1 Jens Soentgen Februar 2000 Dieser Text, der 1999 geschrieben wurde, erschien in portugiesischer Übersetzung – gekürzt – unter dem Titel: Subjetividade do Corpo: a obra de Hermann Schmitz. In: Revista Universa (UCB), v. 8, n. 2, junho de 2000, p. 369-380. ISSN 0104-3951 Phänomenologie auf neuen Wegen – Das Werk des Hermann Schmitz Unter den grossen zeitgenössischen Philosophen ist der Kieler Phänomenologe Hermann Schmitz (*1927) vielleicht der originellste, wahrscheinlich der produktivste, mit Sicherheit jedoch der unbekannteste. Sein Werk ist umstritten. Für eine Reihe jüngerer Autoren repräsentiert es eine neue Stufe der Entwicklung der Phänomenologie. Andere, etwa die etablierten Vertreter der klassischen Phänomenologie wie Heinrich Rombach oder Bernhard Waldenfels, qualifizieren die Arbeiten von Schmitz, der immerhin seit 1964 fast jedes Jahr ein Buch von mindestens 500 Seiten publiziert hat, inzwischen sind es bald 20 000 Seiten, global als abwegig oder gar als „Totgeburt“. Im Ausland und insbesondere ausserhalb der phänomenologischen Schule geht man gelassener und aufgeschlossener mit Schmitz um. Starkes Interesse ist etwa in Japan 2 zu beobachten, aber auch einige analytische Philosophen in den USA befassen sich mit Schmitz, insbesondere mit seinen Arbeiten zur Subjektivitätstheorie. Es ist nicht leicht, über die Arbeiten von Schmitz zu einem begründeten und abgewogenen Urteil zu kommen. Das liegt nicht an etwaigen Unklarheiten oder begriffstechnischem Ungeschick. Im Gegenteil wird man nur wenige Denker ausserhalb der analytischen Philosophie finden, die so präzise und nachvollziehbar argumentieren wie Schmitz. Das hermeneutische Problem liegt woanders: Seine Arbeiten sind durchzogen von exzessiven, oft platte Polemiken gegen verdiente Denker, insbesondere gegen Husserl. Zugleich finden wir bombastische Selbstaffirmationen, die einem leider viele Seiten seiner Schriften vergrausen und es schwer machen, beim Lesen einen kühlen Kopf zu behalten. Nach meiner Auffassung fällt gleichwohl, wenn man alles sorgfältig prüft und in Betracht zieht, das Urteil über dieses merkwürdige Werk am Ende doch zugunsten von Schmitz und gegen seine Kritiker aus. Seine Arbeiten sind alles andere als Totgeburten, seine Konzepte und systematischen Leitideen sind nicht abwegig. Eine unbefangene Prüfung muss vielmehr in der Tat zu dem Ergebnis kommen, dass hier in wesentlichen Punkten Fortschritte gegenüber der klassischen phänomenologischen Tradition vorliegen. Der Titel einer Neuen Phänomenologie, den Schmitz für sein Werk in Anspruch nimmt, ist nach meiner Auffassung berechtigt. Denn es ist ihm in der Tat 3 gelungen, eine Reihe klassischer phänomenologischer Problemtitel neu zu fassen. Hier müssen vor allem seine Arbeiten zum Leib, zum Raum, zur Philosophie der Gefühle, zur Subjektivität und zum Situationsbegriff erwähnt werden. Es gibt auch Themen, die Schmitz neu in den phänomenologischen Diskurs einführt. Dazu zählen insbesondere sein Konzept des Chaotischen und seine Arbeiten zum Begriff der Atmosphäre. Seine historischen Arbeiten, die etwa die Hälfte seines Werkes ausmachen – Schmitz hat unter anderem breite monographische Studien zu den Vorsokratikern, zur Ideenlehre des Aristoteles und zu einigen Denkern des Deutschen Idealismus, insbesondere zu Kant und Hegel publiziert, sie sollen erwähnt werden, müssen aber ausser Betracht bleiben. Ich möchte stattdessen im folgenden einige grundlegende Gedanken der Schmitzschen Philosophie des Leibes in ihrer Verbindung mit der Schmitzschen Fassung des Subjektivitätsproblems vorstellen. Sie sind, aufgrund ihrer zentralen Stellung, geeignet, einen Eindruck des Schmitzschen Werkes zu gewinnen. 1. Der Leib 1. Der vergessene Leib Hermann Schmitz ist vor allem als Leibphilosoph bekannt geworden. Er bearbeitet damit ein Terrain, das schon Husserl gesichtet hat, und das dann, mit der grössten publizistischen Breitenwirkung, von Maurice Merleau-Ponty bearbeitet worden ist. 4 Was ist der Leib? Es handelt sich nicht um den kompakten, von einer Haut zusammengehaltenen Organismus; das wäre, in Schmitzscher Terminologie, der Körper. Schmitz konzentriert sich in seinen Untersuchungen auf das Feld der leiblichen Regungen, er untersucht Hunger, Durst, Schmerz, Ekel, oder Lust, also kein irgendwie geartetes neues Ding, sondern eine zusammenhängende Gruppe von Prozessen und Befindlichkeiten. Das Feld der leiblichen Regungen begleitet einen zu jeder Zeit. Es vergeht kaum eine Minute, in der man nicht irgendetwas Leibliches empfindet, und sei es auch nur ein Drücken im Hals oder ein Ziehen im Bauch. Oft sind diese Regungen unbestimmt - in dem Sinne, daß man sie nicht genau einzuordnen weiß. Sicher ist, daß es meine Empfindungen sind, und nicht etwa die meines Nachbarn. Man entnimmt ihnen die Gewißheit, da zu sein, eine Gewißheit, die von keinem intellektuellen Prozeß ersetzt werden kann. Es ist zum Leidwesen der Philosophen sehr leicht, ohne einen Gedanken dazusitzen und auf diese Weise stundenlang zu verharren. Dagegen begleitet einen stets ein diffuses leibliches Befinden. Man beachtet es gewöhnlich nicht, es ist aber da. Sogar Taubheit oder Mattigkeit sind keine empfindungslose Zustände, sondern selbst leibliche Regungen. 1.1 Leibesinseln Schon wenn man sich in einem dunklen Keller bewegt, findet man sich zurückverlegt in die Sphäre 5 des Leiblichen. Auch in der Müdigkeit wird der Leib bewußt, erst recht in der Krankheit. Doch es reicht bereits, die Augen zu schließen. Was spürt man dann von sich selbst? Es ist zunächst schwer zu beschreiben, denn das, was man von sich spürt, ist von dem, was man von sich sieht und tasten kann, sehr verschieden. Vielleicht ist es so, daß man zunächst "nichts" spürt. Aber nach einer Weile wird es so sein, daß sich aus dem "Nichts" einzelne Zonen herausheben, wieder verschwinden, ineinander übergehen. Es ist kein geschlossener Bereich, sondern eher ein Irrlichtern von einzelnen Zonen. Schmitz schreibt: "Statt eines stetigen räumlichen Zusammenhangs begegnet dem Spürenden jetzt bloß noch eine unstetige Abfolge von Inseln, z.B. folgende von oben nach unten: Schlund, Brustwarzengegend, Magengrube mit dem charakteristischen "Gefühl in der Magengegend", anale und genitale Zone, vielleicht noch etwas in der Gegend der Oberschenkel, Kniegegend, Fußknöchel, Sohlen."1 Das ist der Leib im Sinne von Schmitz: kein kompakter, geschlossener Zusammenhang wie der Körper. Schmitz spricht von Leibesinseln, eine außerordentlich wichtige und einleuchtende Wortneubildung. Üblicherweise bezeichnet man das, was man da spürt, als Organempfindungen - womit das Phänomen aber bereits auf eine verkehrte Weise interpretiert wird. Denn daß da Organe empfunden werden, so wie man vielleicht mit der Hand das Obst in einer Schale ertasten und empfinden kann - das ist einfach nicht der Fall. Manches, was man von sich spürt, mag man als Äußerung eines kranken oder 1 Schmitz 1965: 26. 6 eines überanstrengen Organs interpretieren. Wenn man aber von vornherein von Organempfindungen spricht, legt man sich auf eine bestimmte Perspektive fest, und verbaut sich den Blick auf das, was man eigentlich spürt. Deshalb ist der neutrale Begriff der Leibesinsel (Schmitz spricht auch von Regungen) so wichtig. Der Leib ist eine Wirklichkeit, die gewöhnlich verborgen, und doch ganz leicht zugänglich ist. Auch das sind wir selbst: ein lockerer Haufen von Zonen, nicht jener kompakte, unüberwindbare Block, zu dem wir uns gerne stilisieren. Es ist Schmitz´ Verdienst, überhaupt gesehen zu haben, daß hier ein eigenartiges Phänomen vorliegt. Vor ihm war der Leib bloß ein Flimmern am Rande jener Aufmerksamkeit, die auf den sichtbaren Körper gerichtet ist. "Keine Leibesinsel" - schreibt Schmitz - "bietet sich je als starre, feste Masse an. Eher gleichen diese Inseln strahlenden Herden, die oft durch Hervortreten einiger betonter Stellen oder Schwerpunkte in sich körnig sind, gelegentlich auch einen einzigen Schwerpunkt, aber niemals scharfen Umriß besitzen."2 Der Körper ist zwar auch nicht gegen die Umwelt abgeschlossen, aber immerhin hat er eine klare Kontur. Die habituelle Vorstellung, die man von sich selbst hat, das sogenannte Körperschema, hat dementsprechend klare Grenzen. Die fehlen dem Leib. Die Erfahrung der Leibesinseln kann natürlich unterschiedlich ausfallen; daß es sich nicht etwa um pure Einbildung handelt, zeigt sich unter anderem 2 Schmitz 1965: 27. 7 daran, daß sich eine gewisse Anatomie dieser Leibesinseln entziffern läßt. Zwei Inseln sind jedenfalls nach den Beobachtungen von Schmitz meist spürbar, nämlich der Mund und die anale Zone. Diese sind sowohl leiblich als auch körperlich: sie werden intensiv gespürt, sind aber teilweise auch sichtbar. Sie operieren zum Teil autonom, zum Teil lassen sie sich willentlich steuern. Die Strukturen der Leiblichkeit lassen sich an diesen beiden Inseln besonders gut darstellen, weil sie sich sowohl spüren als auch sehen lassen. 1.2 Das Alphabet der Leiblichkeit Hermann Schmitz schlägt neun Begriffe für die Beschreibung leiblicher Phänomenen vor, nämlich Enge, Weite; Richtung; Spannung, Schwellung; Intensität und Rhythmus; protopathische und epikritische Tendenz. Die Begriffe hängen zusammen: Enge ist das Gegenteil von Weite, Spannung ist ein Gegenteil von Schwellung, und auch die ungewöhnlichen Wörter protopathische und epikritische Tendenz sind als polare Gegensätze gemeint. Was mit diesen Begriffen gemeint ist, erklärt sich teilweise von selbst: die Gefühle von Enge und Weite sind jedem aus der eigenen leiblichen Erfahrung vertraut. Enge kennt man aus der Angst, der Beklemmung, dem Schreck; die Weite dagegen spürt man im Rausch, in der Euphorie, aber auch, wenn man aus einem engen Raum ins Freie tritt. Der auf Enge bezogene Begriff der Weite gehört zu den faszinierendsten Konzepten der Schmitzschen Philosophie, weil er zugleich ein räumlicher Begriff 8 ist und ein leiblicher Zustand. Schmitz vereinigt in diesem Begriff zwei Themen, die gewöhnlich streng getrennt werden.3 Die Weite, die man außen sieht, und die Weite, die man am eigenen Leib spürt, ist nach Schmitz identisch. Daraus geht bereits hervor, daß der Leib keine Kapsel ist, sondern ein offenes System. Enge und Weite sind die wichtigsten Begriffe der Schmitzschen Analyse. Für ihn bezeichnen sie Grundphänomene der Leiblichkeit. Es sind zwei Impulse, die einander abwechseln, oder miteinander streiten. Schmitz spricht vom Dialog zwischen Enge und Weite; und in der Tat folgt auf heftige Engung oft eine flutende Weite. Wir werden noch öfter darauf zurückkommen. Spannung und Schwellung versteht Schmitz gewissermaßen als Mischungen aus Enge und Weite: Bei der Spannung liegt ein Übergewicht der Engung vor, bei der Schwellung ein Übergewicht der Weitung. Bei dem Wort Schwellung kommt es auf eine Nuance an: Man darf da nicht an Schwellungen denken, jene ziemlich schmerzhaften Reaktionen auf Verstauchungen und andere Verletzungen. Gemeint ist vielmehr jene Bedeutung des Wortes Schwellung, die in dem Satz "stolzgeschwellte Brust" angezeigt ist: Schwellung ist etwas Lustvolles, es liegt ein Überwinden von Hindernissen darin. Spannung und Schwellung versteht Schmitz als Gegensätze; er weicht also vom gewöhnlichen Sprachgebrauch ab, der diese Gegenüberstellung nicht kennt. Sie wird sich aber als nützlich erweisen. 3 Vgl. seinen problematischen, aber höchst spannenden Lehrsatz von der 'Einzigkeit der Weite' in Schmitz 1967: 203208. 9 Daß Intensität und Rhythmus sozusagen Urworte der Leiblichkeit sind, scheint selbstverständlich. Das leibliche Geschehen ist durch und durch rhythmisch; die Erfahrung von Intensität ist stets leiblich. Was mit diesen Wörtern gemeint ist, kennt jeder aus eigener Erfahrung. Aber Schmitz wäre kein Philosoph, wenn er nicht auch diese Begriffe mit seinen übrigen Konzepten vernetzte. Intensität ist für ihn das simultane Ineinander von Spannung und Schwellung. Das ist nicht nur ein abstraktes Konzept: man kann den Gedanken nachvollziehen, indem man tief einatmet, und dann den Atem anhält. Man spürt dann zugleich Spannung und Schwellung - es ist eine intensive Empfindung. Unter Rhythmus aber will Schmitz nicht jedes beliebige Pulsieren verstehen, sondern ausschließlich das Auf und Ab von Spannung und Schwellung. Rhythmus im Sinne von Schmitz ist also nicht einfach der Herzrhythmus oder der Atemrhythmus, sondern etwa das Pulsieren von Spannung und Schwellung in der Lust oder auch im Schmerz. Schmitz gebraucht einen exzentrischen Rhythmusbegriff; fällt freilich im Verlaufe seines Werkes öfters in den gewöhnlichen zurück. Die Richtung ist das, was aus der Enge in die Weite führt. An vielen leiblichen Regungen läßt sich etwas wie eine Richtung wahrnehmen - man kann sie oft spüren; nicht immer ist es erforderlich, sie auch zu sehen. Man schließe die Augen und atme aus: der Atem verfolgt eine Richtung, er entfernt sich von mir und verschwindet in der Weite, die mich umgibt. Spürbare Richtungen haften ebenfalls den Blicken an, und zwar auch dann, wenn es kein Ziel gibt, das man ansieht. Nach Schmitz müssen Blicke nicht aus einem Hier in ein Dort führen, sie können auch von 10 einem Hier ins Nirgendwo gehen, oder, wie er sagt, sie führen aus der Enge in die Weite. Die nächsten zwei Begriffe, die ich vorstellen möchte, fallen etwas aus dem Rahmen. Während die fünf bisher erläuterten Wörter der Umgangssprache entnommen sind, und lediglich in der einen oder anderen Hinsicht durch Gegenüberstellung und Verbindung stilisiert waren, sind epikritische und protopathische Tendenz offenbar Züchtungen aus dem Wörtergarten der Wissenschaft. Immerhin ist ihr Klang in sinnvoller Weise mit der Bedeutung verbunden. Protopathisch ist nach Schmitz eine verschwommene, der Ortsfindung entgegengesetzte Tendenz, epikritisch dagegen eine Schärfen suchende, Punkte zuspitzende. Diese beiden Begriffe spielen etwa bei der Beschreibung von Schmerzen eine Rolle: Es gibt diffuse, dumpfe Schmerzen und solche, die ganz strikt umschrieben sind. Manche Schmerzen - die epikritischen - stechen mit feinen Nadeln, andere, die protopathischen, wühlen eher ganzheitlich. Sie wird von Schmitz aber auch verwandt, um Kunst- und Architekturstile zu differenzieren.4 Die Unterscheidung protopathisch/epikritisch ist zwar mit der Gegenüberstellung von Enge und Weite verwandt, sie deckt sich aber nicht ganz genau mit ihr. Wir können an dieser Stelle bereits eine wichtige Beobachtung machen: Der einzige statische Begriff, den Schmitz zur Analyse der Leiblichkeit verwendet, ist der Begriff der Leibesinsel. Aber nicht einmal diese Inseln sind ruhig und übersichtlich angeordnet, sondern schwimmen in einem Gewoge. Die übrigen Begriffe bezeichnen 4 Vgl. dazu Schmitz 1966. 11 dynamische Prozesse. Darin zeigt sich: Der Leib ist ein pulsierendes Feld von Kräften.5 Solange der Mensch lebt, ist sein Leib ein unruhiges, bebendes Gebilde. Ruhig und fest wie eine Statue wird er erst, wenn er tot ist. Schmitz zeichnet den Leib nicht als Ding, sondern als energetischen Zusammenhang. 2. Zur theoretischen Bedeutung der Schmitzschen Leibanalyse Dies ist, in Kürze, das elementare Beschreibungsinventar, mit dem Schmitz leibliche Vorgänge analysiert. In der Tat gibt er sich, anders als etwa Merleau-Ponty, nicht mit einigen vagen Hinweisen zufrieden, um die Sache mit dem Leib dann im übrigen auf sich beruhen zu lassen. Nicht weniger als dreissig verschiedene leibliche Regungen rekonstruiert er vielmehr in seinem Buch über den Leib, von Hunger und Durst bis hin zu Ekel und Müdigkeit. Es gelingt ihm dabei immer wieder, altbekannte Phänomene in einem neuen Zusammenhang sehen zu lassen. Doch haben wir hier nur einen Teil des Schmitzschen Theorieprogrammes vor uns, und sogar nur den sozusagen psychologischen, denjenigen nämlich, den jeder Psychologe, jeder 5 Das Wort leibliches Feld findet sich bei Schmitz nicht. Ich werde es im folgenden dennoch gelegentlich verwenden, weil es die von Schmitz entdeckte Realität verständlicher bezeichnet als die von ihm bevorzugten Wörter Leib oder leiblicher Raum. Denn das Wort Feld verweist sofort auf einen Zusammenhang von Kräften, während man bei dem Wort Leib eher an ein Ding denkt, bei dem Wort leiblicher Raum aber an einen besonderen Bezirk. Zudem hat ein Feld keine scharfen Grenzen, vielmehr verliert es sich allmählich. Auch darin scheint mir das Wort gut zu passen. 12 Anthropologe ohne weiteres übernehmen und, wie es so schön heisst, anwenden kann. Der philosophisch interessantere Teil besteht in folgendem. Schmitz versucht, den Leib, das heisst, das leibliche Befinden, nicht etwa nur als ein beliebiges Auch des Menschen, das es nun mal gibt, und das man auch beschreiben muss, sondern als ein Zentrum seiner Humanität herauszuarbeiten. Das geschieht auf zwei Wegen. 2.1 Raumtheorie Auf dem einen Weg zeigt sich uns Schmitz als eine Art tiefergelegter Husserl. Er verfolgt wie dieser ein ehrgeiziges Begründungsprogramm. Es ist ihm darum zu tun, alle zentralen kognitiven Begriffe zu begründen – und dieses nicht, wie bei Husserl, im transzendentalen Bewusstsein, sondern eben im Leib. Tatsächlich ist es relativ leicht zu erkennen, dass im Schmitzschen Werk der Leib genau die Theoriestelle einnimmt, die bei Husserl das transzendentale Bewusstsein innehat. Man könnte also sein zentrales Thema als den transzendentalen Leib ansprechen. Anders als Husserl, der ein besonderes Interesse für die Fragen der Urteilstheorie und der Logik hatte, interessiert sich Schmitz in erster Linie für den Raum. Er versucht, in sehr umfangreichen Untersuchungen, zu zeigen, dass sich die wichtigsten räumlichen Begriffe nicht ohne Rückgriff auf das leibliche Befinden, wie es von ihm dargestellt wird, verstehen lassen. Das Programm führt er später analog auch für die Frage nach der 13 Zeit, für die Frage nach dem Ding und die Frage nach dem anderen durch. Schlussstein der Schmitzschen Analysen ist jeweils: Der Sinn unserer Rede von Raum, von Zeit, vom Ding und vom Anderen ist nur verständlich, wenn wir auf die Ebene des Leibes zurückgehen. Das klingt vertraut, nur dass da, wo Schmitz Leib sagt, andere von transzendentalem Bewusstsein oder vom präreflexiven Cogito sprachen. Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, das Begründungsprogramm von Schmitz im einzelnen zu würdigen. Es sollte nur hervorgehoben werden, dass seine Bemühungen um die Raumtheorie und um die Zeittheorie an Tiefenschärfe und Detailpräzision, zumindest nach meinem Eindruck vieles, was wir von anderen Autoren zu diesem Thema bereits kennen, weit übertrifft. Nicht umsonst haben die Schmitzschen Arbeiten auf diesem Gebiet die Aufmerksamkeit der konstruktivistischen Wissenschaftstheoretiker angezogen. Gleichwohl scheint mir dieser Zweig seines Denkens nicht der eigentlich ertragreiche und spannende zu sein. Interessanter ist der zweite Gebrauch, den er von seiner Leibtheorie macht, sein Einsatz in der Subjektivitätstheorie. 2.2 Subjektivität als leibliches Betroffensein Wenn wir eben Schmitz als eine Art tiefergelegten Husserl erkannt haben, so sehen wir ihn in der Neuinterpretation der Subjektivitätstheorie eher auf den Fährten Heideggers. 14 Denn er übernimmt sowohl die Tendenz als auch einige Theoreme Heideggers zur Subjektivitätstheorie, ordnet sie jedoch in seinem Leibkonzept neu um. Das scheint naheliegend, war doch das Befinden schon ein Terminus in Sein und Zeit – wenn es auch in den konkreten Analysen dann keine entscheidende Rolle mehr spielte. Bei Schmitz steht das leibliche Befinden im Mittelpunkt seiner sehr plastischen und originellen Analyse des Menschen. Denn jede leibliche Regung führt, wenn sie intensiv genug ist, zu etwas, das er als „Primitive Gegenwart“ bezeichnet. 2.2.1 Primitive Gegenwart Wenn Schmerz heftig ist, hat er die Macht, die Persönlichkeit, die Individualität des einzelnen auszulöschen: die Augen werden ausdruckslos, das Gesicht verzerrt sich, die feingegliederte Rede schmilzt zum Stöhnen zusammen. Das ist das Demütigende des Schmerzes, daß er ab einem gewissen Grad keine individuellen Stellungnahmen, keine wohlüberlegten Kommuniqués und Dementis mehr gestattet: der aufrechte Stand wird erschüttert. Der Mensch bricht zusammen. Schmitz bezeichnet solche Zustände, gleich, ob sie nun lustvoll erlebt werden oder mit Qual verbunden sind, als primitive Gegenwart. In solchen Situationen fühlt man sich auf eine elementare Weise da, man ist auf eine dichte Weise gegenwärtig. Es müssen aber nicht notwendig intensive leibliche Regungen sein, die in die primitive Gegenwart führen. Es können auch Ereignisse anderer Art sein, etwa der Verlust des 15 Arbeitsplatzes, Vertreibung im Krieg, das comingout eines Homosexuellen oder auch heftige Faszination durch einen Menschen.6 Aus solchen Situationen, nicht aber aus dem Denken oder dem Zweifeln, wie Descartes annahm und in seinem Gefolge bis heute viele Philosophen voraussetzen, bezieht man die Evidenz, da zu sein. "Seine Antwort auf die Behauptung, er habe vielleicht, sei aber nicht, war nur Zittern und Herzklopfen." - das schrieb einmal Franz Kafka in eines seiner Tagebücher. In diesem Sinne gründet Schmitz das Selbstbewußtsein auf das Zittern. Es sind die elementaren leiblichen Regungen, an denen einem Menschen klar wird, daß es um ihn selbst geht. Selbstbewußtsein wird also in seiner Philosophie nicht auf eine aktive Handlung eines Subjektes zurückgeführt - auf das Denken oder auf das Zweifeln. Das wäre auch, genau betrachtet, eine petitio principii. Bei Schmitz ist das Selbstbewußtsein mit dem affektiven Betroffensein verbunden. In diesem Sinne haben nach Schmitz auch die Tiere Selbstbewußtsein, denn auch sie sind zu affektivem Betroffensein fähig. Sie können leiden, sie zucken zusammen im Schreck, und erweisen sich damit als Subjekte. Primitive Gegenwart versteht er als einen Zustand, in dem der Mensch zum Tier wird - ohne daß damit irgendeine Wertung verbunden wäre. Der primitiven Gegenwart stellt er die entfaltete Gegenwart gegenüber. Mit ihr geht eine Steigerung der Komplexität des Verhaltens einher; die Fähigkeit, sich von der eigenen Situation zu lösen. In dieser 6 Die Beispiele stammen von mir, sind also auch der Gefahr des Mißverständnisses ausgesetzt. 16 Fähigkeit, die eigenen Situation übersteigen zu können, unterscheidet sich der Mensch vom Tier. Ein einfaches Beispiel. Angenommen, in einer Scheune bricht ein Feuer aus. Was können die Tiere tun? Sie können nur in ihren Ställen auf und ab rennen und brüllen. Der Bauer, der in der Scheune ist, mag auch seinen Kopf verlieren, brüllen und auf und ab rennen. Er kann aber auch versuchen, die Situation nüchtern zu analysieren, überlegen, wo er die Feuerlöscher hat, und bei der Feuerwehr anrufen. Er kann seine gegenwärtige Situation überschreiten. Das ist nicht nur ein Luxus, der dem Menschen gewährt ist, sondern, wie man leicht erkennen wird, ein entscheidender Vorteil gegenüber den Tieren. Aufgrund dieses Vorteils können die Menschen z.B. Fallen stellen und Tiere darin fangen. Das sich-Lösen aus primitiver Gegenwart bezeichnet Schmitz als personale Emanzipation, sie kann mehr oder weniger weit gehen, und in verschiedenen Stilen ablaufen. Schmitz illustriert seinen Gedanken folgendermaßen: "Die Niveaus unterscheiden sich nach der Spannweite des Abstandes; ein kühler Rechner ist in leicht eingängigem Sinn weiter weg von primitiver Gegenwart als ein affektiv labiler Mensch. Die Stile sind Haltungen der Überlegenheit, die doch nie vollkommen ist, im Verhältnis zur primitiven Gegenwart ... Stile personaler Emanzipation sind z.B. die hochfliegende Überspanntheit des idealistischen Jünglings, die Ironie als Lebensform, die ruhig überschauende Besonnenheit mit einem Anflug von Weisheit, die stoische Unerschütterlichkeit und der nüchterne Realismus, Probleme nur am kurzen Stiel zu packen und sich 17 mit kleinen Hilfen vor Schwankungen und Stürzen des Betroffenseins zu schützen."7 Doch das Loskommen von primitiver Gegenwart gelingt auf keine dieser Arten vollkommen: weder dem Stoiker glückt es, noch dem Realisten oder dem Idealisten. Das ist nach Schmitz auch gar nicht wünschenswert, denn für ihn stellt die primitive Gegenwart keineswegs so etwas wie den barbarischen Nullpunkt des Menschen dar, einen erbärmlichen Naturzustand. Schmitz kennt nicht nur die Bewegung aus der primitiven Gegenwart in die entfaltete, sondern auch die Umkehrung, den Rückfall in primitive Gegenwart. Diesen Vorgang bezeichnet er als personale Regression. Sie ereignet sich in jedem affektiven Betroffensein und ist nach Schmitz für das menschlichen Lebens außerordentlich wichtig: "Wenn diese zu kurz kommt, fehlt dem Leben die Schicksalhaftigkeit, das Erlittene, die Fülle, die ihm allein aus dem Durchmachen von Höhen und Tiefen zukommen kann; die Erhebung auf ein Niveau personaler Emanzipation ist dann eine hohle, verstiegene Gebärde, Verschanzung über einer Leere."8 Die primitive Gegenwart ist für Schmitz kein zweitklassiger Zustand. Sie wird von ihm aber auch nicht etwa im Sinne eines "Zurück zur Natur" oder einer "Rückkehr zur Ursprünglichkeit" aufgebauscht. Das menschliche Leben spielt sich zwischen den beiden Polen der primitiven und der entfalteten Gegenwart ab: 7 8 Schmitz 1990: 155. Schmitz 1990: 156. 18 "Als Person steht der Mensch zwischen zwei Abgründen: der primitiven Gegenwart, die ihn bedrängt, jedes Niveau seiner personalen Emanzipatation in Frage stellen kann und in der Panik die Person verschlingt, auf einer Seite, und der Hegel´schen "Freiheit der Leere" ... auf der anderen. Von der einen Seite droht ihm Erschütterung, Überwältigung, ja Erlöschen als Person, von der anderen Zersetzung in der Entfremdung ..."9 2.2.2 Subjektivität Eng mit dem zuvor besprochenen Thema verbunden ist Schmitz´ Analyse der Subjektivität. Es handelt sich hier um einen in der modernen Philosophie intensiv ausgearbeiteten Diskurs. Und so gehen die Stellungnahmen, die Schmitz formuliert, einher mit sehr breiten kritischen Untersuchungen zu Positionen, die von anderen Philosophen formuliert wurden. Darauf kann ich hier nicht eingehen.10 Im alltäglichen Sprachgebrauch hat das Wort "subjektiv" einen abwertenden Beigeschmack, wie eine typische Redewendung zeigt. Etwas sei "nur subjektiv". So sagt man, wenn man einen Eindruck oder eine Einsicht relativieren, als vorläufig kennzeichnen will. Sie gilt dann nur für eine bestimmte Person, aber nicht allgemein. Man versteht Subjektivität als eine Sache der Perspektive, sie hängt vom Standpunkt, vielleicht auch vom Geschlecht der betreffenden Person ab, und hat die mißliche Eigenschaft, daß sie von der 9 Schmitz 1990: 158. Vgl. Schmitz 1992, 1995. 10 19 betreffenden Person nicht ohne weiteres abgeschüttelt werden kann. Der Gegenbegriff meint hingegen, daß etwas unabhängig von allen Standpunkten gilt: objektiv sind die Gesetze der Logik, subjektiv ist die Meinung, daß Coca-Cola besser schmeckt als Pepsi. Schmitz gibt der Diskussion um die Subjektivität eine Wendung, die man in zwei Thesen zusammenfassen kann: 1. Subjektivität ist nicht persönliche Borniertheit, sondern affektives Betroffensein, 2. Objektivität ist keine Verbesserung der krummen subjektiven Einsichten, sondern eine Schwundform derselben. Es fehlt nämlich den objektiven Tatsachen die Nuance, daß sie mich angehen.11 Mit anderen Worten: Subjektivität wird bei Schmitz grundlegend neu interpretiert. Sie ist nicht nur eine bloße Bewertung der objektiven Tatsachen. Vielmehr ist sie für Schmitz die Meinhaftigkeit12 gewisser Sachverhalte, die Tatsache, daß mich eine Sache etwas angeht, daß ich von einer Sache betroffen bin. Daß die gewöhnliche Explikation, die Subjektivität als Perspektive deutet, unzureichend ist, zeigt schon die Beobachtung, daß man sich, etwa in einer Verhandlung, exakt in die Perspektive eines anderen hineinversetzen kann. Aber dadurch wird die Sache des anderen eben nicht zu meiner Sache, ja, sie darf es gar nicht werden - sonst wäre ich ein unfähiger Verhandlungspartner. Ein guter Journalist kann auch ohne weiteres Berichte 'aus der 11 Vgl. Großheim 1994, der die Schmitzsche Theorie mit aktuellen Positionen der analytischen Philosophie vergleicht. 12Vgl. den Terminus 'Jemeinigkeit' in Sein und Zeit von Heidegger. Zur Beziehung zu Heidegger hat sich Schmitz ausführlich geäußert. Vgl. Schmitz 1996b, hier besonders S. 548-554. 20 Perspektive der Betroffenen' schreiben ohne selbst betroffen zu sein. Denn die Perspektive der Betroffenen ist etwas anderes als die Betroffenheit selbst. Subjektiv wird eine Sache nicht durch eine bestimmte Perspektive. In subjektive Sachverhalte bin ich verstrickt, meistens unwillkürlich, sie sind die konkrete Situation, in der ich stecke. Man kann sich von solchen subjektiven Sachverhalten nach Schmitz lösen, indem man sie von sich wegschiebt. Ihnen wird dann die Nuance, daß sie mich angehen, abgezogen, sie werden objektiviert. Damit gewinnt man zwar gegenüber der Lage, in der man sich befindet, einen gewissen Spielraum, zugleich wird aber diese Lage farblos und uninteressant. Die Objektivierung von Sachverhalten hat einen zweischneidigen Effekt. Schmitz zitiert gelegentlich, um das klarzumachen, eine Stelle aus Hegels Rechtsphilosophie: "Jeder wird zunächst in sich finden, von allem, was es sei, abstrahieren zu können und ebenso sich selbst bestimmen, jeden Inhalt durch sich in sich setzen zu können ..." 13 Diese Abstraktion ist die Fähigkeit, zu objektivieren, sie geht einher mit der im vorigen Abschnitt beschriebenen Entfaltung der Gegenwart. Schmitz kommentiert das Hegel-Zitat folgendermaßen: "Diese Beweglichkeit des Abstraktions- (besser: Emanzipations-) und Setzungsvermögens wird aber auch zur Quelle der Langeweile und Frustration ..., weil ein Mensch, der sich so über alles zu stellen vermag, nicht mehr ganz in etwas aufgehen und mit Haut und Haar dabei sein kann, sondern mit dem Hochgefühl des Darüberstehens zusammen die 13 Grundlinien der Philosophie des Rechts, §4, S. 27. 21 Peinlichkeit empfindet, neben seiner Rolle zu stehen und schließlich neben dem, was seine Sache ist .. und ganz nur so lange war, wie seine Subjektivität in bestimmte Sachverhalte, Programme und Probleme fest und fraglos einschmolz."14 Die Subjektivität ist eine Nuance, die zu den objektiven Sachverhalten hinzukommt, wenn klar ist, daß sie mich angehen. Den gemeinten Zuwachs kann man sich leicht an einer klassischen rhetorischen Technik klarmachen, nämlich der Rede in Gleichnissen. Es wird einem Menschen eine Geschichte erzählt, die sich in weiter Ferne unter unbekannten Menschen abgespielt haben soll, der Hörer beginnt ungeduldig zu werden, weil er nicht einsieht, weshalb man ihn mit dieser merkwürdigen Geschichte aufhält. Bis dann plötzlich an einem kleinen Detail sichtbar wird, daß er selbst es ist, der gemeint war. Dann kommt es plötzlich zu jenem Zuwachs an Gehalt, den Schmitz als Subjektivität bezeichnet. Die Reden der biblischen Propheten bieten viele Beispiele. Ich zitiere die erste Stelle, die mir bekannt ist, sie stammt aus dem zweiten Buch Samuel. Worum es geht: Der König David hat mit Batseba, der Frau seines Knechtes Urija geschlafen, die daraufhin schwanger wird. David schickt seinen Knecht Urija, der von dem Ehebruch nichts ahnt, in einen aussichtslosen Kampf, um ihn loszuwerden. Urija stirbt. Dann nimmt David Batseba zu sich in sein Haus. Soweit die Vorgeschichte. Jetzt kommt die rhetorische Technik. Gott schickt nämlich den Propheten Natan zu David, dieser baut sich vor ihm auf und erzählt das folgende Gleichnis: 14 Schmitz 1990: 28. 22 "In einer Stadt lebten einst zwei Männer; der eine war reich, der andere arm. Der Reiche besaß sehr viele Schafe und Rinder, der Arme aber besaß nichts außer einem einzigen kleinen Lamm, das er gekauft hatte. Er zog es auf und es wurde bei ihm zusammen mit seinen Kindern groß. Es aß von seinem Stück Brot und es trank aus seinem Becher, in seinem Schoß lag es und war für ihn wie eine Tochter. Da kam ein Besucher zu dem reichen Mann, und er brachte es nicht über sich, eines von seinen Schafen oder Rindern zu nehmen, um es für den zuzubereiten, der zu ihm gekommen war. Darum nahm er dem Armen das Lamm weg und bereitete es für den Mann zu, der zu ihm gekommen war." (2Samuel 12, 2-4). David ereifert sich über die Geschichte und ruft: "So wahr der Herr lebt: Der Mann, der das getan hat, verdient den Tod." (2Samuel 12, 5). Natan aber sagt: "Du selbst bist der Mann." (2Samuel 12,7). Daraufhin bekennt David: "Ich habe gegen den Herrn gesündigt." (2Samuel 12,13). Für David dreht sich an dieser Stelle die gesamte Situation um, er erkennt: es ist meine Sache, mein Fehltritt, der hier angeprangert wird. Jeder wird sich leicht vergegenwärtigen können, wie David zumute gewesen sein muß, als ihm klar wird: dieser Natan spricht ja von mir. Eben dies ist die Nuance der Subjektivität. Schmitz erklärt sie als affektivleibliches Betroffensein. Sie muß nicht im Zusammenhang von Moralpredigten zum Vorschein kommen, es kann sich auch um ganz andere, frohe oder traurige Nachrichten handeln. Worauf es ankommt, ist einzig diese blitzartige Einsicht: Ich bin es ja, um den es geht. Sie kommt durch einen 23 Sprung zustande, plötzlich und schockartig. Man sieht es nicht Schritt für Schritt ein, daß es um einen selbst geht, sondern mit einem Male oder gar nicht. Subjektivität ist keine kontinuierliche Summierung von objektiven Tatsachen, auch keine besonders komplexe Anordnung derselben, sondern etwas ganz anderes. Sie läßt sich deshalb durch Begriffe wie Standpunkt oder Perspektive, die ja nichts anderes sind, als besonders komplizierte Zusammenstellungen von Tatsachen, nicht adäquat verstehen. Der Sprung, der zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven liegt, wird auf diese Weise verdeckt. Ich habe eine alte Geschichte verwandt, um zu erklären, was Schmitz unter Subjektivität versteht. Man hätte auch neuere Geschichten wählen können. Die vom Propheten Natan angewandte Technik ist bis in unsere Tage frisch geblieben. Wenn in Kriminalfilmen die Stunde der Aufklärung kommt, dann gehen die Beamten oder Privatdetektive oft ähnlich vor wie der Natan im alten Testament. Denn oft wird es so gemacht, daß der Kommissar die Verdächtigen zusammenbittet und mit gespielter Naivität erzählt, welche Irrwege er bei seinen Versuchen, den Fall zu lösen, unternommen hat, welche verkehrten Hypothesen er verfolgen und wieder verwerfen mußte. Bis er schließlich auf die wahre Geschichte zu sprechen kommt: In diesem Moment wird dem Mörder klar: Ich bin entdeckt. Niemand kann die Subjektivität eines anderen übernehmen. Ich hatte dies bereits am Beispiel des Schmerzes angedeutet, der ebenfalls eine subjektive Tatsache ist. Den Schmerz eines anderen kann ich unter keinen Umständen zu meinem Schmerz 24 machen. Die Schuld eines anderen kann unter keinen Umständen meine Schuld werden, die Scham, die ein anderer empfindet, kann unter keinen Umständen meine Scham sein, auch wenn ich vielleicht mit ihm mitfühle. Man kann Organe transplantieren, man kann sich den Besitz eines anderen aneignen, aber nicht sein affektive Betroffensein. Subjektivität ist unteilbar. Deshalb ist auch der einzelne als Erzähler in diesen Belangen unvertretbar. Objektive Sachverhalte kann einer so gut aufzählen wie der andere. Aber die eigene Geschichte kann nur der erzählen oder beichten, dem sie widerfahren ist. An diese Beobachtung knüpfen sich viele alte Themen, so zum Beispiel der alte Topos von der unaufhebbaren Einsamkeit der Liebenden. Zwei mögen sich noch so sehr lieben, sie bleiben dabei letztlich einsam, weil sie ihr affektives Betroffensein nicht teilen können. Man könnte auch das alte Thema von der Unübertragbarkeit der Lebenserfahrung anführen. Ich gehe darauf etwas ausführlicher ein, weil sich die große Bedeutung des Themas der Subjektivität daran besonders deutlich zeigt. Es gibt Erfahrungen, die einen als Person nichts angehen: das Wissen etwa, das sich aus Experimenten ergibt, mag oft von dieser Art sein. Solches Wissen läßt sich ohne weiteres in Systemen und Theorien zusammenfassen und in Schulorganisationen weitervermitteln. Dann gibt es aber auch eine höchstpersönliche Art von Erfahrung, genannt Lebenserfahrung. Dies sind Erfahrungen, die unter die Haut gehen, die einen persönlich betreffen. Oft haben solche Erfahrungen etwas Bitteres an sich, es sind Erfahrungen von 25 Enttäuschungen, sie greifen in eine Person ein und graben sie um. Erfahrungen dieser Art sind streng subjektiv, das Wissen, das sich aus ihnen ergibt, läßt sich nicht von der Person ablösen und transportieren. Die Moral, die sich aus Lebenserfahrungen ergeben mag, läßt sich nicht in einzelnen Sätzen beiseitebringen. Sie spiegelt sich in einer veränderten Haltung der Person selbst wider - oder nirgendwo. Der Versuch, Lebenserfahrungen zu objektivieren und anderen zur Verfügung zu stellen, ist ein immer wiederkehrendes tragikomisches Moment in Generationskonflikten. Manchmal mag es gut gemeint sein, wenn man einem anderen schlechte Erfahrungen, die man selbst durchgemacht hat, ersparen will. Oft mag auch ein Machtwille dahinterstecken. Zuletzt muß jedoch jeder die entscheidenden Erfahrungen, um die es ihm geht, selber machen. Das, was für einen Menschen entscheidend ist, kann ihm nicht von anderen vorgesagt werden.15 Die Erkenntnis, die aus solchen Erfahrungen hervorgeht, gibt einen eigenartigen Halt und eine Sicherheit, die anders kaum zu erreichen ist. Nur das, was einen selbst affektiv betroffen macht, hat den deutlichen Charakter der Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, für die man sich verbürgen kann. Es sind nach Schmitz gerade solche subjektive Tatsachen, eben nicht die objektiven, an denen Wirklichkeit offenbar wird. Das Beteiligtsein ist mehr als die Gegenwart eines kontrollierenden Beobachters bei einem Experiment. Die üblichen 15 Vgl. dazu die, soweit ich weiß, einzige Untersuchung des Themas: Hinske 1986. 26 Wertungsverhältnisse werden bei Schmitz umgekehrt: subjektive Tatsachen haben mehr mit Wirklichkeit zu tun, als objektive. 3. Zusammenfassung Ziel des Artikels war es, einen Eindruck der Schmitzschen Leibphilosophie und ihrer Verknüpfung mit seiner Subjektivitätstheorie zu vermitteln. Nicht berücksichtigt werden konnten dabei die komplexen historischen Studien von Schmitz zum Subjektivitätsproblem. Doch der entscheidende Punkt ist wohl deutlich geworden: Die Umformung der Subjektivitätsbegriffs, die durch die Einführung des Begriffs der subjektiven Tatsache vollzogen wird, und seine Verknüpfung mit einer eigenwilligen Leibphilosophie. In der ersten Hinsicht hat die Schmitzsche Philosophie gewisse Entwicklungen der neueren analytischen Philosophie (Nagel, Castaneda) vorweggenommen, in letzterer Hinsicht setzt sie Tendenzen der klassischen Phänomenologie fort, präzisiert sie und stellt sie in einen grösseren Zusammenhang. Doch abgesehen von den kognitiven Fortschritten, die das Schmitzsche Werk hinsichtlich des Subjektivitätsbegriffs verbuchen kann, sollte auch die darüber hinausgehende politische Absicht des Autors, seine „Botschaft“ sozusagen, nicht übersehen werden. Denn die Beschäftigung mit dem Leib ist nicht nur ein Selbstzweck. Sie dient vielmehr dazu, auf Möglichkeiten des Lebens aufmerksam zu machen, die in einer Kultur, die auf Intellektualität und einen verengten Begriff von Rationalität fixiert ist, verschüttet sind. Schmitz 27 strebt eine manchmal an den Zen-Buddhismus erinnernde Haltung des gelassenen Sich-Einlassens auf den Augenblick an. Das Leben müsse in der leiblichen Gegenwart verankert werden: „Dabei wird eine grosse Fülle von Lebensmöglichkeitn für bewusste Aneignung frei. [...] Unter diesen Möglichkeiten ist die des Sichfindens im Leiblichsein und der Selbstverwirklichung darin besonders wichtig.“16 Literatur Schriften von Hermann Schmitz Schmitz, Hermann 1964: System der Philosophie, Bd. I: Die Gegenwart. Bonn. Schmitz, Hermann 1965: System der Philosophie, Bd. II, 1. Teil: Der Leib. Bonn. Schmitz, Hermann 1966: System der Philosophie, Bd. II, 2. Teil: Der Leib im Spiegel der Kunst. Bonn. Schmitz, Hermann 1967: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 1. Teil: Der leibliche Raum. Bonn. Schmitz, Hermann 1968: Subjektivität. Beiträge zur Phänomenologie und Logik. Bonn. Schmitz, Hermann 1969: System der Philosophie Bd. III, 2: Der Gefühlsraum. Bonn. Schmitz, Hermann 1973: System der Philosophie, Bd. III, 3: Der Rechtsraum. Praktische Philosophie. Bonn. 16 Schmitz 1972: 36. 28 Schmitz, Hermann 1977: System der Philosophie Bd. III, 4: Das Göttliche und der Raum. Bonn. Schmitz, Hermann 1978: System der Philosophie, Bd. III, 5. Teil: Die Wahrnehmung. Bonn. Schmitz, Hermann 1980 a: System der Philosophie, Bd. IV: Die Person. Bonn. Schmitz, Hermann 1980 b: System der Philosophie Bd. V: Die Aufhebung der Gegenwart. Bonn. Schmitz, Hermann 1980 c: Neue Phänomenologie. Bonn. Schmitz, Hermann 1981: Phänomenologie - Vision oder Methode? Rezension von: Heinrich Rombach: Phänomenologie des gegenwärtigen Bewußtseins. Freiburg/München 1980. In: Philosophische Rundschau 1981: S. 251-259. Schmitz, Hermann 1990: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn. Schmitz, Hermann 1992: Leib und Gefühl. Paderborn. Schmitz, Hermann 1994: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn. Schmitz, Hermann 1996a : Diskussionen mit japanischen Philosophen in Kyoto. Tonbandabschrift, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Dr. Hans Werhahn, Bonn. Schmitz, Hermann 1996b: Husserl und Heidegger. Bonn. Mit Ausnahme des Bandes Leib und Gefühl, der bei Junfermann (Paderborn) erschienen ist, sind die Arbeiten von Hermann Schmitz sämtlich vom Bouvier-Verlag in Bonn verlegt worden. 29 Sekundärliteratur (Auswahl) Böhme, Gernot 1995: Atmosphäre. Frankfurt a.M. (Besonders Teil I) Böhme, Gernot 1997: Die Phänomenologie von Hermann Schmitz als Phänomenologie der Natur? In: Gernot Böhme / Gregor Schiemann: Phänomenologie der Natur. Frankfurt a.M., S. 133148. Breuer, Ingeborg / Leusch, Peter / Mersch, Dieter: Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie. (Leiblicher Logos. Hermann Schmitz´ Philosophie der Betroffenheit. S. 195-208.) Hamburg. Gamm, Gerhard 1994: Flucht aus der Kategorie. Frankfurt. Großheim, Michael / Waschkies Hans-Jürgen 1995: Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für Hermann Schmitz. Bonn. Großheim, Michael 1995 (Hg.): Leib und Gefühl: Beiträge zur Öffnung der Anthropologie. Berlin. Großheim, Michael 1994 (Hg.): Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie in der Diskussion. Berlin. Großheim, Michael 1994: Perspektive oder Milieu von Sachverhalten? Zur Theorie der Subjektivität. In: Groheim 1994 (Hg.), S. 31-49. Hastedt, Heiner 1995: Rezension von: H.S. : Leib und Gefühl; im Rahmen einer Sammelrezension: Neuerscheinungen zum Leib-Seele-Problem. In: Philosophische Rundschau 42, S. 254-263 (257f.). Hauskeller, Michael 1995: Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung. Berlin. Rappe, Guido 1995: Archaische Leiberfahrung. Der 30 Leib in der frühgriechischen Philosophie und in außereuropäischen Kulturen. Berlin. Rentsch, Thomas 1993: Rezension von: H.S.: Der unerschöpfliche Gegenstand. In: Philosophische Rundschau 40, S. 120-128. Soentgen, Jens 1995: Die Philosophische Methode als Jagdzauber. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik. Thomas, Philipp 1996: Selbst-Natur-sein: Leibphänomenologie als Naturphilosophie. Berlin.