1011-1012 Pestalozzi 254.qxp 5.12.2008 11:43 Uhr Seite 1011 SCHLAGLICHTER Schweiz Med Forum 2008;8(51–52):1011–1012 1011 Die Onkologie – ein Motor des medizinischen Fortschritts Bernhard Pestalozzi Klinik und Poliklinik für Onkologie, Universitätsspital, Zürich Mit der Entwicklung von Imatinib, das seit 2001 zur Behandlung der chronischen myeloischen Leukämie eingesetzt wird, wurde in der Onkologie das Zeitalter der Zielmolekül-gerichteten («targeted») Therapie eingeläutet. Imatinib wurde als Inhibitor der pathogenetisch wirksamen, durch die Translokation t (9;22) verursachten bcr-ablThyrosinkinase entwickelt. Es hat die Behandlung der CML wie auch der gastrointestinalen Stromatumoren (GIST) geradezu revolutioniert. Damit war auch der grundlegende Beweis erbracht, dass zellbiologische Grundlagenerkenntnisse mit Erfolg therapeutisch genutzt werden können. Die Pharmaindustrie arbeitet seither fieberhaft an solchen Medikamenten, an Inhibitoren von intra- oder extrazellulären oder membranständigen Molekülen, die bedeutsam sind für die neoplastische Entwicklung. Dadurch wurde die Onkologie von einer bis anhin unbekannten Dynamik erfasst. Die damit verbundene Komplexität, aber auch Folgekosten sind heute eine Herausforderung für die praktizierenden Ärzte, für Patienten und Kostenträger. Hier möchten wir auf einen wichtigen positiven Aspekt dieser Dynamik hinweisen: Die Entwicklung onkologischer Medikamente hat auf vielen anderen Gebieten der Medizin zu neuen Erkenntnissen geführt. Beispiele sind in Tabelle 1 p zusammengestellt. Schematisch gesagt verläuft die Entwicklung folgendermassen: Ein neuer Inhibitor wird getestet bei onkologischen Patienten, welche bereit sind, Risiken einzugehen. Das Me- dikament zeigt eine gewisse Wirkung, aber auch neue Nebenwirkungen. Um besser mit diesen neuartigen Nebenwirkungen umgehen zu können, müssen die Onkologen ihre Kollegen anderer Spezialitäten um Hilfe ersuchen. Im Verlauf der klinischen Entwicklung in Phase I, II und III Studien lernen die Kliniker gemeinsam, durch Dosisanpassung, Überwachung, Einsatz von Gegenmitteln die Nebenwirkungen in den Griff zu bekommen. Nicht selten generieren die beigezogenen Spezialisten neue Ideen, die sie in ihrem Feld testen können. So studiert die Kardiologie heute die Bedeutung des HER2-Pathways für die Regeneration der Kardiomyozyten. Die Nephrologie profitiert von den Erkenntnissen zu VEGF aus den Podozyten als trophischer Faktor für die glomeruläre Membran. Die Multikinasen-Inhibitoren Sunitinib und Sorafenib können sehr viele Nebenwirkungen an der Haut, der Schilddrüse und am Herzen verursachen. Entsprechend sind sie für Dermatologie, Endokrinologie, Kardiologie interessant. Die EGFR-Inhibitoren führen regelmässig und dosisabhängig zu einem akneiformen Rash, einer follikulären Dermatitis und schliesslich einer Hautatrophie, was die dermatologische Therapie und Pathophysiologie motiviert. Sogar die Zahnmedizin beschäftigt sich heute mit Patienten der Onkologie; eine überraschende Spätkomplikation der Bisphosphonattherapie ist die Kieferosteonekrose. Manchmal sind es nicht die Nebenwirkungen, sondern die Wirkungen, welche fächerübergrei- Tabelle 1. Von der onkologischen Nebenwirkung zur medizinischen Forschung. Medikament; Target Onkologische Indikation Nebenwirkung Forschungsgebiet Trastuzumab; HER2 Lapatinib; HER2/EGFR HER2-pos. Mammakarzinom Kardiotoxizität (4Auswurffraktion) Mechanismen der Kardiotoxizität Bevacizumab; VEGF Mammakarzinom, kolorektales Karzinom, Bronchuskarzinom Proteinurie, arterielle Hypertonie, thrombotische Mikroangiopathie; Thromboembolien Interaktion Podozyten – glomeruläre Membran; Endothelfunktionen Sunitinib, Sorafenib; VEGFR, PDGFR Nierenzell-Karzinom, Hepatozelluläres Karzinom Palmoplantare Hyperkeratose, Hypothyreose, Kardiopathie (2QTc) Mechanismen der Gewebetoxizität auf Haut, Schilddrüse, Herz Cetuximab; EGFR Erlotinib; EGFR Kolorektales Karzinom, Kopf-HalsKarzinom, Bronchuskarzinom Pustulöse Follikulitis, xerotische Dermatitis, Paronychie; Diarrhoe Bedeutung des EGFR-Pathways für Keratinozyten, Hautadnexe; Intestinaltrakt Temsirolimus, Everolimus; mTOR Neuroendokrine Tumoren, Nierenzell-Karzinom Interstitielle Pneumonitis Mechanismen der Pneumopathie Rituximab; CD20 B-Zell-Lymphom Immunsuppression Autoimmunerkrankungen Bisphosphonate; Osteoklasten Skelettmetastasen Kiefernekrose, Wachstumsstörungen Knochen-Remodeling EGFR = epithelial growth factor receptor; HER2 = human epithelial (growth factor) receptor 2; mTOR = mammalian target of rapamycin; PDGFR = platelet derived growth factor receptor; QTc = frequenzkorrigierte QT-Zeit; VEGF = vascular endothelial growth factor (Ligand); VEGFR = vascular endothelial growth factor receptor. 1011-1012 Pestalozzi 254.qxp 5.12.2008 11:43 Uhr Seite 1012 SCHLAGLICHTER fend motivieren. mTOR-Inhibitoren waren zuerst als Immunsuppressiva in der Transplantationsmedizin in Gebrauch. Eine ihrer gefürchteten Nebenwirkungen ist die interstitielle Pneumonitis. Heute werden mTOR-Inhibitoren onkologisch breit getestet. Umgekehrt verlief es mit dem Korrespondenz: CD20-Antikörper Rituximab, der zuerst gegen Prof. Bernhard Pestalozzi maligne B-Zell-Non-Hodgkin-Lymphome in der Leitender Arzt a.i. Onkologie verwendet wurde und nun sekundär Klinik und Poliklinik für Onkologie sowohl in der Transplantationsmedizin wie auch Universitätsspital in der Rheumatologie gegen AutoimmunerkranCH-8091 Zürich kungen eingesetzt wird. [email protected] Schweiz Med Forum 2008;8(51–52):1011–1012 1012 Die Liste in Tabelle 1 liesse sich ausweiten, es geht aber hier nicht um Vollständigkeit. Es geht auch nicht darum, zu behaupten, die Onkologie sei der einzige Motor des medizinischen Fortschritts. Aber die beschriebene Entwicklung verweist doch auf die wichtige Stellung der Onkologie in der Inneren Medizin, auf die zunehmende Komplexität der onkologischen Therapien und damit auf die Notwendigkeit einer hervorragenden interdisziplinären Zusammenarbeit im Bereich der Forschung und im klinischen Alltag.