MEDIZIN Die „Game Changer“ in der Onkologie DER EUROPEAN CANCER CONGRESS (ECC 2015) fand Ende September in Wien statt und hat sich über die letzten Jahre zum wahrscheinlich wichtigsten Weltkongress für Onkologie in Europa entwickelt. Die Botschaft ist, dass sich die Onkologie in den letzten 10 Jahren grundlegend geändert hat. Gesellschaftliche und sozialpolitische Bedeutung der personalisierten Medizin sind enorm. Redaktion: Gerhard Kahlhammer AUF DER EINEN SEITE hat Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Zielinski als nationaler Kongressvorsitzender mit akzentuiert gesamteuropäischer Ausrichtung die zukünftige Rolle der Europäischen Gesellschaft für medizinische Onkologie angesichts neuer Herausforderungen der personalisierten Medizin und im Sinne einer stärkeren politischen Positionierung akademischer Forschung skizziert. Auf der anderen Seite geht aus verschiedenen öffentlichen Diskussionen hervor, dass der tiefgreifende Wandel in der Onkologie mitunter schwer zu fassen ist. Es besteht Vermittlungsbedarf, was personalisierte Medizin heute leistet und erreichen kann. Sonst bleibt im Extremfall über: „Und wozu der Aufwand? Für zwei Wochen Lebensverlängerung mit Durchfall und Erbrechen?“ Es finden zwar Weiterentwicklungen der Chemotherapie mit dem Ziel einer Verminderung charakteristischer Nebenwirkungen statt, in Wirklichkeit aber dreht sich alles um personalisierte Medizin mit zielgerichteten Therapien zur Unterdrückung eines tumortreibenden Signalwegs. In dieser Hinsicht stehen in einzelnen Indikationen bereits Tyrosinkinasehemmer und Antikörper der zweiten und dritten Generation zur Verfügung, mit denen Limitationen der ersten Substanzen überwunden werden, z.B. durch selektive Fokussierung auf Resistenzmechanismen. Mit Chemotherapie hat das wenig zu tun, wie auch spezielle Nebenwirkungen dieser hoch spezialisierten Substanzen zeigen. Das heutige Synonym für Onkologie sind zielgerichtete Therapien und Biologika 22 ÄRZTE KRONE 23/15 gegen tumorrelevante Rezeptoren und Liganden. In hämatoonkologischen Indikationen sind es Substanzklassen wie Proteasomeninhibitoren, IMIDS (immunmodulierende Substanzen) und Peptibodies. Die Wirkdauer einer solchen Therapie liegt im Bereich von Monaten und Jahren. Die in Frage kommende Patientenpopulation ist oft klein, profitiert aber maximal. Eine Herausforderung ist der enorm gestiegene diagnostische Aufwand, um tumortreibende Genmutationen in einer bestimmten Indikation festzustellen. Zu Verdeutlichung der Relation: In einem aktuellen Projekt der Austrian Lung Cancer Study Group wurden österreichweit 1.800 Lungenkrebspatienten gescreent, um 240 Patienten mittels Tumorhistologie und davon 50 Patienten molekularbiologisch für eine zielgerichtete Therapie zu identifizieren (die bei EML4-ALK-Translokation zur Wirkung kommt). In Zukunft besteht eine Hoffnung darin, therapierelevante Informationen aus Tumorzellen zu gewinnen, die im Blut zirkulieren, sodass einfache Blutabnahmen zur Diagnose und zum Therapiemonitoring genügen würden. Diese Form der „Liquid biopsy“ wird in Teilen bereits umgesetzt und kann schwer zugängliche Biopsien etwa der Lunge Von der Innovation zum Behandlungsstandard – gesellschaftliche und sozialpolitische Bedeutung onkologischen Fortschritts Wenn man in skandinavischen Ländern Menschen auf der Straße fragt, ob sie persönlich von der medizinischen Forschung profitieren, sagen 80% „ja, selbstverständlich“, bei uns sagt eine Mehrheit genau das Gegenteil, „nein“ oder „ich weiß nicht“. Natürlich aber gibt es den Konnex zwischen Innovation und Forschung und dem tatsächlichen Behandlungsstandard. Österreich ist heute ein Kristallisationspunkt der internationalen Forschung und insbesondere der Brustkrebsforschung geworden. Der Status wurde in einem Land erreicht, das mit 8 Millionen Menschen für den „Big Five“-Markt eigentlich zu klein ist – gegenüber beispielsweise Deutschland mit 80 Millionen Menschen. Was hier erreicht wurde ist das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen onkologisch tätiger Ärzte in ganz Österreich, aber auch der Industrie, die diese Kooperationen unter strengen Vorschriften unterstützt. Wenn wir ein solches Klima in einzelnen Indikationen herstellen, wie es bei Brustkrebs gelungen ist, dann sind wir im globalen Wettrennen um Innovationen mit dabei. Der gleiche Prozess vollzieht sich in Deutschland unter weit geringerem Druck, nachdem man bei 80 Millionen potentiellen Kunden automatisch immer mit dabei ist. Wenn also Österreich bei der frühen Entwicklung und Anwendung neuer Therapieansätze europaweit an der Spitze liegt, dann ist das absolut nicht trivial. Auf dem Gebiet der zielgerichteten Brustkrebstherapie, auf dem die ABCSG durch österreichweite Vernetzung zu neuen Erkenntnissen beitragen konnte, verhält es sich dann so, dass aufgrund der Basis des gemeinsamen wissenschaftlichen Inputs auch sehr rasch ein Konsens gefunden wird, mit dem eine hocheffektiv überlebensverlängernde Therapie noch vor der Zulassung – die den Standard vielleicht ein Jahr später bestätigt – zur Anwendung gebracht werden kann. Es ist das mit Trastuzumab, der „Urmutter“ der zielgerichteten Therapie, auf Initiative von Professor Christoph Zielinski gelungen und war rezent auch mit Pertuzumab in der Therapie des HER2-positiven Mammakarzinoms möglich. Das wiederum kann auch nur mit Unterstützung der Sozialversicherungsträger gelingen und mit Unterstützung der Hersteller beim Verfügbarmachen der Substanzen für frühe Studienprogramme. Patientinnen profitieren von Pertuzumab mit einer Verdoppelung der Überlebensrate, d.h. es handelt sich nicht um marginale Unterschiede, bei denen dann mit Health Technology Assessments die Frage gestellt wird, ob es sich auszahlt. Man ist aber nicht blind dem Umstand gegenüber, dass Kostenentwicklungen für die Gesellschaft eine enorme Herausforderung sind. Eine Verantwortung für Kostenentwicklungen impliziert, das wir als Wissenschafter zunehmend verpflichtet sind, der Gesellschaft nachzuweisen, wofür denn tatsächlich Gelder in die Hand genommen werden. Wir verbinden Innovation mit einem besserem Verstehen des Krankheitstyps, des Feindes wenn ersparen. All diesen Entwicklungen der personalisierten Medizin liegt ein bessere Verständnis der Tumorbiologie zugrunde, das insbesondere vom International Cancer Genome Consortium und dem Cancer Genome Atlas Project vorangetrieben wird, deren Ziel darin besteht, die genetischen Grundlagen der 50 wichtigsten Tumorentitäten zu verstehen. Dafür werden pro Indikation jeweils 500 Tumoren genetisch durchsequenziert, sodass bis Ende man so will, und versuchen die Therapien so maßzuschneidern, dass der Unterschied einer neuen Behandlung nicht mehr 5–10% beträgt, sondern 30%, 40% und mehr, wenn ein bestimmtes Merkmal ausgeprägt ist. Am Beispiel der HER2-gerichteten Therapie wird der Vorteil für die Betroffenen sehr konkret. Wir haben die zielgerichtete Behandlung von Brustkrebs derart erfolgreich voranPortrait Univ.-Prof. Dr. treiben können, dass im Unterschied zu Michael Gnant, Vorstand früher, als eine HER2-positive Patientin der Universitätsklinik für ein abrupt kurzes Leben hatte, das PatiChirurgie, Meduni Wien, entengespräch heute mit einer enormen Präsident der Austrian Breast & Colorectal CanErleichterung einhergeht. Wenn sich die cer Study Group (ABCSG) Heilungsrate von einem bereits guten Niveau noch einmal verdoppelt, dann ist der Unterschied einfach Leben oder Tod. Und wir haben eine Reihe von Beispielen, an denen wir das zeigen können. NEUES FORSCHUNGSPROJEKT DER ABCSG – INVESTITIONSVOLUMEN: 350 MILLIONEN DOLLAR Ein Teil dessen, warum Innovation in der Medizin so teuer geworden ist, ist allerdings auch einem überregulierten System geschuldet. Studienprojekte mit 2.000–3.000 Teilnehmern hatten früher ein gewisses, auch nicht geringes Budget. Wir starten derzeit ein klinisches Forschungsprogramm, dass seitens der ABCSG für alle Staaten der Welt (außerhalb der USA) von Österreich aus gemacht wird – Wertschöpfung in Österreich, Arbeitsplätze, Technologie, österreichische Studienorganisation – und das Gesamtbudget dieser Adjuvansstudie für 4.000–5.000 Patienten und einer zielgerichteten neuen Therapie beträgt über 350 Millionen Dollar. Es ist ein potentielles „Breakthrough“-Medikament im Frühstadium. Was bei der Studie herauskommen wird, weiß man nicht. Der Umstand, dass wir diesen Auftrag nach Österreich bekommen haben und damit auch innerhalb des Wettbewerbs akademischer Netzwerke erfolgreich waren, zeigt, dass wir von der Qualität und Nachvollziehbarkeit unserer Ergebnisse in der „Champions League“ mitspielen. Wir werden das trotz weitgehender Absenz öffentlicher finanzieller Wahrnehmung damit auch weiterhin tun können. Dazu muss man wissen, dass der Förderungsanteil klinischer Forschung seitens der öffentlichen Hand in Österreich unter 1% liegt, im EU Durchschnitt sind es 11% und in den USA 50%.“ 2015 ein Reservoir von 28.000 kompletten Tumorgenomen verfügbar sein soll, deren gemeinsames (indikationsübergreifendes) oder singuläres (auf eine Entität beschränktes) Charakteristikum wiederum die Entwicklung neuer Therapien befördern wird. Eine heute nahezu schon bei allen Tumoren bemerkbare Konsequenz besteht darin, dass die Information „Bei mir wurde Brustkrebs festgestellt, was kann man tun?“ für eine zufriedenstellen- de Antwort nicht mehr ausreicht, weil die einzelnen Subgruppen mit ihren prognostischen und therapeutischen Konsequenzen extrem unterschiedlich sind. AKTUELLER „GAME CHANGER“ NR. 1 – IMMUNTHERAPIE Der onkologische „Game Changer“ mit der aktuell größten Strahlkraft sind neue Formen der Immuntherapie, Antikörper ÄRZTE KRONE 23/15 23 MEDIZIN zur Stimulation von T-Zellen. Nach einem Hintergrundgespräch lässt sich mit den Worten von Primarius Univ.-Prof. Dr. Richard Greil festhalten, dass die Immuntherapie von Tumorpatienten seit den Anfängen von der Frage begleitet wird, ob sie bei Krebspatienten überhaupt wirken kann. Einzelerfahrungen waren z.T. sensationell, konnten aber aus verschiedenen Gründen – individuelle Ansätze, aufwändige Verfahren, z.T. auch schwerwiegende Nebenwirkungen - nicht generalisiert werden. Nachdem die Entwicklung spezifischer Antikörper gegen tumortreibende Rezeptoren heute etabliert ist und Antikörpertherapien (z.B. gegen den EGFoder HER2-Rezeptor) immer auch über typisch immunassoziierte Mechanismen zur Geltung kommen, gehen die rezenten Entwicklungen in Richtung Aktivierung des T-Zell-Schenkels des Immunsystems. Ermöglicht wurde dieser Durchbruch mit der molekularbiologischen Erforschung jener Mechanismen, mit denen Tumorzellen das körpereigene Immunsystem in Schach halten. Dabei wurde festgestellt, dass Tumoren genau in jene Regelkreise eingreifen, die den Körper im Normalfall vor einer überschießenden Immunreaktion bewahren. „Wenn das Immunsystem etwa bei einer Hepatitis alle Leberzellen eliminieren würde, die vom Virus befallen sind, würden wir massiv Gefahr laufen, unsere Organe zu verlieren, weshalb alle Immunreaktionen quantitativ und zeitlich begrenzt sind. Die Tumorerkrankung bedient sich dieses Regulationssystems, mit der Konsequenz, dass die immunkompetente T-Zelle, die mit der Tumorzelle in Kontakt tritt, durch Moleküle an der Oberfläche der Tumorzelle ausgeschaltet wird und sich nicht mehr teilen kann. Die Immunreaktion muss aber zu einer deutlichen Vermehrung der immunkompetenten Zellen führen, wenn sie dem Übergewicht des Tumors entgegentreten soll.“ (Primarius Univ.-Prof. Dr. Richard Greil). Die Erklärung geht zwar um einige Komponenten weiter, aber wenn man es übersichtshalber dabei belässt, kann man festhalten, dass mit den neuen hochspezifisch immunaktivierenden Substanzen (PD1- und PDL1-Antikörper) nach ersten Erfolgen beim malignen Melanom nunmehr Indikationen erschlossen werden, bei denen man nie daran gedacht hätte, dass eine Immunantwort möglich ist. Beispiele dafür sind das Bronchialkarzinom oder Harnblasenkarzinom (bei denen auch 24 ÄRZTE KRONE 23/15 schon Breakthrough-Zulassungen erfolgt sind) oder das Nierenzellkarzinom. Es besteht nunmehr die Chance in der metastasierten Situation von diesen Therapien jahrelang zu profitieren. Allerdings gilt einmal mehr, dass eine Generalisierung auf alle Patienten nicht möglich ist und die Personalisierung der Therapie, was Verabreichungsdauer und prädiktive Parameter betrifft, auf Hochtouren läuft. Man kann auf einen nicht unerheblichen Zusatzeffekt hinweisen, der sich mehr oder weniger überraschend eingestellt hat. Primarius Greil: „Auch wenn diese monoklonalen Antikörper nicht die Blut-Hirn-Schranke durchdringen, so machen sie doch die TZellen außerhalb des Gehirns scharf und wir sehen erstmals, dass damit auch Gehirnmetastasen erfolgreich behandelt werden können.“ WELCHEN PLATZ HAT ÖSTERREICH IN DER ONKOLOGIE? Am European Cancer Congress in Wien wurden die aktuellsten Daten der EUROCARE-5-Studie vorgestellt. EUROCARE ist die größte europäische Krebsregisterbasierte Untersuchung mit mehr als 20 Millionen Patientendaten und illustriert anschaulich, dass Österreich über alle präsentierten Tumorentitäten hinweg stets zu den fünf Ländern mit den höchsten 5- und 10-Jahresüberlebensraten zählt – und das, obwohl in Österreich keine Forschungsförderung der öffentlichen Hand im klinischen Bereich vorhanden ist. Tipp für die Praxis: Laut Aussendungen der österreichischen Gesellschaft für Hämatoonkologie sind Krebserkrankungen für beinahe 50% aller vorzeitigen Lebenszeitverluste durch Krankheiten verantwortlich. Neben dem individuellen und familiären Schicksal gibt es – volkswirtschaftlich betrachtet – keine andere Erkrankung mit einem derartigen Verlust an Arbeitskraft und Produktivität, was im Umkehrschluss heißt, dass durch den Fortschritt in der Onkologie viel zurückgewonnen werden kann. In diese gesamtgesellschaftliche Perspektive lässt sich ein Statement von Univ.-Prof. Dr. Alexander Gaiger einreihen, der, gefragt nach dem wichtigsten Praxistipp, die Information über spezialisierte onkologische Rehabilitationszentren nennt, die den Betroffenen zu wenig bekannt sind. Von der schlechten Prognose zur kurativen Therapie – personalisierte Medizin schafft die Voraussetzungen Von der Austrian Breast & Colorectal Cancer Study Group wird eine Personalisierung der Brustkrebstherapie jenseits des Hormonrezeptors seit 15 Jahren praktiziert, also noch vor der „offiziellen“ Einführung von Trastuzumab in die Therapie des HER2-positiven Mammakarzinoms, die im Jahr 2005 erfolgte. Mit dieser Therapie muss ein Drittel der Patientinnen weniger sterben, das sind in Österreich zwischen 200 und 300 Frauen pro Jahr. Damals hat das Engagement vieler Ärzte dazu beigetragen, dass 80% aller in Frage kommenden Patientinnen Studienteilnehmerinnen waren. Nach der Zulassung ist es inUniv.-Prof. Dr. Günther nerhalb von drei bis vier Monaten in ganz Österreich gelungen, Steger, Universitätsklinik allen betroffenen Frauen diese damals innovative und heute für Innere Medizin I, voll etablierte Therapie zur Verfügung zu stellen. Die gleiche Abteilung für Onkologie, Durchdringung hat in Deutschland zwei bis drei Jahre benötigt Meduni Wien und ist in den USA erst heute erreicht. Vielleicht wird die Bedeutung solcher Kriterien von Überlebenden weniger wahrgenommen, sie leben ja, von Sterbenden und ihrem persönlichen Umfeld allerdings schon. In den letzten wenigen Jahren hat mit Pertuzumab eine Weiterentwicklung stattgefunden, die meiner Meinung nach für die Prognose noch einmal durchschlagender wird. Die Kombination von Trastuzumab mit Pertuzumab hat sämtliche Erwartungen übertroffen, der Effekt war keine Addition der Wirkung, sondern ein Wirksynergismus, d.h. soviel wie 1 + 1 = 5. Wir erreichen damit heute im präoperativen Setting, dass der Brusttumor bei zwei bis dreimal so vielen Patientinnen komplett verschwindet und der Pathologe in der Biopsie keine lebenden Tumorzellen mehr findet – was in weiterer Folge bei vielen Patientinnen tatsächlich Heilung bedeuten kann.