Essen bis zum Platzen - Selbsthilfezentrum Winterthur

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leben
Dienstag, 15. September 2015
11
Essen bis zum Platzen
Hungern, erbrechen, extremes
Sporttreiben und Essanfälle – in
der Schweiz leiden überdurchschnittlich viele an einer Essstörung. Zwei Betroffene erzählen.
Bei einem Essanfall verschlingt der Betroffene enorme Mengen. Bild: Corie Howell
Winterthur: Wie viele Kalorien hat ein
Apfel? Diäten und Abnehmen sind
in unserer Gesellschaft omnipräsent.
Esssucht: Binge Eating
Binge Eating ist eine Essstörung mit regelmässigen unkontrollierten Essanfällen, bei denen enorme
Mengen an Nahrungsmittel verschlungen werden. S. L.* ist vor rund 1½ Jahren an Binge Eating
erkrankt.
Binge Eating ist eine eher unbekanntere Essstörung.
Was bedeutet das?
S. L.: Es sind Essanfälle, bei denen man die Kontrolle verliert. Sie sind nicht mehr steuerbar.
Wissen Sie, wo die Ursache der Krankheit liegt?
Ich bin mir nicht sicher, wo der Grund meiner Essanfälle liegt. Ich fühle mich psychisch stabil und
habe nicht das Gefühl, aus Frust zu essen. Ich
konnte jahrelang essen, was und so viel ich wollte,
und war ohne Sport schlank. Das hat sich mit 28
Jahren geändert. Ich habe zugenommen und dann
mit einer Ernährungsberaterin ein paar Kilos verloren. Heute bin ich sehr aktiv: Ich gehe viel wandern, habe je ein Bike, Rennvelo und Cityvelo, welche ich fast täglich gebrauche. Dies muss ich aber
auch, denn ich bin immer noch eine sehr gute Esserin, und meine Essanfälle wären sonst deutlich
sichtbarer. Mein Fehler ist wohl, dass ich lange auf
Süsses verzichte – der Zuckerentzug könnte ein
Grund für die Essanfälle sein und vielleicht eine
persönliche Sorge. Welche, ist mir aber nicht klar.
Wie hat es begonnen?
Ich habe das Gefühl, der Prozess kam schleichend.
Die Schoggi-Attacken schob ich immer meiner
Menstruation zu. Irgendwann gab ich bei Google
«Essanfälle» ein und wurde auf Binge Eating aufmerksam. Ich habe vorher nie davon gehört.
Wie wirkt sich das auf Ihren Alltag aus?
Ich muss Sport machen. Wenn ich an einem Tag
keinen Sport mache, habe ich ein ziemlich
schlechtes Gewissen und habe Angst, dass meine
Essanfälle ansetzen werden. Der Sport ist ein Mix
aus Freude und Zwang. Leider kreisen meine
Gedanken aber schon täglich ums Essen.
Typisch für Binge Eating sind die Essanfälle. Wie
muss man sich das vorstellen?
Meistens fängt es an, dass ich beispielsweise ein
Schoggistängeli esse. Dann schreit mein Körper
selbsthilfe zum thema
Selbsthilfegruppe Essattacken,
Binge Eating und Bulimie
Im SelbsthilfeZentrum Winterthur
entsteht eine Selbsthilfegruppe
zum Thema «Frauen, die an Binge
Eating oder Bulimie erkrankt sind».
Ort: Winterthur
Wochentag, Zeit und Rhythmus
sind noch offen, da die Gruppe
erst gegründet wird.
Kontaktperson/Auskunft: SelbsthilfeZentrum Region Winterthur,
Holderplatz 4, Winterthur, Telefon
052 213 80 60,
www.selbsthilfe-winterthur.ch
sind mehr als dreimal so häufig betroffen. Das zeigte die Studie «Prävalenz
von Essstörungen in der Schweiz» der
Universität Zürich. Wieso Schweizer
so anfällig für ein gestörtes Essverhalten sind, wissen die Experten nicht.
Frühe Diäten sind ein Risikofaktor,
häufig stecken bei Essstörungen aber
noch andere Probleme, wie ein niedriges Selbstbewusstsein, dahinter.
Salome Kern
Ess-Brech-Sucht: Bulimie
nach mehr. Meistens gehe ich in den nächsten
Laden und kaufe einen Nussgipfel, der reicht mir
aber nicht, und ich suche den nächsten Laden auf.
So kann es sein, dass ich zuunterst in der Marktgasse beginne und in der Migros im Obertor oben
aufhöre und dazwischen in fünf Läden war. Der
Genuss ist da, aber nach dem Anfall weiss ich gar
nicht mehr, wie alles geschmeckt hat. Das Essen
wird regelrecht verschlungen. Wenn mich die Essanfälle zu Hause überfallen, dann wird alles gegessen, was auffindbar ist. Essanfälle arten in eine
regelrechte Orgie aus. Für mich ist vor allem
schlimm, dass ich mich in diesen Momenten
selber nicht mehr spüre und keinerlei Kontrolle
mehr über mich und meinen Körper habe.
Übermässiges Essen führt zu Übergewicht – gleichen Sie das aus?
Ich gleiche es mit viel Sport und einer gesunden
und eventuell zu geringen Ernährung aus. Ich liebe Salat, Gemüse und Früchte. Vielleicht habe ich
auch das Glück und habe noch einen guten Stoffwechsel. Da ich mich in meiner Haut im Grossen
und Ganzen wohl fühle, kann ich diese Anfälle
noch einigermassen tolerieren und damit leben.
Machen Sie auch eine Therapie?
Nein. Ab und zu spiele ich mit dem Gedanken,
nochmals in eine Ernährungsberatung zu gehen.
Allenfalls könnte man bei meinem Ernährungsverhalten etwas verbessern und so eine Balance
schaffen. Natürlich habe ich auch schon daran gedacht, mich an einen dafür spezialisierten Psychologen zu wenden. Aber noch mache ich einen
grossen Bogen darum.
Weiss Ihr Umfeld Bescheid?
Es gibt eine Freundin, die von meiner
Krankheit weiss. Aber «wie schlimm» es
ist, wissen die meisten nicht. Jene Person
kenne ich seit Kindesalter und bin mit
ihr sehr vertraut. Es tut sicher gut, eine
Person zu haben, bei der man offen
darüber reden kann. Ich versuche aber
sonst, so wenig wie möglich übers Essen
und über meine Anfälle zu reden. Ich denke
viel darüber nach, so bin ich froh, nicht noch
mehr darüber reden zu müssen.
Interview: ske.
Bulimie zeichnet sich durch Heisshungeranfälle
aus. Im Gegensatz zu Binge Eating erbricht sich
ein Bulimiker nach dem Essanfall oder treibt exzessiv Sport. N. F.* ist seit 1986 mit Unterbrüchen
bulimisch mit Tendenz zur Magersucht.
Was heisst Bulimie?
N. F.: Übersetzt aus dem Lateinischen: Ochsenhunger. Für uns Betroffene bedeutet das: übermässiges, oft attackenähnliches Essen – meist weit
über die Sättigungsgrenze hinaus – mit anschliessendem, selbst herbeigeführtem Erbrechen.
Wissen Sie, wo die Ursache der Krankheit liegt?
Ja, ich selbst bin mir darüber im Klaren. Bei mir
sind es ein sehr leistungsorientiertes, autoritäres
Umfeld, die Überzeugung, immer lieb und gut
sein zu müssen, sowie Gewalt- und Machter fahrungen.
Ernährung und Schönheitsideal sind verbreitete Themen – glauben Sie, dass dies einen Einfluss hatte?
Ja, schon damals, Mitte der 80er Jahre, war Babyspeck verpönt, Schlanksein hingegen das Nonplusultra. Trotz Gegenbewegungen scheint es mir
heute noch immer so zu sein.
Wie hat es begonnen? Können Sie sich noch an das
erste Mal erinnern?
Ich erinnere mich sehr gut daran. Nach einer exzessiven Abmagerungskur 1985 habe ich innert
kurzer Zeit wieder zugenommen und mich unförmig gefühlt. Ein Zeitungsartikel über Bulimie, die
damals noch recht unbekannt war, hat mich «motiviert», das selbst herbeigeführte Erbrechen mal
auszuprobieren.
Wie wirkt sich das
auf Ihren Alltag
aus?
Damals ging es mir
in erster Linie darum, dass mir ja niemand auf die Schliche
kommt. Ich lebte somit
konstant in Anspannung und
hatte Schuldgefühle. Und oft war mein Taschengeld knapp. Heute spüre ich die Auswirkungen
meiner Krankheit gesundheitlich stark. Zahnbeschwerden, Darmprobleme sowie Energie- und
Stimmungsschwankungen begleiten mich immer wieder durch den Alltag.
Bulimiker sind oft normalgewichtig, das macht das
Erkennen schwerer. Wurden Sie schon einmal auf
Ihre Krankheit angesprochen?
Ja. Ich bin nicht rein bulimisch, sondern auch
anorektisch. Meine schmale Erscheinung ist immer
mal wieder ein Gesprächsthema.
Nicht selten waren Bulimiker früher magersüchtig
oder wechseln sich zwischen bulimischen und anorektischen Phasen ab. Wie sieht das bei Ihnen aus?
Ich war Mitte der 80er Jahre kurz massiv anorektisch und habe danach zugenommen, was die
«Brücke» in die Bulimie schlug. Bis heute bewege
ich mich in beiden Bereichen, wobei die bulimischen Muster klar vorherrschen.
Wieso haben Sie sich für eine Selbsthilfegruppe
entschieden?
Der Austausch mit Betroffenen nimmt mir das
Gefühl von Isolation und «Falsch-sein». Ich erlebe
die Treffen als harmonisch, ehrlich und motivierend. Jeder kann etwas beitragen und mitnehmen.
Ebenso empfinde ich die Organisation im Hintergrund, das SelbsthilfeZentrum, als enorm unterstützend und wohlwollend. Das macht Mut.
Machen Sie auch sonst eine Therapie?
Ja, einmal wöchentlich besuche ich eine körperorientierte Gesprächstherapie. Neuerdings nehme
ich auch an einem Gruppenseminar teil.
Weiss Ihr Umfeld über die Krankheit Bescheid?
Meine liebsten und wichtigsten Menschen sind im
Bilde. Gegenüber Fremden oder Menschen, die ich
neu kennenlerne, halte ich mich verschlossen.
Wieso haben Sie Ihre engstes Umfeld informiert?
Meiner Meinung nach ist die Gefahr einer sozialen Isolation sehr gross, wenn man im nahen Umfeld keine «Partner» hat.
Interview: ske.
*Namen der Redaktion bekannt
4 fragen an ...
Dr. phil Kornelia Gillhoff ist leitende
Psychologin auf der Psychotherapiestation für junge Erwachsene in der
Integrierten Psychiatrie Winterthur
Zürcher Unterland (ipw).
Kornelia Gillhoff
Züricher Regierungsrat gibt grünes
Licht für Impfungen in Apotheken
Kanton Zürich: Ab sofort dürfen Apotheker mit Bewilligung Patienten impfen: Bei der für die Erteilung der Bewilligungen zuständigen Kantonalen Heilmittelkontrolle sind bis heute 14 Gesuche von Apothekerinnen und Apothekern zur Prüfung eingegangen.
Diejenigen Apothekerinnen und
Apotheker, welche die Voraussetzungen erfüllen, erhalten die Bewilligung
ab sofort zugestellt. Sie dürfen danach
auch ohne ärztliche Verschreibung
impfen, sofern der Patient gesund und
mindestens 16 Jahre alt ist. Die erlaubten Impfungen sind gegen Grippe und
Wenn die Gedanken immer ums Essen
kreisen und das Essverhalten krankhaft
wird, spricht man von einer Essstörung.
Das muss nicht Kalorienzählen sein,
auch unkontrollierte Essanfälle, eventuell mit anschliessendem Erbrechen,
oder extremes Sporttreiben zählen dazu.
3,5 Prozent der Schweizer Bevölkerung leiden an einer Essstörung. Das
ist im europäischen Vergleich ein überdurchschnittlich hoher Wert. Frauen
gegen
Frühsommer-Meningo-Enzephalitis (Hirnhautentzündung nach
Zeckenbiss); zugelassen sind ausserdem Hepatitis-Folgeimpfungen, sofern
jeweils die erste Impfung durch eine
Ärztin oder einen Arzt erfolgt ist.
Die rechtliche Grundlage für diese
Liberalisierung, die vom Apothekerverband und der Ärztegesellschaft unterstützt wird, ist mit einer Verordnungsänderung geschaffen worden.
Der Zürcher Regierungsrat hat diese
Verordnung nun in der vergangenen
Woche rückwirkend auf den 1. September 2015 in Kraft gesetzt. red.
Allein aus der Krankheit herauszukommen, ist sehr schwierig.
Was gibt es für Behandlungsmöglichkeiten für Bulimie und Binge Eating?
Eine Therapie setzt zwei Schwerpunkte
bei der Behandlung. Einerseits wird das
Essverhalten analysiert und normales
Essen geübt. Andererseits wird die Ursache, wie beispielsweise ein niedriges
Selbstwertgefühl, besprochen.
nen die Krankheit lange geheim halten.
Es ist einfacher, aus dem Teufelskreis
zu kommen, wenn das engste Umfeld
Bescheid weiss. Dies ist besonders bei
Jugendlichen wichtig.
Ist bei Essstörungen ein stationärer Aufenthalt in einer Klinik notwendig?
Kornelia Gillhoff: Wenn jemand «nur»
an Bulimie oder Binge Eating erkrankt
ist, wird eine Therapie meist ambulant
durchgeführt. Oft gehen aber Begleiterkrankungen wie Depressionen oder
Angststörungen Hand in Hand mit Essstörungen. Dann werden Betroffene
eher stationär in einer Klinik behandelt.
Oft schämen sich Betroffene. Wie wichtig
ist es, dass das Umfeld involviert ist?
Scham ist ein grosses Thema bei diesen
Essstörungen. Gerade Bulimiker kön-
Ist ein normales Verhältnis zum Essen
wieder möglich?
Ja, es hängt davon ab, welche Ursache
dahintersteckt, wie lange die Krankheit
schon besteht und wie schwer sie ausgeprägt ist. Etwa die Hälfte der Bulimiker
wird gesund, bei 30 Prozent bessern sich
die Symptome deutlich. Bei vielen Betroffenen kann in Stresssituationen das
Essen wieder ein Thema werden. ske.
Schüler sind für
eine Lektion blind
Fachhochschule:
mehr Studierende
Junge Theaterfans
für Stück gesucht
Winterthur: Das Erlebnismobil der
Christoffel Blindenmission macht am
15. September in Winterthur-Seen bei
Schulklassen Halt. Mit ihm sensibilisiert die Entwicklungsorganisation für
die Lage blinder Menschen in der
Schweiz und in Entwicklungsgebieten.
Ausgerüstet mit Langstock und Simulationsbrille, welche vorübergehend blind
macht, tasten sich Schüler durch den
Erlebnisgang. In einer Lektion nehmen
sie für einmal die Umgebung wie ein
blinder Mensch wahr. In der Schweiz
sind rund 10 000 Menschen blind und
80 000 stark sehbehindert. red.
Winterthur: Am 14. September haben
rund 3800 junge Frauen und Männer
ein Studium an der ZHAW in Winterthur begonnen. Damit hat sich die Zahl
gegenüber dem Vorjahr erhöht (2014:
3600). Insgesamt studieren an den
Standorten der Zürcher Hochschule für
angewandte Wissenschaften in Winterthur, Zürich und Wädenswil 11 700 Personen in 26 Bachelor- und 14 Masterstudiengängen. Mit 1600 Neueinsteigern bleiben die Studiengänge der
ZHAW School of Management and Law
am beliebtesten. Der Frauenanteil beträgt 44 Prozent. red.
Winterthur: Jugendliche zwischen
12 und 16 Jahren können Bühnenerfahrung sammeln: Der U-16-Jahreskurs
des Jungen Theaters Winterthur (JTW)
ermöglicht theaterinteressierten Jugendlichen einen intensiven Einblick in
das Schauspiel. Erfahrungen werden
nicht vorausgesetzt. Der Kurs startet am
21. Oktober, geprobt wird jeweils mittwochs. Zum Schluss zeigt die Gruppe
ein Stück. Die Jugendlichen werden von
zwei Theaterpädagogen geleitet. red.
Weitere Informationen:
www.jungestheaterwinterthur.ch
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