Pädiatrische Onkologie – ein Überblick

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Pädiatrische Onkologie – ein Überblick
Angelika Eggert, Charité – Universitätsmedizin Berlin
In Deutschland erkrankt etwa jedes 500. Kind an Krebs. Aufgrund der alters- und erkrankungsbedingten besonderen Anforderungen erfolgen Diagnostik und Therapie kindlicher Krebserkrankungen in
spezialisierten, interdisziplinären Behandlungszentren mit definierten Infrastrukturmerkmalen. Eingebunden sind diese pädiatrisch-onkologischen Zentren in ein etabliertes Netzwerk klinischer und wissenschaftlicher Referenzeinrichtungen unter dem Dach der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie
und Hämatologie (GPOH).
Behandlungen innerhalb dieser
Strukturen sorgen seit Jahrzehn-
ten für zunehmend bessere Heilungschancen unter Minimierung
therapieassoziierter Akut- und
Spätfolgen. Innerhalb der jeweiligen Therapieoptimierungsstudien
werden bewährte Behandlungsstrategien fortlaufend evaluiert
und neue Therapieoptionen unter
kontrollierten Bedingungen untersucht und weiterentwickelt.
Krebs bei Kindern und Jugendlichen – aktueller Stand
Eine Krebserkrankung ist in den
westlichen Ländern die häufigste
tödliche Krankheit bei Kindern
und Jugendlichen. Jährlich erkranken in Deutschland rund 1.760 Kinder < 15 Jahre und ca. 350 Jugendliche von 15 bis 18 Jahren neu an
Krebs [1]. Das Spektrum kindlicher
Krebserkrankungen unterscheidet
sich grundlegend von dem des Erwachsenenalters. Während Karzinome > 90% der Neuerkrankungen bei Erwachsenen ausmachen,
sind diese bei Kindern mit < 1,5 %
ausgesprochen selten.
Daher lassen sich Erkenntnisse aus
der Erwachsenen-Onkologie oft
nur wenig auf die pädiatrische Onkologie übertragen [2]. Auch neue
Medikamente, die für Karzinome
des Erwachsenenalters entwickelt
wurden, sind oft für die Therapie
kindlicher Malignome nicht optimal geeignet.
Daher ist eine gezielte Krebsforschung für Kinder, die sich mit den
besonderen molekularen, biologischen und klinischen Eigenschaften kindlicher Krebserkrankungen
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Relative Häufigkeiten der an das Deutsche Kinderkrebsregister
gemeldeten Erkrankungsfälle nach Diagnose-Hauptgruppen*
Keimzelltumoren
4,0 %
Weichteilsarkome
6,1 %
Sonstige Diagnosen
5,8 %
Knochentumoren
5,2 %
Periphere
Nervenzelltumoren
5,8 %
320
280
Mädchen
240
Leukämien
30,6 %
Nierentumoren
4,6 %
Alters- und geschlechtsspezifische Erkrankungsraten
(pro 1 Million der jeweiligen Altersgruppe)*
Jungen
200
160
120
80
ZNS-Tumoren
23,8 %
Lymphome
14,2 %
40
0
<1 1 2 3 4 5 6
ZNS: Zentrales Nervensystem
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
*2009-2014, basierend auf insgesamt 12568 unter 18-jährigen Patienten
Abb.1: Häufigkeitsverteilung von Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen.
Links: Relative Häufigkeiten nach Diagnose-Hauptgruppen. Rechts: Alters- und geschlechtsspezifische Erkankungsraten. Quelle:
Deutsches Kinderkrebsregister, Jahresbericht 2015.
beschäftigt, zwingend erforderlich.
Krebserkrankungen von Kindern
und Jugendlichen zeichnen sich
durch eine Reihe weiterer Besonderheiten aus:
• Krebs bei Kindern und Jugendlichen ist selten.
• Biologisch handelt es sich um
Erkrankungen, die in den meisten
Fällen kurativ behandelt werden
können.
• Die genetische Komplexität
kindlicher Krebserkrankungen ist
vergleichsweise niedrig, so dass
sich relevante Mutationen leichter
identifizieren lassen.
• Eine Heilungsrate von aktuell >
80% hat dazu geführt, dass heute
in Deutschland fast 40.000 Überlebende einer kindlichen Krebserkrankung einen speziellen Bedarf
an gesundheitlicher Beratung haben.
Die häufigsten Erkrankungen bei
Kindern sind Leukämien (30,6%),
Hirntumore (23,8%) und Lymphome (14,2%) ([1], Abb.1). Etwas
weniger häufig sind Neuroblastome
(5,8%),
Nephroblastome
(4,6%) und Hepatoblastome (1%).
Das Retinoblastom ist mit 2% der
häufigste bösartige Augentumor.
Die häufigsten Sarkome im Kindesalter
sind
Weichteilsarkome
(6,1%)
und
Knochentumore
(5,2%, Osteosarkome und EwingSarkome).
Das Diagnosespektrum ist in den
einzelnen Altersklassen sehr unterschiedlich. Während embryonale Tumore vor allem im Kleinkindesalter vorkommen, sind Knochentumore besonders bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu verzeichnen.
Die Überlebensraten bei Krebserkrankungen im Kindesalter sind in
den zurückliegenden Dekaden
dank verbesserter Diagnostik und
multimodaler Therapiekonzepte
deutlich angestiegen [1]. Während
die
5-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit für krebserkrankte
Kinder 1980 in Deutschland noch
bei 69% lag, liegt dieser Wert mittlerweile bei deutlich über 80% (
Abb. 2).
Die Kinderonkologie ist ein Beispiel dafür, wie durch die konsequente Erfassung aller Erkrankungen in einem Krebsregister und ein
einheitliches,
multizentrisches,
evidenzbasiertes Vorgehen die
Prognose der Erkrankung verbessert werden kann.
Struktur der pädiatrischen
Onkologie in Deutschland
Die Erfolgsgeschichte der pädiatrischen Onkologie wurde vor allem
durch den Aufbau vernetzter
Strukturen für Erfassung, Diagnostik, Therapie und Nachsorge
pädiatrisch-onkologischer Erkrankungen unter dem Dach der GPOH
ermöglicht [2]. Dazu gehören:
• 58 spezialisierte Behandlungszentren, die die erforderlichen Infrastrukturkriterien nach Vorgabe
des Gemeinsamen Bundesauschuss (G-BA) erfüllen
• das Deutsche Kinderkrebsregister an der Universität Mainz
• das Deutsche Kindertumorregister an der Universität Schleswig
Holstein
• die Therapieoptimierungsstudien der GPOH mit den jeweiligen
Referenzzentren
• die GPOH Biomaterialbanken
• das Pädiatrische Register für
Stammzelltransplantation an der
Universität Frankfurt
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100
80
60
40
20
14
10
20
00
20
90
20
80
19
70
AML
ALL
NHL
Ewing sarcoma
Brain tumors
M-Hodgkin
19
60
19
50
19
40
0
19
Das seltene Vorkommen kindlicher
Krebserkrankungen und die Notwendigkeit einer großen ärztlichen und pflegerischen Erfahrung
in der Steuerung der meist sehr aggressiven Therapie und ihrer Nebenwirkungen haben zu einer
Zentralisierung der Patientenversorgung in speziellen Kliniken geführt [2].
Deutschlandweit werden > 95%
aller Kinder und Jugendlichen mit
einer Krebserkrankung in 58 spezialisierten Zentren im Rahmen sogenannter
Therapieoptimierungsstudien diagnostiziert und
behandelt. Diese Studien dienen
der Qualitätssicherung, Standardisierung und Optimierung von Therapieoptionen und stellen den
Goldstandard der kinderonkologischen Behandlung dar.
Diagnostik und Therapie erfolgen
konsequent nach den Vorgaben
dieser Studien, um die Heilungschancen des Patienten zu wahren
und Nebenwirkungen zu begrenzen. Behandlungsverläufe und –
ergebnisse werden dabei detailliert dokumentiert und ausgewertet, um aus den erhobenen Daten
die Qualität des Behandlungskonzepts zu bewerten. Nachfolgende
Therapiekonzepte führen diese Erkenntnisse der klinischen Forschung mit parallel dazu erarbeiteten Ergebnissen der Grundlagenforschung zusammen, um die Therapie in Folgestudien weiter zu optimieren [2].
Es geht bei den Therapieoptimierungsstudien also nicht um klassische Pharmastudien zur Zulassung
neuer Medikamente, sondern um
die kontinuierliche Verbesserung
der Therapie. Die Durchführung
dieser akademisch geführten und
durch öffentliche Gelder oder
Spenden finanzierten klinischen
Studien ist für die Weiterentwicklung von Therapieoptionen von
enormer Bedeutung.
In Folge einer europäischen Gesetzesnovelle zu klinischen Studien
aus 2001 [3] ist die Anzahl der Therapieoptimierungsstudien
der
GPOH aufgrund hoher administrativer Hürden und Kosten in den
letzten Jahren leider deutlich zurückgegangen und innovative Studienkonzepte wurden zunehmend durch einfache Datenregister ersetzt.
Damit wurde die Behandlungssituation für krebskranke Kinder in Europa verschlechtert. 2014 wurde
von der EU eine novellierte Verordnung zu klinischen Studien verabschiedet, die Fortschritte bringen
wird [4].
Dazu gehören einheitliche Genehmigungsverfahren auf europäischer Ebene, die Straffung von Abläufen durch enge Fristsetzungen
und die extrem sinnvolle Einführung der Begrifflichkeit der minimal-interventionellen Studien. Insbesondere von letzterer profitieren die pädiatrisch-onkologischen
Studien, in denen der Einsatz bekannter zugelassener Medikamente außerhalb der eigentlichen
Indikationsstellung
(Off-LabelUse) mit bis zu 87% aller eingesetzten Medikamente die Regel ist.
Der G-BA hat 2006 die gesetzlichen
Voraussetzungen für die Zulassung
pädiatrisch-onkologischer
Zentren für die Behandlung dieser
Patienten festgelegt und zugleich
die Behandlung auf diese Zentren
beschränkt [5].
Bereits bei Verdacht auf eine Krebserkrankung müssen Kinder und
Jugendliche bis 18 Jahre in eine
kinderonkologische Behandlungseinrichtung überwiesen werden,
in der eine fachkompetente ärztli-
19
• Arbeitsgruppen u.a. zur Lebensqualität, psychosozialen Betreuung und Erfassung von Spätfolgen
• die Arbeitsgemeinschaft für
Pädiatrische Radioonkologie (APRO)
Germ cell tumors
Neuroblastoma
Osteosarcoma
Rhabdornyosarcoma
nephroblastoma
Abb. 2: Anstieg der 2-Jahres- (bis 1970)
und 5-Jahres-Überlebensraten
von krebskranken Kindern und Jugendlichen in Deutschland seit 1940.
Quelle: Deutsches Kinderkrebsregister
und http://www.kinderkrebsinfo.de
che, pflegerische und psychosoziale Versorgung nach den Infrastruktur-Kriterien des G-BA gewährleistet ist [5].
Darüber hinaus ist nur dann ein guter Therapieerfolg möglich, wenn
Spezialisten anderer Fachrichtungen (Kinderchirurgen, pädiatrische Neurochirurgen, Radiologen,
Strahlentherapeuten, Pathologen
usw.) interdisziplinär an Diagnostik und Therapie teilhaben. Zudem
ist die psychosoziale Versorgung
ein wichtiger und unverzichtbarer
Bestandteil der pädiatrisch-onkologischen Gesamtbehandlung, der
sich im klinischen Alltag bewährt
hat [6].
Aktueller Stand der Diagnostik
Prinzipiell erfolgt die Diagnostik in
der pädiatrischen Onkologie nach
den gleichen Prinzipien und mit
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den gleichen Methoden, die in der
Onkologie erwachsener Patienten
Anwendung finden. Während ein
Großteil der Initialdiagnostik bei
Erwachsenen ambulant erfolgen
kann, erfolgen die Staging-Untersuchungen bei tumorerkrankten
Kindern in der Regel jedoch unter
stationären Bedingungen in einer
erfahrenen pädiatrisch-onkologischen Klinik.
Eine kritische Auswahl der Untersuchungsverfahren und Interpretation der Ergebnisse ist die Voraussetzung für eine korrekte Diagnose. Die Zuweisung zur spezialisierten Diagnostik (z.B. MIBG-Szintigraphie bei Neuroblastom) erfolgt durch den pädiatrischen Onkologen, der sich als „Fallmanager“ für die gesamte Behandlung
versteht.
Insbesondere aufwändigere oder
schmerzhafte Untersuchungen erfordern bei Kindern eine adäquate
Sedierung oder Narkose. Eine gute
Planung der Sequenz notwendiger diagnostischer Maßnahmen ist
im Interesse des Kindes wichtig,
denn so kann ein Teil der Diagnostik im Rahmen einer einzigen Narkose erfolgen.
Bei vielen Tumoren des Kindesalters hängen die Therapiestrategien entscheidend von der richtigen Beurteilung der Staging-Ergebnisse ab. So werden z.B. Nephroblastome nach radiologischer
Diagnosestellung und Bestätigung
durch das nationale BildgebungsReferenzzentrum nicht primär
operiert, sondern ohne histologische Diagnosesicherung primär
chemotherapiert [7].
Bei den meisten Hirntumoren hingegen ist eine primär möglichst
weitgehende operative Tumorentfernung entscheidend für die
weitere Prognose.
Der Stellenwert der molekularen
Diagnostik für die adäquate Risikostratifizierung hat bei vielen
Krebsarten wesentlich zugenom-
men [8-10]. Eine unvollständige
Initialdiagnostik kann zur falschen
Therapiestrategie führen oder die
sichere Beurteilung des Therapieansprechens verhindern.
Aktuelle
Behandlungskonzepte
Generell erfolgt die onkologische
Therapie bei Kindern multimodal
und risikoadaptiert [11]. Eine onkologische Primärtherapie außerhalb der etablierten Therapieoptimierungsstudien ist abzulehnen,
da bereits geringfügige Änderungen die erreichbaren günstigen Ergebnisse gefährden können. Vor
allem in diagnostisch oder therapeutisch unklaren Situationen sind
die Referenzeinrichtungen und
Studienzentralen zwingend miteinzubeziehen.
Pädiatrisch-onkologische Erkrankungen wachsen in der Regel
schnell und metastasieren früh.
Daher hat die Chemotherapie im
Rahmen des Behandlungskonzepts einen besonders hohen Stellenwert. Die Behandlung erfolgt
häufig nach einem neoadjuvanten
Konzept - einer Kombination von
intensiver Polychemotherapie mit
etablierten Zytostatika in unterschiedlicher Kombination und einer lokalen operativen und/oder
strahlentherapeutischen Behandlung.
Fast alle Krebserkrankungen im
Kindesalter sprechen auf eine Behandlung mit Zytostatika an. Da
die oft beachtlichen Behandlungserfolge immer auf dieser Basis erreicht wurden, erfolgt auch der
Einsatz neuerer Zytostatika oder
molekular gezielter Medikamente
in der Primärtherapie kindlicher
Malignome ausschließlich im Rahmen klinischer Studienprotokolle.
Der Zeitpunkt der Operation
hängt von der Verdachtsdiagnose
ab und oft ist eine initiale Biopsie
ausreichend [12]. Der Operateur
muss in der pädiatrischen Tumor-
chirurgie ausreichend erfahren
sein. Aufgrund der Seltenheit der
Tumoren ist daher eine Verlegung
in ein erfahrenes kinderchirurgisches Zentrum zur Operation
manchmal erforderlich.
Für die meisten Tumorentitäten ist
inzwischen auch eine komplexe
molekulare Untersuchung des Tumormaterials zur Risikoadaptation der Therapie erforderlich, deren genaue Kenntnis für die OPPlanung unabdingbar ist. Hierzu
stehen neben den Referenzzentren nationale Biomaterialbanken
zur Verfügung [13]. In speziell dafür ausgerüsteten Tumorboxen
werden Tumormaterial und andere Gewebe- oder Blutproben direkt aus dem OP an die betreffenden zentralen Referenzeinrichtungen gesandt.
Die Strahlentherapie ist ein unverzichtbarer Bestandteil der multimodalen Kombinationstherapie
kinderonkologischer Erkrankungen [11]. Sie wird sowohl in kurativen Konzepten als auch in der Palliation eingesetzt.
Auch die Radiotherapie von Kindern sollte nur in Kliniken erfolgen, die über entsprechende Erfahrung auf diesem Gebiet verfügen. Indikationsstellungen und
Festlegungen der zu bestrahlenden Region sowie der Dosierungen
und der Fraktionierungen werden
für die unterschiedlichen Tumorarten von den jeweiligen Studienzentralen und der APRO beraten
und unter Berücksichtigung der
weiteren
Therapiemodalitäten,
des Alters der Patienten und histologischer Kriterien abgestimmt
[14].
Die kurativ erforderliche Radikalität ist dabei gegenüber möglichen
Spätfolgen der Behandlung abzuwägen, denn die betroffenen Kinder befinden sich oft noch in einer
Wachstums- und Entwicklungsphase.
Die Möglichkeiten der klassischen
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3-Säulen Therapie scheinen heute
weitgehend ausgeschöpft zu sein,
da die Heilungsraten bei den meisten kindlichen Krebserkrankungen trotz Intensivierung der Therapie stagnieren.
Wesentliche Verbesserungen der
Heilungsraten lassen sich mit einer
Therapieintensivierung
nicht
mehr erreichen. Daher gelangen
auch in der pädiatrischen Onkologie neue Therapiestrategien zur
Anwendung. Molekular gezielte
Medikamente und Immuntherapien werden bisher allerdings nahezu ausschließlich in Rezidivsituationen (und auch hier nur im Rahmen von Studien) erprobt.
Neue Wege der Diagnostik und
Therapie
In der molekularen Diagnostik stehen uns heute Hochdurchsatzmethoden wie die Sequenzierung von
Genen zur Verfügung, mit deren
Hilfe wir uns ein umfassendes Bild
der komplexen Mechanismen der
Krebsentstehung machen können.
Die erfolgreiche Anwendung dieser Verfahren ist in der pädiatrischen Onkologie weit fortgeschritten und ebnet nicht nur den Weg
für noch präzisere Diagnosen und
Risikostratifizierungen, sondern
auch für maßgeschneiderte Behandlungsansätze jedes Patienten
[2].
Mit der molekularen Analyse einer
einzelnen Tumorbiopsie gewinnen wir zur Zeit allerdings noch einen relativ oberflächlichen Einblick in die Biologie eines Tumors,
die sehr viel heterogener ist, als eine einzelne Biopsie vermuten lässt.
Die molekularen Eigenschaften eines Tumors unterscheiden sich
zwischen Metastasen und Primärtumor, ebenso wie zwischen Rezidiv und Primärtumor [15], da sich
der Tumor mit erstaunlicher Flexibilität durch Selektion primär resistenter Klone oder durch Aktivierung alternativer Signalwege an
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eine Therapie anpassen kann.
Die molekulare Analyse einer Tumorerkrankung durch Biopsie ist
also lediglich eine Momentaufnahme eines Teils der Tumorerkrankung, und sollte zukünftig
durch vermutlich aussagekräftigere Liquid Biopsies aus Blut oder
Knochenmark der Patienten [16]
im Zeitverlauf der Therapie ergänzt werden.
Die Erwartung an die molekulare
Tumortherapie ist auch bei Kindern ein möglichst spezifischer
und effektiver Angriff auf die malignen Zellen unter Vermeidung
von Begleittoxizitäten. Die HauptLimitation ist wie bei der Chemotherapie die Anpassungsfähigkeit
des Tumors, die bei Behandlung
mit einer einzigen molekular gezielten Substanz relativ schnell zu
Resistenzen führt.
Mögliche zukünftige Lösungen
stellen die Kombination mit Chemotherapie oder die komplementäre Applikation mehrerer molekular gezielter Medikamente dar,
die unterschiedliche Signalwege
der Krebszelle angreifen.
Kaum ein Gebiet wird im Augenblick so intensiv beforscht wie Immuntherapien (Antikörpertherapien, adoptive T-Zelltherapie oder
Tumorvakzinierungsstrategien)
gegen kindliche Krebserkrankungen. Insbesondere der Einsatz von
Antikörpern in der pädiatrischen
Onkologie ist bei einigen Erkrankungen ein großer Erfolg [17,18].
Für die Therapie großer solider Tumoren sind monoklonale Antikörper allerdings oft ungeeignet, da
hierbei ein Verteilungs- und Reichweitenproblem vorliegt. Mit einer
Molekülmasse von etwa 150 kDa
sind Antikörper in ihrer Gewebegängigkeit eingeschränkt und
können oft nur unzureichend in
tiefere Tumorschichten eindringen.
Immun-Escape-Mechanismen des
Tumors bewirken zudem, dass
nicht genügend Antikörper den
Tumor erreichen.
Die besten Therapieerfolge werden bislang bei Leukämien erzielt,
da sie keine großen Tumoren bilden und das Verteilungsproblem
somit nicht gegeben ist. Ein gutes
Beispiel ist der erfolgreiche Einsatz
des monoklonalen Antikörpers Blinatumomab (gerichtet gegen
CD19) bei akuten lymphoblastischen Leukämien (B-VorläuferALL) im Kindesalter [17].
Im Fall von soliden Tumoren wird
die Therapie mit monoklonalen
Antikörpern meist nur bei minimaler Resterkrankung nach operativer Tumorentfernung und Chemotherapie durchgeführt, um einzelne freie Tumorzellen im Körper zu
vernichten und dadurch die Bildung von Metastasen zu verhindern. Das erfolgreichste Beispiel in
der pädiatrischen Onkologie ist
hierbei der Einsatz eines Anti-GD2
Antikörpers beim Neuroblastom
[18].
Dieser Tumor weist eine hohe Expression des Gangliosids GD2 an
seiner Oberfläche auf. Der Einsatz
einer Immuntherapie unter Verwendung des Anti-GD2-Antikörpers ch14.18 bei Hochrisiko-Neuroblastompatienten mit minimaler
Resterkrankung führte in einer
amerikanischen Studie zu einem signifikanten
Überlebensvorteil
[18].
Ein weiterer, sehr vielversprechender immuntherapeutischer Ansatz
besteht im Einsatz genetisch veränderter T-Lymphozyten des Patienten oder eines gesunden Spenders, die mit sog. „chimeric antigen
receptors„ (CARs) ausgestattet
werden, die eine Erkennung von
Tumorzellen über Oberflächenmerkmale ermöglichen. CARtransduzierte T-Zellen haben eine
beeindruckende Wirksamkeit bei
therapierefraktärer kindlicher BALL gezeigt: in einer Phase 1/2aStudie mit 39 pädiatrischen ALL-
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Patienten kamen 92% der behandelten Kinder in eine komplette
Remission [19,20].
Ob diese Ansätze auch bei soliden
Tumoren eine Rolle spielen werden, wird derzeit in verschiedenen
Studien getestet [21]. Die ersten
klinischen Ergebnisse zeigen, wie
wichtig die sorgfältige Auswahl
der Zielstruktur ist, die idealerweise selektiv nur im Tumor exprimiert sein sollte. Ansonsten sind
erhebliche Nebenwirkungen sehr
wahrscheinlich.
Neue Ansätze sogenannter Checkpoint-Inhibitoren sind in der pädiatrischen Onkologie gerade erst
in frühen klinischen Studien angekommen. Da die Substanzklasse in
ihrem Wirkmechanismus nicht entitätenspezifisch ist, könnte es bei
jeder Tumorart eine Subgruppe
von Patienten geben, die erheblich
profitiert. Die Effektivität bei kindlichen Krebserkrankungen bleibt
aber noch abzuwarten.
Die meisten immuntherapeutischen Verfahren sind ungleich
komplexer als die bisherigen Behandlungsverfahren, sie setzen
mitunter eine sehr aufwändige
Diagnostik bis hin zur Genomsequenzierung und das Vorhalten
extensiver Infrastruktur mit GMPzertifizierten Herstellungsräumen
voraus. Es wird sich zeigen, wie effektiv die Behandlungskonzepte
sein werden, wie sie sich in die derzeitige pädiatrisch-onkologische
Versorgungslandschaft integrieren lassen und vor allem wie sie zu
finanzieren sind.
Das drängendste Problem in der
Kinderonkologie sind heute Rezidive der jeweiligen Krebserkrankung, von denen in Deutschland
jedes Jahr etwa 600 Kinder und Jugendliche betroffen sind. Zum
Zeitpunkt des Rückfalls sind die
konventionellen Therapien oft
schon weitgehend ausgereizt. Die
Analyse der molekularen Eigenschaften jedes Tumors eröffnet die
neue Möglichkeit, individuell
„passende“ Medikamente auszuwählen und den möglichen Effekt
1,99
2,0
1,87
Durchschnittliche Veränderung
jährlicher Prozentsätze
1,63
1,5
1,43
1,83
1,61
Nachsorge
Langzeitüberlebender
1,59
1,53
1,43
1,26
1,14
1,04
1,0
0,90
0,59
0,53
0,5
0,23
0,03
0,0
-0,18
85 +
80 – 84
75 – 79
70 – 74
65 – 69
60 – 64
55 – 59
50 – 54
45 – 49
40 – 44
35 – 39
30 – 34
25 – 29
20 – 24
15 – 19
10 – 24
5 – 9
-0,5
<5
dieser gezielten Therapie zu überprüfen.
Ziel eines neuen deutschlandweiten Projektes unter dem Namen
„INFORM“ ist es, molekular gezielte Medikamente in einer gegen
den einzelnen Tumor möglichst
maßgeschneiderten Form bei ansonsten quasi unheilbaren Rezidiven einer pädiatrischen Krebserkrankung einzusetzen. Unter dem
Dach der GPOH sind 11 Studiengruppen und 58 Behandlungszentren am INFORM-Register beteiligt. Nach Abschluss der Machbarkeitsstudie [22] wird ab 2017 im
Rahmen einer klinischen Studie
geprüft, ob und bei welchen
Krebsarten das individualisierte
Konzept im Vergleich zur bisherigen einheitlichen Chemotherapie
Vorteile bringt.
Eine Verabreichung molekular gezielter Medikamente außerhalb
klinischer Studien ist im Sinne eines Erkenntnisgewinns und zukünftiger Verbesserung der Therapiestrategien nicht zielführend
und sollte auch bei Rezidiven möglichst unterbleiben.
Alter bei der Diagnose (in Jahren)
Abb. 3: Verbesserung der 5-Jahres Überlebensraten invasiver Krebsarten in verschiedenen Altersgruppen. Quelle: SEER Report 1975-1997 und [24,25]
In der EU erkranken jährlich >
12.000 Patienten im Alter von 1524 Jahren an Krebs. Diese Altersgruppe (Adolescents and Young
Adults = AYA) fällt dabei oft in eine Kompetenzlücke zwischen Kinder- und Erwachsenenonkologie
und ihre altersspezifischen Bedürfnisse kommen häufig unzureichend zur Geltung [23-25]. AYAPatienten haben bislang am wenigsten von der globalen Zunahme
der onkologischen Überlebensraten profitiert ( Abb. 3). In den
Kinderkliniken fehlt es zudem oft
an einer systematischen Entwicklung medizinischer und psychosozialer Angebote für Jugendliche.
Die Vernetzung mit anderen Disziplinen bei der Betreuung jugendli-
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ONKOLOGIE heute
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cher Patienten mit Malignomen,
die typischerweise ältere Patienten betreffen, stellt ebenso eine
Herausforderung dar wie die Einbindung der pädiatrischen Onkologie bei jungen Erwachsenen mit
typischen pädiatrischen Malignomen.
Überregional
nutzbare
Strukturen zur Transition in die Erwachsenenmedizin
existieren
kaum. Diesen Themenfeldern widmet sich seit einigen Monaten eine
neu gegründete multiprofessionelle Arbeitsgemeinschaft Adoleszente/junge Erwachsene/Transition (AjET) der GPOH. Neben der
Weiterentwicklung der Strukturen
innerhalb der GPOH gilt das Augenmerk dabei der Vernetzung
mit der Erwachsenen- und Organmedizin und internationalen Partnern sowie der Einbindung der Betroffenen.
Die maligne Erkrankung und ihre
Behandlung können nicht nur vorübergehende physische und psychische Belastungen und akute Nebenwirkungen auslösen, sondern
auch dauerhafte Spätfolgen [26,
27].
Diese Spätschäden können nach
Abschluss der aktiven onkologischen Behandlung weiterbestehen oder sich erst entwickeln. USamerikanische Daten berichten,
dass ca. 2/3 aller noch lebenden Patienten 30 Jahre nach ihrer Krebsbehandlung im Kindesalter unter
Spätfolgen leiden. Solche Zahlen
liegen für Deutschland noch nicht
vor. Zu den bedeutsamen Spätfolgen nach antineoplastischer Therapie im Kindesalter gehören Hörverluste durch Platinderivate, Kardiomyopathien durch Anthrazykline, Einschränkungen der Nierenfunktion durch Ifosfamid, Störungen endokriner Funktionen mit
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Minderwuchs, Schilddrüsenunterfunktionen und Infertilität durch
Strahlentherapie und Alkylantien,
neuropsychologische und kognitive Leistungsstörungen durch Schädelbestrahlung in Kombination
mit Chemotherapie und Zweitmalignome (4,8 % in 25 Jahren!)
durch Strahlentherapie und Topoisomerase-II-Inhibitoren.
In der pädiatrischen Onkologie
wurde schon seit den 1980er Jahren der Bogen von der Therapieplanung bis in die Nachsorge gespannt, um die Überlebensqualität
zu dokumentieren [26, 28, 29].
1998 wurde das Late Effects Surveillance System (LESS) etabliert,
in dem prospektiv die Überlebenden auf Spätfolgen untersucht
werden [28, 29]. Viele der Geheilten sind mit einer guten Leistungsfähigkeit in unserer Gesellschaft
integriert, können ihre beruflichen Fähigkeiten entwickeln und
Familien gründen. Es fehlen in
Deutschland allerdings spezialisierte Nachsorgezentren für Langzeitüberlebende einer pädiatrischen Krebserkrankung, die es aufzubauen gilt [26].
Patienten sollen hier zukünftig individuelle, risikoadaptierte Nachsorgepläne basierend auf den
Empfehlungen der jeweiligen Studie erhalten, die eine Früherkennung und adäquate Behandlung
möglicher Spätfolgen sicherstellen. Hier sollen sich Betroffene
auch symptomorientiert an Spezialisten wenden können und eine
leitliniengerechte Behandlung erfahren.
Im europäischen PanCare-Netzwerk
(http://www.pancare.eu)
werden nicht nur Nachsorgeempfehlungen formuliert und ein Patientenpass entwickelt, sondern in
großen Patientenkohorten werden auch die wesentlichen Spätfolgen nach einer Krebserkrankung
im Kindes- und Jugendalter untersucht. Die deutsche VIVE-Studie
(http://www.kinderkrebsinfo.de/fachinformationen/nachsorge/spaetfolgen/projekt_vive/index_ger. html) erfasst ebenfalls Spätfolgen nach Krebs im Kindes- und Jugendalter bei ca. 9.000
ehemaligen Patienten. Das Projekt
verfolgt das Ziel, die Lebensqualität der langzeitüberlebenden Patienten nachhaltig zu verbessern.
Der Erhalt von Gesundheit und Lebensqualität nach der Behandlung
von Krebs in allen Altersschichten
wird zukünftig für die Gesellschaft
nicht nur einen sozialen, sondern
auch einen wirtschaftlichen Faktor
darstellen.
Literatur: www.onkologie-heute.info
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Angelika Eggert
Direktorin, Klinik für Pädiatrie mit
Schwerpunkt Onkologie und
Hämatologie
Vorstandsvorsitzende, GPOH e.V.
Charité Universitätsmedizin in Berlin
Otto-Heubner-Centrum für Kinderund Jugendmedizin
13353 Berlin,
Augustenburger Platz 1
E-Mail: [email protected]
Prof. Dr.
Angelika Eggert
Vorstandsvorsitzende GPOH e.V.
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