Vortrag: „Gedächtnis und Lernen“

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Vortrag: „Gedächtnis und Lernen“
gehalten am 29.11.2012 an der FH Köln, Campus Gummersbach,
von PD Dr. W.-U. Weitbrecht
Kurzfassung:
Thesen
Ohne Gedächtnis kein Bewusstsein – diese These geht an die Grenze zur Philosophie. Es
ist jedoch kaum vorstellbar, dass ein Bewusstsein aufgebaut werden kann, wenn man sich
von einer Sekunde auf die andere an Nichts erinnert.
Es gibt ein Gedächtnis ohne Bewusstsein – z.B. Konditionierung: Tellergeklapper aktiviert
Hungergefühl.
Bewusstsein und Wachheit (Vigilanz) sind nicht dasselbe – ein Organismus kann wach sein
ohne Bewusstsein (z.B. Koma vigile).
Wachheit ist erforderlich, um Gedächtnisinhalte zu speichern – z.B. im Schlaf oder bei
Bewusstseinstrübung ist es nur in geringem Umfang möglich neue Gedächtnisinhalte zu
speichern.
Das bewusste Gedächtnis muss eine zeitliche Ordnung haben - ist die zeitliche Ordnung
aufgehoben (z.B. bei Demenz oder Schlaganfall), können die Betroffenen alte von neuen
Inhalten nicht unterscheiden (z.B. demente/r PatientIn erinnert einen verstorbenen
Bekannten und ist sich sicher, ihn jetzt getroffen zu haben).
Klassifizierung des Gedächtnisses
nach Zeit: Ultrakurzzeitgedächtnis – Kurzzeitgedächtnis – Langzeitgedächtnis
nach Art: deklaratives/explizites Gedächtnis (bewusst), nondeklaratives/implizites
Gedächtnis (nicht bewusst)
Ort des Gedächtnisses
Das Zentralnervensystem besteht aus Rückenmark und Gehirn: Überall ist „Gedächtnis“
bzw. Informationsspeicherung möglich. Die wichtigsten Strukturen für das Arbeitsgedächtnis
sind der Hippocampus (deklarativ) und die Basalganglien (prozedural)
Explizite und implizite Speicherung:
Explizit: Objekte, Orte, Fakten werden im Hippocampus, präfrontalen und AssoziationsCortex gespeichert.
Implizit (prozedural): Fertigkeiten, Konditionierung, Gewohnheiten im Striatum, Kleinhirn,
Amygdala und Assoziations-Cortex.
Bausteine des ZNS -> Nervenzellen
Unter einem Neuron versteht man eine Nervenzelle mit allen Fortsätzen, über die sie mit der
Peripherie und anderen Nervenzellen verknüpft ist. Durch die Differenz der Elektrolyte intra(K+) und extrazellulär (Na+) entsteht ein Membranpotential, das Voraussetzung für die
Informationsverarbeitung ist. Dieses wird von der Zelle unter Energieaufwand aufrecht
erhalten.
Die Neurone sind über Synapsen verbunden, die die Informationsweitergabe bestimmen.
Der elektrische Impuls (Aktionspotential) wird an der Synapse (Verbindungsstelle zwischen
den Nervenzellen) in einen chemischen (Transmitter) umgewandelt. Dieser beeinflusst das
nachfolgende Neuron über einen Rezeptor (Stimulation, Hemmung). Ca++ vermittelt
zwischen Depolarisation und Transmitterausschüttung. Die Verknüpfungen bestimmen Art
und Richtung des Signalflusses. Die Synapsengewichte bilden die Information auf der Zelle
ab. Lernt die Zelle, erhalten Synapsen mit häufiger Stimulation ein höheres Gewicht.
Gemeinsam erregte benachbarte Synapsen (Hebb’sche Regel) werden stärker gewichtet als
einzelne.
Beim Lernen unterscheidet man:
Sensitivierung – ein neuer, wiederholter Reiz in Kombination mit einem
Stimulus erregt die Aufmerksamkeit (aktive Synapse wird aktiviert)
Habituation – hat ein wiederholter Reiz keine Bedeutung, wird er nicht mehr
wahrgenommen (aktive Synapse bildet sich zurück)
Konditionierung – tritt ein sonst bedeutungsloser Reiz immer in Kombination
mit einem für das Individuum wichtigen Ereignis auf (z.B. Gong – Essen),
treten unbewusste Reizantworten (z.B. Speichelfluss) auch auf, wenn nur der
Reiz ausgelöst wird, ohne dass das wichtige Ereignis auftritt (aktive Synapse
vergrößert sich)
Kurzzeitgedächtnis -> Synapsen schütten vermehrt Transmitter aus
Langzeitgedächtnis -> Aussprossung der Synapse (Vergrößerung durch Proteinsynthese –
Auslösung bei wiederholter Reizung durch intrazelluläre second messenger-Systeme, die im
Zellkern ein gen aktivieren). Damit sich Synapsen nicht wieder zurückbilden können, wird die
Veränderung der Synapse durch ein prionartiges Protein fixiert.
Neuronale Netze
Der größte Teil der Hirnrinde des Großhirns besteht uniform aus 6 Schichten von Neuronen,
die vertikal und horizontal zu Netzen mit einander verbunden sind. Die Neurone der
Hirnrinde sind zu funktionellen Einheiten zusammengefasst, die säulenförmig angeordnet
sind. Der gleichförmige Aufbau ermöglicht durch die vielen Elemente die komplexe Leistung
und die Flexibilität des Großhirns.
Bei neuronalen Netzwerken ist jedes Neuron einer Eingabeschicht mit jedem Neuron der
Rechen- bzw. Ausgabeschicht verbunden. In der Rechenschicht ist jedes Neuron mit jedem
verbunden (z.B. Kohonen-Netzwerk mit 10x10 (100) Neuronen und einer Eingabeschicht 7x5
Matrix =35+99=134 Synapsen), d.h. die Information ist auf jeder Zelle durch gewichtete
Synapsen abgebildet (ähnelt einem Schwarz-Weiß-Foto). Lernen erfolgt durch häufiges
Wiederholen der Information. Die der Fokussierung einer Information wird im Gehirn durch
Zwischenschalten von Hemmzellen erreicht. Durch diese werden benachbarte Zellen um
eine aktive Zelle gehemmt (lernen damit die Info nicht). Eine funktionelle Einheit besteht aus
mehreren Neuronen. Netzwerke mit Zwischenschichten verbessern die Abstraktionsfähigkeit
und sind in der Lage Konzepte zu entwickeln. Eine andere Möglichkeit des Lernens ist der
Vergleich zwischen gewünschtem und produziertem Output. Dies ist im Gehirn an vielen
Stellen realisiert ist.
Die Struktur der Netzwerke ermöglicht durch Wichtung der Synapsen ein Lernen und
Erkennen von Zusammenhängen ohne dass zuvor die Regeln bekannt sind (kein Programm
erforderlich). Die Lerninhalte müssen dem Netzwerk häufig wiederholt angeboten werden
(strukturiert, kleine Lernschritte!). Die Netzwerke abstrahieren die Information
(z.B. Mutter schreit häufig – Kind lernt: Mutter schreit immer, also ist es egal, was ich tue).
Im Gehirn sind Zwischenschichten und Kontextschichten durch die Verknüpfungen zwischen
den Zentren vielfältig realisiert.
Spezialisierung der Hemisphären
(vereinfachte Darstellung)
Sprachdominante Hemisphäre
(re-Händer=li.):
Sequentielle Verarbeitung:
Handlungsabläufe, Sprache, Schreiben,
Rechnen, analytisches Denken, historisches
Gedächtnis, Sachkategorien
eher gehobene Stimmung
Nichtsprachdominante Hemisphäre
(re-Händer=re.):
Parallele Verarbeitung:
Räumliches Gedächtnis,
Gesichtererkennung, Musikgedächtnis,
Verknüpfung von Emotion und Handlung
bzw. Wahrnehmung, Erkennen des sozialen
Kontextes
eher depressive Stimmung
Bewusstsein und Gedächtnis
Versuche von Benjamin Libet haben ergeben, dass es etwa 500 ms dauert bis ein Ereignis
ins Bewusstsein gelangt und wird dann vom Gehirn zurückdatiert (Subjektiv „real time“Erleben). Eine Information muss eine bestimmte Mindestzeit angeboten werden, damit sie
ins Bewusstsein gelangt und explicit gelernt werden kann. Sehr kurz angebotene
Informationen können aber unbewusst das aktuelle Handeln beeinflussen.
Einfluss des Denkens auf das Lernen
Emotional-assoziatives Denken (System 1) z.B. Erkennen eines Gesichtsausdrucks –
schnell, unwillkürlich, beeinflussbar (Schnellschuss, nutzt Gelerntes emotional im Kontext)
Analytisch-kalkulatorisches Denken (System 2) z.B. Errechnen der Aufgabe 13x17,
Abwägungsentscheidung – langsam, bewusst, mühsam – notwendig zum Lernen komplexer
Inhalte – ist anstrengend und wird daher gern umgangen.
(häufig dominiert System 1 oder beeinflusst System 2 – Priming, Ankerwerte usw.)
Allgemeine Tipps
Fehlwahrnehmungen können das Urteilsvermögen stören. Der Bildschirmhintergrund eines
PC-Monitors kann die Leistung beeinflussen: z.B. rot – Gedächtnis besser, Kreativität
geringer, blau – Kreativität besser, Gedächtnis erinnert häufiger falsch.
Vorurteile: Die Bahnung (priming) „Blondinen sind dumm“-> führt dazu, dass bei Testfragen
(Allgemeinwissen) blonde Frauen seltener korrekt antworten, insbesondere dann, wenn sie
einen Partner haben, der auch diese Ansicht vertritt. Wenn blonde Frauen sich von dem
Vorurteil distanzieren und sich unabhängig fühlen, werden die Testergebnisse besser.
Selbstbejahung führt zu besserer Leistung. Bei einer Untergruppe von Schülern mit
schlechter Leistung wurde therapeutisch interveniert und das Selbstvertrauen gestärkt. Dies
führte zu anhaltend verbesserten Leistungen im Vergleich zur Kontrollgruppe.
Multitasking stört die Leistung. Manche sind stolz, dass sie viele Dinge gleichzeitig tun
können (z.B. Fernsehen oder Radiohören und lesen, bügeln, telefonieren, SMS, am
Computer arbeiten usw.). Wer dies oft tut, hat eine geringere Aufmerksamkeits- und
Gedächtnisleistung (Lernen benötigt Selektion).
Im Alter nehmen Arbeitsgeschwindigkeit, Flexibilität der Synapsen und Lernschrittgröße ab.
Lernen ist aber bei gesunden Menschen bis ins hohe Alter möglich.
Schlusswort:Intelligenz und Verlässlichkeit beeinflussen die Lebensdauer. Am längsten
leben intelligente Menschen, die verlässlich sind.
Literatur:
Daniel Kahneman: Schnelles Denken, Langsames Denken. Siedler Verlag 2011
Eric Kandel: Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Siedler Verlag 2006
Benjamin Libet: Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert. Suhrkamp Verlag
2004
Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert.
Suhrkamp Verlag 2001
Manfred Spitzer: Geist im Netz. Spektrum Verlag 1996
+ multiple Artikel aus der Zeitschrift Nervenheilkunde
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