscheidungen zur zukunftigen beruflichen Entwicklung eine
groBe Rolle. Vor allem in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation erlangt der informelle Arbeitsmarkt eine immer groBere Bedeutung, d.h., dass Kontakte und
schwache Beziehungen flir den beruflichen Ein- und Aufstieg immer wichtiger
werden (vgl. Granovetter 1982). Angesichts offensichtlicher Uberfiillung des
Arbeitsmarktes bei gleichzeitigen Diskussionen um die Kompetenz der staatlichen Arbeitsplatzvermittlung sehen immer weniger Menschen in den formellen
Strategien der Arbeitsplatzsuche, vor allem in der herkommlichen Bewerbung
auf Anzeigen, die beste Moglichkeit, sich uber den Arbeitsmarkt zu informieren
und eine neue Stelle zu fmden. Vielmehr scheint es vor allem ein verstarktes
informelles Engagement zu sein, welches die Chancen erhoht, ein neues Beschaftigungsverhaltnis zu fmden.
Die starker eigenverantwortliche Haltung des oder der Einzelnen entspricht
zudem sowohl der Idee vom „flexiblen Menschen" (Richard Sennett 1988) als
auch den Vorstellungen der Politik iiber zukiinftige Formen des Wohlfahrtsstaates. Der „aktivierende Sozialstaat" will seine Burger zu groBerer Selbststandig15
keit ermuntern und erreichen, dass sie nicht langer vom Sozialstaat bevormundet
werden miissen. Dieses Bild vom Burger korrespondiert gerade mit der
Wunschvorstellung vom Menschen als lebenslang lernendes, geistig, sozial und
raumlich mobiles Individuum, welches in den sozialwissenschaftlichen Debatten der letzten Jahre groBe Aufmerksamkeit erlangte.
Die Ideale der Leistungsgesellschaft verlieren zunehmend an Aussagekraft,
denn jetzt sind es vor allem die Beziehungen, die fur einen GroBteil der Menschen das Uberleben in der Leistungsgesellschaft sichern. In der hoch individualisierten Gesellschaft werden an die Mitglieder komplexe Leistungsanforderungen gestellt, die durch eine uniiberschaubare Menge von Extraqualifikationen
definiert werden und denen ein GroBteil der Mitglieder kaum noch entspricht.
Viele der Gesellschaftsmitglieder haben das Geflihl, dass ihre Fahigkeiten herabgesetzt und entwertet werden und sehnen sich nach sozialer Unterstiitzung
(vgl. Sennettl988).
Diese Seite der Vergesellschaftung fiihrt bei verschiedenen Gesellschaftsgruppen zu einem Ruf nach scheinbar langst tiberholten Sozialformen. Die individuelle Sehnsucht nach gemeinschaftlicher Verbundenheit resultiert aus der
Wahrnehmung einer verloren geglaubten Gemeinschaft, welche verbunden wird
mit sozialer Nahe, Solidaritat und Ganzheitlichkeit. Demgegenuber steht die
moderne Gesellschaft mit ihrer Rationalitat, menschlichen Kalte und Technisierung. Das Bedurfnis nach Gemeinschaft artikuliert sich in neuen Formen der
Verbundenheit, wie z.B. Burgerinitiativen, verstarkten Nachbarschaftsbeziehungen usw., die Unterstiitzungsleistungen und Nahe bereitstellen.
Das Prinzip der Rationalisierung wird in Krisenzeiten der Moderne in Frage gestellt und die „verklarte Gemeinschaft" wird wieder aufgriffen.
Aber entsprechen diese neuen Formen der „gemeinschaftlichen Verbundenheit" uberhaupt dem traditionellen Modell der Gemeinschaft, wie es Ferdinand Tonnies beschrieben hat? Sind sie durch einen Wesenswillen gekennzeichnet, einer gemeinschaftlich ganzheitlich zustimmenden Bereitschaft des
Einzelnen? Im Unterschied zur Gemeinschaft wie Tonnies (vgl. Tonnies
[1887] 1991) sie meinte, entsteht die Suche nach Verbundenheit in der Moderne
nicht aufgrund eines Kollektivismus, sondem aus ganz individuellen Motiven
heraus. Dabei geht es vor allem um den eigenen Nutzen, den man sich aus der
Verbundenheit erhofft. Daftir schlieBen sich die Individuen zu Interessen geleiteten Netzwerken zusammen, um so ftir jedes Netzwerkmitglied den maximalen
Nutzen zu erzielen (vgl. Focus 27/1995). Diese Entwicklungen werden jedoch
von dem Psychologen Horst-Eberhard Richter nicht als individuelle Selbstverwirklichung angesehen, sondern vielmehr als „oberflachlicher Egozentrismus"
(Richter 1995:56).
16
Gegen eine solche Einschatzung wehren sich die Kommunitaristen, die in
den neuen Gemeinschaften eine Wiederbelebung des Gemeinsinns sehen, innerhalb dessen sich die Akteure wechselseitig in ihren Leistungen und Fahigkeiten
anerkennen, da sie gemeinsame Werttiberzeugungen teilen (Honneth 1993:
264). Etzioni vertritt die Position, dass es gerade die Eigenschaften der Gemeinschaft sind, die das Handeln und Denken von Individuen bestimmen. „Menschen auBerhalb von Gesellschaften gibt es nicht; was der Mensch ist, beruht auf
seinem sozialen Sein, und was er aus seinem sozialen Sein macht, ist unabanderlich damit verbunden, was er aus sich selbst macht" (Etzioni 1975: 27). Menschen sind als soziale Wesen voneinander abhangig und benotigen sich gegenseitig - die autarken Individuen, die der methodologische Individualismus annimmt, hat es niemals und wird es niemals geben, denn nach Etzioni sind „Menschen [...] sozial gepragt und werden bestandig durch Kultur, durch soziale und
moralische Faktoren sowie durch andere Personen beeinflusst" (Etzioni 1997:
46).
In Anlehnung an Martin Burber stellen fiir Etzioni die individuelle Personlichkeit (Ich) und die Gemeinschaft (Wir) zwei gleichwertige Pole einer interpersonalen Beziehung dar. Es handelt sich bei beiden um Abstraktionen, die
nur gemeinsam einen Sinn ergeben und bei der keine von beiden Vorrang vor
der anderen hat. In ahnlicher Weise wie G.H. Mead (1973) beschreibt Etzioni
diesen Zusammenhang: „Wenn wir das erste Mai lernen, unsere inneren Erfahrungen zu beschreiben, stiitzen wir uns in Wirklichkeit auf die Wahrnehmung
anderer iiber unser beobachtbares Verhalten" (Etzioni 1975: 48).
In seiner Steuerungstheorie geht er davon aus, dass aktive Menschen sich
ihrer Gemeinschaft wieder bewusst werden und diese aktivieren, um sie zu
einem sozialen Akteur zu machen und so „ihr kollektives Leben und ihr individuelles Selbst andern" (Etzioni 1975: 28).
Keupp (1995) sieht in den veranderten sozialen Beziehungen eine Verbindung von individuellen und kollektiven Zielen. Nachbarschaften bilden lose
und gleichzeitig personliche Beziehungen. Freunde werden nach der Ahnlichkeit ihrer Interessen ausgewahlt und traditionelle Zugehorigkeiten werden durch
fi'eiwillige Solidarbeziehungen abgelost. In der gelungenen Verbindung von
Selbstverwirklichung und Altruismus und von Selbstverwirklichung als Altruismus sieht Keupp einen „neuen Typus von Solidaritat", eine „kommunitare
Individualitat" (Keupp 1995: 54), in der sich nicht „WerteverfaH", sondern
„zukunftsfahige Lebensstile" ankundigen (Keupp 2000: 11).
Die klassische Diskussion um Gemeinschaft und Gesellschaft (Tonnies,
Weber, Parsons) wurde in einer Bipolaritat geftihrt, in der die Formen der Zusammengehorigkeit entweder dem einen Pol (Gemeinschaft) oder dem anderen
Pol (Gesellschaft) zuordnet wurden. In der Modeme wird jedoch die traditionel17
le Verpflichtung gegeniiber anderen Gesellschaftsmitgliedern negiert und der
individuelle Wille bejaht. Das neue Gemeinschaftsbediirfnis sucht nach individuell nutzbaren Beziehungen. Die verlorene Gemeinschaft wird durch informelle multiple Netzwerke ersetzt, deren Aufbau nicht mehr traditionell erfolgt,
sondem in Abhangigkeit vom Arbeits- und Dienstleistungsmarkt entworfen und
verwirklicht wird. Der gobalisierte Kapitalismus wird immer haufiger mit dem
Begriff der „Netzwerkgesellschaft" (Castells 2003) gekennzeichnet. „Netzwerke bilden die neue soziale Morphologie unserer Gesellschaften, und die Verbreitung der Vernetzungslogik verandert die Funktionsweise und die Ergebnisse von
Prozessen der Produktion, Erfahrung, Macht und Kultur wesentlich" (Castells
2003: 527). Die Netzwerkgesellschaft fuhrt aber auch zu einer qualitativen
Veranderung in der menschlichen Erfahrung, die nicht von jedermann positiv
erlebt wird (vgl. Castells 2003).
Richard Sennett betont im Rahmen seiner Kapitalismusanalyse (Sennett
1988), dass als Ergebnis der beruflichen Anforderung im globalisierten Wirtschaftssystem Strukturen abgebaut werden, die auf Dauer angelegt waren. Sie
werden ersetzt durch „netzwerkartige Gliederungen", die „weniger schwerfallig" sind und die „sich einfacher auflosen und umorganisieren" lassen "als starre
Hierarchien" (Sennett, 1988 : 27). „Beziehungen gewinnen an Bedeutung, deren
Eigenschaften Mark Granovetter unter der Bezeichung „Die Starke schwacher
Bindungen" (Granovetter 1982) beschrieben hat, „womit er zum einen meint,
dass fluchtige Formen von Gemeinsamkeiten den Menschen niitzlicher seien als
langfristige Verbindungen, zum anderen, dass starke soziale Bindungen wie
Loyalitat ihre Bedeutung verloren hatten" (Sennett: 1998:28). In Anlehnung an
diese Analyse stellt Senett eine Reihe von kritischen Fragen: „Wie lassen sich
langfristige Ziele in einer auf Kurzfristigkeit angelegten Gesellschaft anstreben?
Wie sind dauerhafte soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten? Wie kann ein
Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine
Identitat und Lebensgeschichte zu einer Erzahlung bundeln?" (Sennett 1988:
31). „Die Entstehung der „Netzwerk-Gesellschaft" steht also fur eine hochst
ambivalente Entwicklung. Sie umschreibt einerseits eine globalisierte Weltgesellschaft, die ungeheure Gestaltungsraume eroffnet, traditionelle Grenzziehungen uberschreitet und ungeahnte okonomische Potentiale schafft (Bill Gates als
Prototyp). Andererseits ist es eine (noch?) unberechenbare Gesellschaft, die in
ihrer „Raum-Zeit-Kompression" bislang vertraute Identitatsformationen, Wissensbestande, Berufsbilder und Kulturtechniken in Frage stellt" (Keupp 2002:
146).
In Anbetracht des eben nachgezeichneten Spektrums zur Diskussion um
die „verlorene Gemeinschaft" und ihre Ersetzung durch multiple informelle
Netzwerke scheint es mir notwendig, die gemeinschaftlichen und gesellschaftli18
chen Beziehungen in einer der Moderne angemessenen Art und Weise neu zu
betrachten.
Zunachst aber werden in einem diskursgeschichtlichen Abriss im ersten
Kapitel dieses Buches die wichtigsten Protagonisten der Gemeinschafts- und
Gesellschaftsdebatte in ihren wesentlichsten Grundaussagen diskutiert. Dazu
gehoren zunachst Ferdinand Tonnies, Max Weber und Talcott Parsons. Im Anschluss daran wird analysiert, welchen Standpunkt gegenwartige Theoretiker am
Beispiel von Niklas Luhmann und Jurgen Habermas in dieser Diskussion vertreten. Im zweiten Kapitel wird die Dichotomic von Gemeinschaft und Gesellschaft in den Gesellschaftheorien unter der Annahme kritisiert, dass das Begriffspaar „Gemeinschaft und Gesellschaft" wie es von Tonnies entworfen wurde, nicht unter dem Gesichtspunkt einer linearen Entwicklung, sondern vielmehr
unter dem der Komplexitat ausgedeutet werden muss. Diese kritische Diskussion kommt zu dem Ergebnis, das einzig cine am „Netz" orientierte Lesart der
tonniesschen Begriffsdichotomie zu einem der Moderne eigenen Gesellschaftsund Gemeinschaftsverstandnis flihrt.
Im dritten Abschnitt wird das Netzwerkkonzept vorgestellt und verschiedene Einflussfaktoren auf die Netzwerkperspektive herausgearbeitet. Die These,
die dieses Kapitel durchzieht, geht davon aus, dass die Netzwerkperspektive bis
heute keine wirkliche Netzwerktheorie aufweist, sondern vielmehr cine unverbundene Kombination verschiedener Ansatze darstellt und daher als Theorieperspektive nicht wirklich wahrgenommen werden kann. So resultiert die Netzwerkperspektive in Analogic zur Geschichte der Soziologie aus einer Aufeinanderfolge von Typen- und Begriffsdichotomien, die idealtypischen Charakter
haben und die Reichhaltigkeit der Realitat nicht angemessen widerspiegeln,
noch von historischen Erfahrungen gekennzeichnet sind (vgl. Donati 1998,
Kaesler 1998).
Der vierte Abschnitt beschaftigt sich mit den formalen Begriffen und Methoden der Netzwerkanalyse, insbesondere der ego-zentrierten Netzwerkanalyse. Dazu wird die ego-zentrierte Netzwerkanalyse in das System der sechs verwendeten Formen der Netzwerkanalyse eingeordnet. Bei der Erhebung von egozentrierten Netzwerken mit Hilfe von Massenumfragen haben sich drei Instrumente durchgesetzt. Diese Instrumente und die dazugehorigen StrukturmaBe zur
Beschreibung ego-zentrierter Netzwerke werden in diesem Abschnitt vorgestellt.
Im flinften Abschnitt wird die netzwerkanalytisch reformulierte Frage nach
den Auswirkungen der gesellschaftlichen Modernisierung in Verbindung gebracht mit den Netzwerkbeziehungen von Familien mit Kindern unter 18 Jahren
in drei deutschen GroBstadten, namlich Hamburg, Stuttgart und Berlin. Diese
Erhebung wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefordert und
19
2003 unter Leitung von Prof. Dr. Hans Bertram an der Humboldt Universitat zu
Berlin durchgefiihrt.
Familien mit Kindern sind fiir die Frage der sozialen Einbindung besonders
interessant, da es seit Mitte der 50er Jahre eine Diskussion um die soziale Isolation von Familien und ihrer Desintegration in die Gesellschaft gibt. Helmut
Schelsky (1957) schreibt z.B.
„... die deutsche Familie zeigt in den Nachkriegsjahren eine verschieden starke, von
den personlichen Schicksalen der Familien abhangige, aber insgesamt deutlich festzustellende Entwicklungstendenz zur sozialen Ausgliederung und Isolierung des
familiaren Lebens, eine Abwendung von den gesamtgesellschaftlichen Bindungen
und Verflechtungen [...]" (Schelsky, 1957:122).
Ulrich Beck (1986) sieht in den achtziger Jahren in der Desintegration von
Familien ein Ergebnis der Freisetzungsdimension der Modernisierung. Die
Familien sind insofem die Modernisierungsverlierer, was sich in einem Verlust
der sozialen Beziehungen ausdriickt. Obwohl keine explizite Aussage uber den
sozialen Status gemacht wird, betrifft dies besonders diejenigen, denen die sozialen Ressourcen, wie z.B. unterschiedliche Kapitalformen, eigene Attraktivitat
und Zeit fehlen, um dauerhafte soziale Beziehungen einzugehen und zu unterhalten. Robert N. Bellah (1991) geht daruber hinaus davon aus, dass die Urbanisierungsprozesse in den GroBstadten dazu fiihren, dass Familien von der Alltagsorganisation derart in Anspruch genommen werden, dass sie keine Zeit
mehr fur die Pflege sozialer Beziehungen haben. Stimmen diese Analysen, so
sollten die ego-zentrierten Netzwerke von Familien kaum bedeutsame Beziehungen aufweisen und die Unterstutzungspotentiale ihrer Netzwerke waren
inadaquat. Sie entsprachen der diisteren Version der verlorenen Gemeinschaft
als individuell erfahrenem Verlust. Im fiinften Abschnitt wird dementsprechend
die Isolationsthese von Familien mit Kindern netzwerkanalytisch uberpriift und
in ihren Ergebnissen diskutiert.
20
1
Gemeinschaft und Gesellschaft
Individualisierungstendenzen sind nach Beck (1986) das wichtigstes Merkmal
der gegenwartigen Gesellschaft. Das moderne Individuum vereinsamt zunehmend und ist - wenn uberhaupt - nur Teil unpersonlicher Gemeinschaften. Die
verstarkte Individualisierung fiihre einerseits zur Herauslosung aus traditionellen und familialen Bindungen und andererseits zu einem Verlust an traditioneller Sicherheit. Die bisherigen Lebenslaufe werden entstandardisiert, was zu
einem erhohten Risiko fur den Einzelnen fiihrt. Auch Munch (1992) kommt in
seiner umfassenden Gesellschaftskritik zu dem Ergebnis, dass die traditionelle
Gesellschaft samt ihrer Normen, Wertvorstellungen und Institutionen endgultig
eliminiert werde. So ist nach Munch die neue „Kommunikationsgesellschaft"
durch eine viel groBere Offenheit und Vieischichtigkeit gekennzeichnet: „Die
Einbindung des Menschen in Klassenstrukturen, Kirchen, Verbande, Industrien,
Berufe und Systeme weicht einer Vielfalt von sich gegenseitig durchdringenden,
vollig freien Vereinigungen" (Munch 1992: 15). Somit entsteht zum einen eine
neue Dimension von Individualitat, zum anderen bilden sich neue „Gemeinschaften" in Form von selbst organisierten Gruppen heraus. Solche Beschreibungen der gegenwartigen Gesellschaft sind durchaus mit dem von Tonnies
festgestellten Ubergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft vergleichbar,
denn auch bei Tonnies werden traditionelle Beziehungsformen abgelost durch
einen Individualisierungsprozess, dem egoistischen Streben nach Selbstbestimmung und -verwirklichung.
Die zunehmende Individualisierung hat zur Folge, dass bisherige Biographien und Geschlechterrollen, Klassen- und Arbeitsverhaltnisse entstandardisiert werden und die Unsicherheiten ftir die Individuen zunehmen. Doch die
„Risikogesellschaft" mit ihren fehlenden Identifikationsmoglichkeiten, die zu
einer „verlorenen Gemeinschaft" wird, befordert auch gleichzeitig die Suche
nach funktionalen Altemativen, d.h. nach „neuen Gemeinschaften" in Form von
Selbsthilfegruppen, Vereinen, aber auch Sekten.
Jedoch jenseits aller Diskussionen um eine desintegrierte, gewandelte oder
befreite Gemeinschaft (Wellman 1988) ist die soziale Einbindung der Menschen
zu gewahrleisten, was in der Konsequenz bedeutet, dass das alltagliche Gemeinschaftsleben individuell organisiert werden muss. Geht man von der Annahme
aus, dass jede Form des Zusammenlebens ein Bediirfnis nach Verbundenheit
impliziert und da der Individualismus aus der Gemeinschaft entsteht und die
Gesellschaft hervorbringt und sie tragt (siehe Tonnies [1987] 1991: XXIII), ist
es notwendig, die Gemeinschaftsformen in der Gegenwart zu betrachten. Sind
sie das Resultat von Modernisierungsprozessen und Vergesellschaftung oder
bilden sie eher eine Gegenbewegung dazu?
21
Um diese Thematik uber das Gegensatzpaar «Gemeinschaft» und «Gesellschaft» aus der Sicht eines allgemeinen soziologischen Theorieverstandnisses zu
beleuchten, folgt an dieser Stelle ein diskursgeschichtlicher Abriss der wichtigsten Protagonisten um die Gemeinschaftsdebatte.
1.1
Rationalisierung und Gemeinschaft
1887 erschien die erste Fassung von Ferdinand Tonnies beruhmtestem
Werk, in dem er erstmals den historischen Obergang vom Zeitalter der «Gemeinschaft» zum Zeitalter «Gesellschaft» interpretierte.
„Zwei Zeitalter stehen mithin [...] in den groBen Kulturentwicklungen einander gegenuber: Ein Zeitalter der Gesellschaft folgt einem Zeitalter der Gemeinschaft. Dieses ist durch den sozialen Willen als Eintracht, Sitte, Religion bezeichnet, jenes
durch den sozialen Willen als Konvention, Politik, offentliche Meinung/' (Tonnies
[1887]1991:215).
Dabei hat Tonnies den historisch-gesellschaftlichen Wandel als einen linearen Wandel beschrieben, der sich notwendigerweise und fortschreitend vom Pol
der Gemeinschaft zum Pol der Gesellschaft vollzieht.
Seitdem diente das Begriffpaar «Gemeinschaft» und «Gesellschaft» in den
meisten Interpretationen als dualistisches Modell mit zwei sich gegentiberstehenden Normaltypen' sozialer Beziehungen, in denen bzw. durch die
sich Menschen assoziieren: der „Wesenwille" (Eintracht) und der „Kurwille"
(Vertrag).
Tonnies sieht im Willen die Voraussetzung ftir jegliche Handlung und
macht ebenso wie Schopenhauer das menschliche Wollen zum Bindungsmotiv.
Der Wesenswille „involviert das Denken" (Tonnies [1887] 1991: 73) in das
Wollen der Gemeinschaft und erzeugt durch die Bejahung der gemeinschaftlichen Sozialform ein Band von Einigkeit und Eintracht. Die Theorie der Gemeinschaft geht von
„der vollkommenen Einheit menschlicher Willen als einem ursprunglichen oder nattirlichen Zustande aus, welcher trotz der empirischen Trennung und durch dieselbe
hindurch sich erhalte, je nach der notwendigen und gegebenen Beschaffenheit der
Verhaltnisse zwischen verschieden bedingten Individuen mannigfach gestaltet"
(Tonnies [1887] 1991:7) aus.
s. Tonnies Vorrede zur sechsten und siebenten Auflage XLII
22
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