Die Emergenz kollektiver Akteure in Netzwerken am Beispiel

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Berlin, Januar 2011
Vortragsvorschlag für die Tagung „Netzwerke zwischen Gesellschaft und sozialen Situationen“
der DGS Sektionen „Soziologische Netzwerkforschung“ und „Soziologische Theorie“ an der
RWTH Aachen im Mai 2011:
Die Emergenz kollektiver Akteure in Netzwerken am Beispiel sozialer Bewegungen
Jan Fuhse, Universität Bielefeld
Der Vortrag fragt aus netzwerktheoretischer Perspektive nach den Konstitutionsbedingungen für
kollektive Akteure und diskutiert diese am Beispiel sozialer Bewegungen. Dabei wird davon ausgegangen, dass alle sozialen Strukturen auf der Basis von Kommunikationsprozessen entstehen
und diese strukturieren. Kollektive Akteure entstehen entsprechend aus bestimmten Konstellationen für Kommunikation heraus und sorgen für eine spezifische Ordnung von Netzwerken. Dabei
verdichten sich soziale Netzwerke im Inneren eines kollektiven Akteurs im Rahmen einer „Involution“, in der sich Kommunikation zunehmend an einer kollektiven Identität im Netzwerk orientiert und auf diese Weise eine Sinngrenze nach außen etabliert. Zugleich wird das Kollektiv
zum Zurechnungspunkt für Handlungen im Netzwerk mit anderen Kollektiven – soziale Bewegungen werden zu politischen Akteuren in der Arena der politischen Öffentlichkeit. Auf diese
Weise konstituiert sich eine Mehrebenenarchitektur des Sozialen, in der Prozesse und Strukturen
auf einer Ebene (z.B. innerhalb von Kollektiven) mit solchen auf den darüber- oder darunterliegenden Ebenen (z.B. dem Netzwerk zwischen Kollektiven) in Wechselwirkung stehen.
Zentrale Argumente
1. In der Soziologie hat sich der Gemeinplatz etabliert, dass nur Individuen handeln können und
als Triebfedern des Sozialen infrage kommen. Kollektives oder korporatives Handeln in Gruppen
oder in Organisationen, so die auf Max Weber zurückgehende Vorstellung, muss immer auf Einzelhandeln und die diesem zugrunde liegenden individuellen Dispositionen zurückgeführt werden. In journalistischen Beschreibungen und in alltagsweltlicher Kommunikation tauchen jedoch
Länder, Regierungen, Parteien, Unternehmen, und auch soziale Bewegungen als Akteure mit
bestimmten Interessen und mit angebbaren Folgen ihrer Handlungen auf.
Gegen den Mainstream der Handlungstheorie postuliert eine Minderheitenposition, dass Handlungen erst durch Zurechnung von beobachtbaren Vorgängen auf soziale Einheiten als deren Urheber und durch die Zuschreibung von entsprechenden Dispositionen entstehen (etwa bei
Schneider, Schulz-Schaeffer und anderen). Wenn Handlungen aber in erster Linie Ergebnisse
von Zuschreibungsprozessen sind, dann verschwindet der von der Handlungstheorie postulierte
wesensmäßige Unterschied zwischen individuellen und kollektiven oder korporativen Akteuren.
2. Entsprechend müsste nach den sozialen Bedingungen und nach den Folgen solcher Zurechnungen gefragt werden. An dieser Stelle kommt die Netzwerktheorie ins Spiel: Wenn Handlungen und entsprechende Dispositionen auf Akteure zugerechnet werden, dann sorgt dies für eine
sinnhafte Relationierung dieser Akteure – insbesondere, wenn auf partikulare Andere gerichtete
Motive zugeschrieben werden. So führt der Vorschlag eines gemeinsamen Kinobesuchs unter
Arbeitskollegen dazu, bei der oder dem Vorschlagenden nicht nur eine Vorliebe für bestimmte
Kinofilme sondern auch ein freundschaftliches oder sogar romantisches Interesse an der oder dem
Anderen zu vermuten. Auf diese Weise entstehen im Fortlauf der Kommunikation Erwartungen,
mit denen Identitäten sinnhaft ins Verhältnis zueinander gesetzt werden – die Sinnstruktur eines
Netzwerks (Fuhse 2009). Wie in der Akteur-Netzwerk-Theorie werden die in einem Netzwerk
verbundenen Einheiten in den dort ablaufenden Prozessen erst definiert, indem sie zueinander
relationiert werden. Und der Fortlauf der Kommunikation wird genau durch dieses sinnhaft konstruierte Netzwerk von Erwartungen wesentlich bestimmt.
3. Der entscheidende Prozess für die Aufnahme eines Knotens in ein Netzwerk ist also, dass dieser
Knoten (a) im Netzwerk als Einheit betrachtet wird (also nicht auseinander fällt), dass (b) Phänomene als Folgen von Handlungen des Knotens gesehen werden, und (c), dass diese Handlungen auf spezifische Handlungsdispositionen und -kapazitäten des Akteurs zugerechnet werden.
Dies geschieht der Netzwerktheorie folgend in der Form von Narrativen (Stories). Harrison White zufolge bestehen Netzwerke aus Stories, über die Identitäten im Verhältnis zueinander definiert
(und dadurch miteinander verbunden) werden (White 2008: 27ff). Der Story-Begriff bleibt bei
White aber recht schwammig und ungenau. Charles Tilly zufolge prägen Stories das Soziale als
allgegenwärtige Antworten auf die Frage, warum etwas Bestimmtes passiert ist. Im Gegensatz zu
den komplexeren wissenschaftlichen Erklärungen (in denen strukturelle Zwänge und nichtintendierte Handlungsfolgen eine wichtige Rolle spielen) operiert alltagsweltliche Kommunikation meist mit sogenannten „standard stories“. In diesen handeln Individuen in erster Linie aus
innerem Antrieb (und nicht aus strukturellen Zwängen) heraus, und Handlungsfolgen werden
meist direkt (ohne nicht-intendierte Effekte) auf Intentionen von Akteuren zurückgeführt (Tilly
2002). Bei Tilly liegen solche Stories auf der Ebene des kommunizierten Sinns (in den Transaktionen, die etwa in publizierten Dokumenten oder in Protestaktionen beobachtbar sind) und legen
die Identitäten der als handelnde Akteure beobachteten Einheiten fest.
4. Der wichtigste Gegenstand von Tillys Überlegungen sind soziale Bewegungen. Anders als bei
individuellen Akteuren ist deren Einheit nicht unmittelbar einsichtig – die Einheit von sozialen
Bewegungen als kollektiven Akteuren wird erst durch das erfolgreiche Story-Telling realisiert. In
diesem wird durchaus sehr unterschiedliches Verhalten der Mitglieder als koordiniertes Handeln
des Kollektivs dargestellt. Entsprechende Symbole und Parolen flaggen Protestformen als kollektives Handeln (und nicht als isolierte Einzelhandlungen) aus (Ahlemeyer 1995: 148). Mit Symbolen wie der lachenden Sonne der Anti-Atomkraftbewegung oder den grünen Tüchern der iranischen Opposition wird eine Einheit in der Unterschiedlichkeit von Einzelpersonen und deren
Verhalten konstruiert, die gleichzeitig die Außengrenze zur Umwelt zieht. Die „kollektive Identität“ existiert zunächst einmal symbolisch, auf der Sinnebene.
Bei sozialen Bewegungen wird die grundlegende Umkämpftheit dieser Präsentation des Kollektivs
als Akteur besonders deutlich: Tilly zufolge müssen soziale Bewegungen in ihrer Selbstbeschreibung im Sinne des WUNC-Prinzips vier Punkte betonen: „We are Worthy, United, Numerous,
and Committed.“ (2002: 120) Für die Konstruktion von kollektiver Handlungsfähigkeit sind
neben der rein zahlenmäßigen Größe („numerous“) die Einheit der Bewegung („united“) und das
Commitment der Einzelmitglieder entscheidend. Bei beiden geht es um die Beobachtung von
Verhalten mit Blick auf die Unterscheidung zwischen Einzelhandeln und kollektivem Handeln.
5. Durch die Zuschreibung von Handlungen auf das Kollektiv entstehen Erwartungen bezüglich
des zukünftigen Verhaltens. Dabei wird wie bei individuellen Akteuren angenommen, dass sowohl die Handlungskapazitäten (das „Vermögen“) als auch die Interessen von kollektiven Akteuren relativ konstant sind. Dies gilt auch für relationale Verortungen, mit denen sich kollektive
Akteure im Verhältnis zueinander positionieren: Mit der Konstruktion von Werten und Interessen (als den Motiven von kollektiven Akteuren) im Rahmen von kommunikativem Story-Telling
relationieren sich Protestbewegungen im Ensemble politischer und vorpolitischer Akteure.
Auch hier dienen die sinnhaften Erwartungen im Netzwerk als Orientierung und machen bestimmte Kommunikation wahrscheinlich und andere unwahrscheinlich. Somit können nicht nur
individuelle, sondern auch kollektive (und korporative) Akteure als Knoten in Netzwerken fungieren. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Netzwerkforschung über die Mikro- und Meso-Ebene hinaus auch Makro-Netzwerke etwa zwischen Firmen oder zwischen politischen Akteuren in den Blick nehmen kann (Laumann 1979). Daraus ergibt sich eine Mehrebenenarchitektur des Sozialen, in der sich Netzwerke von individuellen Akteuren zu kollektiven
Akteuren verdichten, diese im Wechselspiel mit korporativen und anderen kollektiven Akteuren
stehen und auf der dritten Ebene den Staat bilden, der wiederum in ein Netzwerk mit anderen
Staaten eingebunden ist.
6. Dabei bestehen schon auf wichtige Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Ebenen.
Die Konstitution kollektiver und korporativer Akteure beruht einerseits auf der internen Struktur
derselben und andererseits auf ihrer Anerkennung im Netzwerk mit anderen kollektiven und
korporativen Akteuren. Zum ersten Punkt: Eine Reihe von Forschungsarbeiten hat aufgezeigt,
dass intern kohäsive Netzwerke mit starken Verbindungen zwischen den beteiligten Bewegungsorganisationen wesentlich zum Erfolg sozialer Bewegungen beitragen (Diani / McAdam 2003).
Im Sinne von Stephan Fuchs entstehen solche kohäsiven und zentralisierten Netzwerke durch
eine „Involution“ (2001; Fuhse 2003: 13ff). Die Orientierung an einer gemeinsamen Identität
sorgt für eine Verdichtung des Netzwerks im Inneren und eine Ausdünnung der Beziehungen
nach außen – eine Zentrum-Peripherie-Differenzierung. Das Postulat der kollektiv Identität geht
einher mit einer symbolischen Grenzziehung nach außen (u.a. mit Symbolen, s.o.), die sich zunehmend auch in der Netzwerkstruktur wieder findet (auch wenn die sozialen Beziehungen nie so
perfekt geordnet ist wie die Sinnebene der kollektiven Identität). Nur wenn dies gelingt und die
interne Kommunikation tatsächlich auf die kollektive Identität (und Differenz) hin ausgerichtet
ist, kann die soziale Bewegung nach außen als „united“ und „committed“ auftreten.
Anders herum ist auch die Anerkennung von außen – also die erfolgreiche Etablierung eines kollektiven Akteurs im Story-Telling des übergreifenden Netzwerks – nötig für die Persistenz der
Involution im Inneren. Auch der Konflikt, auf deren integrative Wirkung schon Georg Simmel
und Lewis Coser hingewiesen haben, bedeutet eine solche Anerkennung. Soziale Bewegungen
verschwinden entsprechend nicht nur bei mangelnder Resonanz, sondern auch bei Erfolg (durch
den der Konflikt aufgelöst wird).
7. Es zeigt sich also am Beispiel von kollektiven Akteuren, dass interne Prozesse innerhalb eines
Knotens im Wechselverhältnis mit Prozessen im übergreifenden Netzwerk stehen. Dies lässt sich
auch bei persönlichen Netzwerken nachweisen, die einerseits auf Irritationen durch individuelle
Akteure reagieren müssen (auf diese sogar angewiesen sind) und andererseits deren Disziplinierung realisieren. Solche persönlichen Netzwerke können sich dann graduell im Rahmen einer
Involution zu kollektiven Akteuren schließen oder im Rahmen von Organisation zu korporativen
Akteuren werden. Dies hängt auch von den Prozessen im Netzwerk zwischen kollektiven und
korporativen Akteuren ab – also vom Story-Stelling in der politischen Öffentlichkeit.
Schließlich sind soziale Bewegungen (als ein Beispiel von kollektiven Akteuren) mit anderen kollektiven und korporativen Akteuren (Parteien, Verwaltungen, Lobby-Gruppen) im Netzwerk der
Politik miteinander verknüpft. „Failing“ oder „failed states“ zeigen, dass die Integration von kollektiven und korporativen Akteuren zu Staaten nur graduell ist und etwa von Guerillagruppen
oder Separatisten (auch dies sind soziale Bewegungen) infrage gestellt wird. Dies kann einerseits
dazu führen, dass Regierungen oder auch Staatswesen im internationalen Staatennetzwerk nicht
anerkannt werden. Andererseits ist diese Anerkennung im internationalen Netzwerk wichtig für
die interne Stabilität und Integration. An diesem Beispiel zeigen sich Wechselverhältnisse zwischen kollektiven und korporativen Akteuren und deren Einbindung in Netzwerke auf drei Ebenen: innerhalb von sozialen Bewegungen, innerstaatlich und im internationalen Netzwerk.
Literatur
Ahlemeyer, Heinrich 1995: Soziale Bewegungen als Kommunikationssystem, Opladen: Leske + Budrich.
Diani, Mario / Doug McAdam (Hg.) 2003: Social Movements and Networks, Oxford: Oxford University Press.
Fuchs, Stephan 2001: Against Essentialism, Cambridge / Mass.: Harvard University Press.
Fuhse, Jan 2003: „Systeme, Netzwerke, Identitäten. Die Konstitution sozialer Grenzziehungen am Beispiel amerikanischer Straßengangs“ Schriftenreihe des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart 1/2003.
Fuhse, Jan 2009: „Die kommunikative Konstruktion von Akteuren in Netzwerken“ Soziale Systeme 15, 288-316.
Laumann, Edward 1979: „Network Analysis in Large Social Systems“ in: Paul Holland / Samuel Leinhardt (Hg.):
Perspectives on Social Network Research, New York: Academic Press, 379-402.
Tilly, Charles 2002: Stories, Identities, and Political Change, Lanham: Rowman & Littlefield.
White, Harrison 2008: Identity & Control; How Social Formations Emerge, Princeton: Princeton University Press.
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