Zwei Geiger aus Osteuropa – Bronislaw Huberman und Emil Hauser

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Zwei Geiger aus Osteuropa – Bronislaw Huberman und Emil Hauser – engagierten
sich in den 1930er Jahren mit aller Weitsicht und Leidenschaft für Institutionen, die
ein Musikleben im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina ermöglichen und
zur kulturellen Identität des 1948 gegründeten Staates Israel entscheidend
beitragen sollten: Mit der Gründung des Palestine Orchestra 1936 in Tel Aviv
initiierte Bronisl~ aw Huberman ein Spitzenensemble, das später unter dem Namen
Israel Philharmonic Orchestra zu Weltruf gelangte. Emil Hauser schuf bereits 1933
mit »seinem« Jerusalem Conservatory for Musical and Dramatic Art die Basis einer
professionellen Musikausbildung mitteleuropäischer Prägung – beide Institutionen
eröffneten jüdischen Musikern, die vor dem nationalsozialistischen Terror aus
Deutschland und aus Österreich geflohen waren, ein neues Betätigungsfeld bzw. die
Chance eines Musikstudiums, die ihnen infolge der Ausgrenzungspolitik in
Deutschland versagt geblieben war.
Vor diesem Hintergrund vollzog sich das Wirken der meisten Komponisten, die in
den 1930er Jahren aus Europa, vor allem aus Deutschland nach Palästina kamen
und mit ihren bisherigen Erfahrungen, ihrer mehr oder minder starken Verwurzelung
in musikalischen Traditionen einen neuen Standort in dem nach kultureller Identität
strebenden Palästina bzw. Israel suchten. Oft waren es äußere Umstände, ja
Zufälle, die den Weg nach Palästina bestimmten; der zionistische Gedanke ist nur
bei einigen Komponisten dieser ersten Immigrantengeneration – so bei Paul BenHaim – richtungsweisend. Jenes Ringen um neues künstlerisches Profil, im
subjektiven wie im nationalen Sinne, spiegelt sich in nicht geringem Maße auch in
der Hebräisierung mancher Vornamen bis hin zur Annahme neuer, hebräischer
Namen: Paul Frankenburger nannte sich fortan Paul Ben-Haim, Heinrich Jacoby
änderte seinen Vornamen zu Chanoch, ebenso sein Schüler Heinz Alexander, der als
Haim Alexander bekannt wurde.
Es liegt in der besonderen Geschichte des Landes und Staates Israel begründet,
dass es im Gegensatz zu jedem anderen Exilland der Welt die Komponisten –
unabhängig von ihrer konfessionellen bzw. politischen Einstellung – zur
Beschäftigung mit jüdischer Identität im musikalischen Sinne geradezu drängte.
Viele hervorragende Geiger waren nicht zuletzt durch die Institutionen von Hauser
und Huberman nach Palästina emigriert, zudem wirkten Ödön Partos, Chanoch
Jacoby und Abel Ehrlich (Letzterer zumindest in frühen Jahren) gleichermaßen als
Geiger bzw. Bratschist und als Komponist. Komponieren für Violine solo vollzieht
sich in jungen Staate Israel sowohl in Verbindung zu vielen ausgezeichneten
Geigern als auch in Rückgriff auf alte jüdische Traditionen – im sakralen wie im
profanen Musikgebrauch, ebenso in lebendiger Reaktion auf arabische Einflüsse. Es
überrascht somit kaum, dass sich dieses Komponieren für Violine solo in völliger
Unabhängigkeit vom anderenorts weit bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts
dominierenden Vorbild Bach neue Wege bahnt. So möchte vorliegende CD der
faszinierenden Genese der israelischen Musik im Spannungsfeld eines halben
Jahrhunderts nachspüren – fokussiert auf eine Geige allein, die gerade in der
jüdischen Musiktradition ihre Nähe zur menschlichen Stimme nie verleugnet und für
Aussagen von besonderer Unmittelbarkeit prädestiniert ist.
»Ich bin immerhin ein Kind noch des 19. Jahrhunderts – und ich freue mich
darüber, so merkwürdig das klingen mag«, gestand Paul Ben-Haim 1972 im
Interview mit dem Schweizer Musikredakteur Walter Kläy; ergänzend kommentierte
er: »...ich stamme noch aus prähistorischer Zeit!« Jene »prähistorische Zeit« deutet
auf ein längst abgeschlossenes, durch das Jahr 1933 jäh beendetes Kapitel seiner
Biographie: Geboren als Paul Frankenburger am 5. Juli 1897 in München, erhielt
Paul Ben-Haim – wie er sich unmittelbar seit seiner Flucht nach Palästina im Mai
1933 eine neue Identität gab – seine kompositorische Ausbildung bei dem BrucknerSchüler Friedrich Klose und wuchs somit in spätromantischer Tradition auf. Heinrich
Schalit, in den 1920er Jahren einer der bedeutendsten Reformatoren jüdischer
Sakralmusik in Deutschland, überzeugte seinen jüngeren Komponisten-Kollegen
bereits früh »von der Notwendigkeit, seine Begabung den Gestirnen und
Inspirationen der jüdischen Welt hinzugeben «, wie es Max Brod in poetischen
Worten umreißt. So fand Paul Ben-Haim unter dem Einfluss der jemenitischen
Sängerin Bracha Zefira, als deren Klavierbegleiter er viele Jahre fungierte, zu einem
folkloristisch geprägten Stil dem so genannten Mittelmeerstil, der Spuren von
Gesängen jemenitischer, persischer, sephardischer bzw. türkischer Juden mit
orientalischem Kolorit verbindet.
In der 1951 für Yehudi Menuhin geschriebenen Sonate in G kontrastieren
kurzgliedrige, obsessiv insistierende Bewegungsmuster, wie sie den ersten und
dritten Satz bestimmen, in ihrer rauen, leidenschaftlichen Prägung den statischen,
ziellos um wenige Zentraltöne kreisenden langsamen Satz. Verlorenheit und
Melancholie, die aus diesem magischen Monolog – der ganze 2. Satz ist mit
Dämpfer zu spielen – sprechen, lassen die Exilerfahrung, jenen unwiederbringlichen
Verlust von Heimat und persönlich-kultureller Verwurzelung erahnen. In seiner
unendlichen Weite schwingt gewiss auch das Erleben des in vielen Teilen um 1950
noch dünn besiedelten, wenig erschlossenen Exillandes mit der Erinnerung an seine
jahrtausendealte kulturelle Vergangenheit mit. Der dritte Satz von Ben-Haims
Sonate in G zeigt in vielen Details, namentlich in den allmählich vom Grundton G
aufstrebenden, in kleinsten Intervallschritten geführten flirrenden 16tel-Passagen,
ebenso in formaler Hinsicht erstaunliche Parallelen zum Finalsatz von Bartóks 1944
entstandener Sonata für Violine solo: Sollte es sich um eine subtile Hommage an
den gleichen Widmungsträger handeln? Seit ihrer Uraufführung in New York am 4.
Februar 1952 durch Yehudi Menuhin wurde die Sonate in G nicht nur zu einem der
bekanntesten Werke von Paul Ben- Haim, sie gewann auch rasch den Ruf als eine
jener Kompositionen, die das Streben nach musikalischer Identität des jungen
Staates Israel eindringlich widerspiegeln.
Ähnliches lässt sich von Bashrav sagen, dessen Berühmtheit zumindest in Israel den
Blick auf das riesige Gesamtwerk von Abel Ehrlich bis heute eher behindert hat.
Dabei entspringt Bashrav – 1953 in Oranim entstanden – einer Ben-Haim
entgegengesetzten ästhetisch-stilistischen Position: Arabische Einflüsse, die sich u.
a. im mehrfachen Gebrauch von Mikrointervallen spiegeln, verschmelzen mit
unmittelbar von der deutschen Sprache und polyphonen Musiktradition geprägten
Momenten zu einer beeindruckenden Einheit, die gerade in der Verbindung
scheinbar widersprüchlicher Elemente eine neue Identität beschwört. Der aus der
arabischen Folklore entlehnte Titel Bashrav verweist auf eine rondoartige Form,
deren Ritornellteile einem ständigen Verwandlungsprozess unterworfen sind.
Assoziiert das zu Beginn dreimal anhebende Rufmotiv nach Abel Ehrlichs Bekunden
ein direktes Hörerlebnis in einem arabisch geprägten Umfeld, so erschließt sich die
Genese des von unregelmäßigen Metren und Tonwiederholungen bestimmten
Scherzo-Themas in der Mitte des Stückes über eine berührende deutschsprachige
Reminiszenz.
»Das 2. Thema habe ich aufgeschrieben, was meine Tochter vor sich hinsang, als
sie 41/2 Jahre war, als sie die Bilder vom Grimm’schen Märchen ›Die 3 Bären‹
ansah im Rhythmus wie im Scherzo ›Vaterbär und / Mutterbär und der / Kleine –
und / weg Vater und / weg Mutter und / weg Kleiner...‹« – so erinnert sich Abel
Ehrlich in einer dieser Einspielung zugrunde liegenden korrigierten und
kommentierten Druckausgabe von Bashrav. Bevor das Werk in einer erneut dreimal
anhebenden Rufgeste – wie aus weiter Ferne am Rande des Wahrnehmbaren –
erlischt, verdichten sich die zentralen Motive in einem kontrapunktisch gestalteten,
elegischen Schlussteil, der in seiner archaischen Strenge einem Bekenntnis zur –
1953 längst verlorenen und zerstörten – deutschen Musiktradition gleichkommt.
Immer wieder hat sich Abel Ehrlich in seinen Werken mit Aspekten jüdischer
Geschichte und Identität, zugleich mit der Exilproblematik und dem Verlust seiner
ostpreußischen Heimat auseinander gesetzt. Nach seinem Abitur in Königsberg
studierte er von 1934 bis 1938 in Zagreb und wurde nach kurzem Exil in Albanien
seit 1939 in Jerusalem, später in Tel Aviv ansässig. In ihrer subtilen Beredsamkeit
am Rande des Verstummens berühren die beiden späten Monologe Jeremia und
Spinoza (1997) und Die Asche, aus der das Vergessen besteht (2000) zwei
existenzielle Fragestellungen, die den Komponisten zunehmend beschäftigten.
Jeremia und Spinoza thematisiert zwei Exponenten des jüdischen Geisteslebens, die
durch ihre kritische Haltung zu Exilierten innerhalb ihres eigenen Volkes, ja
innerhalb der eigenen Gemeinde wurden. Ein verstecktes musikalisches
Selbstporträt? Abel Ehrlich erklärte dazu im August 1998: »Es ist fast, als ob ich
über das ähnliche Schicksal dieser beiden großen Repräsentanten meines Volkes
nachdenke und mit ihnen mitleide – weniger eine Erzählung als ein Nachdenken.«
Ein Gedicht von Borges, dem Glück des Vergessenwerdens am Beispiel eines
unbekannten Dichters im alten Griechenland gewidmet, inspirierte Abel Ehrlich zu
Beginn des Jahres 2000 zu einer musikalischen Meditation von intimster
Eindringlichkeit. Jene Asche, aus der das Vergessen besteht wird Klang in
dynamisch ungemein differenzierten melodischen, rhetorischen Gesten, die
schattenhaft aus dem Dunkel hervortreten und gleich Erinnerungsfragmenten im
Nichts verschwinden.
Mordecai Seters zweisätzige Sonate für Violine solo, nur zwei Jahre nach
derjenigen von Paul Ben-Haim 1953 entstanden, offenbart eine dem ›Mittelmeerstil‹
grundlegend konträre Position. Ausgangspunkt der Orientierung Seters stellt
Abraham Zvi Idelsohns bedeutende Sammlung traditioneller jüdischer Melodien dar,
die Mordecai Seter durch den Cellisten und Komponisten Joachim Stutschewsky
kennen lernte. Anders als die meisten israelischen Komponisten der ersten
Generation, die erst als Erwachsene die Sprache des Exillandes erlernten, wuchs
Seter bereits als Kind mit Hebräisch auf: Als Zehnjähriger kam er mit seiner Familie
1926 aus der Sowjetunion nach Palästina und gewann somit ein besonderes
Verständnis für die Intonation, mithin für die rhetorische Eigenart des Hebräischen.
Im Gespräch mit Walter Kläy betonte Mordecai Seter 1972 die Bedeutung von
Tonalität bzw. Modalität für sein Komponieren – in der Sonate für Violine solo
spiegelt sich dieser stilistische Aspekt Seters ebenso wider wie seine Verwurzelung
in der Tradition jüdischen Gesanges. Beide Sätze – sowohl der rhythmisch an eine
barocke französische Ouvertüre gemahnende, harmonisch aufgeraute erste als auch
der chaconneartig angelegte, äußerst sanglich gestaltete zweite Satz – sind durch
zahlreiche Kadenzierungen unterteilt, die in ihrer harmonischen Trennschärfe
gerade im zweiten Satz den Eindruck von Strophen erwecken. In diesem weiträumig
konzipierten zweiten Satz finden sich rhetorische Gesten von sakraler
Suggestivkraft, deren ausführliche Spielanweisung Seters Verbindung zu
archaischen Kantillationen, mithin die Sprachlichkeit seiner Musik direkt offenbart:
»as a Psalmody, recitando rubato e sotto voce« (wie eine Psalmodie, frei und mit
gedämpfter Stimme rezitierend). Indem Mordecai Seter auf jede Art äußerlicher
instrumentaler Effekte verzichtet, ohne jedoch die genuine Farbigkeit
unterschiedlichster geigerischer Klangregister zu vernachlässigen, gelingt ihm ein
höchst individuell geprägtes Werk von bewegender Ausdrucksintensität.
Glück im Unglück hatte Haim Alexander (*9. August 1915 in Berlin), als er 1936
sein Klavierstudium am Sternschen Konservatorium aufgrund der
nationalsozialistischen Ausgrenzungspolitik gegenüber Juden abbrechen musste.
Durch einen Zufall erfuhr er von Emil Hausers unmittelbar bevorstehender
Berlinreise, die der Findung besonders begabter Studenten für »sein« neu
gegründetes Konservatorium in Jerusalem galt: So kam Haim Alexander nach
Jerusalem, wo er noch heute lebt und sich seinem Schaffen widmet. Seine
Ausbildung vollzog sich im Spannungsfeld zweier extrem gegensätzlich geprägter
Komponisten – und Lehrerpersönlichkeiten, die Haim Alexander auf unterschiedliche
Weise beeinflussten: »In Komposition erhielt ich zum ersten Mal Stunden nach
meiner Einwanderung in Palästina 1936. Mein Lehrer war Stefan Wolpe, wie Sie
sicher wissen, war er ein Zwölftönler. Was ich ihm vorzeigte, – war etwa im ›NeoMendelssohn‹ Stil – Zwölfton war für mich ›Böhmische Dörfer‹. 1938 verließ Wolpe
Israel und ich lernte einige Jahre bei Chanoch Jacobi, einem Hindemith-Schüler.
Dazu kommen noch mehrere Besuche in Darmstadt, um mich vollständig
durcheinander zu bringen...«(Brief an den Verfasser vom 12.2.2001). In diesen
Worten klingen ästhetische Aspekte an, die das Schaffen von Haim Alexander vor
allem im Sinne einer engen Verbindung zu musikalischen Traditionen und
Entwicklungen in Mitteleuropa bestimmen. Dabei muss ergänzt werden, dass Haim
Alexander bis heute ein hinreißender Jazzpianist und Improvisator ist – Qualitäten,
die einerseits ihm in den ersten schwierigen Jahren des Lebens in Palästina eine
solide Existenzgrundlage sicherten, andererseits seinen Werken bei aller Akribie der
Materialbehandlung einen Hauch jener improvisatorischen Spontaneität, jener
unangestrengten, durchaus instrumentspezifischen Klangsinnlichkeit verleihen.
Sowohl der 2001 entstandene Epilog als auch der 2002 vorangestellte Prolog ist
durch einen Wechsel von monodisch-erzählenden und streng polyphon gestalteten
Episoden charakterisiert, deren harmonische Ambivalenz wesentlich durch den
Tritonus geprägt wird. Gerade jenes Schweben zwischen Konsonanz und Dissonanz,
jenes organisch wirkende Ausbalancieren zwischen freitonaler Disposition und
latenter Tonalität, verleiht beiden Miniaturen einen klanglichen Zauber von
verhaltener Melancholie.
Haim Alexander und Abel Ehrlich verdanke ich nicht nur wunderbare Beiträge zum
Soloviolinrepertoire – in vielen Gesprächen und Briefen eröffneten sie wichtige
Einblicke in ihr Schaffen und boten wertvolle Erinnerungen an das Musikleben in
Palästina bzw. im jungen Staat Israel seit 1948. Walter Kläy (Radio DRS Bern)
stellte mir freundlicherweise seine Porträtsendungen zur Verfügung, in denen er
bereits 1972 verschiedenste Komponisten Israels in Selbstzeugnissen und ihrer
Musik präsentierte: eine Pioniertat zu einer Zeit, als in Europa dem Thema Exilmusik
noch keinerlei Beachtung geschenkt wurde. Drei Bücher haben meine
Auseinandersetzung mit dem spannenden Forschungsgebiet ›Komponisten in Israel‹
in besonderem Maße begleitet und gefördert: Max Brod: Die Musik Israels (Tel Aviv
1951) Diesem Buch entstammt o.g. Zitat Robert Fleisher: Twenty Israeli
Composers: Voices of a Culture (Detroit 1997) Barbara von der Lühe: Die
Emigration deutschsprachiger Musikschaffender in das britische Mandatsgebiet
Palästina (Frankfurt/Main 1999)
Kolja Lessing
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