1 Ethiche Entscheidungen – Multiplikatorentreffen LKA, am 15.03.14 Wie kommen wir zu ethischen Entscheidungen, die gemeinsam getragen werden können? 1. Was ist eine ethische Entscheidung? Während Dogmatik die Lehre beschreibt, fragt die Ethik nach den Möglichkeiten unseres Handelns. Als Disziplin ist sie die Theorie der Moral. Begriff und Sache der Moral sind abgeleitet vom lateinischen mos = Sitte, also das, was in einer Gesellschaft als Verhaltensnormen gelten soll. Solche Normen ändern sich, was sich etwa am Verständnis der Sklavenordnung bis hin zu den Menschenrechten zeigen lässt. Was Gut oder Böse ist, welches Verhalten und Handeln für alle gut oder schlecht ist, muss also immer neu entschieden werden. Diese Aufgabe obliegt der Ethik, die allgemein definiert werden kann als „Theorie der menschlichen Lebensführung“ (Trutz Rendtorff). Die ethische Aufgabe liegt also anders als die dogmatische- im „Trachten nach dem gelingendem Leben, mit und für andere, in gerechten Institutionen." (Paul Ricoer). Stärker noch als dogmatische sind also ethischen Entscheidungen abhängig vom Verhältnis von Theologie und Kultur. Ethische Entscheidungen können nicht absehen von kulturellen Entwicklungen einer Gesellschaft: So ist es von Bedeutung, ob die Frage der Lebensformen in einer Diktatur oder offenen Demokratie bedacht werden, ob die Frage der Menschenrechte und –würde (Diskriminierungsdebatte) ausgeprägt ist, welche staatliche Rechtsgebung vorliegt oder welche sozio-kulturellen Hintergründe eine Rolle spielen. Die Beachtung solcher Gegebenheiten ist keine Auslieferung an den Zeitgeist, sondern das Ernstnehmen des Inkarnatorischen unseres Glaubens. Er will und muss innerhalb der je konkreten Lebenswirklichkeiten zur Sprache kommen und angeeignet werden. Dem entspricht im Übrigen auch der ursprüngliche Sinn des Wortes „Ethik“. Im Griechischen bedeutet „aethos“ den „gewohnten Aufenthalt“, den Wohnort oder die Heimat. Sprachlich naheliegend bedeutet das griechische „ethos“ ebenfalls „Gewohnheit“ – hier im Sinne der „langen Übung einer Sitte“. Auch im Deutschen steckt in der „Gewohnheit“ das „Wohnen“. Ethische Entscheidungen wollen also das gemeinsame Wohnen in einem Kulturkreis oder einer Gesellschaft angesichts unterschiedlicher und sich verändernder Bedingungen und Meinungen ermöglichen. 2. Wie gelangen wir zu solchen Entscheidungen? Im kirchlichen Raum lassen sich drei Lösungswege beschreiben(die zusammenwirken können, aber unterschieden werden müssen): a) Feststellung eines magnus consensus (in abgeschwächter Form - der Einmütigkeit). Da der magnus consens aber (dogmengeschichtlich) keine juristische, sondern eine theologische Kategorie ist, kann man ihn nicht künstlich bzw. mit menschlichen Mitteln herstellen. Er muss sich vielmehr (als generatiosübergreifende Übereinstimmung in der Auslegung der Schrift) kraft des Heiligen Geistes einstellen. Insofern kann und soll man ihn im Gebet erflehen und als Ziel vor Augen haben. Als Schritt zur Entscheidungsfindung taugt er aber nicht, weil er sich einem methodischen Instrumentarium entzieht. b) Konsensfindung durch Diskurs/Dialog. Das Ziel solcher Dialoge (Lehrgespräche) sind z.B. Konsenspapiere, die – sofern sie nicht einmütig 2 angenommen werden – zur Abstimmung gebracht werden (müssen). Das Modell der Entscheidungsfindung durch Abstimmung ist der Parlamentarismus. Da Abstimmungen aber zwangsläufig Minderheiten exkludieren, sind sie in theologischen und ethischen Fragen allemal nur als ultima ratio (letzte Möglichkeit) einzusetzen. c) Einheit bzw. Einmütigkeit durch übergeordnete Kategorien – etwa dem Geist der Liebe oder der Rechtfertigung durch Gott. Diese Entscheidung erhebt nicht den (wie auch immer abgestimmten) Konsens zum obersten Prinzip ethischer Urteilsfindung, sondern akzeptiert den Kompromiss unter dem gemeinsamen Dach einer übergeordneten Kategorie. Als biblisches Modell darf hierfür das Apostelkonziel gelten. 3. Der Kompromiss als ethische Kategorie Im Raum der Kirchen hat der Kompromiss selten eine gute Presse. Er gilt als Schwäche, als Ausdruck der Hilflosigkeit oder falscher Anpassung. Vor allem kirchliche Stellungnahmen zu umstrittenen ethischen Fragen (Schwangerschaftsabbruch, Stammzellenforschung oder gleichgeschlechtlichen Partnerschaften) werden daher hart kritisiert - Eindeutigkeit statt Kompromiss geriert nicht selten zum Kampfbegrifft. Schon ein Blick in die Theologiegeschichte des vergangenen Jahrhunderts zeigt, dass die Kritik am Kompromiss scharfsinnige Verfechter hat. So formulierte Bonhoeffer in seiner Ethik: „Christlicher Kompromissgeist entspringt immer dem Haß gegen das Letzte.“ 1 Gemeint ist der Haß gegen das letzte, entscheidende Wort Gottes. Der Kompromiss würde, so Bonhoeffer, der klaren Ansage Gottes aus dem Wege gehen. Er flieht in die Anpassung und bedauert die gefallene Welt als unveränderbar. Darum hasse der Kompromissgeist umgekehrt den unruhigen Radikalismus, der seinerseits die Welt verbessern will, aber die Barmherzigkeit Gottes nicht ertragen könne. So kommt Bonhoeffer zu der verdichteten Aussage: „Der Radikalismus haßt die Zeit, der Kompromiss hasst die Ewigkeit.; der Radikalismus haßt die Geduld, der Kompromiss haßt die Entscheidung; der Radikalismus haßt die Klugheit, der Kompromiss haßt die Einfalt; der Radikalismus haßt das Maß, der Kompromiss haßt das Unermeßliche; der Radikalismus haßt das Wirkliche, der Kompromiss haßt das Wort.“2 Beide Lösungen sind nach Bonhoeffer christuswidrig. Beide sind Ausdruck der Sünde, der Unerlöstheit. Gegen diese harsche Kritik am Kompromiss ist aber zweierlei festzuhalten: Zum einen hat Bonhoeffer auch hier den Nationalsozialismus mit seiner exklusiven Weltanschauung im Blick. Zum anderen unterläge auch Bonhoeffer heute (in einer offenen Demokratie) dem Problem, dass die Ablehnung des Kompromisses zugunsten der Eindeutigkeit immer auch Einseitigkeit bedeutet. Eindeutigkeit wird ja nur so lange befürwortet, als sie die eigene Position bestätigt. Tut sie das nicht, führt Eindeutigkeit zur Spaltung und untergräbt damit ein gemeinsames Wohnen bei unterschiedlichen Auffassungen. Der Ruf nach Eindeutigkeit will zwar Pluralität eingrenzen oder gar vermeiden. Er führt aber - wider Willen - zu noch mehr Pluralität, eben weil er andere Positionen ausschließt und in eine meist unkontrollierbare Atomisierung entlässt. 1 2 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik. München, Kaiser 1949, S. 82 (DBW 6, 1998, S. 144f) aaO. S. 83 3 Insofern darf der Kompromiss nicht als Schwäche, sondern als Stärke gelten (auch und gerade, weil „ein guter Kompropmiss sich dadurch auszeichnet, dass keiner mit ihm zufrieden ist“). Stark ist er übrigens auch im Wortsinn: Das lateinische „compromissum“ bedeutet soviel wie „Einander Versprechen“ (compromittere = versprechen). Positiv gewendet also: „Der Kompromiss im Umgang mit anderen lebt von der Anerkennung des anderen und zielt auf sie. Er setzt damit Verschiedenheit voraus und erklärt sie nicht zum Defizit.“ 3 4. Zur Figur des Kompromisses und seiner theologischen Verortung Auch H. Thielicke und andere (W. Trillhaas, E. Troeltsch) verankern den Kompromiss in der gefallenen Welt; er ist eine Art Notordnung, die die Negativfolgen des Zusammenlebens aufzufangen versucht. Theologisch ist diese Verortung möglich, aber nicht zwingend. Die Bereitschaft zum Kompromiss (nicht zum Kompomissgeist!) kann ebenso gut als Konsequenz der Würde des Menschen (als Ebenbild Gottes) oder - neutestamentlich - der Rechtfertigungslehre begriffen werden. Die Zusage der Rechtfertigung des Sünders bedeutet ja, dass wir einander auch in ethischen Konflikten gelten lassen können, selbst wenn ein Konsens nicht zu erzielen ist. Unter dem Aspekt der geschenkten Rechtfertigung wäre jeder ethische Rigorismus womöglich wiederum eine Gestalt sündiger Selbstbehauptung. Biblische Texte wie die goldenen Regel (Mat 7,12), das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mat 13,24ff), die Aufforderung zur Vergebungsbereitschaft (Mat 18,22f) oder das Verbot des Richtens (Rö 2,1ff; 1. Kor 4,4) legen die theologische Verortung des Kompromisses in der Rechtfertigungsbotschaft nahe. Für die Kirche wegweisend darf in diesem Zusammenhang das erste Apostelkonzil (zwischen 44 und 49 in Jerusalem) gelten. Paulus schildert es in Gal. 2 und Lukas in Apg. 15 - auch wenn es historisch eher als Konvent, also als „präsynodaler Vorgang“ (A. Fischer/A. Lumpe) verstanden werden muss. Im Ergebnis legen „die das Ansehen hatten“ (Gal. 2,2.6) dem Paulus nichts auf; die „als Säulen galten“ (Gal. 2, 9) reichen sich die Hand und wurden miteinander eins. Ausgangspunkt war ein heftig entbrannter Streit um die „die Wahrheit des Evangeliums“ (Gal. 2, 5b) und seiner Interpretation, genauer um die Geltung jüdischer Ordnungen mit Gesetzeskraft (insbesondere der Beschneidung). Der Dissens bestand also im Maß der Freiheit, mit der das Evangelium auszulegen ist. Man einigte sich aber, dass die Gemeinschaft höher einzuschätzen ist als die unterschiedlichen Auslegungen, weil beiden Parteien „das Evangelium anvertraut ist“ (Gal. 2.7). Beide Seiten sehen sich also als Beschenkte des Evangeliums. Diese gegenseitige Anerkennung der Gnadengabe führt daher zu keiner Trennung, sondern zur Anerkennung der Freiheit in der Auslegung durch den Anderen. 3 Schwarke, Christian: Freiheit oder faule Kompromisse? Über politische Entscheidungen auf dem Feld der Bioethik. In: M. Schmeitzner/H. Wiedemann (Hg): Mut zur Freiheit. Festschrift zum 80. Geburtstag von Wolfgang Marcus, LIT 207, S. 89 4 Abschließend daher noch einmal zur Figur des Kompromisses am Beispiel der Lebensformen und Sexualethik: Einig sind wir uns sowohl in der Anerkennung der allen Menschen geltenden Rechtfertigungsbotschaft, als auch darin, dass die menschliche Sexualität (als Teil der theologischen Anthropologie) der Spannung von Sünde und Erlösung – und insofern biblischen Maßstäben unterliegt. Uneins sind wir uns (sozusagen unter diesem gemeinsamen Dach), wie das Wort Gottes hier im konkreten Einzelfall auszulegen ist (etwa Wiederverheiratung oder Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften). Da über das jeweils zugrunde liegende Schriftverständnis, seine Argumentationslinien wie auch empirische Aspekte gegenwärtig kein Konsens zu erzielen ist, kann nur ein Kompromiss das Zusammenleben sowie - theologisch - die Einheit der Kirche sichern. Er hat seine Stärke darin, dass er sowohl die unterschiedlichen Argumentationslinien beider Positionen anerkennt (und die Gewissen schützt) als auch den Ausgangspunkt, nämlich die Gültigkeit des Wortes Gottes hinsichtlich unserer Lebensfragen. Das Leitbild der Ehe mit ihren Kriterien der Treue, Hingabe und dem Willen zur Dauer kann unter diesem gemeinsamen Dach auch der Anerkennung anderer Lebensformen dienen. Theologisch jedenfalls hat die Freiheit der Anerkennung ihren letzten Grund in der außerhalb unserer Möglichkeiten liegenden Rechtfertigung als Geschenk an den Menschen durch Gott. Peter Meis, März 2014