Ö1 macht Schule. Ein Projekt von Der globale Islam Zwischen Demokratie und Gottesstaat Ö1 Radiokolleg Gestaltung: Brigitte Voykowitsch Sendedatum: 5. – 8. September 2011 Länge: 4 x 22:50 Minuten Inhaltsübersicht Teil 1 (Ägypten – Revolution – Militärrat - Muslimbruderschaft – Scharia – Hassan al Banna - Sayyd Qutb – Hasan al-Hudaibi – al-Dschama'a al-islamiyya - Salafisten) Revolution in Ägypten: Walid Raschid (Sprecher der Bewegung des 6. April) I Organisation der TextilarbeiterInnen I spielt wichtige Rolle in der Vorbereitung der ägyptischen Revolution vom 25.1.2011 I Revolution heißt nicht Rücktritt eines Staatschefs (Hosni Mubarak); Revolution heißt, dass sich die Mentalität und die Kultur des Regimes und der Menschen verändern muss I Machthaber dürfen nicht nach Gutdünken Menschen festnehmen und vor Militärgerichte stellen I Forderungen nicht erfüllt Rückkehr an Freitagen auf den Tahrirplatz I Kritik am Militärrat und an Militärgerichten, nicht an der Armee I Verzögerung der Transformation I Grund- und Menschenrechte müssen geachtet werden I 10 000e Zivilisten (Angaben von Menschenrechtsaktivisten) wurden seit Beginn der Revolution vor Militärgerichte gestellt I keinen Termin für Parlamentswahlen I umstritten ist der Modus zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung I Glaube an die junge Generation I Jugend als Motor der Revolution I Kritik an der alten Generation, warum sie ein autokratisches System ertragen haben I Wie geht es weiter? I Existenz von Verschwörungstheorien, Gerüchten, Mutmaßungen ohne bestimmbaren Wahrheitsgehalt I Gibt es eine Gegenrevolution aus den alten Reihen des Regimes? I Interview mit Ninette Fachni: Bedeutung der Muslimbruderschaft I Deal/Abkommen zwischen Militärrat und Muslimbruderschaft I Muslimbrüder sollen mit Hilfe des Militärrates die nächste Regierung bilden Mitglieder des Militärrates und Angehörige des alten Regimes sollen dann ungeschoren davonkommen I Wie sind sie auch zu ihrem Vermögen geraten? I Muhammed Hussein Tantawi als Vorsitzender des Militärrates und Konsorten wollen nicht das Schicksal von Mubarak teilen I Interview mit Essam al-Erian (Arzt) Vizepräsident der neuen Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (gegründet von Muslimbrüdern): seine Behauptungen – keine Beziehungen zur Armee, für Demokratie, für Zivilgesellschaft, Überwindung des alten Systems; Scharia als Hauptquelle des Rechts – Hauptquelle der Gesetzgebung; von der Mehrheit der Ägypter akzeptiert, auch von Kopten; gibt allen die gleichen Rechte und Pflichten; Frauen sind gleichberechtigt; sie ist Grundlage für Freiheit, Gleichheit und Religionsfreiheit; Ablehnung der harten Körperstrafen I Spricht er für die Mehrheit der Muslimbrüder? I liberale und demokratische Gruppen fühlen sich dadurch verunsichert I radikale Auslegung und Anwendung der Scharia seit den 1970er Jahren ein umstrittenes Thema I wer Gläubige ansprechen will, muss die Scharia betonen I Gudrun Krämer: islamische Aktivisten haben Scharia nicht durchdacht Unbestimmtheit der Scharia aus Gründen der Mobilisation: starke Rufe nach Anwendung der Scharia bei schwacher Definition dessen, was sie meinen I © Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / MMag. Alfred Germ Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt. 1 Ö1 macht Schule. Ein Projekt von Bedeutung der Scharia für Anstand, Sitte, Werteorientierung I Wirtschaftlicher Kontext: Partnerschaft zwischen Reich und Arm, Verantwortung und Sozialbindung Almosensteuer I Zivilrecht: Vorschriften des Koran einhalten; Leitbild von Ehe und Familie für die Gesellschaft; Ungleichstellung für Mann und Frau (wie lange Zeit auch in Westeuropa) I Strafrecht weniger klar: Scharia anwenden, aber die Gesellschaft müsse reif für diese schweren Körperstrafen sein; wenn sie aber wahrhaft islamisch ist, muss man das Strafrecht gar nicht mehr anwenden I Familienrecht (Ehe, Scheidung, Obhut über die Kinder) basiert in muslimischen Ländern auf Scharia I Nada Haschemi: radikalste Interpretationen der Scharia findet man in Gesellschaften mit langer Geschichte politischer Konflikte, Repression und Gewalt I Somalia, Sudan, Afghanistan unter Taliban als Beispiele I religiöse Oppositionsgruppen an der Macht verhalten sich ebenfalls autoritär wie das vorherige Regime I Iran: nach Sturz des autokratischen Schahregimes 1979 verhält sich Ayatollah Khomeini ebenfalls unerbittlich, kein Dialog, keine Verhandlungsprozesse, nur Schocktherapie I Barbara Zollner (Autorin über Muslimbruderschaft) I Vielfalt an Meinungen zur Bedeutung der Muslimbruderschaft I schwierige Geschichte der Muslimbruderschaft: 1928 von Hassan Al Banna (Schullehrer) gegründet I historischer und zeitlicher Kontext: ägyptische Ressentiments gegen britischen Kolonialismus und Imperialismus I 1923: Osmanisches Reich zerfällt nach 600 Jahren I bereits im 19. Jahrhundert forderte man eine innere Reform des Islam, als sich der Zerfall des Osmanischen Reiches und die westliche Vorherrschaft abzeichneten I der Niedergang des Nahen Ostens und der arabischen Welt wurde mit dem Fehlen eines muslimischen Ideals erklärt I Hassan al Banna war davon beeinflusst I wollte mit der Reform bei den Menschen selbst beginnen I kein klares Manifest – alle Strömungen (Konservative, Pragmatische, Moderne) können sich auf ihn beziehen I Muslimbruderschaft soll für Gerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit, Freiheit, Rechte, Freiheit von den Briten stehen; ob er für Demokratie eintrat ist unter Muslimbrüdern umstritten I Eugene L. Rogan: Wendepunkt in der Muslimbruderschaft als in den 1940er Jahren ein bewaffneter Flügel entsteht I für Mord am ägyptischen Premier 1948 werden Muslimbrüder verantwortlich gemacht I 1949 Hassan al Banna ermordet I freie Offiziere mit Jamal Abdel Nasser putschen 1952 in Verbindung zu den Muslimbrüdern I benötigen die Unterstützung der Muslimbrüder und der Kommunisten gegen die verwestlichte Monarchie I Einparteiensystem entsteht, das die Kommunisten und Muslimbrüder nicht hinnehmen wollten I 1954: Anschlag auf Nasser Verhaftung der Muslimbrüder I Unterdrückung der Muslimbruderschaft mit extremer Gewalt I Radikalisierung der Häftlinge im Gefängnis I Sayyd Qutb ( Berater des Militärrates unter Nasser; übernimmt Führung der Muslimbruderschaft): seit 1954 im Gefängnis; 1966 hingerichtet I Gefängnisspital als Schaltstelle für Austausch von Ideen I Frauen bringen Texte aus dem Gefängnis und verbreiten diese I Meilensteine (Hauptwerk) Echte Muslime und Abtrünnige (=Apostaten) I Apostaten dürfen getötet werden Botschaft der Gewalt I Vater eines radikalen Islam I Gott als oberster Gesetzgeber I Scharia als absolutes Gesetz I greift Muslime an, die westliche Ideen übernommen haben I Dschihad ist nicht defensiv und potentiell gewalttätig; kann sich auch gegen muslimische Herrscher richten, die nicht dem Gesetz Gottes folgen I Utopist wenn Menschen sich durch Gottes Gesetz leiten lassen entsteht die ideale Gesellschaft I spricht nicht über den Aufbau eines Staates I Hasan al Hudaibi: folgt auf Qutb I fürchtet Radikalisierung der Muslimbrüder und Hinwendung zur Gewalt I Distanz zur Anwendung von Gewalt I Prediger nicht Richter (Buch) These: keinem Muslim steht das Urteil zu, ob ein anderer Mensch ein Muslim sei, oder nicht; kann nur Gott fällen I fordert gemäßigten Weg I theologisch gilt diese Botschaft bis heute, sagt nichts darüber aus, wie sie politisch umgesetzt werden soll und wie ein Staat organisiert sein soll I Bedeutung von Qutb heute zwischen Bewunderung und Distanz I großer Einfluss auf militante islamistische Gruppen ab 1970er Jahren zunächst in Ägypten und dann weltweit I Vater einer radikalen islamistischen Ideologie und Politik I Beispiel Ayman Al Zawahiri (Chef des ägyptischen Dschihad und Chef von Al Kaida): Biographie zeigt, wie stark der Einfluss von Qutb war I © Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / MMag. Alfred Germ Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt. 2 Ö1 macht Schule. Ein Projekt von Nasser (Sozialismus und Panarabismus) Anwar al Sadat: Kurswechsel I Anlehnung an die USA I Krise der Wirtschaft I Öffnung der Wirtschaft wendet sich an muslimische Gruppen I kehrte seine Frömmigkeit hervor (brauner Fleck auf Stirn, den man bekommt, wenn man 5 mal täglich das Gebet verrichtet); Muslimbrüder wurden aus Gefängnissen entlassen I offiziell blieb sie verboten I Friedensvertrag mit Israel I Ermordung 1981 durch radikale Islamisten I Mubarak: Konzessionen an die Islamisten Islam als Hauptquelle der ägyptischen Gesetzgebung festgeschrieben I kann radikale Gruppen nicht zufriedenstellen al-Dschama'a al-Islamiyya I Terroranschläge in Luxor 1997 und Festnahmen als Wendepunkt keine Zustimmung in der Öffentlichkeit, da Blutbäder und Touristenanschläge nicht der Weg zu einem idealen Staat sein können I Innerer Prozess der Entradikalisierung I gilt auch für den ägyptischen Dschihad, der sich Al Kaida angeschlossen hatte I Salafisten: vertreten ultraorthodoxe Positionen zu Staat und Gesellschaft I Rolle der Muslimbrüder im postrevolutionären Ägypten: sind gleichzeitig bekannt und doch unbekannt I widersprüchliche Aussagen und Dokumente wie etwa die Einrichtung eines obersten Religionsrates zur Kontrolle der Politik I besondere Sorge durch Einfluss des extrem konservativen Wahabismus auf die Salafisten I Zukunft: Wie wird sich das Parlament zusammensetzten? Wer wird die Verfassung schreiben? Demokratie oder keine Demokratie? InterviewpartnerInnen: Walid Raschid: Sprecher der Bewegung 6. April Ninette Fahmy: Professorin für Politikwissenschaft und Politik des Nahen Ostens American University in Kairo Essam al-Erian: Arzt, Vizepräsident der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (Gründung der Muslimbrüder) Gudrun Krämer: Professorin am Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität Berlin Nader Hashemi: Professor der Josef Korbel School of International Politics in Denver, USA Barbara Zollner: Lehrbeauftragte für Islamstudien Birkbeck University of London Eugene L. Rogan: Fakultät für Orientstudien University of Oxford © Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / MMag. Alfred Germ Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt. 3 Ö1 macht Schule. Ein Projekt von Teil 2 (Religion und Staat – Osmanisches Reich – Militärdiktaturen – Türkei – Syrien - Iran - Saudi Arabien ) Nader Hashemi: Beziehung zwischen Religion und Staat: Geschichtlicher Kontext: Europa und USA machen andere Erfahrungen mit dem Verhältnis von Religion und Staat als Länder im Nahen Osten und andere muslimische Länder I Protestantismus I Reformation I Religionskriege I Erfahrung dieser Kriege im 17. Jahrhundert prägen das Verhältnis von Religion und Staat I Schriften von Zeitgenossen zeigen das Entsetzen über diese Kriege I Religion spielt in der muslimischen Welt nicht diese zerstörerische Rolle I Zusammenbruch von politischen Ordnungen in der muslimischen Welt war durch Korruption von Herrschern und Vordringen von Kolonialmächten bedingt I politischer Säkularismus entwickelt sich im Westen und nicht in der muslimischen Welt I Verhältnis von Religion und Staat ist heute ein Problem in muslimischen Gesellschaften I Relevanz für zeitgenössische Politik und Demokratie I Eugene L. Rogan: Bedeutung der historischen Perspektive I Zustand des Osmanischen Reichs im 19. Jahrhundert: im 16. und 17. Jahrhundert größte Ausdehnung Türkei, Teile Osteuropas, Irak, Naher Osten, Arabische Halbinsel, Ägypten, Marokko I Konflikte mit europäischen Mächten und Aufstände im Inneren des Vielvölkerstaates führen zu Machtverlust von Konstantinopel und mehr Eigenständigkeit von Regionen I im 19. Jahrhundert wurde der Nahe Osten ausschließlich von absoluten Monarchen regiert I 1830er Jahre: Studenten kommen aus diesen Regionen nach Europa I beschäftigen sich mit Ideen und politischen Modellen I fühlen sich von Verfassungen besonders angesprochen Ruf nach Verfassungen I ab 1860er Jahren in bestimmten Gebieten verabschiedet I (semi)-parlamentarische Organe in Konstantinopel und in Teilen im Osmanischen Reich (Tunesien, Ägypten) eingesetzt I Bemühen um die Begrenzung der Macht der Herrscher und Beteiligung der Volksvertretung in der Regierung hat tiefe Wurzeln in der muslimischen Welt I Emanzipationsbestrebungen im Inneren, Kampf mit westlichen Großmächten und Russischem Reich um Vorherrschaft und Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen schwächen das Osmanische Reich weiter I Auflösung nach dem Ersten Weltkrieg I 1923: Türkei entsteht als unabhängiger Staat I Gebiete des Nahen Ostens und Nordafrikas geraten unter die Vorherrschaft der Briten und Franzosen, die sie erst nach dem 2. Weltkrieg abschütteln konnten I zwischen 1. und 2. Weltkrieg geht es um die Unabhängigkeit von den Kolonialmächten I Parteien entstehen I rege politische Partizipation I gewählte Regierungen können Kolonialherrschaft nicht abschütteln I diese Erfolglosigkeit wurde als Schwäche der liberalen Demokratie und des Parteiensystems angesehen I Strukturen spielen in die Hände der Kolonialmächte I in 1940er Jahren Frustration I man setzt auf das Militär I 1949: Putsch in Syrien; 1952: Revolution in Ägypten; 1958: Offiziere übernehmen die Macht im Irak Ende der probritischen Monarchie Abzug der Briten I patriotische Militärregime stießen auf großes Echo, da damit neue Ära, Modernisierung und arabische Größe und Würde verbunden waren I Nationalismus, Sozialismus, Panarabismus als vorherrschende Ideologien in 1950er und 1960er Jahren in der arabischen Welt I Demokratie war keine Option I ideologische Formen des Nationalismus waren säkular I Religion als Teil des Problems I religiöse Gruppen wurden unterdrückt I säkulare Regime orientieren sich an europäischen Modellen I lassen aber Demokratie, freie Presse, unabhängige Justiz, Menschenrechte aus I rigorose Autokraten I können Versprechen des Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit nicht erfüllen I Korruption und Repression wuchs I Säkularismus gerät in ein schlechtes Licht I Säkularismus im Westen: Fortschritt, Menschenrechte, Pluralismus, Gleichstellung der Geschlechter I Säkularismus im Islam: vom Staat durchgesetzter Säkularismus I Türkei als Modell: Mustafa Kemal Atatürk: Abwendung von der islamischen Tradition I Anschluss an Europa und die Moderne I religiöse Stiftungen konfisziert I © Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / MMag. Alfred Germ Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt. 4 Ö1 macht Schule. Ein Projekt von Schariagerichte abgeschafft I Zivil-, Straf- und Handelskodizes des Westens eingeführt I Religiöse Schulen geschlossen I Bruch mit der Vergangenheit I am nächsten kam der Iran: Dynastie der Pahlevi I Atatürks brachiale Säkularisierung belastete die Idee des Säkularismus in der gesamten islamischen Welt I Baath-Partei (= arabische-sozialistische Partei der Wiedererweckung)I 1940 in Damaskus gegründet I Gründer der Baathpartei: Michel Aflaq (Christ) und Salah ad-Din al-Bitar (sunnitischer Muslim) Islam für Kultur der arabischen Welt herausragende Rolle I sehen keinen Platz für den Islam in der Politik der arabischen Welt I befürworten strikte Trennung von Religion und Politik I Säkulare Ideologie wurde von den Herrschern verfolgt I fromme Muslime und manche Intellektuelle finden, dass Religion unterdrückt werde und muslimische Werte verloren gehen I dieses Denken herrscht schon lange vor der Iranischen Revolution 1979 I Sturz des Schahregimes und Errichtung eines islamischen Staates, in dem die Religion im Zentrum des politischen Systems steht I diktatorische arabische Regime lassen keinen Raum für freie intellektuelle und politische Debatten I arabische Intellektuelle gehen seit 1950er Jahren in den Westen I Debatten zu Koranexegese, Islam und Demokratie, Islam und Moderne finden an führenden Universitäten in Europa und den USA statt I in der arabischen Welt verbreiten sich in orthodox-religiösen Kreisen Vorstellungen, die ihren Ursprung in der Kolonialzeit haben Islamismus I Vordenker sind Hassan Al Banna (Gründer der Muslimbrüderschaft), Sayyid Qutb (Nachfolger) und Sayyid Abul Ala Maududi: stammte aus dem bis 1947 unter britischer Kolonialherrschaft stehenden indischen Subkontinent, der 800 Jahre lang von muslimischen Dynastien regiert worden war I Fragen von Hassan al Banna und Sayyid Abul Ala Maududi: Warum war die muslimische Welt unter die Fremdherrschaft der Europäer geraten? Warum ist man gescheitert? I Schriften in 1930er Jahren verfasst, als mit Ausnahme der Türkei, Iran und Afghanistan kein mehrheitlich muslimischer Staat unabhängig war I Schlussfolgerung: es mangelt an Modellen I einerseits gibt es das am Westen orientierte Modell der Türkei unter Atatürk I andererseits konservative Schicht von muslimischen Gelehrten, die zwar die Anwendung islamischer Gesetze forderten, aber keine politische Ideologie entwickelten I Zeit, sich mit der Frage zu beschäftigen welche Rolle soll der Islam in der Politik spielen? Islam sollte als Ideologie mit westlichen Ideologien konkurrieren können I andere Themen kommen hinzu Gründung Israels und die Palästinenserfrage I ideologische Orientierung der Regime, die in den 1950er und 1960er Jahren in der arabischen Welt die Macht übernahmen I nicht der Islam, sondern Sozialismus war angesagt I in diesem Kontext entwickelt sich der Islamismus I Islamisten werden verfolgt I in manchen Staaten aus politischer Opportunität geduldet oder unterstützt I Syrien: 1982 Muslimbrüder initiieren Aufstand in der Stadt Hama von Armee niedergeschlagen I Tod von etwa 30 000 Zivilisten I gleiche Stadt in der die syrische Armee seit Beginn des arabischen Frühlings 2011 gegen Zivilisten vorgeht I an der Macht war Hafiz al Assad, Vater des derzeitigen syrischen Staatschefs Baschar al Assad I islamische Revolution gelang nur im Iran 1979: gegen das vom Westen gestützte und hochgerüstete Schahregime I Arshin AdibMoghaddam: Charisma Khomeinis trug wesentlich zum Erfolg der Revolution bei I bewegte die Massen I vom Arbeiter bin zum Intellektuellen I volksnah I Grausamkeit seine Linie durchzusetzen I über die Definition eines wahren islamischen Regimes hat es unter den Rechtsgelehrten im Iran nie Einigkeit gegeben I Stefan Rosyni: im Iran ist schiitischer Islam dominant I anderes Politik- und Staatsverständnis als der sunnitische Islam I hat kein Vorbild einer islamischen Herrschaft I Theologen und Rechtsgelehrte haben versucht Einfluss zu nehmen auf den Herrscher, ihn an den Islam zu erinnern, an moralisches Handeln, auch bestimmte Bereiche der Gesellschaft (Familienrecht) kontrolliert I hatten nie den Anspruch politische Herrschaft selbst auszuüben I dominant war quietistische Tradition man soll sich nicht in Politik einmischen I man muss warten bis der Erlöser kommt I im 20. Jahrhundert wurde diese traditionelle Lehre uminterpretiert I man muss die Welt vorbereiten auf den Mahdi (Erlöser) I man muss heute gerechte Gesellschaft und gerechten Staat errichten I gab verschiedene islamistische Theoretiker I Khomeini bestimmte die Politik am stärksten Theorie des obersten Rechtsgelehrten ( Velayat-e faqih) I © Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / MMag. Alfred Germ Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt. 5 Ö1 macht Schule. Ein Projekt von soll religiöse und politische Autorität ausüben I war vor und nach der Revolution in theologischen Kreisen umstritten I Ausübung der politischen Macht durch den obersten Rechtsgelehrten wurde als Anmaßung ausgelegt, die sich durch die religiösen Quellen nicht rechtfertigen lasse I Kritik fußte aber auch in pragmatischen Überlegungen: Angst und Sorge, wenn sich Theologen in Politik einmischen jede Fehlentscheidung von ihnen dem Islam angelastet werde Islam verliert an Anhängerschaft I Argument für Chatami in 1990er Jahren um Reformen anzustoßen I real existierende islamische Republik habe so viele Menschen entfremdet, dass junge Leute vom Islam abfallen und das muss verhindert werden der Bevölkerung liberale Rechte geben um die jungen Menschen zum Islam zurückzubringen I heftigster Kritiker und engster Gefolgsmann von Khomeini war Montazeri I kritisiert, dass der Rechtsgelehrte nicht mehr ans Volk gebunden ist; gilt als unfehlbar; wird nicht gewählt; kann nicht abgesetzt werden I Machmud Ahmadinedschad 2005 zum Staatspräsidenten gewählt I subversive Ideen I Nichttheologe I interessantes religiöses Konzept I ist in Kontakt mit dem Mahdi I er kommuniziert mit dem Mahdi I stellt Autorität der Theologen im Iran in Frage I sind Macht- und Interpretationsfragen I Geschichte im Königreich Saudi Arabien: 1932 gegründet I durchgängig von der islamistischen Ideologie geprägt I wahhabitischer Islam ( Gründer: Muhammad ibn Abd al-Wahhabs) I strebt Reinheit und Authentizität von Lehre und Praxis an, fordert enge Auslegung des Koran und der Sunna I lehnt Volksglaube, Heiligenverehrung und viele andere Praktiken in der muslimischen Welt rigoros ab I dank des Ölreichtums exportiert Saudi Arabien diesen rigorosen Islam in andere Teile der muslimischen Welt und fördert radikale Strömungen I wie definieren Saudis ein islamisches Regime? I Ulrike Freitag: Ein Regime nach islamischen Regeln ist umstritten I Monarchie ist überhaupt nicht islamisch I Demokratie sei die wahre islamische Staatsform I Interpretationen von Leuten, die sich als Wahhabiten deklarieren würden I intensive öffentliche Auseinandersetzungen in den letzten Jahren Dekret I öffentliche Kritik am Rat der hohen Rechtsgelehrten (Elite der wahhabitischen Rechtsgelehrten, die den König beraten) wurde verboten I öffentliche Kritik kam von Journalisten, Lehrern, Professoren, auch von nicht so arrivierten Rechtsgelehrten I Medienscheichs im Radio und Fernsehen und deren ad hoc Rechtsgutachten werden verboten I Hinweis darauf, dass es unter der Gelehrtenschaft extreme Auseinandersetzungen gibt I korrekte und angemessene Interpretation des Koran hat in Saudi Arabien besonderen Stellenwert: Mekka und Medina als heilige Stätten des Islam auf saudischem Territorium I wohin wird sich Saudi Arabien entwickeln? I schwer abschätzbar I Entscheidungen fallen im Könighaus I schwer hineinschauen Black box I Königshaus denkt nicht über ernsthafte politische Reformen nach I mehr Kosmetik I keine großen Parlamentswahlen, wo das Parlament tatsächlich mehr zu sagen hat als das Könighaus I langfristig unter den Saudis Unzufriedenheit über fehlende Mitbestimmung I heißt nicht, dass sie Demokratie nach westlichem Muster einführen wollen, dass sie das Königshaus verjagen wollen I wollen, dass ihre Stimmen deutlicher gehört werden und wollen sich dafür einsetzen I unter der Oberfläche brodelt es stärker, als im Westen sichtbar ist I es gab keine großen Demonstrationen InterviewpartnerInnen: Nader Hashemi: Professor der Josef Korbel School of International Politics in Denver, USA Eugene L. Rogan: Fakultät für Orientstudien University of Oxford Gudrun Krämer: Institut für Islamwissenschaft Freie Universität Berlin Olivier Roy: Politikwissenschaftler und Islamexperte Paris Arshin Adib-Moghaddam: School of Oriental and African Studies, University of London Stefan Rosyni: GIGA Institut für Nahost-Studien Hamburg Ulrike Freitag: Institut für Islamwissenschaft Freie Universität Berlin © Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / MMag. Alfred Germ Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt. 6 Ö1 macht Schule. Ein Projekt von Teil 3 (Islam in Indonesien – Pancasila – Schura – Interpretation des Korans - Mohammed – Kalifat – AKP in der Türkei) Azyumardi Azra: Im Koran gibt es keine Verse, die Muslime auffordern einen islamischen Staat zu errichten I ist eine moderne Erfindung einiger Muslime angesichts des sich ausbreitenden westlichen Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhundert I Konzept eines islamischen Staates findet sich nicht im Koran I Indonesien I warum hätte Indonesien ein islamischer Staat werden sollen? I Mehrheit der Indonesier nach Sturz von Langzeitdiktator Suharto 1998 will Einführung der Demokratie I Grund: Vielfalt an Religionen, Traditionen, Lebensentwürfen I Indonesien braucht ein System, in dem diese Vielfalt gedeihen kann I weltweit bekennen sich 1,5 Mrd Menschen zum Islam die zweitgrößte Religion von Gläubigen nach dem Christentum I 2,2 Mrd. Menschen bekennen sich zum Christentum, bei einer Gesamtweltbevölkerung von knapp 7 Mrd. I Mehrheit der Muslime lebt nicht im arabisch-persischen Raum sondern in Süd- und Südostasien, Pakistan, Indien, Bangladesch und Indonesien I Indonesien ist mit 235 Mio Einwohnern das bevölkerungsreichste muslimische Land der Welt I nach dem Ende der holländischen Kolonialherrschaft prägte auch in Indonesien der Kalte Krieg das politische Geschehen I der ideologisch links stehende Staatschef Sukarno wurde in den 1960er Jahre mit Hilfe der USA gestürzt I auf ihn folgten Jahrzehnte der Militärdiktatur unter Suharto I 1998 unter dem Druck einer Protestbewegung zurückgetreten Demokratisches System I Franz Magnis-Suseno: es war klar, dass die reformierenden Kräfte beim Sturz von Suharto (geführt von Muslimen) die Demokratie wollten I Idee eines islamischen Staates gab es nur in kleinen sektenartigen islamischen Gruppen I Idee eines islamischen Staates war keine Alternative I Militär hatte abgewirtschaftet I Habibie ( = erster Präsident nach Suharto) setzt Demokratie durch I In Indonesien ist die Vorstellung von der Einheit von Religion und Staat nicht populär I Muslimische Organisationen im Mainstream verwehren sich gegen diese Idee I 2 große muslimische Organisationen = Nahdatul Ulama und Muhammadiyah (Anfang des 20. Jahrhundert gegründet, 60 Mio Mitglieder) bekennen sich zum indonesischen Staat und dessen Grundlage I dessen Grundlage ist nicht der Islam sondern Pancasila = 5 Prinzipien: I Mehrheit der Muslime in Indonesien will keinen islamischen Staat I Pancasila war bereits in der ersten Verfassung Indonesiens 1949 nach der Unabhängigkeit verankert I Pancasila umfasst das Prinzip der Alleinen göttlichen Herrschaft, Humanismus, Internationalismus, nationale Einheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit I bereits bei der Schaffung des indonesischen Staates gab es Stimmen, die anderes wollten als Pancasila I alte Darul Islamgruppe, die 1950 schweren Aufstand in Westjava eröffnete, der erst nach 12 Jahren niedergeschlagen wurde I auch in Südsulawesi I waren fundamentalistische Muslime, die nicht die indonesische Pancasila-Republik wollten I wurden vom gesamten üblichen Spektrum abgelehnt und schließlich auch entmachtet I waren weiter über ihre Familien aktiv I heute der Kern der gewalttätigen und terroristischen Gruppen in Indonesien I folgenreichste Anschlag war 2002 ein Anschlag auf Bali mehr als 200 Menschen wurden damals getötet I auch indonesische Islamisten werden von islamistischen Theoretikern wie dem Pakistaner Abul Ali Maududi und islamistischen Gruppen in anderen Ländern beeinflusst I große Rolle spielte die iranische Revolution 1979 und der Kampf gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans in 1980er Jahren I 3000 indonesische Mudschaheddin in Afghanistan unter geistlicher Führung von Osama bin Laden und finanziert von den Vereinigten Staaten gekämpft I kamen mit militärischen Fähigkeiten zurück I Islamische Revolution in Iran hat islamische Erweckungsbewegung auch in Indonesien ins Leben gerufen I diese Gruppen konnten sich unter Suharto nicht äußern I haben © Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / MMag. Alfred Germ Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt. 7 Ö1 macht Schule. Ein Projekt von nach Sturz Suhartos die demokratischen Freiheiten ausgenutzt I treten über Schriften an die Öffentlichkeit und betreiben Kaderisierung unter Studenten I spürt man heute als Zug in Richtung Fundamentalismus I gute Chancen, dass die Demokratie überlebt I Azyumardi Azra und viele muslimische Intellektuelle in Indonesien: Demokratie muss überleben I nicht der islamische Staat, sondern die Demokratie entspreche dem wahren Geist des Islam I im Koran findet man Verse, die sich auf Politik und politische Grundprinzipien beziehen, denen Muslime folgen sollten I Gerechtigkeit = Adalat ist ein wichtiges Prinzip für ein System im Geiste des Islam I Schura = Konsultation, in unserer modernen Zeit bedeutet Schura Demokratie I politisches System müsse auf Gleichberechtigung = Musawa beruhen I auch zwischen Mann und Frau I Was bedeutet Schura tatsächlich? I Schura: in manchen muslimischen Gemeinschaften werden damit Ältestenräte bezeichnet, denen demokratisches Denken fern liegt; indonesische Islamexperten beharren darauf, dass Schura als Demokratie ausgelegt wird I Souleymane Bachir Diagne: wir können das aus unserer modernen Sicht so interpretieren, denn für uns sind Konsultation, Demokratie und Partizipation am politischen Leben von so großer Bedeutung I im Koran finden wir das allgemeine Prinzip, dass sogar der Prophet sich mit seinen Weggefährten und seinem Umfeld beraten sollte I aus der Biographie des Propheten wissen wir auch, dass das seine Praxis war I da der Koran die Konsultation als gute Sache empfiehlt und der Prophet sich tatsächlich mit anderen beriet I darauf verweisen heute Experten, wenn sie sagen: dies entspricht den Prinzipien eines modernen Staates, wo nicht ein allmächtiger Führer über alles entscheidet, sondern Konsultation die Regel ist, also ein gutes demokratisches Prinzip I es handelt sich um eine Interpretation, so wie Interpretation eben funktioniert I man interpretiert aus der Sicht der Moderne Begriffe und Passagen des Korans, die allgemein genug gehalten sind, dass sie sich für diese Art der Interpretation eignen I Offenbarungstexte und heilige Schriften aller Religionen bedürfen der Auslegung I Beratung war ursprünglich nur der Austausch des Propheten mit seinen engen Gefährten I in unserer modernen Zeit können wir sagen, demokratische Wahlen und ein Parlament sind eine Form der Konsultation I Koran schreibt keine demokratischen Wahlen und Parlament vor I Konsultation kann auch als Parlament gedeutet werden I viele Koranverse sind ähnlich deutungsbedürftig I Verse zum Thema Autorität, die für politische und Staatsfragen von größter Relevanz sind I man findet im Koran nichts, was als Hinweis auf die Errichtung eines islamischen Staates gelten könnte I ein Vers, der häufig zitiert wird: gehorcht Gott, dem Propheten und jenen unter euch, die Autorität haben | Interpretation von Autorität I arabischer Ausdruck Ul Ul Amr: jene, die die Leitung inne haben I später als Emir interpretiert I wage genug I Mohammed wurde 570 in Mekka geboren I nach muslimischer Tradition als Kaufmann weit über Mekka hinaus tätig I mit 40 Jahren erstes Offenbarungserlebnis I später erklärt er sich zum Gesandten Gottes (Rasul Allah) I interne Konflikte in Mekka 622 Flucht mit Gruppe seiner Anhänger von Mekka nach Medina = Beginn der islamischen Zeitrechnung I musste neue Gemeinschaft schaffen aus jenen, die aus Mekka kamen, den zerstrittenen arabischen Stämmen, die in Medina zum Islam konvertierten, und jüdischen Stämmen I Umma wird als Gemeinschaft geschaffen zur Überwindung des Tribalismus I Mohammeds Biographie spricht von schriftlichem Vertrag, der wechselseitige Akzeptanz und Toleranz festlegte I später als Verfassung bezeichnet I keine Hinweise auf Staatsmechanismen I lediglich allgemeine ethische Prinzipien I verfügte aber als Prophet über besondere Autorität, die nach ihm niemand mehr hatte I 632 Tod Mohammeds I es gab keine Nachfolgeregelung und keinen festgelegten Mechanismus, wer die Gemeinschaft führen sollte I Spaltung in Schiiten und Sunniten I die Minderheit der Schiiten sehen Mohammeds Neffen Ali als legitimen und von Mohammed erkorenen Nachfolger I Schiiten verehren Ali als ihren 1.Immam I Mehrheit der Sunniten wählen Mohammeds engen Gefährten Abu Bakr als Nachfolger I Begründung: Prophet hatte während einer Krankheit Abu Bakr mit der Leitung des Gebetes beauftragt I Abu Bakr führte den Begriff des Kalifats ein I Kalifa Rasul Allah = Nachfolger des Propheten Gottes I Wort Kalifa findet sich im Koran mit der Referenz auf Menschen, die damit als Sachwalter Gottes © Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / MMag. Alfred Germ Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt. 8 Ö1 macht Schule. Ein Projekt von auf Erden bezeichnet werden I Verbreitung des Islam erfolgt rasch I überall mussten neue Machthaber Mechanismen zur Verwaltung ihrer Gebiete erfinden I Clan der Umajaden greift in Damaskus ab 661 auf den Begriff des Kalifen zurück I Kalifat legt die Erbfolge vom Vater auf den Sohn fest I übernahmen auch andere Dynastien und das Osmanische Reich, das bis 1923 bestand I Türkei als Nachfolge des Osmanischen Reiches unter Führung von Kemal Atatürk – Abkehr von Religion und Bau auf Säkularismus I 1924 Abschaffung des Kalifats per Gesetz I Wunsch, das Kalifat, also die Herrschaft eines Nachfolgers des Propheten wieder einzuführen findet man bis heute in islamistischen Kreisen I Theorie, Idealvorstellung und Realität des Kalifats klafften in der Geschichte weit auseinander I es gibt keine einheitliche Lehre I was meinen Islamisten mit der Wiedererrichtung des Kalifats? I es gab im Verlauf der Geschichte so viele Herrschaftsformen unter dem Überbegriff des Kalifats I als es 1924 abgeschafft wurde, war der Kalif, der die Gesamtheit der muslimischen Gemeinschaft führen sollte seit langem nur noch eine Fiktion I der tatsächliche Machtbereich des Kalifen war nur mehr gering I Rückkehr zum Ursprung ist aus vielen Gründen nicht möglich Welt besteht aus Nationalstaaten und man muss sich mit den modernen Gegebenheiten auseinandersetzen I relativ ungesichertes Wissen über die Frühzeit I arabische Halbinsel des 7.Jahrhunderts und die Zeit zwischen 622 – 632 (Mohammed herrscht in Medina) gelten den Islamisten als eine Art Goldenes Zeitalter I nicht ins Mittelalter, in diese unterschiedlich imaginierte Frühzeit wollen Islamisten die Welt zurückführen I Gudrun Krämer: Attraktivität des Goldenen Zeitalters bis heute sehr stark I Männer und Frauen wollen sich heute (stärker als noch vor 10 Jahren) an Mohammed orientieren I Rollenmodell Mohammed als Vorbild I ich möchte mich am Propheten und seinen Gefährten orientieren I muss nicht jedes Detail nachahmen I Zahnbürste statt Hölzchen, kleide mich modern, esse anderes, schaue fern I auch Islamisten, die so stark auf die Nachahmung des Propheten pochen nutzen moderne Technologie und scheuen sich nicht, ein modernes Gewehr in die Hand zu nehmen I das alles dürften sie nicht, wenn sie den Propheten in allem nachahmen wollen! I Wie interpretiert man den Koran und die Sunna = als überlieferte Worte und Taten des Propheten? I in der islamischen Welt gibt es lange Tradition der Philosophie und Rechtsgelehrsamkeit mit verschiedenen Schulen und regen Debatten weites Spektrum zwischen orthodoxen und liberalen Meinungen I rigorose Deutungen des radikalen Islamismus entstehen im 19./20. Jahrhundert vor dem Hintergrund des westlichen Kolonialismus und des Unabhängigkeitskampfes der arabischen Welt I Koranexegese ist heute heiß umkämpftes Terrain I radikalen Islamisten und konservativen Muslimen stehen 2 Gruppen mit ganz anderem Verständnis von Religion und Tradition gegenüber I muslimische Feministinnen und liberale Theoretiker treten mit dem Koran für moderne, der Gleichberechtigung der Geschlechter verpflichtete Demokratie ein I demokratisch gesinnte Muslime, die Religion in Privatsphäre verweisen und gänzlich aus der Politik heraushalten wollen I Juxel Taschkin: AKP in der Türkei: distanziert sich vom radikalen Islamismus I bezeichnet sich nicht einmal muslimisch-demokratisch als Parallele zu christlich-demokratischen Parteien I AKP argumentiert, dass Islam und Politik verschiedene Bereiche sind I in der Theorie ist das wohl so I in der Praxis inspiriert sich die AKP (= Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) am Islam und ist durchaus mit christlich-konservativen Parteien vergleichbar I soziologisch hat sie die Wurzeln in einer neuen religiös-bürgerlichen Schicht; deren Angehörige kommen ursprünglich aus benachteiligten und unterentwickelten Regionen der Türkei, wie Anatolien I manche Experten bezeichnen diese Schicht als globalisiert-konservativ I diese Schicht ist wirtschaftlich aufgestiegen, möchte am modernen Leben partizipieren, möchte aber ihre Moral wahren I hier gibt es Widersprüche I Kopftuch und Verschleierung als wichtiges Symbol, das besagt wir sind noch immer Muslime, wir bewahren unsere Identität I die religiös-konservative zugleich wirtschaftsliberale AKP unter Recep Tayyip Erdoğan Wahlsieg Juni 2011 I Kritiker sehen hinter der demokratischen Fassade das Ziel die Türkei in einen islamischen Staat umzuwandeln, sobald man nur die Macht dazu habe I wäre völlige Abkehr vom 1923 eingeführten laizistischen Staatsmodell I demokratisches Defizit im türkischen © Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / MMag. Alfred Germ Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt. 9 Ö1 macht Schule. Ein Projekt von System I AKP konnte sich eine Zeit lang als einzige Kraft präsentieren, die für wahre Demokratie eintrat, weil ihre Gegenspieler lieber wieder das Militär, als die AKP an der Macht haben wollten I Tragödie der Türkei zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen haben sich alle Parteien stets nicht demokratischer Mittel bedient I viele wollten auch nicht den Unterschied zwischen gläubigen Muslimen und radikalen Islamisten sehen I darauf konnte die AKP verweisen I präsentierte sich als Partei des Volkes, als Partei der muslimischen Mehrheit, die von der laizistischen Minderheit zum Schweigen gebracht werde I Wissenschaftler in der Türkei haben von Demokratisierung ohne wahre Demokraten gesprochen I AKP sieht weder Saudi Arabien noch den Iran als Vorbild sondern vielmehr die USA I dort wird vorgeführt wie man gleichzeitig politisch extrem konservativ, wirtschaftlich aber liberal sind kann I Spannungen werden vorausgesagt I InterviewpartnerInnen: Azyumardi Azra: Syarif Hidayatullah State Islamic University Jakarta Franz Magnis-Suseno: Jesuit, Driyarkara School of Philosophy Jakarta Souleymane Bachir Diagne: Philosoph, Columbia University New York Juxel Taschkin: Soziologe, Marmarauniversität Istanbul © Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / MMag. Alfred Germ Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt. 10 Ö1 macht Schule. Ein Projekt von Teil 4 ( Pakistan – Afghanistan – Dschihadismus – Al Kaida ) Ulrike Freitag: Ab 1970er Jahren in der ganzen nahöstlichen Welt Rückwendung hin zu islamischen Interpretationen: 1950er und 1960er Jahre: galten Sozialismus und Panarabismus als vielversprechende Gesellschaftsmodelle I 1979 islamische Revolution im Iran gegen das nationalistische modernisierende autoritäre Schahregime immense Strahlkraft I 1978/79 Einmarsch der Sowjets in Afghanistan I in dieser Großgemengelage ist Osama Bin Laden und andere Araber und Muslime groß geworden I gehen in 1980er Jahren nach Pakistan und Afghanistan um gegen die sowjetische Besatzung des Landes am Hindukusch zu kämpfen I Stadt Peschawar im Westen Pakistans wurde zum Zentrum des Widerstandes der Mudschaheddin gegen die Sowjets I er rekrutierte sich aus Freiwilligen aus vielen verschiedenen Ländern aber auch aus den afghanischen Flüchtlingslagern aus Pakistan I aus diesem Befreiungskampf sollten später internationale Terrornetzwerke hervorgehen I Rüdiger Lohlker: Peschawar-Erfahrung: diese Form des Dschihad wie sie mit Al Kaida seit dem 11. September 2001 verbunden wird kann man darauf zurückführen I arabische Freiwillige reisen nach Peschawar für den Kampf gegen die rote Armee um als Freiwillige verteilt zu werden I Peschawar war die Stadt, wo die vorher regional national beschränkten gewaltsamen Widerstandsbewegungen islamischer Prägung transnational geworden sind das ist eine Form des Dschihad die meistens mit dem Label Al Kaida versehen wird I In Afghanistan sind in die größere transnationale Strömung Teile von Bewegungen wie der ägyptische Dschihad al Islami eingedrungen I Übergang weg von einem Kampf gegen einen nahen Feind („meine Regierung“) hin zum Kampf gegen einen globalen Feind Kreuzfahrer und Zionisten I Wofür ist immer noch die Frage? I offiziell geht es um die Errichtung eines Kalifats, aber darüber wird nicht wirklich reflektiert in dieser Strömung I es geht nicht um den Sturz von Regierungen sondern um die Erlösung der Menschheit global in dieser transnationalen gewaltsamen dschihadistischen Strömung I Tariq Ali (Pakistan, ein Staat zwischen Diktatur und Korruption): im Kampf gegen die Sowjetunion entstanden zahlreiche neue islamistische Gruppierungen I verheerende Rolle die die Allianz der USA mit Islamisten und Militär in Pakistan gespielt hat I der Krieg gegen die Russen in Afghanistan wurde von den USA und den europäischen Mächten unterstützt I es war ihnen Recht, dass Kämpfer aus Algerien, Ägypten, Saudi Arabien und Osama Bin Laden den Krieg ausfochten I sie ermutigten den pakistanischen Geheimdienst Dschihadigruppen in Pakistan zu gründen, die ebenfalls in diesen Krieg ziehen sollten I zu den bekanntesten Gruppen, die ihren Ursprung in den 1980er Jahren haben, gehören die Taliban: übernehmen die Macht in Afghanistan nach dem Sieg über die Sowjetunion und dem darauf folgenden Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Mudschaheddingruppen I Al Kaida und die in Pakistan basierte Organisation Laschkar e-Taiba, die Indien für die Anschläge in Mumbai 2008 verantwortlich macht I einige der damals entstandenen militanten islamistischen Gruppen mischten sich infolge in den Kampf um das zwischen Indien und Pakistan umstrittene Kaschmir ein I die USA hätten sich über die langfristigen Auswirkungen ihrer Politik noch nie Gedanken gemacht I Zbigniew Brzezinski (Sicherheitsberater von Jimmy Carter) inszenierte die Allianz mit Pakistan gegen die Sowjetunion I Interview mit französischem Wochenmagazin Nouvel Observateur I das war ein Jahr vor den Anschlägen vom 11. September 2001 I Frage: ob ihm nicht bewusst sei, dass die USA damit eine Reihe dieser extremistischen Gruppen geschaffen hatten? Antwort: was sind schon ein paar muslimische Emporkömmlinge gegen den Sieg über das sowjetische Imperium I die Antwort erhielt er am 11. September 2001 I jede einzelne Dschihadigruppe, die heute in Afghanistan und Pakistan für Unruhe sorgt entstand in den 1980er Jahren und wurde von den USA und ihrem Lieblingsdiktator, Pakistans © Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / MMag. Alfred Germ Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt. 11 Ö1 macht Schule. Ein Projekt von damaligem Präsidenten Sia ul Hak unterstützt, bewaffnet und finanziert I Gruppen kamen nicht von unten, sie wurden von oben aus geschaffen und verselbständigten sie nachher I Asiem El Difraoui:I nach dem 1. Afghanistankrieg gegen die Sowjets wurde der Dschihadismus = Überhöhung des Dschihads alleine auf Kampf reduziert I Dschihad = innere (Glaubens-) Anstrengung I dschihadistische Bewegung hat nach dem Krieg keine Heimat gefunden I arabische Dschihadisten wurden zum Teil in ihren Heimatländern verfolgt I viele zogen sich ins liberale London zurück I es entstand eine sehr radikale islamistische dschihadistische Szene I zeitgleich mit der Entstehung des Internets I viele Sympathisanten I einer dieser Sympathisanten war Ingenieur und Student I zieht erste dschihadistische Website auf dem Server an Londoner Universität hoch I die in London anwesenden Dschihadisten haben hervorragenden Mobilisierungsgrund durch den Bosnienkrieg I nutzen diesen und sagen, wir können hier genau so kämpfen seid solidarisch mit den bosnischen Muslimen I ältere Videos aus dem Afghanistankrieg Märtyrerbiografien als Texte I Webseite hieß azzam.com I Azzam, weil Abdallah Azzam, ein jordanischer Gelehrter das Konzept des modernen Dschihad im Afghanistankrieg erfunden hat I nach dem Bosnienkrieg brach der Tschetschenienkrieg aus: tschetschenische Kämpfer und arabische Dschihadisten zogen weitere zahlreiche Websites in Arabisch, Russisch und Englisch auf I fast alle europäischen Sprachen finden sich auf Dschihadi-Internetseiten I Dschihadismus ist ein marginales Phänomen innerhalb des Islams I große Erfolg der dschihadistischen Propaganda, die im Internet statt gefunden hat, ist die Verbreitung einer globalen Ideologie, Umdeutung und Verzerrung von islamischen Konzepten, die man in allen Weltsprachen in jedem Land im Internet abrufen kann I Dschihadis haben eigene Gattung von strategischer Literatur entwickelt, wie man am besten vorgehen sollte in dieser Bewegung bereits Anfang der 1990er Jahre eigenes Konzept: System und keine Organisation (Idee, dass der Dschihad nicht durch straff hierarchisch geführte Organisationen allein geführt werden kann sondern durch autonom agierende Gruppen) I Zusammenhalten und das Handlungsmuster der Gruppen soll als dschihadistische Blaupause (Masterplan im Netz) festgehalten werden I klares Endziel eines idealen islamischen Staates oder wie die islamische weltweite Gemeinschaft aussehen soll, lässt sich aus den Schriften bei Al Kaida nicht heraus destillieren I Unterschied zwischen nationalen Widerstandsbewegungen und Al Kaida I erstere betreiben soziale Einrichtungen und Schulen I Al Kaida ist eine rein terroristische Gruppe I Al Kaida hat inhaltlich nichts zu sagen immer wiederholtes Kernargument: es gibt eine amerikanisch-jüdische Konspiration mit den westlichen und arabischen Alliierten gegen den Islam I sie würden den Islam von der Weltoberfläche vertreiben wollen und muslimische Staaten schwächen I einziges Mittel dagegen sei der Dschihad mit Selbstmordattentaten I man könne alle Probleme der muslimischen Welt nur mit Dschihad und Selbstmordattentaten lösen I Al Kaida hat nichts Positives vorzuschlagen I der mediale Auftritt auf dem Internet wird so um so wichtiger I Macht der Bilder ist den Dschihadisten völlig klar I erwiesen, dass Bilder auf dem Internet (Videos) ein Radikalisierungsinstrument sind I Kernbestandteil der Al Kaida-Ideologie ist das vermeintliche Märtyrertum I man muss nicht nur in den Dschihad ziehen, sondern am besten wird man Märtyrer und begeht Selbstmordattentat ist der Heilsweg I Märtyrerfilme haben einen eigenen Totenkult geschaffen I wird nicht nur der Lebensweg der Märtyrer dargestellt, sondern auch über Bilder deren Eintritt ins Paradies I Al Kaida verstößt damit gegen sämtliche Prinzipien des sunnitischen Islams I Paradies wurde von den Sunniten noch nie als Bild dargestellt I Taliban: einzelne Versuche Gebiete zu kontrollieren, sind abgesehen von der Herrschaft der Taliban in Afghanistan 1996 bis 2001 nicht erfolgreich gewesen I mit Anschlägen vom 11. September 2001 nahm man den Verlust dieses Gebietes in Kauf interne Debatten I Rüdiger Lohlker: islamisches Emirat, wie es die Taliban selbst für sich proklamiert haben I Problem: wie arbeiten arabische und internationale Freiwillige mit dieser nationalen Bewegung der Taliban überhaupt zusammen I es gab unter den arabischen Freiwilligen vor 2001 durchaus Kritiker I Abu Musab al-Suri (führender dschihadistischer Theoretiker) man soll keine Aktionen durchführen © Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / MMag. Alfred Germ Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt. 12 Ö1 macht Schule. Ein Projekt von Bewusstsein war da, wir gefährden unsere territoriale Basis I die USA reagieren militärisch darauf I nach dem 11. September haben sich die Kritiker wieder hinter Al Kaida in Form von Osama bin Laden gestellt I Dschihadisten schwanken zwischen transnationaler Orientierung und dem Bedürfnis und dem Bemühen lokale Basen zu schaffen I Untergrundgruppe = Islamischer Staat Irak, wo ursprünglich eine Zelle eines islamischen Emirates gedacht (war), was aus militärischen Gründen gescheitert ist I Somalia: jüngster Fall, wo versucht wird, von Gruppen beherrschtes Gebiet zu errichten I islamisches Emirat im Kaukasus I Al Kaida ist an einer wichtigen Sache bis jetzt gescheitert, die für eine Aufstandsbewegung elementar ist, ein Territorium zu schaffen, von dem aus man operieren kann I ist aber eine globale transnationale Bewegung I es gibt einflussreiche Theoretiker, die sagen, wir können Ausbildung auch virtuell via Internet organisieren I Dschihadisten nehmen mit den Anschlägen vom 11. September 2001 den Angriff der USA auf Afghanistan und damit das Ende des Talibanstaates unter Mullah Omar in Kauf I ihnen galt der Staat prinzipiell als akzeptables Modell gleichsam als das Reich eines Kalifen, eines Nachfolgers oder Stellvertreters des Propheten Gottes I von einer Rückkehr ins Mittelalter oder zu einer mittelalterlichen Staatsform kann beim Talibanregime keine Rede sein I Herrschaft, wie die der Taliban hat es zuvor noch nie gegeben I sie entspricht auch keiner je zuvor ausgearbeiteten Konzeption eines islamischen Staates I Olivier Roy: I Taliban glauben nicht an einen islamischen Staat, der soziale Gerechtigkeit schaffen soll I Taliban glauben nur an das Heil I haben keine Vorstellung davon, wie man einen Staat, staatliche Institutionen und eine funktionierende Ökonomie organisiert I Pakistan: wenn Taliban die Kontrolle über ein Gebiet übernehmen führen sie ihre verkürzte und radikale Version der Scharia ein I Taliban haben keinen alternativen Gesellschaftsentwurf I Saudi Arabien kann den Dschihadisten nicht als Vorbild gelten der Lebenswandel der Herrschenden ist bedenklich I es gibt die Verbindungen zum großen Feind USA I die Haltung gegenüber Israel, die immer wieder auch nach friedlichen Lösungen sucht I Punkte, die darauf hinweisen, dass Saudi Arabien sicher nicht der islamische Staat ist I Tarik Ali: für Pakistan haben der Krieg gegen die Sowjets in Afghanistan und die Herausbildung von Gruppen wie der Taliban und Al Kaida verheerende Folgen gehabt I bewirkte die entscheidende Umwandlung Pakistans I die politische Kultur wurde gewalttätig I Bewohnern von Pakistan wurden rigorose religiöse Gesetzesvorschriften auferlegt I im Kampf gegen die Sowjetunion förderten die USA zuerst in Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst und dem Militär in Pakistan die islamistischen Gruppen I nach den Anschlägen vom 11. September 2001 forderten die USA dann Pakistan auf, die Taliban und Al Kaida zu bekämpfen I abrupter Kurswechsel ist bis heute in Pakistan sichtbar I Versuch der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan funktionierenden Staat aufzubauen ist gescheitert I von wenig Erfolg gekrönt ist auch der militärische Kampf gegen die Taliban I wurden 2001 zwar von der Macht vertrieben I haben in den vergangen Jahren wieder zunehmend an Stärke gewonnen I besitzen aber wichtige Stützpunkte im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet I Drohnenangriffe der USA töten regelmäßig auch Zivilisten in Pakistan I ambivalente Haltung von Pakistan: auf der einen Seite kooperiert Pakistan mit den USA und bekämpft die Islamisten I gleichzeitig gibt es offenkundig auch Verbindungen zur anderen Seite I Ermordung Osama Bin Ladens in der Nähe von militärischen Einrichtungen zeigt Chaos I was für ein Staat Pakistan hätte werden sollen, darüber gehen die Meinungen auseinander I als geistiger Vater von Pakistan gilt der Dichter und Philosoph Muhammad Iqbal (1877-1938) I lebte im Westen des indischen Subkontinents, in Gebieten, die heute zu Pakistan gehören I Iqbal bewegten 2 Dinge britischer Kolonialismus, der die 800 Jahre währende muslimische Herrschaft über weite Teile Indiens beendet hatte I Unabhängigkeitskampf, in dessen Zuge sich die Frage nach dem künftigen Zusammenleben von Hindus und Muslimen im Subkontinent stellte I um bestehen zu können benötigten die Muslime nach Ansicht von Iqbal innere Reformen I Souleymane Bachir Diagne (Islam und die offene Gesellschaft) : Um Reform durchführen zu können brauchen Muslime genügend Autonomie Autonomie und Föderation der Muslime mit dem übrigen Indien I im Rahmen dieser Autonomie sollte es den Muslimen möglich sein © Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / MMag. Alfred Germ Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt. 13 Ö1 macht Schule. Ein Projekt von ihr Denken zu revitalisieren I Igbals Fokus lag auf dem Individuum einzelner Muslim, nicht das Kollektiv: das Individuum sollte sich von Innen her reformieren um ein reifes Wesen zu werden I um ein wahrer Kalif und ein wahrer Sachwalter Gottes auf Erden zu werden I solche Menschen wären dann von ihrem Geist und ihrer Vernunft her in der Lage eine gute Gesellschaft und eine gute politische Ordnung aufzubauen = Vision eines Poeten I Iqbal sprach nie von einem islamischen Staat oder wie eine gute politische Ordnung konkret aussehen sollte I mit Sicherheit kann man nur sagen, dass Iqbal Offenheit, Meinungsvielfalt und Debatten befürwortete I war geleitet von der Vorstellung, dass das Leben Bewegung und ständigen Wandel bedeutet I dem, was sich ständig in Fluss befindet, kann man keine ewige Gesetzgebung aufzwingen I umstritten sind auch die Ziele von Muhammad Ali Jinnah = politischer Vater von Pakistan I verstarb 1947 nach der Staatsgründung I ethnische, sprachliche und kulturelle Vielfalt des neuen Staates und die damit verbundenen Machtkonflikte verhinderten die Herausbildung einer gefestigten Demokratie I immer wieder übernahm das Militär die Führung I Tariq Ali: Pakistan hatte einfach kein Glück I alle herrschenden Eliten in Pakistan (Zivilisten oder Militärs) sind extrem korrupt gewesen I haben sehr wenig für die Bewohner getan I wer immer die Macht inne hatte war am eigenen Profit interessiert I dann kamen Afghanistan und die Islamisierung und die Folgen I im Land herrscht Massenarmut I innerhalb des Militärs gibt es Spannungen I die Terroranschläge der Islamisten töten ebenso Zivilisten wie die Drohnenangriffe der USA I kann langfristig nicht gut gehen I wie Pakistan explodieren wird ist nicht vorhersehbar I Aufstand wie in Ägypten? I Militärputsch? I Machtübernahme der Islamisten? I es wird zu einer Explosion kommen I wie sich der internationale Dschihadismus entwickeln wird lässt sich nicht vorhersagen I Rüdiger Lohlker: betont die gemeinsamen Interessen die alle Menschen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit hier verbinden I gegen gewaltsame dschihadistische Strömungen zu arbeiten ist nur mit Muslimen möglich und notwendig I die meisten Menschen die in Anschlägen dschihadistischer Art sterben sind Muslime und nicht Nichtmuslime I wird gerne vergessen I es gibt manifestes globales Interesse solche Strömungen zu isolieren I man wird sie nicht los werden - leider InterviewpartnerInnen: Ulrike Freitag: Zentrum Moderner Orient Freie Universität Berlin Rüdiger Lohlker: Institut für Orientalistik Universität Wien Tariq Ali: Politikwissenschaftler und Schriftsteller Asiem El Difraoui: Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin Olivier Roy: Politikwissenschaftler und Islamexperte Paris Souleymane Bachir Diagne: Philosoph, Columbia University New York © Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / MMag. Alfred Germ Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt. 14