Der Spiegel und der Turm. Grundzüge des spekulativen Materialismus Martin Küpper ([email protected]) Vortrag gehalten auf der Tagung: Materialistische Dialektik: Marx-Lektüren im Dialog, 30./31.10.2015 an der Freien Universität Berlin Problemgeschichtlicher Horizont Spekulation und Materialismus sind seit Ausbruch der letzten großen Krise des Kapitalismus 2007 zur Losung in Philosophie, Kunst und Literatur avanciert. 1 Mit beidem verbindet sich die Hoffnung auf eine herbeigesehnte Kehrtwende: intellektuell wie institutionell soll die Postmoderne abgelost werden. Was als Modernisierung des gegenwärtigen bürgerlich-intellektuellen Paradigmas durch die unumwundene Anerkennung der Materialität der Wirklichkeit erscheint, zeichnet sich vor allem durch philosophiehistorische Kurzsichtigkeit aus, denn das Konzept des spekulativen Materialismus ist zuerst von Ernst Bloch in Ausein andersetzung mit Georg Lukacs geprägt worden. Lukacs hatte in »Geschichte und Klassenbewußtsein« Marxismus vornehmlich als Gesellschaftslehre konzipiert. So versuchte er dort logische und methodologische Probleme zuweilen in Geschichtlichkeit aufzulosen: „Rein logische, rein methodische Untersuchungen bezeichnen also bloß den geschichtlichen Punkt, an dem wir stehen: unsere vorläufige Unfähigkeit, sämtliche Kategorienprobleme als Probleme der sich umwälzenden geschichtlichen Wirklichkeit aufzufassen und darzustellen.“ (Lukacs 1923, S. 223, Anm.1). Zur Scheinproblematik degradiert, gerät ihre mogliche konstitutive Rolle für die marxistische Theoriebildung aus dem Blickfeld. Betont Lukacs richtigerweise die ideologische Funktion rein logischer Untersuchungen, die die Historizität der Kategorien unterschlagen – in denen sich das bestimmte historische Verhältnis der Menschen untereinander und zur Natur ablesen lässt, wobei das Fortschreiten der kategorialen Grundsätze „namentlich de[s] gewaltige[n] und immer schneller voranstürmende[n] Fortschritt[s] der Naturwissenschaft und der Industrie“ (MEW 21, 277) geschuldet ist und ihren Ausgang in der gegenständlichen, verändernden Tätigkeit des Menschen haben – so schüttet Lukacs das Kind mit dem Bade aus, indem der Marxismus formalen Gesichtspunkten wenig Aufmerksamkeit schenken soll. Lukacs trifft dann auch die Kritik Blochs, der 1923 in seinen sog. »Zehlendorfer Manuskripten« folgendes bemerkt: „Gegen diese bedeutende Übertreibung der material übergehenden 1 Das Gravitationszentrum ist hierbei Quentin Meillassoux: Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, Berlin/Zürich: diaphanes 2014 (Neuauflage). Tendenz alles bloss Richtigen lässt sich nur (…) betonen, dass alle Erkenntnis und auch die vollig materiale Erkenntnis (…) ihren Start im Urteil und Begriff hat, als welche die gesamte materiale Genesis des mit sich Identischwerdens, also der Wahrheit und Wirklichkeit, zunächst in der partialen Sphäre der Richtigkeit vorzubilden“ ist (Bloch 2001, S. 37). Auch ein Materialismus, der Philosophie sein mochte, hebt also nicht mit den Gegenständen außerhalb des Denkens an (auch wenn sie sein Hauptpunkt sind), sondern beim Verhältnis des Denkens zu den Gegenständen. Er ist hierbei dem Anspruch ausgesetzt mit sich anzufangen, d.h. bei der Wahrheit und den Formen des Denkens 2, um von dieser Grundlage ausgehend in seiner Denkbewegung die materiellen Voraussetzungen einzuholen, die in ihm impliziert sind. Nach Bloch jedenfalls solle im Marxismus das Historische nicht gegen die Logik, Begriffe und Kategorien ausgespielt werden, denn auf das Formale kann Marxismus nicht verzichten. Die formalen Regeln des Denkens müssen vielmehr als „keimende materiale Bestimmtheiten“ (Ebd., S. 34) expliziert werden. Im Prager Exil schrieb Bloch zwischen 1936-1937 sein erst 1972 veroffentlichtes Buch »Das Materialismusproblem. Seine Geschichte und Substanz« 3. Es ist – bemerkenswerterweise – dem Jugendfreund Georg Lukacs gewidmet durch dessen Standpunkt er auf die Problematik einer materialistischen Kategorienlehre gebracht wurde und von dem er sich in zur gleichen Zeit in der sog. Expressionismusdebatte offentlich distanziert hatte als er im Sinne der Volksfront für Bündnisse mit progressiven nicht-kommunistischen Kräften warb. Im Materialismusproblem, das auch eine Geschichte des Materie-Begriffs über die Grenzen materialistischer Philosophie hinaus liefert, fordert Bloch exzentrisch einen „spekulativen Materialismus“: „Durch Dialektisches als solches, (…) wird eine noch gründlichere Erweiterung des Materiebegriffs moglich, eine nicht nur empirische, sondern geradezu spekulative; (…) allerdings bedarf das Wort Spekulation (ursprünglich von speculari = erspähen, umherblicken, Ausschau halten), um zum Erweiternden das Seine beizutragen, dringend so einer Prüfung wie einer Erinnerung an seinen großen, noch nicht herabgekommenen Sinn (…) so hat (...) Hegel das spekulative Verfahren als eine Erkenntnis gerade durch konkrete Begriffe im Gegensatz zu den bloß abstrakten Begriffen der Reflexion ausgezeichnet“ (GA 7, S. 470). 2 Am Denken konne folgendermaßen unterschieden werden: „1. ein denkendes Subjekt, 2. das Denken selbst [als Tätigkeitsbeschreibung; M.K.], 3. die Gedanken, 4. sprachlichen Formen, 5. den Gegenstand des Denkens und der Gedanken.“ Josef Konig: Denken und Sein, Halle: Niemeyer 1937, S. 98. Josef Konig fasst so die Bestandteile des Denkens zusammen, wie sie von Alexander Pfänders Logik entwickelt werden. Vgl. Alexander Pfänder : Logik, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 4/1921. Vor allem Punkt 2 und 5 werden im folgenden von Bedeutung sein. 3 Band 7 der Gesamtausgabe. Vgl. Ernst Bloch: Gesamtausgabe, 17 Bde., Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975 (im folgenden GA zitiert). Spekulation Etymologisch korrekt mobilisiert Bloch die Figur des Spähers, der von einem Aussichtsturm in die Ferne schaut (im Feudalismus ist der speculator der Aufseher über einen Landbesitz). Das, was der Späher mit den Augen sucht, ist zeitlich wie räumlich noch nicht da. Und das läuft entgegen Hegels Bestimmung des »spekulativen Verfahrens«: "Das spekulative Denken besteht nur darin, daß das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält, nicht aber daß es sich, wie es dem Vorstellen geht, von ihm beherrschen und durch ihn sich seine Bestimmungen nur in andere oder in nichts auflosen läßt" (HW 6, S. 76) 4. Wurzelt Blochs Bestimmung in einem phänomenologisch-sinnlichen Bild, beschreibt Hegel einen Reflexionsmodus, in dem die Aktivität der Reflexion und die Passivität des Reflektierten als er kenntnistheoretisches Fundierungsprogramm formuliert wird. 5 Wie konne beides zusammen gedacht werden? Ausgangspunkt des spekulativen Philosophierens ist also nach Hegel die Frage ob: „die Gegenstände, die äußere und innere Natur, überhaupt das Objekt, was es an sich (...) sei, wie es als Gedachtes ist, dass also das Denken die Wahrheit des Gegenständlichen sei“ (HW 8, S. 79). Die Bedingung hierfür ist die vorausgesetzte Identität zwischen Denken und Sein: „Das Geschäft der Philosophie besteht nur darin, dasjenige, was rücksichtlos des Denkens des Menschen von alters her gegolten, ausdrücklich zum Bewusstsein zu bringen“ (ebd.). Um zu Erkennen, wie Denken sich strukturiert und generiert, bleibt nun eine Unvermeidlichkeit, ein Widerspruch zurück: das Denken muss sich selbst zerreißen und zugleich selbst festhalten, um sich selbst zu Bewusstsein zu bringen. Die Schwierigkeit und Komplexität der folgenden Denkbewegung lässt sich im Vorfeld der Deduktion sicher mit einem Beispiel erhellen. Der Altphilologe Bruno Snell erortert die Problemstellung der Selbstergründung des Denkens: "Das Entdecken des Geistes ist ein anderes, als wenn wir sagen, Kolumbus habe Amerika "entdeckt": Amerika existierte auch vor der Entdeckung, der (…) Geist aber ist erst geworden, indem er entdeckt wurde.“ (Snell 1975, 7f.) 4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke, 20 Bde., hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970ff. (im folgenden zit. HW). 5 Hans Heinz Holz hat darauf hingewiesen, dass Hegel mit der Etymologie bricht und sich hierfür bei Augus tinus bedient. Zitat Augustinus in der Übersetzung von Hans Heinz Holz: „Wir schauen – hat Paulus in dem Sinn gesagt, daß wir durch einen Spiegel, nicht in dem Sinne, daß wir von einer Anhohe herabschau en. (…) Wenn wir fragen, wie und was dieser Spiegel ist, dann stoßen wir in der Tat darauf, daß in einem Spiegel nur ein Bild erblickt wird. Daß also haben wir zu verwirklichen gesucht, daß wir durch das Bild, das wir selbst sind, irgendwie jenen sehen, von dem wir geschaffen sind gleichwie in einem Spiegel“ (De Trinitat XV, 8, 14) (Holz 2011, 305f.) Das impliziert, das dies nicht durch das Setzen einer Definition, etwa gewonnen aus einer anderen Wissenschaft, sondern nur durch die Denkbewegung, die durch diesen Selbstunterschied führt, Denken philosophisch bestimmbar wird. Und dieser Vollzug ist nur durch die Aufhebung des dreifachen Scheins der Identität des Denkens moglich, wie ich im Anschluss an den niederländischen Philosophen Jos Lensink 6 sagen mochte. Der erste Schein des Denkens haben wir bereits genannt: Beginnt das Denken mit sich, denkt es sich selbst zunächst als seiend. Denken ist dann Denken von Sein als Sein. Diese Identität von Denken und Sein ist unbedingt, insofern außerhalb dessen nichts sein kann. Dies impliziert, insofern per definitionem kein Sein moglich ist, das nicht ist, zweierlei: Einmal das Sein, insofern es ist, nur bestimmtes Sein sein kann, weil das der Modus des Seins im Allgemeinen ist. Andernfalls wäre es leer und somit Nichts. Und ferner: dieses bestimm te Sein steht im Zusammenhang mit anderem bestimmten Sein, also ist Element eines Seins-Zusammenhangs, weil das Sein, insofern es ist, bestimmt wie Sein ist/sein kann. Der zweite Schein des Denkens: als Denken des Seins ist Denken Nicht-Sein. Das Sein ist nur, weil es gedacht wird und nicht weil es ist. Dies drückt den vollkommenen Unterschied zwischen Denken und Sein aus. Jedes Denken ist inhaltliches Denken und sein Inhalt ist abhängig vom jeweiligen Aspekt und der Perspektive unter dem sich der Inhalt darstellt als auch seiner historischen Gestalt. In diesem Verhältnis ist Denken ein besonderes Element des Seins-Zusammenhangs, weil absolut bedingt durch das Sein, insofern das Denken ein denkendes Seiendes ist. Beide Pole sind jedoch für sich genommen defizitär im Hinblick auf ihr Wirklichkeitsverständnis. Der erste Schein des Denkens, das reine Selbstverhältnis, offenbart einen Dogmatismus bei dem das Denken seine Formen ungeachtet der Strukturen seines Anderen appliziert. Der zweite Schein, das Denken als Nicht-Sein, ist wiederum seinem Anderen ausgeliefert, insofern es dieses nur abbildet. Das Verhältnis beider Scheine macht den Modus des Denkens aus, insofern Denken im ständigen, unentrinnbaren Konflikt mit sich selbst ist, weil es sich zwischen diesen Polen bewegt. Das ist der spekulative Stand punkt, der erst durch die Selbstergründung im Bewusstsein des Menschen von sich selbst existiert. Auf dem Weg zum spekulativen Materialismus Doch dieses Vorwärtsgehen als Rückgang in seinen Grund ist mitnichten ein spekulativ-mate6 Vgl.: Jos Lensink: Spekulative und materialistische Dialektik, in: Topos 11/1998. rialistischer Standpunkt, denn das spekulative Denken erweist sich hier noch als Ausgang und Ziel zugleich. Das Erreichen des spekulativen Standpunkts schließt den Zirkel: „In dem Wissen [seiner widersprüchlichen Struktur; M.K.] hat also der Geist die Bewegung seines Gestaltens beschlossen, insofern dasselbe mit dem unüberwundnen Unterschiede des Bewusstseins behaftet ist“7 (Hegel 1988, 528). Das spekulative Denken hat in der Erfassung seiner eigenen widersprüchlichen Struktur die Gedankenwelt also nicht verlassen, sondern der Widerspruch ist eingemeindet worden, sodass die Idee letztlich über die materielle Wirklichkeit triumphiert. Und es war Bloch, der darauf hinwies, dass dieser spekulative Standpunkt der des Idealismus ist, wie ihn Hegel repräsentiert und letztlich in ein „auf Anamnesis gegründetes Panorama“ (GA 15, 65) mündet: "Das Ziel, (…) der sich als Geist wissende Geist [oder das sich als Denken wissende spekulative Denken; M.K.], hat zu seinem Weg die Er-innerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches vollbringen" (Hegel 1988, S. 531). Zeigt sich in diesem Panorama wie Wissenschaft überhaupt erst sein kann, ist die Er-innerung der Umschlagpunkt, in dem der Geist wie eine Katze vor dem Absprung sich seines gegangenen Weges als Methode für den kommenden Absprung auf neue Gegenstände vergewissert. Was in der spekulativen Logik als oberste und allgemeinste Denkstrukturen herausgearbeitet wird, soll dann von den übrigen Disziplinen der Philosophie nur noch angewandt werden: „Das Interesse der übrigen [philosophischen; M.K.] Wissenschaften ist dann nur, die logischen Formen in den Gestalten der Natur und des Geistes zu erkennen, Gestalten, die nur eine besondere Ausdrucksweise der Formen des reinen Denkens sind“ (HW 8, §24, Zusatz 2). Es ist unentscheidbar, ob die me thodische Herausarbeitung der logischen Strukturen des Denkens nicht doch identisch mit ihrer Applikation auf Wirklichkeit ist oder die Kategorien und logischen Strukturen bereits vor Erfassung der Wirklichkeit in ihr angelegt sind. Letztendlich bleibt die Wirklichkeit so im Bann der Anamnese der allgemeinsten Denkstrukturen gefangen und so kann Marx auch spottisch anmerken, dass die absolute Methode, sofern man glaubt sie gefunden zu haben, den Eindruck erweckt, dass diese logische Formel „nicht nur alle Dinge erklärt, sondern auch die Bewegung der Dinge umfaßt.“ (MEW 4, S. 128). An diesem Problem entzündet sich die Ausarbeitung des historischen und dialektischen Materialismus. Marx erkennt, dass Hegel die Wirklichkeit ausdrückt, aber eben nur als Bild der Wirklichkeit, die es umzustülpen gilt. Der dritte Schein des Denkens betrifft also die Struktur des spekulativ-idealistischen Denkens insgesamt, denn dieses denkt seine wider7 G.F.W. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Hamburg: Meiner 1988, S. 528. sprüchliche Struktur in seinem Abschluss wieder als Sein: „Der Begriff des Geistes hat seine Realität im Geiste. Daß diese in der Intensität mit jenem als das Wissen der absoluten Idee sei, hierin ist ihre notwendige Seite, daß die an sich freie Intelligenz in ihrer Wirklichkeit zu ihrem Begriffe befreit sei, um die dessen würdige Gestalt zu sein. Der subjektive und der objektive Geist sind als der Weg anzusehen, auf welchem sich diese Seite der Realität oder der Existenz ausbildet.“ (HW 10, §553) Hier, in der absoluten Idee, wo der Idealismus auf die Spitze getrieben zu sein scheint, bricht der spekulative Materialismus hindurch und die Umkehrung kann statthaben. Das Wissen der absoluten Idee ist Realität, insofern vor ihr die gesamte Struktur, Funktion und Genese des gewordenen Wissens liegt. Dies offenbart sich jedoch nur als eine Seite der Wirklichkeit, als ihre spekulativ logische Widerspiegelung. Der spekulative Materialismus hebt den spekulativen Idealismus als notwendig zu gehenden Weg in sich auf, indem er das spekulative Denken als Logik des Denkens denkt und zugleich diese Methode, also den ständigen Konflikt des Denkens als Seinsweise in einem Seins-Zusammenhang ausweist. Das spekulativ-materialistische Denken ist dann besonderes Moment des Seins, weil es Sein in seiner Totalität denken und ausdrücken kann, dessen Existenz jedoch nicht notwendigerweise an ihr Gedachtsein gebunden ist. Die allgemeinste Eigenschaft des Denkens ist dann Widerspiegelung in einer rein philosophischen, nicht in einer neuronalen, psychologischen oder gar abbildenden Bedeutung. Widerspiegelung als Basiskategorie, drückt dann nicht mehr aus als „daß die Strukturen der materiellen Außenwelt als Bewußtseinsstrukturen erscheinen, während die Bewußtseinsstrukturen als das Sein, das Sein in Gattungsallgemeinheit gelten. Zwischen Sein und Bewusstsein findet gleichsam eine Seitenvertauschung statt, wie sie für eine spiegelbildliche Reproduktion charakteristisch ist. Da jedoch Welt als Totalität nur in der Spiegelung im Bewusstsein erscheint, kann ihre Gesetzlichkeit nur als logische Gesetzlichkeit der Begriffe dargestellt werden.“ (Holz 2003, S. 37) Der spekulativ-materialistische Standpunkt Von diesem Punkt aus ändern sich einige altbekannte Blickrichtungen. Die doppelte Bedeutung des Spekulativen, der Turm und der Spiegel kommen so zu ihrem systematischen Recht. Spekulativer Materialismus ist dann der Form nach die Wissenschaft von der Reflexion „der allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetze der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens“ (MEW 20, 131). Diese Gesetze sind jedoch nicht Ausgangspunkte, sondern Resultate und vorläufige Ergebnisse in Abhängigkeit historischer und wissenschaft- licher Entwicklungsstufen. Anders konne die Rede Engels kaum verstanden werden, wenn er behauptet, dass die Aufhebung der Philosophie sie in eine „Lehre vom Denken und seinen Grenzen“ (MEW 20, S. 24) transformiere. Spekulativer Materialismus vermeidet dann die Geschlossenheit der klassisch-metaphysischen Konzeptionen, die noch die ganze Welt im Ganzen zu erklären suchten. Spekulativer Materialismus ist vielmehr die Anleitung zur Erforschung des Nicht-Wissens oder besser des Noch-Nicht-Wissens und der moglichen Transmissionsapparate zur Verwirklichung des Wissens. Ernst Bloch hierzu in einem Interview mit Hans Heinz Holz: „Ich glaube, das Noch-Nicht-Sein und Noch-Nicht-Geworden-Sein das wichtigste Menetekel sind für jeden Denker, der es ernst meint, daß das, was er systematisch denkt, zwar zusammenhängt und Invariante der Richtung hat als letzte Garantie des Zusammenhangs, aber daß es nicht geschlossen sein kann, das ist Fälschung, das sieht nur im Buch sehr gut aus, und draußen lachen nicht einmal die Hühner, es hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun.“ (Markun 2010, S. 25) Inhalt des spekulativen Materialismus ist dann die kategoriale Grundlage einer zu entfaltenden Dialektik der Natur und Dialektik der Gesellschaft. Die ihr zugrundeliegenden Kategorien müssen sich ausgehend von der Widerspiegelung als Reflexionsformen respektive Prozessgestalten manifestieren, in denen – und darin besteht die Herausforderung – das jeweils bestimmte Verhältnis Sein-Denken, Sache-Begriff ebenso ausgedrückt wird wie die Genesis, derzeitige Struktur sowie utopische und ideologische Funktion dieses Verhältnisses. Philosophie hebe sich dann auf, indem sie sich dann als ein prägendes Erbe, Quell und Bestandteil des Marxismus herausstellt und dieser als Fortbildung der Impulse der Philosophie begriffen wird, denn – und ich mochte meinen Vortrag mit den Worten Ernst Blochs beschließen: „Marxismus [ist] beileibe nicht nur Ideologiedurchschauung (…), sondern noch mehr, da letzthin, was das Theorie-Praxis-Verhältnis besonders angeht, Prüfung und so realistisches Erkennen der Zukunft, Zukunfts-Tendenz, Zukunfts-Latenz in der Gegenwart, das heißt nächsten Moglichkeit selber. Der Versuch, statt der Ideologie mit Kategorien vielmehr Kategorien ohne Ideologie in Auswahl zu bedeuten, mindestens anzudeuten, dieser Versuch ist noch nirgends ausreichend moglich, doch er ist seit Marx überfällig“ (GA 15, S. 27) Literatur Bloch, Ernst: Gesamtausgabe, 15 Bde., Frankfurt/Main 1975. (zit. GA) Cunico, Gerardo (Hg.): Ernst Bloch. Logos der Materie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke, 20 Bde., hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970ff. (zit. HW) Ders.: Phänomenologie des Geistes, Hamburg: Meiner 1988. Holz, Hans Heinz: Lenins philosophisches Konzept, in: Topos 22/2003. Ders.: Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. 5 Bde. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011 Lensink, Jos: Spekulative und materialistische Dialektik, in: Topos 11/1998. Lukacs, Georg: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Berlin: Malik-Verlag 1923. Markun, Silvia: Ernst Bloch. Monografie, Halle: Projekte-Verlag Cornelius 2010. Marx, Karl Marx/Engels, Friedrich: Marx-Engels-Werke, 43 Bde. Berlin/Ost: Dietz-Verlag 1956ff. Meillassoux, Quentin: Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, Berlin/Zürich: diaphanes 2014. Snell, Bruno: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Gottingen: Vandenhoeck&Ruprecht 1975.