Prolog: Stammzell-Debatte Warum reden alle über Stammzellen? Stammzellen können sich in andere Zellen differenzieren. Je nach dem, was entstehen kann, hat die Stammzelle unterschiedliche Potenz: Die befruchtete Eizelle kann einen Organismus bilden: Totipotenz Manche Stammzellen können sich in alle Zelltypen umwandeln, aber keinen Organismus erzeugen: Pluripotenz Manche Stammzellen können nur noch einen Gewebstyp bilden: Multipotenz Prolog: Stammzell-Debatte Embryonale Stammzellen Mit fortschreitender Differenzierung nimmt die Potenz ab. Embryonale Stammzellen haben daher mehr Möglichkeiten als adulte Stammzellen. Ethische Frage: um embryonale Stammzellen zu gewinnen, muss man einen Embryo zerstören. Dürfen wir Menschen töten, um zu heilen? Praktische Frage: der Empfängerorganismus erkennt die Stammzellen als fremd (Abstoßung) Prolog: Stammzell-Debatte Adulte Stammzellen Adulte Stammzellen sind bestenfalls multipotent Sie können einen bestimmten Gewebstyp bilden Vorteil: man kann sie vom Empfänger entnehmen (keine Abstoßungsreaktion). Nachteil: sie können sich nicht in andere Zellen umbilden / sich an ihre Umgebung anpassen. „Ohrmaus“ und „Laborburger“ sind mittels adulter Stammzellen gezüchtet worden. Ohrmaus: Knorpelgewebe wurde in Ohrform gezüchtet und einer Nacktmaus eingepflanzt, um die Zellen lebend zu erhalten. Laborburger: Muskelstammzellen werden in Kultur gezüchtet (Fleisch für Vegetarier?) Prolog: Stammzell-Debatte Induzierte pluripotente Stammzellen Durch Einbringen von vier Genen lassen sich differenzierte Zellen in pluripotente Stammzellen umsteuern (iPS). Dadurch kann man von einem Patienten Zellen entnehmen, zu Stammzellen umsteuern und defekte Organe / Gewebe nachzüchten und wieder einbringen. Man verbindet damit die Vorteile von embryonalen (Pluripotenz) und adulten (keine Abstoßung, keine Tötung von Embryonen) Stammzellen: Nobelpreis 2012 an Yamanaka und Gurdon Prolog: Stammzell-Debatte Gehirn aus der Petrischale Universität Wien (August 2013) – menschliche Stammzellen wurden mit Wachstumsfaktoren behandelt und in Kultur gehalten. Die Zellen teilten sich und differenzierten verschiedene Gewebe: Großhirn, Hippocampus und Ventrikel. Die Neuronen sind aktiv und zeigen rudimentäre Selbstorganisation. Größe begrenzt (fehlende Blutversorgung). Aber auch dafür gibt es Stammzellen. Vision: persönliches Reservegehirn / Kyborgs für Raumflüge / Biocomputer Problem: darf man eine denkende Petrischale in den Müll werfen? Prolog: Stammzell-Debatte Auf dem Weg zur Unsterblichkeit? Mithilfe der iPS Technik könnte man Kopien von Organen züchten und bereit halten, wenn die Originale ausfallen. Damit könnte man das Altern stoppen und alle verschlissenen Teile ständig austauschen. Gretchenfrage: Wie halten wir es mit der Identität? Die ethische Bewertung hängt daran, ob wir diesen Klonen eine Identität zusprechen oder nicht. Karlsruhe im Jahre 2050 – auf dem Weg zum Supermarkt schauen Sie noch mal schnell bei Ihrem Klon vorbei… Ab welcher Größe hat ein Erbsenhirn Bewußtsein? Was denken Sie: Dürfen wir den Menschen das Recht auf ihren Klon verwehren? Modellbildung und Ethik in der Biologie A: Werkzeuge: Wie wir reden und warum das wichtig ist 1: Leben, Gen, Art, Organismus – nicht Dinge, sondern Aktivitäten/Prozesse 2: Beschreiben, Erklären, Auffordern – der Zweck einer Rede ist entscheidend! 3: Information, Signal, Bedeutung – „objektiv“ (ohne „ich“ und „Du“) gibt es nicht! B: Handwerkskunst: Wie „Wissenschaft“ arbeitet und warum das wichtig ist 4: Sehen, Beobachten, Experimentieren – funktionaler Kontext und Erkenntnis 5: Bild, Modell, Überprüfung – der Dreischritt der Wissenschaft 6: Erklärung und die Kunst der Reduktion C: Auf DICH gestellt: Warum „Ethik“ nicht mit dem Rechner geht 7: Naturalistischer Fehlschluss: Beispiel Eugenik 8: Können wir „Ethik“ rechnen: Soziobiologie und Spieltheorie 9: Auf was können wir „Ethik“ dann bauen? Nutzen versus Verantwortung 10: Der Weg ist das Ziel – „Ethik“ ist kein Ding, sondern eine Aktivität 11: Gretchenfrage – können „wir“ überhaupt entscheiden? 12: Aus dem biologischen Alltag: Tierversuche „Nutzen“ oder „Werte“? Prinzip Wirtschaftlichkeit: Nutzen als Richtschnur der Ethik? Utilitarismus Utilitarismus ist eine Ethik, die den maximalen Nutzen als Kriterium heranzieht. „Handle so, dass das größtmögliche Maß an Glück entsteht!“ „Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr oder das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb, weil sie nur die eine Seite der Angelegenheit kennen. Die andere Partei hingegen kennt beide Seiten." Jeremy Bentham gilt als Begründer des Utilitarismus – maximalen Nutzen als Richtschnur zu nehmen, ist jedoch in England tief verwurzelt, Benthams Schüler, John Stewart Mill, verfeinerte den Utilitarismus, indem er auch geistige Werte in den hedonistischen Kalkulus mit einbezog. Glück wurde von Bentham ursprünglich recht materialistisch als körperliches Wohlergehen definiert. Sein Schüler Mill erweiterte den Begriff jedoch auf eine intellektuellgeistlich-spirituelle Form. „Nutzen“ oder „Werte“? Prinzip Wirtschaftlichkeit: Nutzen als Richtschnur der Ethik? Wohlfahrtsfunktion Der maximale Nutzen für die größte Zahl als Richtschnur Wurzeln im Leviathan – Begriff des „commonwealth“ Utilitarismus ist stark auf die Wirtschaftstheorie ausgerichtet Utilitaristische „Wohlfahrtsfunktionen“ spielen in der Wirtschaftstheorie eine große Rolle. Der „utilitaristische Kalkulus“ versucht, verschiedene Einflüsse in Zahlen zu bringen und mathematisch zu modellieren. Diese ursprünglich angelsächsische Tradition breitet sich aus. Durch die starke Ökonomisierung der Gesellschaft seit den 1980ern dringt er stark in nicht-ökonomische Bereiche. Kann ich Ethik also berechnen? „Nutzen“ oder „Werte“? Der Zweck heiligt die Mittel? Kritik am Utilitarismus Die Maximierung des Nutzens kann unter bestimmten Umständen zu Handeln führen, das „inhuman“ ist. Das Motiv des Handelns ist für den Utilitarismus belanglos, was zählt, ist rein das Ergebnis. Die Aussage „Der Zweck heiligt die Mittel“ würde utilitaristisch also häufig bejaht werden. In seinem Roman „Verbrechen und Strafe“ (früher „Schuld und Sühne“) setzt sich der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewskij 1866 kritisch mit dem Utilitarismus auseinander. Er lässt den Studenten Raskolnikow eine Pflandleiherin ermorden, um sein Studium zu finanzieren und so für die Welt viel nützlicher zu werden, als diese „unnütze Laus es je sein könnte“. Das „Hedonistische Kalkül“ beruht auf der Grundüberzeugung, dass alles messbar und damit bewertbar ist. „Nutzen“ oder „Werte“? Die Falle des Utilitarismus: Menschen als Mittel zum Zweck Einzelwürde - Gemeinwohl Der utilitaristische Kalkulus arbeitet statistisch. Große Zahl wiegt schwer. Dies führt immer dann zu Problemen, wenn die Würde eines Einzelnen gegen das Wohl vieler steht. Sedlacek, Ekonimija dobra i zla Fallbeispiel Anencephalie. Bei dieser Mißbildung des Neuralrohrs fehlt ein großer Teil des Gehirns. Die Kinder sterben daher wenige Tage nach der Geburt. Durch Pränataldiagnostik recht früh feststellbar, etwa 75% der Mütter treiben ab (bei Trisomie 21: 95%). In vielen Ländern (außer Deutschland und Schweiz) sind die Kinder zur Organspende zugelassen, da sie „teilhirntot“ sind. Das kann so weit gehen, dass die Existenz Einzelner weniger wiegt als ein vielleicht nur kleiner Vorteil vieler. Im Grunde ist der utilitaristische Kalkulus die neuzeitliche Version des Opfers… „Nutzen“ oder „Werte“? „Innere Haltung“ oder „Ergebnis“? Tugendethik Utilitarismus legt das Ergebnis („maximale Wohlfahrt der vielen“) als Richtschnur an. Die Motive spielen keine Rolle. Gegenposition: die inneren Werte als Richtschnur ethischen Handelns. Aristoteles formulierte das Maßhalten als Richtschnur für jedes Handeln. Allgemeine Tugenden: Tradition der Tugendethik. Von Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik (Darstellung von Raffaele) formuliert, später christlich umgedeutet (Darstellung justitia und temperantia vom Bamberger Dom und schließlich von Kant auf eine allgemeine philosophische Grundlage gestellt. Hier steht die innere Haltung im Zentrum (beim Utilitarismus: das Ergebnis). •Gerechtigkeit (justitia) •Mäßigung (temperantia) •Tapferkeit (fortitudo) •Weisheit (sapientia) „Nutzen“ oder „Werte“? Welche Werte sollen wir nehmen? Grenzen der Tugendethik Tugenden sind (teilweise) abhängig von Kultur und Religion. Kann man universell gültige Werte finden? Wenn das nicht gelingt, landen wir bei Moral, aber nicht bei Ethik! Tugendethik betrachtet Haltung und Handlung, nicht das Ergebnis. Gut gewollt gleich gut gehandelt? Welche Tugenden? Aischylos (Griechenland, 500 v. Chr.): verständig, gerecht, fromm, tapfer. Stoiker (Rom, 100 v. Chr.): Mäßigung, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Weisheit. Konfuzius (China, 500 v. Chr.): menschlich, gerecht, weise, gesittet, wahrhaftig). Yoga: Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Enthaltsamkeit, LoslassenKönnen, Nicht-Stehlen. Kant: vernünftiger Wille. Tugendethik führt zu absurden Folgen, wenn eine Situation widersprüchlich ist (Tyrannenmord, Verstecken von politischen Flüchtlingen) „Nutzen“ oder „Werte“? Kategorischer Imperativ „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst “ Nochmals Kant. In seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ringt Kant um eine universelle Begründung für ethisches Handeln. Er findet zwei Prinzipien, die als kategorischer Imperativ bekannt sind. Die erste ist eine Universalisierung, die zweite ist eine Anti-Instrumentalisierung. Worauf können wir bauen? Guter Wille als einzig Absolutes, Begabung, Fähigkeiten, Verstand können auch negativ genutzt werden. Handeln nicht von Naturgesetzen bestimmt, sondern von praktischer Vernunft (Maximen, Imperative). Hypothetischer Imperativ: wer den Zweck will, will auch das Mittel dazu (Interessen, nicht Ethik) Kategorischer Imperativ: von freiem Willen bestimmtes Handeln, von den eigenen Interessen unabhängig. „Nutzen“ oder „Werte“? Kategorischer Imperativ – Neuformulierung der Goldenen Regel? „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ „Was Du nicht willst, was man Dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu“ Brauchen wir einen „kategorischen“ Imperativ? Die „Goldene Regel „ (ein hypothetischer Imperativ) funktioniert gut, wenn die Gemeinschaft nach ethischen Werten lebt. Wenn nicht (Diktatur, Gesellschaften im Umbruch, ethische Dilemmata), funktioniert sie nicht. Daher Kants Ringen um ein Absolutes. Kategorisch - hypothetisch? Auch die Goldene Regel ist eine Handlungsanweisung, die EigenInteresse und Gemeinwohl ausgleicht. Im Grunde geht sie nicht über SpielTheorie hinaus (tit for tat). Man folgt Regeln, weil man weiß, dass es die andern auch tun. Laut Kant ist die Goldene Regel ein hypothetischer Imperativ und daher nicht wirklich ethisch (da sie nur eine subtilere Verfolgung egoistischer Interessen darstellt). „Nutzen“ oder „Werte“? Kategorischer Imperativ – Hilft das nun wirklich? „Mittel zum Zweck“ Ethische Dilemmata Kind bei Dialyse Abtreibung „Leben wollen“ Der Kategorische Imperativ nimmt keine Entscheidung ab! Das anencephale Kind als Organspender wird „Mittel zum Zweck“, das abgetriebene Kind ebenfalls – man spricht ihm das Recht zu Leben ab, um die Mutter zu schonen. Beide Wege lassen sich mit dem Kategorischen Imperativ begründen oder widerlegen! Der Fortschritt der Biologie schafft immer neue Situationen, wo man ethische Entscheidungen treffen muss. Sehr häufig sind die Alternativen nicht schwarz oder weiß (Egoismus versus Altruismus), sondern beide „irgendwie ungut“. Sie müssen aber entscheiden! Der Kategorische Imperativ lässt sich zu einem Weg der Entscheidungsfindung (Heuristik) weiter entwickeln: Prinzip Verantwortung. Mehr dazu in der nächsten Vorlesung! Intermezzo: Denken Sie mal nach! Sollte es erlaubt sein, über induzierte pluripotenten Stammzellen Klone zu züchten? A Ja, weil man damit vielen Kranken helfen kann B Nein, weil das Geld besser für Medizin in Afrika angelegt wäre C Ja, weil es unethisch wäre, dies einem Kranken zu verwehren D Nein, weil jemand Mittel zum Zweck wird Take-home: Was erwarten wir von Ihnen Begriffe, die Sie kennen, erklären und verinnerlichen sollten • • • • • Adulte, embryonale, induzierte pluripotente Stammzellen Utilitarismus, hedonistischer Kalkulus, Wohlfahrtfunktion Tugendethik, Kardinaltugenden, Maxime, Imperativ Kategorischer Imperativ, hypothetischer Imperativ Goldene Regel, ethische Dilemmata Konzepte, die Sie kennen, erklären und verinnerlichen sollten • • • • • Die Grundzüge der Stammzelldebatte erklären können Die Leitideen von Utilitarismus und Tugendethik erklären können Für beide Ethiksysteme Begrenzungen angeben können Kategorischen Imperativ erklären und von der Goldenen Regel abgrenzen können Für ein ethisches Dilemma utilitaristisch und tugendethisch argumentieren können