Programmheft Warten auf Godot - Saarländisches Staatstheater

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SAMUEL
BECKETT
Dagmar Schlingmann (Inszenierung)
Seit 2006 ist Dagmar Schlingmann Generalintendantin
des Saarländischen Staatstheaters. Für das SST führte sie
bei zahlreichen Schauspielinszenierungen Regie, so u. a.
bei Goethes »Faust«, Brechts »Die Kleinbürgerhochzeit«,
Molières »Der Menschenfeind« und »Das Geld« nach
Emile Zola. Seit einigen Jahren inszeniert sie auch im
Musiktheater, so »The Beggar’s Opera« an der Staatsoper
Hannover, am SST Verdis »Rigoletto« im Weltkulturerbe
Völklinger Hütte, Puccinis »Tosca« und in dieser Spielzeit
Mozarts »Don Giovanni«.
Sabine Mader (Bühnenbild und Kostüme)
studierte Bühnenbild an der Kunstakademie Düsseldorf
und war Meisterschülerin und Assistentin bei Karl Kneidl.
Seit 1992 arbeitet sie als Bühnen- und Kostümbildnerin für
Schauspiel und Oper u. a. beim Steirischen Herbst Graz, in
Hannover, Zürich und Warschau. Seit 2005 gehört sie zur
künstlerischen Leitung des ensemble für städtebewohner,
Wien. Am SST waren in ihrer Ausstattung u. a. Zolas
»Das Geld«, Verdis »Rigoletto« sowie zuletzt Mozarts
»Don Giovanni« zu sehen.
Alexandra Holtsch (Musik)
komponiert seit 1992 Theatermusiken, u. a. in Bremen,
Basel, Jena, an der Volksbühne Berlin, der Staatsoper
Hannover und am SST – häufig in Zusammenarbeit mit
Dagmar Schlingmann, für die sie u. a. die Bühnenmusiken
zu »Faust« und »Das Geld« schuf. Seit einigen Jahren
inszeniert Holtsch verstärkt selbst, zuletzt »Give-a-way«
in der Tischlerei / Deutschen Oper Berlin und in der
sparte4/ SST Brechts »Fatzer« – Projekte »an der Kante«
von Performance, Theater und Musik.
»Woher kommen all diese Leichen? Ein
Beinhaus, ein Beinhaus.«, leitet Wladimir seinen
Wach(alb)traum ein. »Man sollte nicht vergessen, dass
Beckett das Stück geschrieben hat, als die ersten Stimmen aus den Vernichtungslagern sich Gehör verschaffen«, kommentiert der Historiker Valentin Temkine die
Stelle. 2008 machte ein Analyseband Furore, der eine
stimmige geschichtliche Lesart aufzeigt (Pierre Temkine,
Das Absurde und die Geschichte, Matthes & Seitz Berlin). Danach nimmt das Stück Bezug auf Becketts Kriegserfahrung und eine konkrete Fluchtsituation zweier Juden im
Frankreich des Jahres 1943, die in Godot ihren Schleuser
erwarten. »Es spricht der Autor mit all seiner Anteilnahme. Er hat ein engagiertes Stück geschrieben. Nicht
wie Sartre. Auch nicht wie Brecht. Sein Umgang mit der
Geschichte ist anders, ohne Propaganda oder Moral. Er
verwischt in gewisser Weise die Spuren. Was stehenbleibt, ergibt [immer noch] einen ganz schönen Rest.«
In der Vorbereitungsphase zur Inszenierung lenkte diese
Interpretation den Blick bald auf die heutigen Kriege,
Vertreibungen und Verstöße gegen die Menschenrechte.
Nicht mehr die ewige Trivialität des Todes, sondern die
Verfolgung selbst wäre die Grundlage des menschlichen
Daseins in der Gegenwart, konstatiert der französische
Linguist François Rastier. Treffender und solidarisierender kann das Erschütternde dieses tagesaktuellen Exodus
nicht benannt werden.
»wie soll man sagen – angesichts all dessen – all dessen
hier – Wahnsinn zu sehen was – zu erspähen – glauben
zu erspähen – glauben wollen zu erspähen – weitab da
drüben ganz schwach was – Wahnsinn glauben zu
wollen zu erspähen was – was – wie soll man sagen –
wie soll man sagen.«
Samuel Beckett, Comment dire, Paris (Librairie Compagnie) 1989
Jean-Paul Sartre: Der Existentialismus
ist ein Humanismus
Man warf uns vor, die menschliche Schande hervorzuheben, überall das Schäbige, Trübe und Klebrige zu
zeigen und die Schönheit des Lebens, die Lichtseite der
menschlichen Natur zu vernachlässigen, es an menschlicher Solidarität fehlen zu lassen, den Menschen als
isoliert zu betrachten – weil wir vom cartesianischen
ich denke ausgehen, vom Moment, wo der Mensch
mit seiner Einsamkeit zusammenfällt. Von christlicher
Seite wirft man uns vor, die Ernsthaftigkeit der
menschlichen Unternehmungen zu leugnen: indem
wir die Gebote Gottes und die ewigen Werte beseitigen,
bliebe nichts als völlige Grundlosigkeit übrig. [Doch:]
Der Existentialismus ist ein Humanismus. [Seine]
Lehre erklärt, dass jede Wahrheit und jede Handlung
ein menschliches Milieu und eine menschliche Subjektivität implizieren. Der Mensch ist nichts anderes als
das, wozu er sich macht – er ist das, was sich bewusst
ist, sich in die Zukunft zu entwerfen: er wird zuerst
das sein, was er zu sein entworfen haben wird. Nicht,
was er sein will. So ist der Mensch für das, was er ist,
verantwortlich. Die erste Absicht des Existentialismus
besteht darin, jeden Menschen in den Besitz seiner
selbst zu bringen und ihm die totale Verantwortung
für seine Existenz aufzubürden – und [das heißt nicht],
er sei verantwortlich für seine strikte Individualität,
sondern für alle Menschen. So ist unsere Verantwortung viel größer, als wir vermuten können, denn sie
betrifft die gesamte Menschheit.
Jean-Paul Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus,
Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1965
WARTEN
AUF
GODOT
PREMIERE
13.11.2015
Staatstheater
Technischer Direktor Ralf Heid / Stellvertretender Leiter Beleuchtungsabteilung Frank Sobotta / Leiter Tonabteilung Walter
Maurer / Leiter Kostümabteilung Markus Maas / Leiterin Maske
Birgit Blume / Leiter Requisite Peter Michael Bartosch
Samuel Beckett
WARTEN AUF GODOT
Deutsch von Elmar Tophoven
Wladimir
Estragon
Pozzo
Lucky
Junge
Christian Higer
Andreas Anke
Klaus Meininger
Cino Djavid
Piotr Czura /
Mattis Hollendieck /
Benjamin Petzold
Inszenierung
Bühne und Kostüme
Musik
Dramaturgie
Regieassistenz und Abendspielleitung
Bühnenbildassistenz
Dagmar Schlingmann
Sabine Mader
Alexandra Holtsch
Bettina Schuster-Gäb
Jennifer Bischoff
Maria Reyes Perez
Fernandez
Christiane Groß
Petra Aschauer
Inspizienz
Souffleuse
Bühneninspektor und stellvertretender technischer Direktor
Christoph Frank / Technische Einrichtung und Technische
Leitung AFW Dieter Elsenbast / Licht Hans-Jörg Zöhler /
Ton Kurt Trenz / Requisite Klaus-Dieter Einicke, Jasmina
Ouachemi / Maske Sabine Dillenseger-Waltner, Christin
Meißner / Gewandmeister Elisabeth Bitdinger, Christiane
Hepp, Bettina Kummrow / Ankleider Michael Heißler,
Sabrina Neukirch
Werkstättenleitung Peter Frenzel / Produktionsleiter Christian
Held / Dekorationsabteilung Christoph Foss / Malsaal Peter
Frenzel / Schlosserei Fabian Koppey / Schreinerei Armin Jost /
Leitung Statisterie Andreas Tangermann
Uraufführung: 5. Januar 1953, Théâtre de Babylone, Paris
Premiere: 13. November 2015 in der Alten Feuerwache
Aufführungsdauer: ca. 2½ Stunden, mit Pause
Aufführungsrechte: S. Fischer Verlag GmbH
IMPRESSUM
–
S P I E L Z E I T 20 1 5/ 20 16 :
HERAUSGEBER:
Saarländisches Staatstheater GmbH – Dagmar
Schlingmann, Generalintendantin / Prof. Dr. Matthias Almstedt,
Kaufmännischer Direktor
FOTOS:
REDAK TION:
Bettina Schuster-Gäb
Thomas M. Jauk, stage picture GmbH
Grafikdesign
GRAFIK:
Leis & Kuckert
»In diesem Augenblick sind wir die Menschheit, ob es uns passt oder nicht.« – Keine
Ausflucht möglich
Sie haben nichts, woran sie sich festhalten könnten – kein
Zuhause, keine Familien, kaum Erinnerung. Diese kleine
Menschheit kennt nur Durchreisende, auf ihre je eigene
Weise Einsame. Wladimir und Estragon, die Flüchtlinge,
haben nur sich, den Anderen und ihre Hoffnung auf die
baldige Begegnung mit Godot – dem Hilfsbringer. An
diesem Abend soll es zum Treffen kommen. Doch Godot
wird nicht erscheinen, stattdessen bringt ein Junge die
Botschaft, er käme sicher Morgen – das Szenario für ein
Endlosspiel mit der Hoffnung ist gesetzt. Aus dem Nichts
heraus erscheinen da Pozzo und Lucky, der Herr und sein
freiwilliger Diener, mit denen das autoritäre Element in
die zwischenmenschliche Versuchsanordnung Einzug
erhält: der Mensch göttlicher Abstammung, für den es
gleiche und gleichere Individuen gibt, bringt die beiden
Fremden mit der Misshandlung seines Vasallen in einen
moralischen Konflikt, der auch ihr opportunes Wesen zu
Tage treten lässt, indem sie auf Luckys sklavische Behandlung sowohl mit Entrüstung, als auch mit Erniedrigungen
ihrerseits reagieren. »Ich bin nicht gerade sehr menschlich, aber wer ist es?«, konstatiert Pozzo und schickt die
Frage hinaus zum Zuschauer.
Die beiden Paare sind Schicksalsgemeinschaften. Sie könnten ihre Abhängigkeitsverhältnisse dauerhaft auflösen,
tun es aber nicht. Ihr Erfinder stattet sie mit einem großen
Wunsch nach Solidarität und Liebe aus – ein Wunsch, dessen Umsetzung an Opportunismus und Egozentrik stetig
zu scheitern droht. Sisyphosartig arbeiten sie sich, zunehmend quälender, an diesem Spannungsverhältnis zwischen
Menschheitsideal und darwinistischer Kampfhaltung ab.
Die Erfahrung des II. Weltkrieges ließ Samuel Beckett
(1906–1989) Welt als fragmentarisches und fragiles
Gebilde sehen. »Warten auf Godot« (1949), das er mehr
aus meditativer Motivation heraus verfasste, ohne Kenntnisse des dramatischen Genres, ist in einer stilistischen
Kargheit gehalten, einer »Verarmung« wie er es nannte.
Es kann auf den ersten Blick mit keiner spektakulären
Aktion punkten und bricht mit dem klassisch aristotelischen Dramenaufbau. Seine Figuren haben äußerst
löchrige Biografien. Der Mensch Schwächen. Und das
ist Programm. Die Geschichte um Wladimir, Estragon,
Pozzo und Lucky stellt die Frage Was ist Handlung? neu –
für das Drama wie für das Dasein. Die Grundsituation
im Stück entspricht der des zwischen Geburt und Tod
agierenden, im Warten, im Hinterfragen begriffenen
Menschen. Eingebettet in diesen Überbau einer Dramaturgie des Wartens, befassen sich die Figuren mit den
konkretesten Dingen, allen voran mit dem Anderen. Das
zwischenmenschliche Miteinander steht im Zentrum
ihres Denkens und Handelns: essen, ausruhen, verletzen,
vertragen, Menschen nach ihrer Gefährlichkeit und
ihrem Nutzen einschätzen, Beziehungen reflektieren.
Wie kann man sich umarmen, wie sich erhängen, wie auf
Erniedrigung, wie auf Zärtlichkeit reagieren – und wie ist
diese Zeit, dieses willkürliche Zeitvergehen zu ertragen?
Nichts in diesem Stück, in diesem Lebendmodell, ist abstrakt. Nicht einmal der Eindruck, das Dasein sei absurd.
Konkret ist auch die Hoffnung auf Erlösung, welche das
biblische Motiv des alttestamentarischen Gottes birgt, der
Vater und strafender Richter in einem ist und um dessen
Gunst der Mensch buhle. Wie die transzendente Macht,
so ist auch Becketts Mensch immer Opfer, immer Täter.
Hier zeigt sich sein ambivalentes Wesen, das sich auf seiner Sinnsuche an den Widersprüchen seiner Natur reibt
und Mut gegen Bedeutungslosigkeit und Vergänglichkeit
setzt. »Wir sind da, wie verabredet.« Ach ja: Wartend.
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