Teil 1: Was bedeutet eine Hörschädigung für betroffene ­Schülerinnen und Schüler? Kinder mit ­Hörschädigung in der Grundschule Angela Enders Kinder mit Hörschädigung erscheinen auf den ersten Blick leicht zu integrieren. Doch wird Hörschädigung als eine nicht sichtbare Behinderung in Hinblick auf ihre Auswirkungen auf Sprache und Sprechen, auf eine gelingende Kommunikation und auf den Wissenserwerb oder auf die Identitätsentwicklung der Heranwachsenden häufig unterschätzt. Der Beitrag im vorliegenden Heft will Regelschullehrkräften einige grundlegende Kenntnisse über Hörschädigung vermitteln, um sie so für die Bedürfnisse hörgeschädigter Schülerinnen und Schüler zu sensibilisieren. Der zweite Teil der Kurzserie gibt dann einen Einblick in die sprachliche und schriftsprachliche Entwicklung von Kindern mit Hörschädigung, die häufig verzögert und unter erschwerten Bedingungen abläuft. Damit auch Kindern in der Regelschule ein möglichst hoher Bildungsabschluss gelingt, werden im dritten Teil schließlich notwendige schulische Rahmenbedingungen und geeignete pädagogisch-didaktische Fördermaßnahmen vorgestellt. Hörgeschädigte Schülerinnen und Schüler – eine heterogene Gruppe Hörschädigungen sind nicht so selten, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Die Psychologin Verdoes-Spinell (2004) spricht von ein bis drei Kindern pro Regelklasse, die mehr oder weniger große Probleme mit dem Hören und Verstehen haben: darunter fallen schwerhörige und bisweilen auch gehörlose Schülerinnen und Schüler, Kinder, die nur auf einem Ohr schwerhörig sind, Kinder mit einer vor­ übergehenden oder chronischen Mittelohrentzündung und in wachsender Zahl auch Schüler/-innen mit auditiven Verarbeitungsschwächen oder Kommunikationsauffälligkeiten. Diese Heterogenität wird – neben den »normalen« Unterschieden wie Alter, Geschlecht, Herkunft, Sprache oder Begabung – noch weiter durch starke Divergenzen bezüglich Hör-, Sprach- und Sprechvermögen gesteigert. So gibt es hörgeschädigte Kinder, die Lautsprache mit Unterstützung von Hörhilfen (Hörgerät, Cochlea Implantat), mit oder ohne »Ant- 4 · 2016 www.grundschulmagazin.de Kurzserie Praxis Pädagogik ab 1 Autor Prof. Dr. Angela Enders Akadem. Rätin am Lehrstuhl Grundschulpädagogik und -didaktik der Universität Regensburg [email protected] litzgerichtetheit« erlernen, und auf diesem Weg kommunizieren. Andere benötigen zudem visuelle Unterstützung durch Absehen, Schrift oder auch manuelle Kommunikationsmittel (etwa das Fingeralphabet); wieder andere kommunizieren allein in Gebärdensprache. Bisweilen resultieren zudem aus der Hörschädigung emotionale und soziale Probleme oder auch Beeinträchtigungen im kognitiven Bereich. Diesem unterschiedlichen Förderbedarf versucht man an Schulen mit dem Förderschwerpunkt »Hören« in Bayern durch ­unterschiedliche Differenzierungs- und Individualisierungsmaßnahmen nachzukommen, etwa durch die Unterteilung in fünf Sprachlerngruppen, die sich nicht am Hörverlust, sondern an den individuellen Kommunikationsbedürfnissen der ­Schülerinnen und Schüler orientieren. Das Spektrum reicht hier von hörgerichteten Sprachlerngruppen für Schüler mit einer weitgehend normalen Lautsprachentwicklung bis hin zu bilingualen Gruppen, in denen in Lautsprache und zugleich in Gebär- 53 Kurzserie Praxis Pädagogik ab 1 Literatur nn Leonhardt, A. (Hrsg.): Hörgeschädigte Schüler in der allgemeinen Schule. Theorie und Praxis der Integration. Stuttgart 2009 nn Lindner, B.: »So viel Integration wie möglich – so viele Sondereinrichtungen wie nötig.« Warum wechseln hörgeschädigte Schüler von der allgemeinen Schule an das Förderzentrum, Förderschwerpunkt Hören? In: Leonhardt A. (Hrsg.): Hörgeschädigte Schüler in der allgemeinen Schule. Theorie und Praxis der Integration. Stuttgart 2009, S. 180-217. nn Truckenbrodt, T., Leonhardt A.: Schüler mit Hörschädigung im inklusiven Unterricht. Praxistipps für Lehrkräfte. München/Basel 2015. nn Verdoes-Spinell, M.: »Kinder mit Wahrnehmungsproblemen beim Hören«. Vortrag am 21. Januar 2004 in der Vortragsreihe »Kinder mit besonderem Förderbedarf in der Regelschule«, 54 densprache unterrichtet wird (vgl. www. km.bayern.de/download/2942_weiterentwicklung_hoeren.pdf). Versteht man »Heterogenität« als das Charakteristikum inklusiver Bildung, dann kann übrigens auch eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt »Hören« als inklusive Schule bezeichnet werden. Dass Regelschulen bislang den besonderen Bedürfnissen Hörgeschädigter nur begrenzt nachkommen, davon zeugen immer wieder Erfahrungsberichte von betroffenen Schülerinnen und Schülern. Wenn Betroffene selbst zu Wort kommen … Erfahrungsberichte junger Menschen mit Hörschädigung, die über ihre Schulzeit in Regelschulen berichten (vgl. etwa Leonhardt 2009, S. 218-243), enthalten nicht selten ähnliche Äußerungen: Außenstehende – Lehrer wie Mitschüler – würden Probleme, die mit der Hörschädigung einhergehen, unterschätzen; es käme häufiger zu Missverständnissen in der Kommunikation; die Schwierigkeiten beim Wissenserwerb würden nicht erkannt und gleiche Leistungserwartungen an alle gestellt; man fühle sich häufig ausgeschlossen oder gar stigmatisiert; Organisationsformen und Unterrichtsmethoden in der Regelschule wären für Hörgeschädigte wenig geeignet. Das fehlende Bewusstsein darüber, was eine Hörschädigung schulisch und unterrichtlich für die Betroffenen bedeutet, führt nicht selten dazu, dass sich hörgeschädigte Schülerinnen und Schüler in der Regelschule überfordert fühlen, etwa durch Plenumsgespräche, schnelle Sprecherwechsel, Gruppenarbeit oder einen Fremdsprachenunterricht, der in der Grundschule vor allem mündlich erfolgt. Mangelndes Sprachverstehen, eine belastende Hausaufgabensituation mit zusätzlichem Nachholen des Unterrichtsstoffs vom Vormittag oder auch Bullying führen dazu, dass hörgeschädigte Kinder oft bereits im Laufe der Grundschulzeit in Förderschulen zurückkehren (vgl. Lindner, S. 180-217). Diese Klagen zeigen die Notwendigkeit, dass auch Regelschullehrkräfte grundlegende Kenntnisse über Hörschädigungen und deren Auswirkungen erwerben müssen, um Bildungs- und Erziehungsprozesse hörgeschädigter Schülerinnen und Schüler adäquat unterstützen zu können. Arten und Grade von Hörschädigungen Verschiedene Hörschädigungen haben unterschiedliche Auswirkungen auf das Hörvermögen, die Sprachentwicklung und das Sprachverstehen. Kommen im Gehirn des Säuglings und Kleinkindes zu wenige externe auditive Reize an, führt dies zu einer geringeren Reifung des auditiven Systems; dadurch kann auch die frühe Sprachentwicklung gehemmt werden. Die Arten von Hörschädigungen werden danach unterschieden, an welchem Ort die Störung vorliegt (vgl. Truckenbrodt/ Leonhardt, S. 8-12): bei den peripheren Hörschädigungen können Außenohr, Mittelohr, Innenohr oder ein Teil der Hörbahn von einer Störung betroffen sein, bei der zentralen Hörschädigung sind es die weiteren ­Teile der Hörbahn und bestimmte Gehirn­ areale. Ein Beispiel für eine zentrale Hörschädigung ist die auditive Verarbeitungsund Wahrnehmungsstörung (AVWS). Hier liegt eine normale Hörschwelle vor, doch sind die zentralen Prozesse des Hörens gestört: das Kind hört, kann aber das Gehörte nicht angemessen verstehen. Nach Truckenbrodt und Leonhardt (vgl. ebd., S. 12) profitieren Schüler mit AVWS von ähnlichen Rahmenbedingungen und Unterstützungsmaßnahmen wie sie Kindern mit peripheren Hörschädigungen angeboten werden (vgl. die folgenden Hefte 5 und 6/2016). Zu den peripheren Hörschäden zählen die Schallleitungsschwerhörigkeit sowie die Schallempfindungsschwerhörigkeit. Bei der Schallleitungsschwerhörigkeit (auch Mittelohrschwerhörigkeit) liegt der Defekt im Mittelohr. Der Schall kann ins Innenohr nur leiser und gedämpft weitergeleitet werden. Die Hörfähigkeit ist hier für die verschiedenen Töne relativ gleichmäßig verringert, d. h. alle Töne werden in ähnlicher Weise leiser gehört, während die Verständlichkeit der Sprache weitgehend erhalten bleibt. Bei der Schallempfindungsschwerhörigkeit (auch Innenohrschwerhörigkeit oder sensori-neurale Schwerhörigkeit) liegt der Defekt im Innenohr oder im Hörnerv: die Töne werden hier unterschiedlich laut, verzerrt und lückenhaft gehört. Auch Wörter und Sätze können zerstückelt, nur in Ansätzen oder gar nicht gehört werden. www.grundschulmagazin.de 4 · 2016 Kurzserie Praxis Pädagogik ab 1 Hören bei einer Schallleitungsschwerhörigkeit: Hören bei einer Schallempfindungsschwerhörigkeit: Grafik: A. Enders Das Hörvermögen ist hier also stark reduziert; manche Frequenzen, vor allem die mittleren und hohen, die für die Wahrnehmung von Sprache relevant sind, können auch komplett ausfallen. Eine Kompensation dieser »Hörlücken« ist – wie oft fälschlicherweise geglaubt wird – durch lautes Sprechen nicht möglich. Vielmehr muss der hochgradig Schwerhörige durch Lippenabsehen und Kombinieren den Sinn des Gesagten erraten. Auch bei einer Versorgung mit einem Cochlea Implantat (CI), einer Art Hörprothese, ist kein völlig normales Hören möglich. Um eine Hörschädigung angemessen für Hörfähigkeit, Sprechen, Sprachverstehen sowie Kommunikation und Kognition einschätzen zu können, ist neben der Art der Hörschädigung auch der Grad des Hörverlusts von besonderer Bedeutung. Die Arten von Schwerhörigkeit (Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit) werden deshalb – je nach Grad des Hörverlusts – noch einmal in leicht-, mittel- und hochgradige Schwerhörigkeit unterschieden. Ein Audiogramm vermag Aufschluss über die individuelle Hörfähigkeit zu geben. Auf der horizontalen Ebene werden hier die Frequenzen in Hertz genannt, auf der vertikalen Ebene der Hörpegel in Dezibel. Der Hörverlust wird in Dezibel gemessen. In Abhängigkeit vom Grad des Hörverlusts – bezogen auf die verschiedenen Frequenzen –, spricht man in der Regel von leicht-, ­mittel-, hochgradigen, von an Taubheit grenzenden Hörschädigungen oder von Gehörlosigkeit. Durch Hörhilfen kann die Hörschwelle angehoben werden; die neue Hörkurve bezeichnet man dann als Aufblähkurve. 4 · 2016 www.grundschulmagazin.de Für eine Klassifikation gibt es nur Annäherungswerte: Eine leichtgradige Schwerhörigkeit umfasst einen mittleren Hörverlust von nicht mehr als 40 dB, eine mittelgradige Schwerhörigkeit liegt zwischen 40-60 dB, eine hochgradige Schwerhörigkeit zwischen 60-95 dB vor. Von einer »Resthörigkeit« bzw. einer »an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit« spricht man bei einem Hörverlust von 85-95 dB. Gehörlosigkeit liegt schließlich vor, wenn der Hörverlust mehr als 95 dB beträgt. Um Hörschädigungen klassifizieren und daraus mögliche Förderbedarfe ableiten zu können, sind darüber hinaus weitere personenbezogene Kriterien relevant, wie Intelligenz und Motivation, Belastbarkeit und Arbeitshaltung, der Beginn und die Art der Hör- und Sprecherziehung und die Bedeutung der individuell nutzbaren Frequenzbereiche. Was bedeutet eine Hörschädigung? Eine Hörschädigung gilt häufig im Vergleich zu anderen Behinderungsarten als »leichtere« Behinderung. Zu dieser Verharmlosung trägt zum einen die NichtSichtbarkeit der Hörschädigung bei. Gehörlose tragen häufig keine Hörgeräte; In-dem-Ohr-Geräte, kurz: IdO-Geräte, liegen kaum sichtbar im Ohr bzw. HdO-Geräte – Hinter-dem-Ohr-Geräte – sind unter den Haaren verborgen. Zum anderen wird häufig vermutet, dass Hörgeräte oder auch ein Cochlea Implantat eine Hörschädigung kompensierten, also zu »normalem« Hören führen würden. Mit dieser Einschätzung 55 Kurzserie Praxis Pädagogik ab 1 wird jedoch die Tragweite einer Hörschädigung in ihren Auswirkungen auf Hören, auf Sprache und Sprechen, auf Kommunikation und Verstehen, ja auch auf die Identitätsentwicklung des Heranwachsenden unterschätzt. Sentenzen wie »Blindheit trennt von den Dingen, Taubheit von den Menschen« oder »Hören als das Tor zur Welt« mögen eine Ahnung davon geben, was Hören für den Menschen als ein soziales Wesen bedeutet (s. Abb.). What it is like to be deaf? (Schülerarbeit) 56 Die Auswirkungen des defizitären oder fehlenden auditiven Kanals können je nach Art und Grad der Hörschädigung, besonders bei hochgradig Hörgeschädigten, resthörenden und gehörlosen Menschen, gravierend sein. So kann bei ihnen gesprochene Sprache nicht mehr spontan und problemlos über das Gehör identifiziert werden; das führt nicht nur zu Behinderungen in der unmittelbaren Kommunikation, sondern schränkt auch den Erwerb von Weltwissen ein, der bei hörenden Heranwachsenden durch bewusstes Zuhören (etwa beim Radiohören, im Unterricht) oder indirekt, quasi »nebenbei«, erfolgt. »Informelles« Hören und Verstehen ist erschwert oder bleibt dem Hörgeschädigten gar komplett verschlossen: das Aufschnappen, was andere im Unterrichtsgespräch murmeln und worüber man gerade lacht, das Hören und Bewerten von dem, was in Nebengesprächen an Kommentaren läuft, oder auch das gemeinsame Diskutieren eines Sachverhalts bei gleichzeitigem Korrigieren etwa von unpräzise formulierten Schüleräußerungen … Diese Art von Informationsgewinnung ist innerhalb der gruppendynamischen Komplexität der Klassengemeinschaft auch Voraussetzung für ein angepasstes, erwartetes oder auch selbstwertdienliches Agieren in der Gemeinschaft mit den Mitschülern. Nicht allein ein Gruppen-, auch ein »Zweiergespräch« kann für einen Hörgeschädigten schon schwierig sein, wenn der Gesprächspartner nicht willens ist, die Kommunikation an die Bedürfnisse des Gegenübers anzupassen. Schlechtes Hören führt nicht selten auch zu schlechtem Sprechen und zu Problemen bei der Lautbildung: Der Hörgeschädigte kann sein eigenes Sprechen nicht auditiv kontrollieren und spricht deshalb oft verwaschen. Hochfrequente Laute, insbesondere Zisch- und Reibelaute wie das »s«, »sch« oder »f«, die für das Verstehen von Sprache zentral sind, werden vielfach nicht wahrgenommen und entsprechend auch nicht artikuliert bzw. durch einen ähnlichen Laut ersetzt; oft müssen solche nicht gehörten Laute mühsam in logopädischer Therapie antrainiert werden. Besonders schwer wiegen Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung, die zentrale Bereiche von Sprache wie Wortschatz, Grammatik, Syntax oder Textverstehen betreffen. Ohne vertiefte Sprachbeherrschung ist aber weder das Lesen noch das Verfertigen komplexer Texte möglich, noch kann eine anspruchsvolle Kommunikation erfolgreich bestritten werden. Damit ist auch der Wissens- und Bildungserwerb zum Teil gravierend beeinträchtigt. Zudem gilt in der Welt der Hörenden: nur wer über gute sprachliche und schriftsprachliche Kompetenzen verfügt, wird gehört und kann autonom an der Gesellschaft teilhaben und daraus ein positives Selbstwertgefühl beziehen. Gelingt die soziale Teilhabe nicht, führt dies schnell zu Gefühlen der Ausgrenzung oder gar Stigmatisierung. Eine kleine Ahnung davon, was eine Minderung der Hörqualität im Alltag für den Hörgeschädigten bedeutet, kann ein Selbstexperiment geben, bei dem man einen normalen Arbeitstag – und nicht einen Sonntagnachmittag ohne Verpflichtungen! – mit gut abdichtenden Ohrstöpseln durchlebt und durchsteht. Allerdings liefert das Experiment nur einen begrenzten Eindruck in die Welt Hörgeschädigter. Denn weder ist der Hörende in Sprache und Sprechen beeinträchtigt noch ist das Experiment auf Dauer angelegt. Die nur temporäre Hörbeeinträchtigung dürfte auch kaum die psycho-soziale Gestimmtheit beeinflussen, wenn man weiß, dass am nächsten Tag das Leben wieder in seinen gewohnten Bahnen verläuft. www.grundschulmagazin.de 4 · 2016