Wirksamkeit multimodaler Behandlung bei chronischen Schmerzen

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Wirksamkeit multimodaler Behandlung bei chronischen Schmerzen
Effectiveness of a multimodal treatment program for chronic pain
Von Klaus Klimczyk (1), Ingo Haase (2), Oliver Kuhnt (1), Manfred Ruoß (1)
(1) Schmerzzentrum an der Fachklinik Enzensberg
(2) Klinikgruppe Enzensberg, Arbeitsbereich Forschung und Qualitätssicherung
Key words: chronic pain, multidisciplinary pain center treatment
Schlüsselwörter: chronischer Schmerz, interdisziplinäre Behandlung
2
Zusammenfassung
Ziel unserer Studie war es, die Effektivität der Behandlung an einem neu eingerichteten interdisziplinären und multimodal ausgerichteten Schmerzzentrum zu untersuchen. Dazu wurden
alle im ersten Jahr aufgenommenen Patienten vor Aufnahme, bei Entlassung und nach sechs
Monaten schriftlich befragt. Für 76 Patienten liegen weitgehend vollständige Datensätze über
alle drei Meßzeitpunkte vor. Für diese Patientengruppe läßt sich sich ein nachhaltiger Effekt
der interdisziplinären Schmerzbehandlung hinsichtlich aller Schmerzparameter, der psychologischen Skalen, der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, dem Erhalt der Erwerbstätigkeit
sowie der Reduzierung der Einnahme starker Analgetika feststellen. Insgesamt betrachtet
unterstützen unsere Ergebnis damit die These, dass die stationäre Behandlung in einem interdisziplinär ausgerichteten Schmerzzentrum effektiv ist.
Summary
The aim of the study was to evaluate the longterm effect of an multimodal and interdisciplinary pain treatment program. 76 patients who completed the inpatient pain treatment program
were studied before treatment, at discharge and at six-month follow-up. Assessment included
measurements of pain intensity, disability, depression, medication, quality of life and return to
work. Measrements showed significant changes (within group difference) until discarge.
Moreover, the effects appeared to be largely stable over time. Overall the results provide
support for the conclusion that multidisciplinary pain clinics are efficacious.
3
1. Hintergrund und Zielsetzung
1.1 Zur Problematik der Chronifizierung von Schmerzen
Die chronische Schmerzkrankheit ist eines der drängendsten Gesundheitsprobleme unserer
Zeit. Der Bundesverband Deutsche Schmerzhilfe geht davon aus, dass 8 Millionen Menschen
in Deutschland von chronischen Schemrzen betroffen sind, darinter 1,6 Millionen mit
schwersten chronischen Schmerzen (6). Für die Kranken bedeutet dieses Schicksal andauerndes Leid und Behinderung, für das Gesundheitswesen und die Gesellschaft hohe Kosten, zum
einen direkt durch die medizinische Versorgung, zum anderen indirekt durch Arbeitsausfall
und vorzeitige Berentung.
Patienten mit chronischer Schmerzkrankheit leiden seit vielen Monaten oder Jahren an mehr
oder weniger starken Schmerzen. Sie haben eine Reihe von Behandlungsversuchen hinter
sich, die sich oftmals auf unterschiedliche Diagnosen stützen, jedoch nicht den erhofften
Erfolg brachten. Beeinträchtigungen auf verschiedenen Ebenen des Verhaltens und Erlebens
sind die Folge: Der gefühlte Schmerz ist nicht mehr Warnsignal, sondern er ist zu einer eigenständigen Krankheit, der Schmerzkrankheit, geworden. In Folge der schmerzbedingten Beeinträchtigungen in physischen und psychischen Bereichen besteht die Gefahr von beruflichen
Problemen und des Verlustes sozialer Bindungen in der Familie und im gesellschaftlichen
Umfeld.
Schmerzpatenten sind auf den verschiedenen Ebenen des Verhaltens und Erlebens beeinträchtigt. Eine monokausale und auf organische Verursachung reduzierte Betrachtungsweise ist
nicht imstande, die Ursachen der Symptomatik aufzuklären bzw. eine adäquate Behandlung
zu gewährleisten. Es ist vielmehr nach vermittelnden Faktoren zu fragen, die für diese Patienten ein Schmerzphänomen erst zu einer behandlungsbedürftigen chronischen Schmerzkrankheit werden lassen. Der chronische Schmerz behält somit – ebenso wie der Akutschmerz
– seine Bedeutung als diagnostisch richtungsweisendes Symptom bei, nur ausgeweitet auf die
somatopsychische Gesamtheit. Er ist Ausdruck einer multifaktoriell bedingten „Empfindungsstörung“ im weitesten Sinn (15) und muss dementsprechend interdisziplinär, multimodal und
meist langfristig behandelt werden, wobei die somatischen, psychischen, beruflichen und
sozialen Aspekte Berücksichtigung finden müssen. Zielführend ist deshalb – im Unterschied
4
zum primär bio-medizinischen Krankheitsmodell in der fachspezifischen kurativen Versorgung – ein bio-psycho-soziales Krankheitsmodell (5).
Mit einer rechtzeitig einsetzenden spezialisierten Schmerztherapie kann nicht nur den Betroffenen geholfen werden, es lassen sich auch – durch Reduktion von Arbeitsunfähigkeit und
Verhinderung von Frühberentung – immense Kosten sparen (8). Das Konzept einer speziellen
interdisziplinären Schmerzbehandlung ist deshalb nicht nur als erfolgversprechendes Modell
im Gesundheitswesen zu werten, sondern kann auch einen wirkungsvollen Beitrag im gesamtwirtschaftlichen Rahmen leisten.
1.2 Multimodales interdisziplinäres Behandlungskonzept des Schmerzzentrums
Auf der Basis dieser Erkenntnisse wurde im Juli 1999 ein interdisziplinäres Schmerzzentrum
an einer Fachklinik für Rehabilitation in Hopfen am See bei Füssen eingerichtet. Sie zeichnet
sich durch eine multimodale interdisziplinäre Behandlung durch Ärzte, Psychologen und
Therapeuten verschiedenster Fachrichtungen bzw. Qualifikationen aus. Das Behandlungsteam
setzt sich wie folgt zusammen:
•
Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen (Orthopädie, Anästhesie, Physikalische und Rehabilitative Medizin)
•
kognitiv-verhaltenstherapeutisch orientierte Psychologen
•
Physiotherapeuten unterschiedlicher Spezialisierung
•
Ergotherapeuten
•
Musiktherapeuten
•
spezialisiertes Pflegeteam
•
Sozial- und Rehaberater
•
Kreativtrainer
Schmerz, speziell chronischer, wird in der modernen Schmerzforschung immer als Ergebnis
der Interaktion somatischer, psychischer und sozialer Faktoren gesehen. Effektive Therapie
chronischer Schmerzen ist immer interdisziplinär orientiert und integriert medikamentöse,
physikalisch-physiotherapeutische und psychologische Elemente. Deshalb trägt der Austausch
zwischen den beteiligten Disziplinen entscheidend zum therapeutischen Erfolg interdiszipli-
5
närer Schmerztherapie bei. Integraler Bestandteil der Arbeit am Schmerzzentrum Enzensberg
sind daher regelmässige Teambesprechungen und teaminterne Fortbildungen.
Der chronische Schmerzpatient zeichnet sich in der Regel dadurch aus, dass er schon vielfältige diagnostische und therapeutische Behandlungsangebote angenommen hat und dabei
bezüglich seiner Krankheit häufig auf Unverständnis, fehlende Akzeptanz und Ablehnung
gestoßen ist. Im Extremfall prägen vielfache Hinweise auf „eingebildete“ Schmerzen und
mehr oder weniger offen ausgesprochene Vorwürfe wie „Rentenjäger“, „Sozialschmarotzer“
oder „Simulant“ seinen Weg durch unser Gesundheitssystem. In der Folge bildet sich bei bei
vielen Schmerzpatienten ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber den Behandlern aus. Trotzdem erfolgt weiter die Suche nach Lösung der Krankheitsprobleme, bei entsprechendem
Leidensdruck auch im paramedizinischen Bereich. Grundsatz unserer Behandlung ist deshalb
die wertfreie Akzeptanz der Problematik, die Kongruenz der Patienten-TherapeutenBeziehung und des Behandlungsverlaufes sowie die Empathie im Umgang mit den Problemen
– ganz im Sinne nach Carl Rogers (14).
Behandlungsziele sind die Reduzierung der Schmerzen, die Erhöhung der Lebensqualität und
die aktive Bewältigung verbleibender Schmerzen. Verschiedene therapeutische Möglichkeiten
stehen zur Verfügung:
•
Aufklärung über Erkrankung und individuelle Mechanismen der Entstehung der Schmerzkrankheit durch das Gesamtteam
•
Aufklärung und Beratung über medizinische und nichtmedizinische Behandlungsverfahren – insbesondere Eigentherapie
•
Aufklärung und Beratung bezüglich körperlicher Leistungsfähigkeit und psychischer
Belastbarkeit, einschl. Arbeitsplatzberatung und Kontaktaufnahme über Arbeitgeber, Arbeitsamt u. RV-Träger
Weitere Behandlungsmöglichkeiten sind:
•
medikamenöse Schmerztherapie
•
Injektionstherapie (Triggerpunkte, TLA, interventionell)
•
alternative Verfahren wie Akupunktur, Chirotherapie, Arlen, Schröpfen u.s.w.
•
psychologische Einzeltherapie: individuelle Analyse psychosozialer Faktoren der
Schmerzchronifizierung, Initiierung einer psychologischen Therapie
6
•
psychologische Gruppentherapie zur Schmerzbewältigung: Wissensvermittlung, Entspannung, Stressbewältigung, Verhaltensanalyse etc.
•
physikalische Therapie wie insbesondere spezialisierte Krankengymnastik, Massage,
Ergotherapie und med. Trainingstherapie
•
Genuss-, Kreativ- und Terraintraining
•
therapeutisch begleitete Freizeit und Abendausflug
Die Behandlung erfolgt nach § 39 SGB V akut-stationär. Es liegt ein Behandlungsvertrag mit
den Gesetzlichen Krankenkassen über eine dreiwöchige Kostenübernahme vor, Verlängerungen sind über einen ausführlichen schriftlichen Antrag möglich. Für die Zeit nach dem stationären Aufenthalt wird ein individuelles kurz- bis mittelfristiges Behandlungskonzeptes und
ein ausführlicher Behandlungsberichts aus medizinischer und psychologischer Sicht
Aufnahmebedingungen sind:
•
Chronifizierungsgrad II oder III nach Gerbershagen
•
„gewisse“ körperliche Fitness in Anbetracht der Therapiedichte am Tag und zeitweise am
Abend und an Wochenenden notwendig
•
Vorliegen einer nicht ausschließlich psychosomatischen bzw. psychiatrischen Störung
Besondere Behandlungsschwerpunkte sind chronische Wirbelsäulenschmerzsyndrome nach
Bandscheiben- und sonstigen Wirbelsäulenoperationen, aber auch anderer, unterschiedlicher
Ursachen.
1.3 Fragestellung der Evaluation
Im Rahmen einer einjährigen Pilotphase sollte untersucht werden, ob dieser interdisziplinäre
und multimodale Zugang – wie es die Literaturlage vermuten lässt (7, 12) – bei den stationär
im Schmerzzentrum behandelten Schmerzpatienten eine deutliche und nachhaltige Reduktion
ihres Leidens bewirkt.
Als wesentliche Zielgrößen waren Schmerzintensität, Schmerzempfindung, Beeinträchtigung
durch Schmerzen, Depression, verschiedene Dimensionen der gesundheitsbezogenen Lebens-
7
qualität, Erwerbstätigkeit und Inanspruchnahmeverhalten bei Entlassung aus der stationären
Schmerzbehandlung und nach 6 Monaten definiert.
2. Methodik
Es wurden alle zwischen Juli 1999 und Juni 2000 im Schmerzzentrum behandelten Patienten
(Chronifizierungsgrad II oder III nach Gerbershagen) mit dem Schmerzfragebogen der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) vor Aufnahme, bei Entlassung und
sechs Monate nach Entlassung schriftlich befragt (Prä-Post-Design ohne Vergleichsgruppe).
Die o.g. Zielgrößen wurden durch die folgenden Messinstrumente – die alle im DGSSFragebogen für Schmerzpatienten enthalten sind – operationalisiert:
•
Schmerzstärke: Numerische Ratingskalen (11)
•
Beeinträchtigung durch Schmerzen: Pain Disability Index – PDI (4)
•
Depression: Allgemeine Depressions Skala – ADS (10)
•
Aspekte der Lebensqualität: SF-36 – Fragebogen zum Gesundheitszustand (2)
•
Erwerbstätigkeit: Eigenentwicklung der DGSS Arbeitgruppe „Dokumentation“
Von der Analyse ausgeschlossen wurden Patienten mit einer Aufenthaltsdauer von weniger
als 16 Tagen oder ohne ausreichende Deutschkenntnisse (N = 20). Von drei Patienten mit
Wiederholungsaufenthalten im Beobachtungszeitraum wurde jeweils nur der erste Aufenthalt
berücksichtigt.
3. Ergebnisse
3.1 Beschreibung des Patientenkollektivs
Die 240 im Beobachtungszeitraum (erstmalig) aufgenommenen Patienten waren im Durchschnitt 52 Jahre alt (Spannbreite: 15 – 86) und überwiegend weiblichen Geschlechts (63%).
Drei dieser Patienten waren im Berichtszeitraum wiederholt im Schmerzzentrum. Die Dauer
der Schmerzproblematik betrug bei einer breiten Streuung im Median 4,3 Jahre. Zwei Drittel
der Patienten (161 Fälle) wiesen das Chronifizierungsstadium III nach Gerbershagen auf, ein
Drittel (79 Fälle) das Stadium II. Die Angaben zu Erwerbstätigkeit und Arbeitsfähigkeit
waren in einigen Fällen unvollständig oder unklar. Sicher als Erwerbstätig ließen sich 99
8
Patienten (48%) klassifizieren. Davon waren bei Aufnahme 56 Fälle (60%) arbeitsunfähig. 48
Patienten (23%) bezogen eine EU- bzw. BU-Rente. Die durchschnittliche Verweildauer im
Schmerzzentrum betrug 27,5 Tage.
Nach Prüfung auf die Ausschlusskriterien (Verweildauer < 16 Tage, unzureichende Deutschkenntnisse, Wiederholungsaufenthalte) wurden 20 Fälle aus der Analyse herausgenommen.
Darunter waren 10 Patienten, die ihren Aufenthalt im interdisziplinären Schmerzzentrum
vorzeitig beendeten (Aufenthaltsdauer 15 Tage oder weniger; 5 Patienten wegen Ablehnung
des Therapieansatzes, 2 Patienten wegen Komplikationen und 3 Patienten wegen schneller
Besserung).
Die Brutto-Stichprobe umfaßt somit insgesamt 220 Patienten, bei denen der Aufnahmebogen
– der auch formale Voraussetzung für eine Aufnahme in das Schmerzzentrum ist – komplett
vorliegt. Im Unterschied dazu waren die Befragungen bei Entlassung und nach sechs Monaten
ausschließlich für Zwecke der wissenschaftlichen Begleitung und damit freiwillig. 139 Patienten (63,2%) beteiligten sich an der Befragung bei Entlassung, 113 (51,4%) an der katamnestischen Befragung ein halbes Jahr nach der Behandlung im Schmerzzentrum. Von 76 der im
Rekrutierungszeitraum behandelten und in die Studie eingeschlossenen 220 Schmerzpatienten
liegen weitgehend vollständige Datensätze über alle drei Messzeitpunkte vor (34,5%), bei
weiteren 37 fehlt nur der (am ehesten verzichtbare) Entlassungsbogen.
Die Gruppe der 76 kontinuierlichen Studienteilnehmer unterscheidet sich von den unregelmäßigen Teilnehmern (144 Patienten, die an mindestens einer Erhebung nicht teilgenommen
haben) nicht signifikant hinsichtlich Alter, Geschlecht, Erwerbsstatus und Arbeitsfähigkeit
vor Aufnahme, Dauer der Schmerzproblematik und Verweildauer. Allerdings sind Patienten
im Chronifizierungsstadium III nach Gerbershagen seltener unter den kontinuierlichen Studienteilnehmern (58% vs. 72%; p = 0,05).
Die folgenden Analysen über alle drei Messzeitpunkte beziehen sich auf die Angaben der 76
kontinuierlichen Befragungsteilnehmer. Da bei einigen Fragestellungen der Entlassungsstatus
verzichtbar ist (z.B. Erwerbstätigkeit), wird in diesen Bereichen auf die größere Stichprobe
von 113 Patienten zurückgegriffen, die auch diejenigen Probanden umfasst, bei denen nur der
Entlassbogen fehlt.
9
3.2 Wirksamkeit der interdisziplinären Schmerzbehandlung
Parameter zur Beurteilung der Wirksamkeit spezialisierter Schmerzbehandlung müssen chronische Schmerzkrankheiten aus unterscheidlichen Blickwinkeln beleuchten (8). Im Rahmen
der vorliegenden Studie wurden insbesondere berücksichtigt:
•
Reduktion von Schmerzen
•
Reduktion des Medikamentengebrauchs
•
Reduktion von Depression
•
Erhöhung der Lebensqualität
•
Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit
•
Reduktion der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen
Die Schmerzstärke wird im verwendeten DGSS-Fragebogen durch numerische Ratingskalen
erfaßt, die jeweils eine Spannbreite von 0 (keine Schmerzen) bis 10 (stärkster vorstellbarer
Schmerz) aufweisen und zwischen „durchschnittlicher“, „größter“ und „geringster“ Schmerzstärke, jeweils bezogen auf die letzten vier Wochen, unterscheiden. Nach Jensen et al. (11) ist
das arithmetische Mittel aus „geringstem“ und „durchschnittlichem“ Schmerz das valideste
Maß für den aktuellen Durchschnittsschmerz eines Patienten. Wir verwenden es deshalb in
unseren Analysen. So definiert ergibt sich ein deutlicher Rückgang der Schmerzintensität im
Verlauf des stationären Aufenthaltes bis zur Entlassung von 35% (p < 0,01). Auch der Follow-up-Status sechs Monate nach Entlassung ist noch signifikant besser als vor der stationären Schmerzbehandlung (Schmerzreduktion um 24%, p < 0,01). Im Vergleich mit dem Zeitpunkt vor Aufnahme wiesen 48 von 76 der Patienten (63%) beim Follow up eine um mindestens einen Punkt reduzierte Schmerzintensität auf, bei 20% hatte sie sich nicht verändert
(max. ± 0,5) und bei 17% verschlechtert. Am stabilsten ist der Erfolg bei der Reduktion der
„stärksten“ Schmerzen (vgl. Abb. 1), die laut o.g. Definition jedoch nicht in den Durchschnittsschmerz eingehen. Eine erste explorative Analyse möglicher Einflussfaktoren auf eine
nachhaltige Schmerzreduktion ergab, dass diese offenbar durch eine geringere Dauer der
Schmerzproblematik und eine längere Aufenthaltsdauer (mehr als drei Wochen) begünstigt
wird.
hier Abb. 1: Schmerzstärke
10
Das Ausmaß der Beeinträchtigung durch die Schmerzen im alltäglichen Leben versucht der
Pain Disability Index (PDI) auf sieben numerischen Ratingskalen, die jeweils von 0 (keine
Beeinträchtigung) bis 10 (völlige Beeinträchtigung) reichen, zu erfassen. Hier wird ein einfacher Summenscore gebildet (theoretische Spannbreite: 0 – 70; Mittelwertsubstitution bei
maximal einer fehlenden Angabe). Da die Formulierung einiger Items für ein klinisches Setting ungeeignet erscheinen, wurde dieses Instrument nur vor Aufnahme und nach 6 Monaten
eingesetzt. Die signifikante Reduktion der Beeinträchtigung veranschaulicht Abb. 2.
hier Abb. 2: Beeinträchtigung durch Schmerzen
Als äußerst schwieriges Feld erwies sich die Erfassung der Medikation. Die Freitextangaben
der Patienten waren äußerst heterogen hinsichtlich Ausführlichkeit und Genauigkeit. Die
Richtigkeit der Angaben und die Compliance des Patienten kann ohnehin für die Zeiträume
vor und nach dem Klinikaufenthalt auf der Basis schriftlicher Patientenbefragungen kaum
beurteilt werden. Wir haben uns deshalb entschlossen, nur die WHO-Stufen der Schmerzmedikation und dichotom das Vorhandensein von Begleitmedikation zu erfassen. Weitere Probleme wirft die Interpretation der Daten auf: „Selbstverständlich kann auch durch eine spezialisierte Schmerztherapie eine Zunahme der Analgetikaeinnahme erforderlich werden, nämlich
wenn durch eine spezifisch effektive medikamentöse Therapie erstmals eine Reduktion der
schmerzbedingten Behinderung erzielt, damit wiederum Arbeitsfähigkeit erworben und eine
Berentung vermieden werden kann“ (8: S. 62). In diesem Sinne ist auch das Ziel der medikamentösen Therapie des Schmerzzentrums Enzensberg die adäquate Einstellung des Patienten.
Abb. 3 zeigt, dass dennoch eine Reduktion der Einnahme von starken Analgetika beim betrachteten Patientenkollektiv festzustellen ist. Wurden vor der Behandlung im Schmerzzentrum noch 13 von 73 Patienten (18%) medikmentös nach WHO-Stufe III therapiert, so waren
es sechs Monate nach dem stationären Aufenthalt nur noch 11%. 10 von 13 Patienten (77%),
die vor ihrer stationären Schmerzbehandlung medikamentös nach WHO-Stufe III therapiert
wurden, waren zum Follow-up-Zeitpunkt niedriger einzustufen. Unverändert bleibt dagegen
der Anteil der Patienten, die mindestens ein begleitendes Medikament erhalten.
hier Abb. 3: Schmerzmedikation
11
Bekannt bei chronischen Schmerzpatienten ist die häufige Komorbidität im psychischen
Bereich, insbesondere das Vorkommen von Depressionen. Im Rahmen unserer Studie wurde
mittels der Allgemeinen Depressionsskala (ADS), einem auch in der Rehabilitationsforschung
eingesetzten psychologischen Testverfahren mit 20 Items, das mögliche Vorliegen einer
ernsthaften depressiven Störung bei den Studienpatienten überprüft. Dies gilt als wahrscheinlich, wenn auf der resultierenden Skala mit einer Spannbreite von 0 (keine depressive Störung) bis 60 (maximale depressive Störung) ein Rohwert von mindestens 24 Punkten erreicht
wird. Auf der Basis dieser Definition wiesen fast zwei Drittel der Patienten (64% von N = 72)
bei Aufnahme eine ernsthafte depressive Störung auf. Dieser Anteil konnte im Laufe der
stationären Behandlung deutlich auf 21% reduziert werden, lag aber zum Zeitpunkt der Nachbefragung bei 44% (Abb. 4). Auch im Mittelwertvergleich weisen beide Kontrollzeitpunkte
gegenüber dem Aufnahmestatus signifikant bessere Werte auf, es wird aber auch deutlich,
dass sie in diesem Bereich stationär erzielten Erfolge poststationär offenbar schwer zu stabilisieren sind.
hier Abb. 4: Depressive Störung
Unter den Instrumenten zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität hat sich –
trotz bekannter Schwächen (1, 9, 18) – der SF-36 am weitesten durchgesetzt und ist auch in
den Schmerzfragbogen der DGSS integriert worden. Der SF-36 liefert keinen Wert für die
Lebensqualität, wohl aber 8 Skalen, welche Dimensionen erfassen, die Aspekte des Konstrukts der gesundheitsbezogenen Lebensqualität darstellen. Dazu gehören:
•
Körperliche Funktionsfähigkeit
•
Körperliche Rollenfunktion
•
Körperliche Schmerzen
•
Allgemeine Gesundheitswahrnehmung
•
Vitalität
•
Soziale Funktionsfähigkeit
•
Emotionale Rollenfunktion
•
Psychisches Wohlbefinden
12
Im Unterschied zu den bisher betrachteten Kenngrößen bedeutet in den 8 Skalen des SF-36
(mit einer Spannbreite von jeweils 0 bis 100) ein höherer Wert auch einen besseren Gesundheitszustand. Abb. 5 und Abb. 6 fassen die Ergebnisse zusammen.
hier Abb. 5: Lebensqualität I – körperliche Gesundheit
hier Abb. 6: Lebensqualität II – psychische Gesundheit
Mit Ausnahme der Skala „Allgemeine Gesundheitswahrnehmung“ – die aber selbst von den
Autoren der deutschen SF-36-Fassung als „suboptimal“ bezeichnet wird (1) – lassen sich in
allen Dimensionen deutliche Verbesserungen verzeichnen. Die mit einer Ausnahme („emotionale Rollenfunktion“) signifikanten Steigerungsraten (p < 0,01) bis zur Entlassung liegen
zwischen 20% bei der „emotionalen Rollenfunktion“ und 143% bei der „körperlichen Rollenfunktion“; beim „körperlichen Schmerz“ sind es 109%. Auch der Follow-up-Status der untersuchten Patientengruppe ist in sieben von acht Lebensqualitätsdimensionen (Ausnahme:
„Allgemeine Gesundheitswahrnehmung“) signifikant besser als vor Aufnahme in das
Schmerzzentrum. Die Zuwächse streuen hier zwischen 20% beim „psychischen Wohlbefinden“ und 123% bei der „körperlichen Rollenfunktion“. Bei der letztgenannten Skala wie auch
bei den Skalen „emotionale Rollenfunktion“ und „köperlicher Schmerz“ zeigen sich langfristig besonderes stabile Behandlungserfolge.
Zu den für eine ökonomische Einschätzung besonders wichtigen Beurteilungskriterien zählt
die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit. Dieses im Vergleich zu den bisher dargestellten
Skalen vermeintlich harte Datum erwies sich bei der Analyse als nicht besonders tragfähig.
Verantwortlich dafür sind in erster Linie fehlende, formal nicht korrekte oder unklare Patientenangaben bei den entsprechenden Fragen, die wiederum auf einen nicht optimalen Fragebogen zurückzuführen sind. Insofern sind die im folgenden dargestellten Ergebnissen zum Erwerbsleben mit Vorsicht zu interpretieren.
58 von 113 Patienten ließen sich auf der Basis der Fragebogenangaben mit hinreichender
Sicherheit als vor der stationären Schmerzbehandlung „erwerbstätig“ (angestellt oder selbständig, Teil- oder Vollzeit, inkl. in Ausbildung oder Umschulung) identifizieren. Sechs
Monate nach dem Aufenthalt im Schmerzzentrum sind davon 38 Patienten nach wie vor
13
erwerbstätig und zwei zwischenzeitlich regulär in der Altersrente. Fünf Patienten bezogen
eine EU/BU-Rente, sechs Patienten waren entweder arbeitslos oder Hausfrau (was aufgrund
des Fragebogens leider nicht genau zu trennen war). Von sieben Patienten fehlen die entsprechenden Angaben im Follow-up-Fragebogen. Je nach dem, ob man die sieben Patienten mit
fehlenden Angaben in einem worst-case-Szenario der Gruppe der Nicht-Wiedereinsteiger
zuschlägt oder sie aus der Berechung herausnimmt, ergibt sich eine Erfolgsquote von 69%
bzw. 78% (jeweils einschließlich der beiden Altersberentungen).
4. Diskussion
Für das Untersuchungskollektiv von 76 chronischen Schmerzpatienten läßt sich sich ein
nachhaltiger Effekt der interdisziplinären Schmerzbehandlung hinsichtlich aller Schmerzparameter, der psychologischen Skalen, der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (in sieben von
acht SF-36 Subskalen), dem Erhalt der Erwerbstätigkeit sowie der Reduzierung der Einnahme
starker Analgetika feststellen. Kein signifikanter Effekt zeigte sich bei einer einzigen SF-36
Subskala sowie bezüglich der Begleitmedikation. Im Zusammenhang mit der Interpretation
dieser Ergebnisse muß ausdrücklich auf die unsichere Datengrundlage bei den vermeintlich
objektiven Daten in den Bereichen Medikation und Erwerbstätigkeit hingewiesen werden. Um
in diesen Bereichen zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen, müßten andere Instrumente
(als der nach unseren Erfahrungen hier ungeeignete DGSS-Fragebogen) eingesetzt werden
und auch in kürzeren Abständen befragt werden, z.B. gemäß den Empfehlungen Arbeitsgruppe „Reha-Ökonomie“ (17).
Eine Einordung unserer Ergebnisse in die publizierten internationalen Erfahrungen anderer
spezialisierter Schmerztherapie-Einrichtungen zeigt – unter Vernachlässigung der Unterschiedlichkeit dieser Studien hinsichtlich der Einschlußkriterien, der Kriterien für die Outcome-Messung sowie der benutzten Meßinstrumente –, dass in unserem Schmerzzentrum ähnlich positive Behandlungsergebnisse erreicht werden. So liegt die in unserer Studie nachgewiesene signifikante Schmerzreduktion von 35% während des stationären Aufenthaltes in der
Nähe anderer publizierter Ergebnisse (16: 31%; 13: 34%). Unser Ergebnis, dass ca. drei Viertel der Patienten wieder ins Erwerbsleben zurückkehren, übersteigt sogar die entsprechenden
in der Literatur berichteten Werte von ca. 50% (3, 7) bis 62% (13).
14
Die insbesondere im psychischen Bereich poststationär nicht immer stabilen Behandlungsergebnisse verweisen auf die Notwendigkeit einer adäquaten poststationären Weiterbehandlung
dieser schwierigen Patientengruppe. Zu betonen ist jedoch, dass auch der Follow-up-Status
der Schmerzpatienten in jeder Outcome-Dimension deutlich besser als vor der stationären
Schmerzbehandlung ist.
Insgesamt betrachtet unterstützen unsere Ergebnis damit die These, dass die stationäre Behandlung in einem interdisziplinär ausgerichteten Schmerzzentrum effektiv ist. Die Reduktion
des individuellen Leidens begünstigt die Wiederaufnahme der Arbeit, verringert die
Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems und ist somit auch ökonomisch
von Bedeutung. Es ist wahrscheinlich, dass diese erwünschten Effekte durch ein passendes
Weiterbehandlungskonzept noch zu verbesseren sind.
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