Gesellschaft

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Gesellschaft
Begriffl ichkeit
Gesellschaft bezeichnet das umfassendste System menschlichen Zusammenlebens. Ety­
mologisch weist Gesellschaft auf ein räumliches Nebeneinander (Saal, Geselligkeit) hin.
Anders als die Synonyme "sociefas" und "communitas" im Lateinischen - sowie "Gesell­
schaft" (obsi'estvo), "Geselligkeit" (abseite /nost ') und "Gemeinschaft" (soobscestvo) im
Russischen - traten im Deutschen seit dem Spätmittelalter die sprachlichen Äqui valente
"Gesellschaft" und "Geme inschaft" auseinander und weisen seitdem die geläufig gewor­
dene Antinomie auf (Ferdinand TÖlli1ies -->28). Gesellschaft entsteht nicht allein durch ein
räumliches Nebeneinander: Die Einheit menschlicher Gesellschaft beruhe auf "Vorstellung"
(-->24, vgl. -->21). Hiermit nahm Georg Simmel die jüngere formulierung der "imagined
communities" vorweg. Damit "Gesellschaft" entstehen kann, bedarf es darüber hinaus einer
Wechselwirkung von Individuen, also Kommunikation, Vergemeinschaftung und Verge­
sellschaftung (Georg Simmel, Emile Durkheim). Beide Soziologen propagierten wie Max
Weber einen systcllltheoretischen Gesellschaftsbegriff: Gesellschaft ist ein soziales System,
das sich durch gemeinschaftliche Wertorientierung und jene Funktionen auszeichnet, deren
Erfullung fur seine Erhaltung notwendig sind. Im Gefolge der Französischen Revolution
traten Konzeptionen, die Staat (-"Staat, Herrschaft, Institutionen) und Gesellschaft trenn­
ten (Georg W. F. Hegel, Lorenz v. Stein), in den Vordergrund: Hegel begriff Familie als
These, "bürgerliche" Gesellschaft als Antithese und Staat als Synthese. Er fasste bürgerli­
che Gesellschaft als Ditferenz zwischen Familie und Staat auf, wobei er diesen in Kritik
der Naturrechtslehre nicht als Personenverband, sondern als Repräsentanten sittlicher (sozi­
aler) Vernunft betrachtete.
Um die Zusammensetzung einer Gesellschaft zu analysieren, wird sie nach bestimm­
ten Merkmalen wie Herkunft, Beruf, Bildung etc. in Gruppen, Schichten, *Stände oder
Klassen gegliedert. Diese Sozialstrukturanalyse folgt einer Wahl relevanter Indikatoren und
Dimensionen, z. B. der Demographie, der Verteilung der Produktionsmittel (Karl Marx),
dem Grad der Arbeitsteilung (Durkheim) oder der Rationalisierung bzw. Büro kratisierung
(Weber). Aufgrund der jeweils dominanten Strukturmerkmaic wird zwischen "primitiven"
und "komplexen" , "bürgerlichen" und "sozial istischen", "industriellen" und "postindus­
tri ellen" Gesellschaften unterschieden.
Stand (von lat. status) ist ein Begriff zur Bezeichnung einer gese llschaftlichen O rd ­
nung bzw. eine körpersc haftlich organisiel1e gesellschaftliche Großgruppe. Der von Max
Weber eingeführte soziologische Standesbegriff, der Berufs-, Oeburts- und politische
Stände unterscheidet, ist als analytische Kategorie für die Sozialgeschichte geeignet, kon­
kurriert aber mit der rechtshistorischen Definition von Stand als eine durch gemeinsame
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Rechte und Pflichten definierte Personengruppe. Versuche einer synthetischen, alle Wis­
senschaftsdisziplinen umfassenden Standesdefinition blieben entweder sehr formal, weil
sie auf Kategorien vormoderner Reflexion über das soziale Ganze rekurrierten, oder ge­
rieten in das begriffliche Spannungsfeld von Stand und Klasse.
Klasse (lat. classis) differenziert Gesellschaft nach anderen Kriterien. Jede Verwen­
dung des Klassenbegriffs erhält politisc he Bedeutung entweder durch seine Apologie
hen"schender Gesellschaftsverhältnisse oder durch seine Kritik an ihnen, die dann Verän­
derung impliziert. Fasst man diese gesellschaftlichen Perzeptionen und Klassifikations­
schemata als einen Bestandteil gesellschaftlicher Wirklichkeit auf, folgt man den grund­
legenden Erkenntnissen Emile Durkheims und Marcel Mauss', dass diese Abbildungen des
Sozialen keine Neutralität beanspruchen können. Vielmehr sind Abbildungen kollektive
"Repräsentationen" (Roger Chartier), die Strategien und Praktiken ihrer "Vorstellungs­
HersteIler" enthalten. Weil die gedachte Welt nicht weniger real ist als die "wirkliche",
beruht die vermeintliche Objektivität sozioökonomischer Kriterien letztlich auf ihrer in­
tersubjektiven Akzeptanz. Daraus folgt, dass quantifizierende Methoden nicht mehr Ob­
jektivität beanspruchen können als handlungsleitende Weltbilder, Werte etc., die die Kul­
turwissenschaft in historischer Absicht thematisiert.
Es gibt drei Grundschernata der Stratifikation der Gesellschaft nach Klassen: I. das di­
chotomische, das nur z""ei Klassen mit antagonistischen Merkmalen kelli1t, 2. das funktionale,
das von der Existenz mindestens dreier Klassen mit distinkten, aber nicht entgegengesetzten
Merkmalen ausgeht, sowie 3. das Gradationsschema, in dem in einer vertikalen Stufen­
folge drei Klassen existieren, deren Hicrarchisierung aufgrund mehrerer Kriterien, zu­
meist aber durch den unterschiedlichen Grad der Verfügungsgewalt, z. B. über Vermögen
oder Prestige, bestimmt wird. Max Weber prägte den Begriff der ökonomisch bestimmten
"Klassenlage", die die rur eine Menschengruppe "typische Chance der Güterversorgung,
der äußeren Lebensstellung, des ilmeren Lebensschicksals" also deren Sozialprestige und
Verhaltensdispositionen bezeichnet. Er unterschied Besitz-, Erwerbs- und soziale Klassen.
Damit es aber zur Verwirklichung der Klasseninteressen, zu einem Gemeinschaftshan­
deln aus der gemeinsamen Klassenlage heraus kommt, bedalf es einer Vergemeinschaftung
aufgrund charakteristischer sozialer und politischer Einstellungen, Lebensbedingungen
und -stile. Die Definition von Klasse ist bis heute umstritten. Geht es nur um eine sozialsta­
tistische Zusammenfassung von Individuen aufgrund sozioökonomischer Merkmale oder um
Gruppen, die aufgrund von Bewusstseins- und Verhaltensmerkmalen bzw. kollektiven
Handlungen - die in Traditionen, Wertsystemen, Ideen und institutionellen Formen zum
Ausdruck kommen - eine reale soziale Einheit bilden? Auch fur Webers Klassenbegriff
ist jene Indifferenz, die sich bereits bei Marx mit der Unterscheidung von "Klasse an
sich" und "Klasse fur sich" findet, konstitutiv. Einen anderen Weg beschritt der englische
Historiker Edward P. Thompson. Für ihn sind Klassen keine Strukturen oder Kategorien,
sondern historische bzw. psychische Sozial phänomene.
Als analytische Kategorie ist der Klassenbegriff im 19. und 20. Jahrhundert nicht hin­
reichend, um die Gesellschaft, ihre sozialökonomischen Strukturmerkmale, kulturellen
Deutungsmuster sowie die Ausbildung sozialer und politischer Handlungseinheiten zu
beschreiben. Insofern ist die Kombination des analytischen Klassenbegriffs mit Deu­
tungsmustem der Selbstwahmehmung nötig. Es gilt also, die Bruchlinien der Eigen- und
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Grundlagen
Fremdwahmehmungen im Sinne subjektiver Klassenkonstruktionen entlang vermeintlich
objektiver Kategorien wie Geschlecht, Alter, soziale und ethnische Herkunft, Konfession
und Bildungsgrad zu untersuchen. Bezüglich der Arbeiterschaft wäre der Katalog um pro­
fessionelle Fertigkeiten sowie innerbetriebliche Funktion und Zugehörigkeit zu erweitern.
Spezifika der russischen Geschichte
Betrachtet man bei der Definition von Stand (russ. soslovie, sostojanie, zvanie) die Korpo­
ration als unabdingbar, dann gab es in Russland erst seit 1785 Stände, als Katharina Il. Adel
und Städtern das Recht verlieh, sich zu versammeln. Das Ständewesen etablierte sich in
Russland erst zu einer Zeit, als es sich in Mittel- und Westeuropa bereits auflöste. Insofern
katm Günther Stökls These, in Anlehnung an polnische Verhältnisse hätten in Russland
von 1610-1653 Stände existiert, nicht überzeugen (-+26, S. ~40). Darüber hinaus weist
das russische Ständewesen weitere Besonderheiten auf. Im Unterschied zu den westeuro­
päischen Kohäsionsständen, die sich selbst herausgebildet hatten und ihre Rechte gegen
Fremdansprüche verteidigten, existierten in Russland vom Staat geschaffene und von ihm
abhängige Adhäsionsstände. Ihnen fehlte zum einen der innere Zusammenhalt, weil sie
1. mehrheitlich keinen "Standesgeist", keine kollektive Identität entwickeln konnten,
2. heterogene Subkategorien subsumierten, die nicht über gleiche Rechte verfugten, wie
z. B. persönliche und erbliche Adlige oder die Bauernschaft, die sich am Vorabend der Bau­
ernbefreiung aus Staats- (gosudarstvennye), Kron- oder Kameral- (kazennye) (zus. 1857/58
46 % des Bauernstandes), Apanage- (udel'nye) (4 %) sowie gutsherrlichen Bauern (49 %)
zusammensetzte, 3. über keine Korporationen verfugten wie z. B. die Ehrenbürger, 4. nicht
nach denselben geburtsständischen Prinzipien strukturiert waren, wie z. B. die Kaufmann­
schaft, der man fur Jahresfrist aufgrund eines bestinunten Kapitals zugeschrieben wurde,
5. sich nicht gegen die Zuschreibung neuer Mitglieder wehren konnte wie z. B. das
mescanstvo ("Kleinbürger", *Stadtbürger), das als heterogene Residualkategorie ohne
bestimmte Funktion und soziale Identität war. Zum andern waren die Stände al.lfgrund in­
stitutioneller Hemmnisse nicht imstande, die ihnen von der Autokratie auferlegten formalen
Privilegien und Verpflichtungen sozialer, ökonomischer, politischer Art, effektiv wahrzu­
nehmen. Darüber hinaus gab es eine Verschränkung von Horizontal- und Vertikalständen,
denen die l'Nationalitäten und l'Kosaken angehörten, so dass diese Personengruppen
konkun'ierenden Stratifikationsmodellen zugeschrieben werden konnten. Insofern über­
rascht es nicht, dass (vertikale) interständische Mobilität ein Signum der russischen Gesell­
schaftspyratnide war.
In Russland fehlten im Unterschied zu Mittel- und Westeuropa intermediäre Gewalten,
das Lehnswesen sowie eine regionale Verwurzelung des Adels. Ihm gelang auch keine
Bündelung von Herrschaftsrechten. Letztlich bestimmten die Nähe zum Fürsten sowie die
Leistung im Dienst den materiellen Wohlstand, das Sozialprestige und den politischen Ein­
fluss des Adligen. Infolge der *Rangplatzordnung (mestnicestvo) , Zwangsumsiedlungen,
der Vergabe von Dienstgütern seit Ende des 15. Jahrhunderts, die im Gegensatz zu Erbgütern
nicht verkauft respektive verschenkt und nur mit Bestätigung des GToßfursten vererbt wer­
den durften, sowie seiner Zersplitterung in konfligierende Clans und Klientelgruppen blieb
der Adel atomisiert. Es existierten keine "checks and ballances", die die Autokratie be-
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schränken konnten. In suggestiven Formulierungen wie "staatsbedingte Gesellschaft"
(Hans-Joacbirn Torke -+29) oder "Gesellschaft als staatliche Veranstaltung" (Dietrich Geyer)
prägte die Forschung den Topos des "starken Staates". Die These der Hypertrophie des Za­
renstaates ist zu modifizieren (l'Staat, Herrschaft, Institutionen). Die Gesellschaft war kei­
neswegs apathisch und passiv, entwickelte ihre Strategien, um staatliche Vorgaben zu
konterkarieren. Blickt man nicht auf die besser administrierten Hauptstädte, sondern auf
die Provinz, dürften sich neue Erkenntnisse ergeben. Allerdings überschritt die soziale
Selbstorganisation der Gesellschaft kaum den lokalen Maßstab. Traditionale konsens­
und sinnstiftende Integrationsmuster wie der Zaren mythos waren nur begrenzt wirksam
und büßten ihr Kohäsionspotential ein. Auch moderne Integrationsideologien wie Libera­
lismus oder Nationalismus kOlmten die Fragmentierung der konfessionell und ethnisch
heterogenen Bevölkerung nicht überwinden. Die Gesellschaft polarisierte zusehends. Zu
nennen ist erstens die Stadt-Land-Dichotomie (l'Urbanisierung). 1897 lebten nur 13 % der
Bevölkerung im europäischen Russland in Städten, 84 % waren Bauern. Wegen beträcht­
licher soziokultureller Unterschiede zwischen Stadt und Land wird von einer "dualen
Kultur" Russlands gesprochen. Zweitens ist der Gegensatz Staat-Gesellschaft zu betonen.
Insbesondere die "gebildete Gesellschaft" forderte Bürger- und Partizipationsrechte ein
(l'Öffentlichkeit), die der Staat erst nach der Revolution VOll 1905 halbherzig gewährte.
Drittens ist auf den sozialen Protest der Arbeiter, Bauern und radikalen *Intelligencija
gegen die sozialen Eliten des Ancien regime zu verweisen.
Die Entwicklung der Gesellschaft in Russland bzw. der UdSSR kann in sechs Epochen
eingeteilt werden:
1. Die Kiever Periode (10.-13. Jahrhundert): Der *Fürst (knjaz) und seine multifunk­
tionale, aus zwei Gruppen bestehende *Gefolgschaft (druiina), nämlich aus dem engsten
Beraterkreis der "älteren" sowie aus dem mit weniger wichtigen Aufgaben betrauten Rest
der ,jüngeren" Gefolgschaft (star.saja bzw. mladsaja druiina), bildeten einschließlich des
Klerus die Spitze der Gesellschaftspyramide. für die städtische Bevölkerung, Kaufleute
und Handwerker, erst recht aber fur die nur lose mit der Macht des Fürsten verbundene
ländliche ist es schwierig, soziale Unterschiede und rechtliche Abhängigkeitsverhältnisse
aufzuzeigen. Neben diesen Kategorien gab es seit dem 11. Jahrhundert die der Sklaven
bzw. Knechte (celjad', cholop), die verschiedene Bevölkerungsgruppen bezeichneten. In
seiner Hauptbedeutung war damit die unterste Gesellschaftsschicht gemeint, deren recht­
liche Stellung der der Sklaven in anderen Ländern entsprach, d. h. sie wurden wie Sachen
behandelt. Später differenzierte sich der Begriff aus.
2. Im Moskauer Reich (13.-17. Jahrhundert) prägte sich allmählich ein hierarchisches
Gesellschaftsmodell aus, das die Bevölkerung in die folgenden Gruppen schied: Lasten­
tragende (podatnye oder tjaglye) - hierzu zählten neben den *Stadtleuten (posadskie ljudi),
d. h. Kaufleute und Handwerker, sowohl die sog. "schwarzen", d. h. Staats-, als auch die
allodialen gutsherrlichen Bauern - und steuerbefreite Dienende (sluiilye ljudi) sowie
Kirchenleute (ljudi cerkovnye, bogodel'cy). Letztere unterlagen mit Ausnahme schwerer
Verbrechen der kirchliohen Gerichtsbarkeit, die erst mit der Säkularisierung der Kirchen­
güter 1764 endgültig verschwand. Den Aufstieg der podatnye ljudi in die Kategorie der
Dienstleute untersagte der Staat aus Furcht vor fiskalischen Einbußen. Ein Teil der
Knechte stieg in den Adel auf. Das *Gesetzbuch von 1649 (Uloienie) unterschied sieben
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Grundlagen
Formen der Knechtschaft. 1722/24 wurden die Knechte, die 10 % der Bevölkerung aus­
machten, entweder hof- oder kopfsteuerpflichtig und damit rechtlich den Bauern gleich­
gestellt. Insgesamt stellte das Gesetzbuch von 1649 eine wichtige Zäsur der Herausbil­
dung des Ständewesens in Russland dar: Die einzelnen sozialen Gruppen traten infolge
der Schollenbindung der Bauern und der Erblichkeit der sozialen Zugehörigkeit deutlich
auseinander. Der Landbesitz wurde zum ausschließlichen Privileg der Dienstleute und er­
laubte nur ihrer oberen Schicht (sluiilye po olcesfvu, den als Dienstleute Geborenen) den
Lei beigenenbes itz.
3. 1689-1762: Im Petrinischen Russland verfestigte sich die Stratifikation der Gesell­
schaft nach zugeschriebenen rechtlich-administrativen Kategorien. Die Dienstpflicht des
Adels wurde gestärkt: der Lei beigenenbesitz an den Staatsdienst gekoppelt. Adel wurde
zum Beruf. Der Passzwang schränkte Mobilität und Freizügigkeit seit 17 19 weiter ein.
Demgegenüber stellte die 1714 eingeruhrte *Rangtabelle ein dynamisches Element dar:
Der Staatsdienst stand nach meritokratischem Prinzip allen offen. Leistung wurde mit
Nobilitierung belohnt. Der Adel war nach unten nicht abgeschlossen, sondern rekrutierte
sich zum Teil aus sozialen Aufsteigern.
4. 1762-186 1: Die Gesetzgebung Katharinas Ir. verhalf der Ständeordnung zum Durch­
bruch, ihre Blüte und endgültige Ausformung erlebte sie aber erst 1832 im Rarunen der
"Gesetze über die Stände", veröffentlicht im neunten Band der russischen Gesetzessamm­
lung. Bereits zu dieser Zeit erwies sich das Ständesystem als inadäquat, um die gesamte Ge­
sellschaft zu verorten. Nicht nur die *Leute aus verschiedenen Ständen (raznoCiney), jene
nichtadlige Bildungsschicht, die sich vor allem aus dem Klerus, der KaufmanllSchaft sowie
dem meScanstvo rekrutierte und durch Erwerb von Bildungspatenten einen sozialen Auf­
stieg vollzog, sondern auch die Arbeiter fanden als eigene Kategorien keinen Eingang in die
Ständepyramide.
5.1861-1917: Seit den *"Großen Reformen" Alexanders 11. wurde die Ständeordnung
in ihren Grundfesten erschüttert, u. a. durch I. die Aufhebung der seit 1649 endgültig beste­
henden Leibeigenschaft 1861 , 2. die Handels- und Gewerbeordnung von 1863 , die die
Ausübung von Handwerk und Gewerbe nur an die Lösung eines Gewcrbescheins knüpfte,
3. die Stadtordnung von 1870 mit ihrem plutokratischen Wahlrecht, 4. die Einfiihrung der
allgemeinen Wehrpflicht 1874, die die Dauer des Dienstes vom Bildungsgrad abhängig
machte, 5. die Abschaffung der *Kopfsteuer 186311887, 6. die Einruhrung der Gewerbe­
steuer 1898, die die Besteuerung von der Standeszugehönigkeit löste und 7. das Zaren­
reskript "Über die Abschaffung einiger Beschränkungen der Rechte ländlicher Bewohner
und ehemaliger abgabenpflichtiger Stände" 1906. Trotz dieses Erosionsprozesses haben
Historiker wie z. B. Gregory Freeze (--<11) die Persistenz des Ständesystems dessen Vitali­
tät, Flexibilität und Funktionalität zugeschrieben. Sie räumen im Zuge des wirtschaftlichen,
politischen und soziokulturellen Transformationsprozesses in Russland seit dem ausgchen­
den 19. Jahrhundert eine Umschichtung der Gesellschaft cin, sehen aber keine Ablösung
der Ständeordnung, die die Sowjetmacht am 28. Oktober 191 7 dekretierte, durch das Klas­
sensystem. Statt dessen sprechen sie von einer polymorphen Sozialstruktur oder "sedimen­
tären Gesellschaft" (Rieber), einer Parallelexistenz von Stand und l<!lasse. Ihre These, dass
der Stand einen unverzichtbaren Bestandteil der individuellen Selbstwahrnehmung bildete,
kOimten sie empirisch jedoch nicht erhärten.
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6. 1917-1991: J'Revolution und Bürgerkrieg fuhrten zu einem Elitenwechsel. Die Eliten
des Ancien regime emigrierten oder wurden enteignet und entrechtet: Adel, Klerus, Polizisten
etc., wurden als *lisency, als Personen die über kein Wahlrecht verfugten, stigmatisiert. Sie
konnten allerdings "Bürgerrechte" beantragen. Die Erfolgschance lag zwischen 25-50%.
(--<21, S. 11) Allerdings waren die neuen Machthaber auf die "bürgerlichen Spezialisten" in
Verwaltung, Industrie, dem Gesundheits- und Bildungssektor angewiesen. Mit dem Oktober­
umsturz, der den Beginn der politischen Herrschaft der Arbeiterklasse symbolisierte, setzte
ihr Atomisierungsprozess ein. Bürgerkrieg und Wirtschaftskrise fuhrten zu einer Deurbani­
sierung. Erst die wirtschaftliche Konsolidierungsphase der *Neuen Ökonomischen Politik
(Novaja Ekonomiceskaja Politika, NEP) restituierte die Arbeiterschaft. Durch gezielte bi1­
dungspolitische Förderung (Arbeiterfakultäten, Relegation "sozial fremder" Elemente von
den Universitäten) sollte sie zur neuen gesellschaftlichen Elite erwachsen, doch schwächte
sich dieser Impetus bereits Ende der I 920er Jahre ab. Die 1932/33 eingefuhrten Arbeits­
bücher schränkten den Arbeitsplatzwechsel erheblich ein. Die Bauern konnten 1917 ihren
alten Traum von "Land und Freiheit" verwirklichen. Der Friede mit dem neuen Regime war
aber bruchig. Zwangskollektivierung ("Vernichtung der *Kulaken als Klasse"), forcierte In­
dustrialisierung und einhergehende Urbanisierung fuhrten seit 1928/29 zu einem radikalen
Wandel der Sozialstruktur: An die SteUe der privaten Produktion der Einzelbauern traten
Kollektivwirtschaften. Bauern wurden so zu Angestellten. Die landwirtschaftlich tätige Bevöl­
kerung wurde wie folgt hierarchisiert: I. administratives Personal, agrarische, technische und
ökonomische Spezialisten, 2. maschinengeschultes Fachpersonal wie Traktoristen, 3. in der
Viehzucht Tätige W1d 4. Feldarbeiter. Die Masse der Bauernschaft befand sich an der Basis der
Prestige- W1d Einkommenspyramide. Hinzu kam noch die zivilrechtliche Diskriminierung:
Durch das von 1932 bis 1974 gültige Passsystem waren die Bauern ihrer Freizügigkeit be­
raubt. Viele Bauem nutzen d'ie Chancen sozialer Aufwärtsmobilität, die ihnen die Industrie
bot. Der andere Arbeitsrhyttunus und die bolschewistische Utopie des "neuen Menschen"
erforderten eine SozialdiszipliniefW1g, die mit unterschiedlichen Instrumenten praktiziert
wurde: "weichen" wie der *kul'turnosf'-Kampagne (Zivilisiertheit) und "harten" wie dem
Terror.
Die Stalin-Verfassung von 1936 garantierte unabhängig von Rasse, Nationalität, religiö­
sem Bekenntnis, sozialer Herkunft und früherer Tätigkeit allen Sowjetmenschen Egalität.
Dies blieb jedoch bloße Fiktion; dem1 im Kontext der kul 'turnosl'-Kampagne praktizierte
das Regime Mitte der 1930er Jahre realiter einen Paradigmenwechsel. An die Stelle der
postrevolutionären Askese und Egalität trat der "big deal" (--<8, S. 3- 5), also ein Entgegen­
kommen an materielle Interessen der neuen Mittelschichten des Systems. Leistung lohnte
sich, denn der Staat privilegierte die sozialen Aufsteiger, die *vydviiency, oder auch die
*Stachanovarbeiter. So kristallisierte sich ein ständisches Gesellschaftsmodell heraus, des­
sen Stratitlkation nicht durch die Stellung im Produktionsprozess bestimmt war, wie es die
marxistische Klassenanalyse vorsah, sondern durch einen privilegierten Zugriff auf die Al­
lokation rarer Güter und nichtmonetärer Gratifikationen wie "Spezialzuteilungen", Dienst­
wagen, Wohnraum, "geschlossene" Einkaufsmöglichkeiten zu geringen Preisen, medi zini­
sche Betreuung, Sanatorien, Urlaubs- oder Auslandsreisen. Hiermit war W1trennbar eine
Hierarchie des Konsums (--< 18) bzw. Lebensstandards verbunden. Vietor Zaslavsky hat tref­
fend von einer "wohnortbedingten Schichtung" gesprochen (--<31, S. 139-141). Entlang
Grundlagen
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folgender Parameter bevorzugte das Distributionssystem bestimmte Regionen und Perso­
nengruppen: Stadt-Land, intrastädtisch, d. h. Metropolen - große Industriestädte - Klein­
städte, und schließlich geographisch von Nordwesten nach Südosten: d. h. der Lebens­
standard war in den baltischen Republiken überdurchschnittlich hoch, in Mittelasien und
Aserbaidschan unterdurchschnittlich niedrig. Und diese Schere der Dispalität im Lebens­
standard öffnete sich zum Ende der Sowjetunion immer weiter.
Unter Clullscev gewannen egalisierende Prinzipien (uravnilovka) an Gewicht: Durch die im Herbst 1956 eingeleitete Lohnrefonn wurden die Mindestlöhne von kaum 30 auf 50 % des Durchschnittslohns angehoben. Die Spitzenlöhne wurden gekappt, die Schere zwischen ann und reich wurde velTingert. Eine SteuelTefOml, die Monatseinkommen von weniger als 370 Rubel von der Einkorrunenssteuer befreite, ergänzte die Lohnpolitik. In der Realität hatte ein paralleles Lohnsystem Bestand: Der kleinere Teil der Arbeiter wurde nach dem Zeitlohn, der allerdings auch durch Prämien verbessert werden kormte, bezahlt, die Masse nach dem Akkord-Prämien-System, das 1961 auf die Staatsgüter und Mitte der
1960er Jahre auch auf die kolchozniki übertragen wurde. Eines der großen Verdienste
Chruscevs war, dass er die Kolchosmitglieder von ihrer Pariaexistenz zu einem gleichbe­
rechtigten Subjekt der Bevölkerung erhob. Er regte zum einen 1958 an, feste monatliche
Geldlöhne fur sie einzufuhren, was allerdings erst Ende der 1960er Jahre realisiert wurde.
Zum anderen wurden sie im Juli 1964 in das Pensionsnetz einbezogen. Der gravierende
Nachteil, der für den Staat mit der Rentenrefonn verbunden war, lag in den geradezu ex­
plosionsartig angewachsenen Rentenzahlungen.
Unt,er Chruscev und vor allem Breznev versuchte das Regime, seine Legitimationsba­
sis durch einen "Gesellschaftsvertrag" zu erweitem oder einen "organisierten Massen­
konsens" zu erzielen (--31). Im Rahmen des sog. "little deal" garantierte der Staat der
Bevölkerung im Tausch gegen politische Loyalität Stabilität, bessere Konsununöglichkeiten,
mehr Toleranz fur privatwirtschaftliehe Tätigkeiten, einen sicheren Arbeitsplatz und wei­
tere umfangreiche staatliche Sozialleistungen. Die UdSSR wurde mit seinem beträchtlich
gewachsenen Katalog an Sozialleistungen (Kinderkrippen und -gärten, Mutterschattsur­
laub, Kindergeld, Subventionen von Lebensmitteln, Wohnraum, öffentlichem Nahverkehr
und anderen kommunaler Leistungen) ZU einem sozialistischen Wohlfahrtsstaat. Die Tat­
sache, dass Dissens und Arbeiterprotest - Streiks waren im übrigen verboten - quantitativ
unbedeutende Phänomene blieben, könnte als Indiz des Erfolgs des "Gesellschaftsver­
trags" sowjetischer Prägung gedeutet werden.
Die sowjetische Sozialstatistik wies 198958,8 % Arbeiter, 29,3 % Angestellte, 11 ,7 %
Kolchosmitglieder und 0,2 % Sonstige aus. Keinen Eingang in die offizielle Sozialstruk­
turanalyse fand die sog. *Nomenklatur, etwa 0,09 % der Bevölkerung, die die Spitze der
Partei- und Staatsbürokratie umfasste. Diesen engen Füluungskader bezeichnete Milovan
Djilas suggestiv als "neue Klasse", doch wäre es nicht zuletzt aufgrund der informellen
Patronagebeziehungen sowie der oben genannten Aspekte adäquater, von einer sowjeti­
schen Ständegesellschaft zu sprechen.
Forschungsprobleme
Desiderata: Erstens mangelt es der altrussischen Rechts- und Sozialtenninologie infolge ei­
ner fehlenden Rezeption römischen Rechts an eigenen Definitionen, zugleich fehlen ange­
messene Übersetzungen. Gerade fur die russische Geschichte wären aufgrund bestehender
inhaltlicher Diskrepanzen identischer TelTDini begriffsgeschichtliche Untersuchungen wün­
schenswert, doch fehlen diese (Ausnalunen: --11, --23). Die Funktion der Begriffsge­
schichte besteht darin, einerseits die Differenz, "die zwischen vergangener und heutiger Be­
grifflichkeit herrscht" (Reinllart Koselleck), zu klären und andererseits modeme Theorien,
Kategorien und Definitionen wissenschaftlicher Begriffe auf die Vergangenheit anzuwen­
den, diese empirisch auf ihre Adäquanz zu überprüfen und einer semantischen Kontrolle zu
untelwerfen. Ein begriffsgeschichtliches Äquivalent zu "Geschichtliche Grundbegriffe"
bleibt für die Osteuropaforschwlg ein Desiderat.
Grundsätzlich besteht für die sowjetische Geschichte seit BegilUl des Stalinismus das
Problem, ob vor dem Hintergrund des starken Staates und seiner nachgerade pelTDanenten
Einmischung in die Privatsphäre der Bevölkerung eine "Gesellschaft" überhaupt existierte.
Einige Historiker betonen daher vielmehr ihre "Atomisierung" (--17). Gleichwohl war
selbst der stalinistische Staat kein Leviathan und in der poststalinistischen UdSSR entstan­
den neue Räume, in denen sich autonome Sphären bzw. Öffentlichkeit konstituieren korm­
ten. Ein weiterer Aspekt, der bereits seit 1986 im Kontext der sog. Revisionismusdebatte er­
örtert wurde, ist die Dichotomie Staat und Gesellschaft, bei der gerade letztere als Entität
gedacht, zu undifferenziert ist. Ähnliche Überlegungen sind jüngst auch fur das Zarenreich
geltend gemacht worden .
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Lutz Häfher
59 Geschlechter, Familie
Frauen- und Geschlechtergeschichte
Die herkömmliche russlandbezogene Geschichtsschreibung (--"Historiographie, Forschungs­
richtungen) behandelt ausschließlich die Handlungen und Erfahrungen von Männem, gibt
aber vor, allgemeine Geschichte zu repräsentieren. Im Dunkel dieser Scheinuniversalität
verschwindet die weibliche Bevölkerungshälfte, zumal von der sowjetisc hen Historiogra­
phie kaum Impulse ausgingen, die Geschichte der Frauen und des Geschlechterverhält­
nisses zu beleuchten. Dieser Aufgabe stelle n sich seit Mitte der 1970er Jahre Historike­ rinnen aus den USA und Westeuropa, die einen Blick auf die Vergangen heit Russlands werfen, der nicht länger von Geschlechterblindheit getrübt ist. Wie ihre Forschungser­
gebnisse zeigen, haben Frauen nicht weniger, aber eine andere Geschichte als Männer.
Die Anerkennung dieser Tatsache und ihre Umsetzung in die Geschichtsbücher stellt für
das Fach Russische Geschichte bis heute eine Herausforderung dar. Noch hat es kein
strukturell verändertes Geschichtsbild entwickelt und ist daher vo n einer wirklich allge­ meinen GeSChichte, in der Frauen ebenso selbstverständlich wie Männer einen Ort haben,
noch weit entfemt.
Indem die Disziplin Frauen- und Geschlechtergeschichte die soziale und kulturelle
Organisation der Geschlechterbezieh ungen in den Mittelpunkt rückt, wendet sie sich ei­ nem Verhältnis zu, das die Erfahrung von Frauen und Männem seit jeher tiefgreifend undl
nachhaltig prägt. Die Kategorie "Geschlecht" entfaltet ihre Wirkungsmächtigkeit aher
nicht nur in Bezug auf leibliche Frauen und Männer, sondem auch im Hinblick auf die
Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit und deren· Einfluss auf historische
Diskurse. Bis zu einer systematischen Rekonstruktion weiblichen und männlichen Lebens
in Russland vorn 10. bis zum 20. Jahrhundert und der das Geschlechterverhältnis prägen­
den Weiblichkeits- und Männlichkeitsimaginationen ist es noch ein weiter Weg, vor al­
lem fehlt es an historischen Längssch nitten sowie an kulturellen Querschnitten, die die
nicht-slavischen Nationalitäten dcs Vielvölkerreiches angemessen berücksichtigen.
Frau und Familie von der Kiever Rus' bis zum Petersburger Imperium
Wie im ührigen Europa herrschte auch in Russland eine patriarchalische Kultur. Frauen wa­
ren den Männem untergeordnet, aber kei neswegs rechtlos. Eine deutliche Rechtsungleich­
heit zwischen den Geschlechtern wurde Mitte des 16., und dann wieder im späten 18. und
frühen 19. Jahrhundert sichtbar, aber erst nach den .I'Revolutionen des Jahres 1917 beseitigt.
Die .I'Kiever Rus ' und das .I'Moskauer Reich kannten keine weibliche Thronfolge, je­
doch konnten verwitwete Fürstinnen für ihre mindeJjährigen Söhne die Regentschaft aus­
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