48 UPDATE CME Pädiatrische Onkologie – ein Überblick Angelika Eggert, Charité – Universitätsmedizin Berlin In Deutschland erkrankt etwa jedes 500. Kind an Krebs. Aufgrund der alters- und erkrankungsbedingten besonderen Anforderungen erfolgen Diagnostik und Therapie kindlicher Krebserkrankungen in spezialisierten, interdisziplinären Behandlungszentren mit definierten Infrastrukturmerkmalen. Eingebunden sind diese pädiatrisch-onkologischen Zentren in ein etabliertes Netzwerk klinischer und wissenschaftlicher Referenzeinrichtungen unter dem Dach der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH). Behandlungen innerhalb dieser Strukturen sorgen seit Jahrzehn- ten für zunehmend bessere Heilungschancen unter Minimierung therapieassoziierter Akut- und Spätfolgen. Innerhalb der jeweiligen Therapieoptimierungsstudien werden bewährte Behandlungsstrategien fortlaufend evaluiert und neue Therapieoptionen unter kontrollierten Bedingungen untersucht und weiterentwickelt. Krebs bei Kindern und Jugendlichen – aktueller Stand Eine Krebserkrankung ist in den westlichen Ländern die häufigste tödliche Krankheit bei Kindern und Jugendlichen. Jährlich erkranken in Deutschland rund 1.760 Kinder < 15 Jahre und ca. 350 Jugendliche von 15 bis 18 Jahren neu an Krebs [1]. Das Spektrum kindlicher Krebserkrankungen unterscheidet sich grundlegend von dem des Erwachsenenalters. Während Karzinome > 90% der Neuerkrankungen bei Erwachsenen ausmachen, sind diese bei Kindern mit < 1,5 % ausgesprochen selten. Daher lassen sich Erkenntnisse aus der Erwachsenen-Onkologie oft nur wenig auf die pädiatrische Onkologie übertragen [2]. Auch neue Medikamente, die für Karzinome des Erwachsenenalters entwickelt wurden, sind oft für die Therapie kindlicher Malignome nicht optimal geeignet. Daher ist eine gezielte Krebsforschung für Kinder, die sich mit den besonderen molekularen, biologischen und klinischen Eigenschaften kindlicher Krebserkrankungen ONKOLOGIE heute 07/2016 UPDATE 49 CME Relative Häufigkeiten der an das Deutsche Kinderkrebsregister gemeldeten Erkrankungsfälle nach Diagnose-Hauptgruppen* Keimzelltumoren 4,0 % Weichteilsarkome 6,1 % Sonstige Diagnosen 5,8 % Knochentumoren 5,2 % Periphere Nervenzelltumoren 5,8 % 320 280 Mädchen 240 Leukämien 30,6 % Nierentumoren 4,6 % Alters- und geschlechtsspezifische Erkrankungsraten (pro 1 Million der jeweiligen Altersgruppe)* Jungen 200 160 120 80 ZNS-Tumoren 23,8 % Lymphome 14,2 % 40 0 <1 1 2 3 4 5 6 ZNS: Zentrales Nervensystem 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 *2009-2014, basierend auf insgesamt 12568 unter 18-jährigen Patienten Abb.1: Häufigkeitsverteilung von Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Links: Relative Häufigkeiten nach Diagnose-Hauptgruppen. Rechts: Alters- und geschlechtsspezifische Erkankungsraten. Quelle: Deutsches Kinderkrebsregister, Jahresbericht 2015. beschäftigt, zwingend erforderlich. Krebserkrankungen von Kindern und Jugendlichen zeichnen sich durch eine Reihe weiterer Besonderheiten aus: • Krebs bei Kindern und Jugendlichen ist selten. • Biologisch handelt es sich um Erkrankungen, die in den meisten Fällen kurativ behandelt werden können. • Die genetische Komplexität kindlicher Krebserkrankungen ist vergleichsweise niedrig, so dass sich relevante Mutationen leichter identifizieren lassen. • Eine Heilungsrate von aktuell > 80% hat dazu geführt, dass heute in Deutschland fast 40.000 Überlebende einer kindlichen Krebserkrankung einen speziellen Bedarf an gesundheitlicher Beratung haben. Die häufigsten Erkrankungen bei Kindern sind Leukämien (30,6%), Hirntumore (23,8%) und Lymphome (14,2%) ([1], Abb.1). Etwas weniger häufig sind Neuroblastome (5,8%), Nephroblastome (4,6%) und Hepatoblastome (1%). Das Retinoblastom ist mit 2% der häufigste bösartige Augentumor. Die häufigsten Sarkome im Kindesalter sind Weichteilsarkome (6,1%) und Knochentumore (5,2%, Osteosarkome und EwingSarkome). Das Diagnosespektrum ist in den einzelnen Altersklassen sehr unterschiedlich. Während embryonale Tumore vor allem im Kleinkindesalter vorkommen, sind Knochentumore besonders bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu verzeichnen. Die Überlebensraten bei Krebserkrankungen im Kindesalter sind in den zurückliegenden Dekaden dank verbesserter Diagnostik und multimodaler Therapiekonzepte deutlich angestiegen [1]. Während die 5-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit für krebserkrankte Kinder 1980 in Deutschland noch bei 69% lag, liegt dieser Wert mittlerweile bei deutlich über 80% ( Abb. 2). Die Kinderonkologie ist ein Beispiel dafür, wie durch die konsequente Erfassung aller Erkrankungen in einem Krebsregister und ein einheitliches, multizentrisches, evidenzbasiertes Vorgehen die Prognose der Erkrankung verbessert werden kann. Struktur der pädiatrischen Onkologie in Deutschland Die Erfolgsgeschichte der pädiatrischen Onkologie wurde vor allem durch den Aufbau vernetzter Strukturen für Erfassung, Diagnostik, Therapie und Nachsorge pädiatrisch-onkologischer Erkrankungen unter dem Dach der GPOH ermöglicht [2]. Dazu gehören: • 58 spezialisierte Behandlungszentren, die die erforderlichen Infrastrukturkriterien nach Vorgabe des Gemeinsamen Bundesauschuss (G-BA) erfüllen • das Deutsche Kinderkrebsregister an der Universität Mainz • das Deutsche Kindertumorregister an der Universität Schleswig Holstein • die Therapieoptimierungsstudien der GPOH mit den jeweiligen Referenzzentren • die GPOH Biomaterialbanken • das Pädiatrische Register für Stammzelltransplantation an der Universität Frankfurt 07/2016 ONKOLOGIE heute 50 UPDATE CME ONKOLOGIE heute 07/2016 100 80 60 40 20 14 10 20 00 20 90 20 80 19 70 AML ALL NHL Ewing sarcoma Brain tumors M-Hodgkin 19 60 19 50 19 40 0 19 Das seltene Vorkommen kindlicher Krebserkrankungen und die Notwendigkeit einer großen ärztlichen und pflegerischen Erfahrung in der Steuerung der meist sehr aggressiven Therapie und ihrer Nebenwirkungen haben zu einer Zentralisierung der Patientenversorgung in speziellen Kliniken geführt [2]. Deutschlandweit werden > 95% aller Kinder und Jugendlichen mit einer Krebserkrankung in 58 spezialisierten Zentren im Rahmen sogenannter Therapieoptimierungsstudien diagnostiziert und behandelt. Diese Studien dienen der Qualitätssicherung, Standardisierung und Optimierung von Therapieoptionen und stellen den Goldstandard der kinderonkologischen Behandlung dar. Diagnostik und Therapie erfolgen konsequent nach den Vorgaben dieser Studien, um die Heilungschancen des Patienten zu wahren und Nebenwirkungen zu begrenzen. Behandlungsverläufe und – ergebnisse werden dabei detailliert dokumentiert und ausgewertet, um aus den erhobenen Daten die Qualität des Behandlungskonzepts zu bewerten. Nachfolgende Therapiekonzepte führen diese Erkenntnisse der klinischen Forschung mit parallel dazu erarbeiteten Ergebnissen der Grundlagenforschung zusammen, um die Therapie in Folgestudien weiter zu optimieren [2]. Es geht bei den Therapieoptimierungsstudien also nicht um klassische Pharmastudien zur Zulassung neuer Medikamente, sondern um die kontinuierliche Verbesserung der Therapie. Die Durchführung dieser akademisch geführten und durch öffentliche Gelder oder Spenden finanzierten klinischen Studien ist für die Weiterentwicklung von Therapieoptionen von enormer Bedeutung. In Folge einer europäischen Gesetzesnovelle zu klinischen Studien aus 2001 [3] ist die Anzahl der Therapieoptimierungsstudien der GPOH aufgrund hoher administrativer Hürden und Kosten in den letzten Jahren leider deutlich zurückgegangen und innovative Studienkonzepte wurden zunehmend durch einfache Datenregister ersetzt. Damit wurde die Behandlungssituation für krebskranke Kinder in Europa verschlechtert. 2014 wurde von der EU eine novellierte Verordnung zu klinischen Studien verabschiedet, die Fortschritte bringen wird [4]. Dazu gehören einheitliche Genehmigungsverfahren auf europäischer Ebene, die Straffung von Abläufen durch enge Fristsetzungen und die extrem sinnvolle Einführung der Begrifflichkeit der minimal-interventionellen Studien. Insbesondere von letzterer profitieren die pädiatrisch-onkologischen Studien, in denen der Einsatz bekannter zugelassener Medikamente außerhalb der eigentlichen Indikationsstellung (Off-LabelUse) mit bis zu 87% aller eingesetzten Medikamente die Regel ist. Der G-BA hat 2006 die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung pädiatrisch-onkologischer Zentren für die Behandlung dieser Patienten festgelegt und zugleich die Behandlung auf diese Zentren beschränkt [5]. Bereits bei Verdacht auf eine Krebserkrankung müssen Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre in eine kinderonkologische Behandlungseinrichtung überwiesen werden, in der eine fachkompetente ärztli- 19 • Arbeitsgruppen u.a. zur Lebensqualität, psychosozialen Betreuung und Erfassung von Spätfolgen • die Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Radioonkologie (APRO) Germ cell tumors Neuroblastoma Osteosarcoma Rhabdornyosarcoma nephroblastoma Abb. 2: Anstieg der 2-Jahres- (bis 1970) und 5-Jahres-Überlebensraten von krebskranken Kindern und Jugendlichen in Deutschland seit 1940. Quelle: Deutsches Kinderkrebsregister und http://www.kinderkrebsinfo.de che, pflegerische und psychosoziale Versorgung nach den Infrastruktur-Kriterien des G-BA gewährleistet ist [5]. Darüber hinaus ist nur dann ein guter Therapieerfolg möglich, wenn Spezialisten anderer Fachrichtungen (Kinderchirurgen, pädiatrische Neurochirurgen, Radiologen, Strahlentherapeuten, Pathologen usw.) interdisziplinär an Diagnostik und Therapie teilhaben. Zudem ist die psychosoziale Versorgung ein wichtiger und unverzichtbarer Bestandteil der pädiatrisch-onkologischen Gesamtbehandlung, der sich im klinischen Alltag bewährt hat [6]. Aktueller Stand der Diagnostik Prinzipiell erfolgt die Diagnostik in der pädiatrischen Onkologie nach den gleichen Prinzipien und mit UPDATE 51 CME den gleichen Methoden, die in der Onkologie erwachsener Patienten Anwendung finden. Während ein Großteil der Initialdiagnostik bei Erwachsenen ambulant erfolgen kann, erfolgen die Staging-Untersuchungen bei tumorerkrankten Kindern in der Regel jedoch unter stationären Bedingungen in einer erfahrenen pädiatrisch-onkologischen Klinik. Eine kritische Auswahl der Untersuchungsverfahren und Interpretation der Ergebnisse ist die Voraussetzung für eine korrekte Diagnose. Die Zuweisung zur spezialisierten Diagnostik (z.B. MIBG-Szintigraphie bei Neuroblastom) erfolgt durch den pädiatrischen Onkologen, der sich als „Fallmanager“ für die gesamte Behandlung versteht. Insbesondere aufwändigere oder schmerzhafte Untersuchungen erfordern bei Kindern eine adäquate Sedierung oder Narkose. Eine gute Planung der Sequenz notwendiger diagnostischer Maßnahmen ist im Interesse des Kindes wichtig, denn so kann ein Teil der Diagnostik im Rahmen einer einzigen Narkose erfolgen. Bei vielen Tumoren des Kindesalters hängen die Therapiestrategien entscheidend von der richtigen Beurteilung der Staging-Ergebnisse ab. So werden z.B. Nephroblastome nach radiologischer Diagnosestellung und Bestätigung durch das nationale BildgebungsReferenzzentrum nicht primär operiert, sondern ohne histologische Diagnosesicherung primär chemotherapiert [7]. Bei den meisten Hirntumoren hingegen ist eine primär möglichst weitgehende operative Tumorentfernung entscheidend für die weitere Prognose. Der Stellenwert der molekularen Diagnostik für die adäquate Risikostratifizierung hat bei vielen Krebsarten wesentlich zugenom- men [8-10]. Eine unvollständige Initialdiagnostik kann zur falschen Therapiestrategie führen oder die sichere Beurteilung des Therapieansprechens verhindern. Aktuelle Behandlungskonzepte Generell erfolgt die onkologische Therapie bei Kindern multimodal und risikoadaptiert [11]. Eine onkologische Primärtherapie außerhalb der etablierten Therapieoptimierungsstudien ist abzulehnen, da bereits geringfügige Änderungen die erreichbaren günstigen Ergebnisse gefährden können. Vor allem in diagnostisch oder therapeutisch unklaren Situationen sind die Referenzeinrichtungen und Studienzentralen zwingend miteinzubeziehen. Pädiatrisch-onkologische Erkrankungen wachsen in der Regel schnell und metastasieren früh. Daher hat die Chemotherapie im Rahmen des Behandlungskonzepts einen besonders hohen Stellenwert. Die Behandlung erfolgt häufig nach einem neoadjuvanten Konzept - einer Kombination von intensiver Polychemotherapie mit etablierten Zytostatika in unterschiedlicher Kombination und einer lokalen operativen und/oder strahlentherapeutischen Behandlung. Fast alle Krebserkrankungen im Kindesalter sprechen auf eine Behandlung mit Zytostatika an. Da die oft beachtlichen Behandlungserfolge immer auf dieser Basis erreicht wurden, erfolgt auch der Einsatz neuerer Zytostatika oder molekular gezielter Medikamente in der Primärtherapie kindlicher Malignome ausschließlich im Rahmen klinischer Studienprotokolle. Der Zeitpunkt der Operation hängt von der Verdachtsdiagnose ab und oft ist eine initiale Biopsie ausreichend [12]. Der Operateur muss in der pädiatrischen Tumor- chirurgie ausreichend erfahren sein. Aufgrund der Seltenheit der Tumoren ist daher eine Verlegung in ein erfahrenes kinderchirurgisches Zentrum zur Operation manchmal erforderlich. Für die meisten Tumorentitäten ist inzwischen auch eine komplexe molekulare Untersuchung des Tumormaterials zur Risikoadaptation der Therapie erforderlich, deren genaue Kenntnis für die OPPlanung unabdingbar ist. Hierzu stehen neben den Referenzzentren nationale Biomaterialbanken zur Verfügung [13]. In speziell dafür ausgerüsteten Tumorboxen werden Tumormaterial und andere Gewebe- oder Blutproben direkt aus dem OP an die betreffenden zentralen Referenzeinrichtungen gesandt. Die Strahlentherapie ist ein unverzichtbarer Bestandteil der multimodalen Kombinationstherapie kinderonkologischer Erkrankungen [11]. Sie wird sowohl in kurativen Konzepten als auch in der Palliation eingesetzt. Auch die Radiotherapie von Kindern sollte nur in Kliniken erfolgen, die über entsprechende Erfahrung auf diesem Gebiet verfügen. Indikationsstellungen und Festlegungen der zu bestrahlenden Region sowie der Dosierungen und der Fraktionierungen werden für die unterschiedlichen Tumorarten von den jeweiligen Studienzentralen und der APRO beraten und unter Berücksichtigung der weiteren Therapiemodalitäten, des Alters der Patienten und histologischer Kriterien abgestimmt [14]. Die kurativ erforderliche Radikalität ist dabei gegenüber möglichen Spätfolgen der Behandlung abzuwägen, denn die betroffenen Kinder befinden sich oft noch in einer Wachstums- und Entwicklungsphase. Die Möglichkeiten der klassischen 07/2016 ONKOLOGIE heute 52 UPDATE CME 3-Säulen Therapie scheinen heute weitgehend ausgeschöpft zu sein, da die Heilungsraten bei den meisten kindlichen Krebserkrankungen trotz Intensivierung der Therapie stagnieren. Wesentliche Verbesserungen der Heilungsraten lassen sich mit einer Therapieintensivierung nicht mehr erreichen. Daher gelangen auch in der pädiatrischen Onkologie neue Therapiestrategien zur Anwendung. Molekular gezielte Medikamente und Immuntherapien werden bisher allerdings nahezu ausschließlich in Rezidivsituationen (und auch hier nur im Rahmen von Studien) erprobt. Neue Wege der Diagnostik und Therapie In der molekularen Diagnostik stehen uns heute Hochdurchsatzmethoden wie die Sequenzierung von Genen zur Verfügung, mit deren Hilfe wir uns ein umfassendes Bild der komplexen Mechanismen der Krebsentstehung machen können. Die erfolgreiche Anwendung dieser Verfahren ist in der pädiatrischen Onkologie weit fortgeschritten und ebnet nicht nur den Weg für noch präzisere Diagnosen und Risikostratifizierungen, sondern auch für maßgeschneiderte Behandlungsansätze jedes Patienten [2]. Mit der molekularen Analyse einer einzelnen Tumorbiopsie gewinnen wir zur Zeit allerdings noch einen relativ oberflächlichen Einblick in die Biologie eines Tumors, die sehr viel heterogener ist, als eine einzelne Biopsie vermuten lässt. Die molekularen Eigenschaften eines Tumors unterscheiden sich zwischen Metastasen und Primärtumor, ebenso wie zwischen Rezidiv und Primärtumor [15], da sich der Tumor mit erstaunlicher Flexibilität durch Selektion primär resistenter Klone oder durch Aktivierung alternativer Signalwege an ONKOLOGIE heute 07/2016 eine Therapie anpassen kann. Die molekulare Analyse einer Tumorerkrankung durch Biopsie ist also lediglich eine Momentaufnahme eines Teils der Tumorerkrankung, und sollte zukünftig durch vermutlich aussagekräftigere Liquid Biopsies aus Blut oder Knochenmark der Patienten [16] im Zeitverlauf der Therapie ergänzt werden. Die Erwartung an die molekulare Tumortherapie ist auch bei Kindern ein möglichst spezifischer und effektiver Angriff auf die malignen Zellen unter Vermeidung von Begleittoxizitäten. Die HauptLimitation ist wie bei der Chemotherapie die Anpassungsfähigkeit des Tumors, die bei Behandlung mit einer einzigen molekular gezielten Substanz relativ schnell zu Resistenzen führt. Mögliche zukünftige Lösungen stellen die Kombination mit Chemotherapie oder die komplementäre Applikation mehrerer molekular gezielter Medikamente dar, die unterschiedliche Signalwege der Krebszelle angreifen. Kaum ein Gebiet wird im Augenblick so intensiv beforscht wie Immuntherapien (Antikörpertherapien, adoptive T-Zelltherapie oder Tumorvakzinierungsstrategien) gegen kindliche Krebserkrankungen. Insbesondere der Einsatz von Antikörpern in der pädiatrischen Onkologie ist bei einigen Erkrankungen ein großer Erfolg [17,18]. Für die Therapie großer solider Tumoren sind monoklonale Antikörper allerdings oft ungeeignet, da hierbei ein Verteilungs- und Reichweitenproblem vorliegt. Mit einer Molekülmasse von etwa 150 kDa sind Antikörper in ihrer Gewebegängigkeit eingeschränkt und können oft nur unzureichend in tiefere Tumorschichten eindringen. Immun-Escape-Mechanismen des Tumors bewirken zudem, dass nicht genügend Antikörper den Tumor erreichen. Die besten Therapieerfolge werden bislang bei Leukämien erzielt, da sie keine großen Tumoren bilden und das Verteilungsproblem somit nicht gegeben ist. Ein gutes Beispiel ist der erfolgreiche Einsatz des monoklonalen Antikörpers Blinatumomab (gerichtet gegen CD19) bei akuten lymphoblastischen Leukämien (B-VorläuferALL) im Kindesalter [17]. Im Fall von soliden Tumoren wird die Therapie mit monoklonalen Antikörpern meist nur bei minimaler Resterkrankung nach operativer Tumorentfernung und Chemotherapie durchgeführt, um einzelne freie Tumorzellen im Körper zu vernichten und dadurch die Bildung von Metastasen zu verhindern. Das erfolgreichste Beispiel in der pädiatrischen Onkologie ist hierbei der Einsatz eines Anti-GD2 Antikörpers beim Neuroblastom [18]. Dieser Tumor weist eine hohe Expression des Gangliosids GD2 an seiner Oberfläche auf. Der Einsatz einer Immuntherapie unter Verwendung des Anti-GD2-Antikörpers ch14.18 bei Hochrisiko-Neuroblastompatienten mit minimaler Resterkrankung führte in einer amerikanischen Studie zu einem signifikanten Überlebensvorteil [18]. Ein weiterer, sehr vielversprechender immuntherapeutischer Ansatz besteht im Einsatz genetisch veränderter T-Lymphozyten des Patienten oder eines gesunden Spenders, die mit sog. „chimeric antigen receptors„ (CARs) ausgestattet werden, die eine Erkennung von Tumorzellen über Oberflächenmerkmale ermöglichen. CARtransduzierte T-Zellen haben eine beeindruckende Wirksamkeit bei therapierefraktärer kindlicher BALL gezeigt: in einer Phase 1/2aStudie mit 39 pädiatrischen ALL- UPDATE 53 CME Patienten kamen 92% der behandelten Kinder in eine komplette Remission [19,20]. Ob diese Ansätze auch bei soliden Tumoren eine Rolle spielen werden, wird derzeit in verschiedenen Studien getestet [21]. Die ersten klinischen Ergebnisse zeigen, wie wichtig die sorgfältige Auswahl der Zielstruktur ist, die idealerweise selektiv nur im Tumor exprimiert sein sollte. Ansonsten sind erhebliche Nebenwirkungen sehr wahrscheinlich. Neue Ansätze sogenannter Checkpoint-Inhibitoren sind in der pädiatrischen Onkologie gerade erst in frühen klinischen Studien angekommen. Da die Substanzklasse in ihrem Wirkmechanismus nicht entitätenspezifisch ist, könnte es bei jeder Tumorart eine Subgruppe von Patienten geben, die erheblich profitiert. Die Effektivität bei kindlichen Krebserkrankungen bleibt aber noch abzuwarten. Die meisten immuntherapeutischen Verfahren sind ungleich komplexer als die bisherigen Behandlungsverfahren, sie setzen mitunter eine sehr aufwändige Diagnostik bis hin zur Genomsequenzierung und das Vorhalten extensiver Infrastruktur mit GMPzertifizierten Herstellungsräumen voraus. Es wird sich zeigen, wie effektiv die Behandlungskonzepte sein werden, wie sie sich in die derzeitige pädiatrisch-onkologische Versorgungslandschaft integrieren lassen und vor allem wie sie zu finanzieren sind. Das drängendste Problem in der Kinderonkologie sind heute Rezidive der jeweiligen Krebserkrankung, von denen in Deutschland jedes Jahr etwa 600 Kinder und Jugendliche betroffen sind. Zum Zeitpunkt des Rückfalls sind die konventionellen Therapien oft schon weitgehend ausgereizt. Die Analyse der molekularen Eigenschaften jedes Tumors eröffnet die neue Möglichkeit, individuell „passende“ Medikamente auszuwählen und den möglichen Effekt 1,99 2,0 1,87 Durchschnittliche Veränderung jährlicher Prozentsätze 1,63 1,5 1,43 1,83 1,61 Nachsorge Langzeitüberlebender 1,59 1,53 1,43 1,26 1,14 1,04 1,0 0,90 0,59 0,53 0,5 0,23 0,03 0,0 -0,18 85 + 80 – 84 75 – 79 70 – 74 65 – 69 60 – 64 55 – 59 50 – 54 45 – 49 40 – 44 35 – 39 30 – 34 25 – 29 20 – 24 15 – 19 10 – 24 5 – 9 -0,5 <5 dieser gezielten Therapie zu überprüfen. Ziel eines neuen deutschlandweiten Projektes unter dem Namen „INFORM“ ist es, molekular gezielte Medikamente in einer gegen den einzelnen Tumor möglichst maßgeschneiderten Form bei ansonsten quasi unheilbaren Rezidiven einer pädiatrischen Krebserkrankung einzusetzen. Unter dem Dach der GPOH sind 11 Studiengruppen und 58 Behandlungszentren am INFORM-Register beteiligt. Nach Abschluss der Machbarkeitsstudie [22] wird ab 2017 im Rahmen einer klinischen Studie geprüft, ob und bei welchen Krebsarten das individualisierte Konzept im Vergleich zur bisherigen einheitlichen Chemotherapie Vorteile bringt. Eine Verabreichung molekular gezielter Medikamente außerhalb klinischer Studien ist im Sinne eines Erkenntnisgewinns und zukünftiger Verbesserung der Therapiestrategien nicht zielführend und sollte auch bei Rezidiven möglichst unterbleiben. Alter bei der Diagnose (in Jahren) Abb. 3: Verbesserung der 5-Jahres Überlebensraten invasiver Krebsarten in verschiedenen Altersgruppen. Quelle: SEER Report 1975-1997 und [24,25] In der EU erkranken jährlich > 12.000 Patienten im Alter von 1524 Jahren an Krebs. Diese Altersgruppe (Adolescents and Young Adults = AYA) fällt dabei oft in eine Kompetenzlücke zwischen Kinder- und Erwachsenenonkologie und ihre altersspezifischen Bedürfnisse kommen häufig unzureichend zur Geltung [23-25]. AYAPatienten haben bislang am wenigsten von der globalen Zunahme der onkologischen Überlebensraten profitiert ( Abb. 3). In den Kinderkliniken fehlt es zudem oft an einer systematischen Entwicklung medizinischer und psychosozialer Angebote für Jugendliche. Die Vernetzung mit anderen Disziplinen bei der Betreuung jugendli- 07/2016 ONKOLOGIE heute 54 CME UPDATE cher Patienten mit Malignomen, die typischerweise ältere Patienten betreffen, stellt ebenso eine Herausforderung dar wie die Einbindung der pädiatrischen Onkologie bei jungen Erwachsenen mit typischen pädiatrischen Malignomen. Überregional nutzbare Strukturen zur Transition in die Erwachsenenmedizin existieren kaum. Diesen Themenfeldern widmet sich seit einigen Monaten eine neu gegründete multiprofessionelle Arbeitsgemeinschaft Adoleszente/junge Erwachsene/Transition (AjET) der GPOH. Neben der Weiterentwicklung der Strukturen innerhalb der GPOH gilt das Augenmerk dabei der Vernetzung mit der Erwachsenen- und Organmedizin und internationalen Partnern sowie der Einbindung der Betroffenen. Die maligne Erkrankung und ihre Behandlung können nicht nur vorübergehende physische und psychische Belastungen und akute Nebenwirkungen auslösen, sondern auch dauerhafte Spätfolgen [26, 27]. Diese Spätschäden können nach Abschluss der aktiven onkologischen Behandlung weiterbestehen oder sich erst entwickeln. USamerikanische Daten berichten, dass ca. 2/3 aller noch lebenden Patienten 30 Jahre nach ihrer Krebsbehandlung im Kindesalter unter Spätfolgen leiden. Solche Zahlen liegen für Deutschland noch nicht vor. Zu den bedeutsamen Spätfolgen nach antineoplastischer Therapie im Kindesalter gehören Hörverluste durch Platinderivate, Kardiomyopathien durch Anthrazykline, Einschränkungen der Nierenfunktion durch Ifosfamid, Störungen endokriner Funktionen mit ONKOLOGIE heute 07/2016 Minderwuchs, Schilddrüsenunterfunktionen und Infertilität durch Strahlentherapie und Alkylantien, neuropsychologische und kognitive Leistungsstörungen durch Schädelbestrahlung in Kombination mit Chemotherapie und Zweitmalignome (4,8 % in 25 Jahren!) durch Strahlentherapie und Topoisomerase-II-Inhibitoren. In der pädiatrischen Onkologie wurde schon seit den 1980er Jahren der Bogen von der Therapieplanung bis in die Nachsorge gespannt, um die Überlebensqualität zu dokumentieren [26, 28, 29]. 1998 wurde das Late Effects Surveillance System (LESS) etabliert, in dem prospektiv die Überlebenden auf Spätfolgen untersucht werden [28, 29]. Viele der Geheilten sind mit einer guten Leistungsfähigkeit in unserer Gesellschaft integriert, können ihre beruflichen Fähigkeiten entwickeln und Familien gründen. Es fehlen in Deutschland allerdings spezialisierte Nachsorgezentren für Langzeitüberlebende einer pädiatrischen Krebserkrankung, die es aufzubauen gilt [26]. Patienten sollen hier zukünftig individuelle, risikoadaptierte Nachsorgepläne basierend auf den Empfehlungen der jeweiligen Studie erhalten, die eine Früherkennung und adäquate Behandlung möglicher Spätfolgen sicherstellen. Hier sollen sich Betroffene auch symptomorientiert an Spezialisten wenden können und eine leitliniengerechte Behandlung erfahren. Im europäischen PanCare-Netzwerk (http://www.pancare.eu) werden nicht nur Nachsorgeempfehlungen formuliert und ein Patientenpass entwickelt, sondern in großen Patientenkohorten werden auch die wesentlichen Spätfolgen nach einer Krebserkrankung im Kindes- und Jugendalter untersucht. Die deutsche VIVE-Studie (http://www.kinderkrebsinfo.de/fachinformationen/nachsorge/spaetfolgen/projekt_vive/index_ger. html) erfasst ebenfalls Spätfolgen nach Krebs im Kindes- und Jugendalter bei ca. 9.000 ehemaligen Patienten. Das Projekt verfolgt das Ziel, die Lebensqualität der langzeitüberlebenden Patienten nachhaltig zu verbessern. Der Erhalt von Gesundheit und Lebensqualität nach der Behandlung von Krebs in allen Altersschichten wird zukünftig für die Gesellschaft nicht nur einen sozialen, sondern auch einen wirtschaftlichen Faktor darstellen. Literatur: www.onkologie-heute.info Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Angelika Eggert Direktorin, Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie Vorstandsvorsitzende, GPOH e.V. Charité Universitätsmedizin in Berlin Otto-Heubner-Centrum für Kinderund Jugendmedizin 13353 Berlin, Augustenburger Platz 1 E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Angelika Eggert Vorstandsvorsitzende GPOH e.V.