philoSCIENCE DIE SPIRITUELLEN WURZELN ANTIKER PHILOSOPHIE von Manuel Stelzl Wir sind heute gewöhnt daran, frühere Epochen der Geistesgeschichte durch die moderne Brille zu betrachten. Die moderne Sicht gilt als die fortschrittlichste und so wird das Frühere daran bemessen. Dabei wird leicht übersehen, was die moderne Perspektive außer Acht lässt. Im Falle der antiken griechischen Philosophie empfiehlt es sich daher, bis zu jenem Weltbild vorzudringen, das bereits in deren Sprache angelegt war. Sprache und Weltbild Die Grundbegriffe einer natürlichen Sprache vermitteln eine spezielle Sicht der Dinge, die meist unreflektiert übernommen wird. Zugleich begrenzen sie damit unsere Möglichkeiten, Wirklichkeit zu benennen. Begutachten wir z.B. die Bedeutung solcher Begriffe wie „Macht“, „Freiheit“, „Schönheit“ und „Glück“ im Deutschen. Als mächtig empfinden wir immer Menschen, die eine erhebliche Verfügungsgewalt über Gegenstände bzw. Verhältnisse außerhalb von sich besitzen. Wir würden hier eher nicht an Menschen denken, die besonders fähig sind im Umgang mit sich selbst und ihren eigenen Begierden und Leidenschaften. Unser Machtbegriff bezieht sich schließlich nicht auf die Innenwelt des Menschen. Ähnlich verhält es sich mit unserem Freiheitsverständnis. Als freie Menschen stellen wir uns solche vor, die möglichst 16 Abenteuer Philosophie / Nr. 135 wenig äußere Einschränkungen akzeptie- das Psychische, dessen Wirklichkeit und ren müssen. Als unfreie Menschen gelten Entwicklung, bereits weitgehend verloren uns von außen bevormundete Menschen, gegangen ist. Begriffe wie „Weisheit“ und nicht aber willensschwache, inkonsequente „Tugendhaftigkeit“ sind in unserer Spraoder von ihren Leidenschaften hin und che längst zu inhaltsleeren Worthülsen her gerissene Personen. Unser Schönheits- verkommen. Das liegt nicht zuletzt daran, verständnis zeigt eine ähnlich einseitige dass unser verbreitetes naturwissenschaftAkzentuierung. Für den antiken Griechen liches Verständnis von Wahrheit sich allein hingegen hatte menschliche Schönheit auch auf die sichtbare Wirklichkeit stützt. Als eine moralisch-ästhetische Dimension. Der psychische Vorgänge gelten beobachtbare, schön-gute Mensch (kalos kai agathos neuronale Prozesse des Gehirns. Was nicht anthropos) zeichnete sich durch besondere empirisch belegbar ist, hat gewissermaßen seelisch-charakterliche Vortrefflichkeit aus. keinen Wahrheitswert. Um von einer völlig Er ist ein Vorbild, weil er eine tugendhafte anderen Weltsicht, nämlich jener der antiLebensweise zeigt. Entsprechend würden ken Griechen auszugehen, lohnt es sich, mit wir auch kaum erahnen, welche inhaltli- deren Wirklichkeitsverständnis zu beginnen. chen Aspekte der antike Begriff der Glückseligkeit (eudaimonia) umfasste, da dieser Wahrheit und Wirklichkeit wesentlich Tugendhaftigkeit implizierte. Die antiken Griechen hatten einen feinen Schon hier fällt auf, dass unser Sinn für Sinn für Wahrnehmungsprozesse, die unse- philoSCIENCE rem bewussten, rationa- ein Schauen durch einen höheren, seelilen Denken vorausgehen. schen Sinn in uns. Gerade dieser verborgene Gemeint ist hier ein eher Aspekt der Wirklichkeit wird aus naturwisinstinktives, aber auch senschaftlicher Sicht heute völlig ignoriert. intuitives Wahrnehmen, Den Stoff für das Denken des Naturwissendas gewissermaßen den schaftlers liefern hochauflösende bildgeStoff für unser begriff- bende Verfahren. Und was liefert uns heute liches Denken liefert. den Stoff unseres Denken? Man nehme Die antike Philoso- dem Menschen von heute bloß Internet phensprache verfügte und Unterhaltungsmedien – wie viel von über ein sehr differen- seiner Wirklichkeit würde ihm dann wohl ziertes, geistige Prozesse noch bleiben? bezeichnendes Vokabular. Dieses sinngemäß wie- Gott und Wirklichkeit derzugeben ist schwierig. Ganz entscheidend dafür, wie man sich Richtungsweisend dafür ist in der Antike mit Philosophie beschäftigte, jedoch das altgriechische war die Art und Weise, wie das Göttliche Wahrheits- bzw. Wirklichkeits- in der Wirklichkeit wahrgenommen wurde. verständnis. Bemerkenswert ist In der Abkehr vom mythologischen Weltzunächst, dass der antike Wahr- bild fasste der philosophische Begriff des heitsbegriff („aletheia“) einen „theion“ die Gottheit nicht mehr als einzelne negativen Ausdruck darstellt. begrenzte Gestalt, sondern als eine in allem Der Begriff suggeriert, dass der Sein waltende Urkraft. Mensch für gewöhnlich von einer Sie ist der Urgrund allen Lebens und Art Schleier der Unwissenheit damit seine eigentliche Substanz sowie umgeben ist. „Letheia“ steht für Zweck setzende Ordnungsmacht des KosVerborgenheit bzw. Entzogenheit mos. Keine Bewegung wäre ohne eine des Wirklichen. A-letheia dagegen erste, alles in Bewegung setzende Urkraft bezeichnet jene wenigen Situatio- möglich. Sie ist immerzu überall anwesend nen besonderer Klarheit, in denen und beeinflusst das Weltgeschehen. Das sich der Mensch einer Wahrheit altgriechische Verständnis von „logos“ und bewusst wird. Der Grundcharak- „kosmos“ ist im Grunde nichts anderes als ter der Wirklichkeit ist hier die eine theologische Metaphysik. Schon der Entzogenheit ihrer Wahrheit für Begriff „logos“ weist zugleich auf ein Veruns. Dies ist für das griechische nunftvermögen göttlichen Ursprungs wie Seinsverständnis von außerordent- auch menschlicher Natur hin, die davon licher Wichtigkeit. Im Unterschied inspiriert ist. Der renommierte Philosozu unserem Wahrheitsverständnis phieprofessor Wilhelm Weischedel stellte ist mit „aletheia“ zudem ein Vor- sogar fest: „Unter einem bestimmten, das gang des Offenbarwerdens gemeint, Wesentliche treffenden Aspekt kann man durch den sich uns etwas zeigt. Im die gesamte antike Philosophie in ihrem Begriff der aletheia ist gewisserma- Grundzug als Philosophische Theologie ßen ein menschliches Urerlebnis betrachten.“ Besonders wichtig zu verstegefasst, das nicht nur im sinnlichen, hen ist hier nun die spezielle Art, wie die sondern auch im geistig-seelischen Omnipräsenz Gottes in der SelbstwahrnehBereich angesie- mung des Menschen ihren Niederschlag delt ist. Das ent- fand. Denn als Ort des eigenen wahren sprechende Selbst sowie des In-Kontakt-Tretens mit Erkennen ist Gott wurde die Seele empfunden. daher nicht Was aber ist das nun für ein seelischer nur ein Sehen Sinn in uns, durch den wir die Kommunimit dem Auge, kation unserer Seele mit Gott wahrnehmen sondern oft und nachvollziehen können? Nr. 135 / Abenteuer Philosophie 17 philoSCIENCE an derselben Stelle verharren, weil sie offenbar eine innere Kommunikation herstellen können, die für viele heute nicht mehr nachvollziehbar ist. Eben dazu bedarf es nun der Schärfung jenes seelischen Sinnes. Theoria und sophia Meditierenden Mönchen können tagelang an derselben Stelle verharren. Gibt es ein Denken vor dem Denken? Es gibt einen seelischen Sinn in uns, der allein geeignet ist, die Sprache des Göttlichen in uns wahrzunehmen. Aristoteles nannte ihn den „nous“, doch auch bei Anaxagoras und Platon spielte der Begriff eine zentrale Rolle. Der nous wurde auch als „Auge der Seele“ bezeichnet. Doch drei Aspekte sind zu beachten, damit der Mensch sich dieses Sinnes bedienen kann: 1) Der Verstand muss sich gänzlich passiv verhalten, da sein Fragen ansonsten jenen Sinn „übertönt“. Er muss still sein. Als bloßes Reflexorgan kann er nicht aufnehmen, was allein die Seele durch den nous aufnehmen kann. 2) Die Fragen stellt das Herz, sodass die Seele anzieht, was das Herz erfüllt. In Worten klingt das seltsam. Doch die meisten von 18 Abenteuer Philosophie / Nr. 135 uns wissen wie es ist, verliebt, sehr verärgert oder verängstigt zu sein. Entscheidend ist, wie sich die Gedanken dabei oft von selbst richten. Nicht der Verstand richtet die Gedanken, sondern diese richten sich plötzlich von selbst. Sie richten sich nach dem, was durch das Herz ausgedrückt wird. 3) Der „nous“ ist ein Sinn, der wie andere spezialisierten Sinne erst geschärft werden muss. So gibt es in manchen Wüstenregionen Nomaden, die Wasser aus weiter Ferne riechen können. So gibt es Musiker, die mit ihrem geschulten Gehör Sinfonien und Künstler, deren Auge spezielle Stilmerkmale erkennen können, die dem ungeübten Auge verborgen bleiben. Immer wieder hören wir schließlich auch von meditierenden Mönchen, die tagelang Ähnlich, wie der moderne analytische Weg der Philosophie das Wesen klassischer Philosophie weitgehend verfehlt, so hat auch der heutige Begriff der Theorie nichts mehr mit der griechischen „theoria“ zu tun. Der Begriff leitet sich ursprünglich von „theos“ und „wor“ ab, was so viel bedeutet wie „einen Gott wahren“. Der „theoros“ war ursprünglich ein Abgesandter, der im Auftrag seiner Stadt zu den Götterfesten geschickt wurde. Als eine Art Sakralgesandter hatte er dort bestimmte Pflichten gegenüber der Gottheit zu erfüllen. Das Verb „theorein“ steht für ein schauendes Beiwohnen bei religiösen Prozessionen und ist der aktiven, bohrenden, geistigen Tätigkeit gerade entgegengesetzt. Es handelte sich um ein kontemplatives Beiwohnen, bei dem es darauf ankam, sich dem Heiligen gegenüber innerlich zu öffnen. Dieses Aufnehmen hat mit Denken nichts zu tun. Der Verstand ist ein viel zu grober Filter, vergleichbar mit einem Sieb, das den wesentlichen Sand nicht fassen kann. Er kann nur erfassen, was bereits bewusst ist. Der Begriff der „sophia“ ist von allen dargelegten Begriffen besonders ausschlaggebend. Denn seine Bestimmung legt fest, was der Philosoph wissen will. Nun ist interessant, dass offenbar die Philosophie dort endet, wo der systematische Wissenserwerb der Einzelwissenschaften beginnt. Das Wissen des Biologen, des Physikers, des Geografen ist nicht mehr philosophisch. So könnte man vermuten, dass es sich bei der „sophia“ eben um eine Art Metawissen handelt, also um ein Wissen um die Gründe des Nichtwissen-Könnens (Sokrates) bzw. um ein Wissen um die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt (Kant). Doch auch das trifft nicht wirklich den Punkt. Was also hat es auf sich mit dieser mysteriösen, heute kaum mehr beachteten sophia? Zwei Aspekte sind entscheidend für die antike Bedeutung jenes Grundbegriffs. philoSCIENCE Zum einen war damit ein Wissen gemeint, das zugleich ein praktisches Können impliziert. Der „sophos“ ist jemand, der weiß, wie etwas gelingt, jemand, dessen Leben durch ein Fähigsein zu etwas gekennzeichnet ist. Er hat jenes Wissen nicht nur im Kopf, sondern sein ganzes Dasein und Wesen ist dadurch konstituiert. Beispiele hierfür wären etwa der vollkommene Bildhauer, Steuermann oder Heerführer, die alle über eine umfassende Einsicht und Weitsicht verfügen. Platon hat dabei vor allem den gerechten Politiker im Blick. Die Totalität dieser Wissensform ist erheblich. Gemeint ist ein vollkommenes Wissen, das Aristoteles auch als „arete technes“, als Bestform eines herstellenden Vermögens bezeichnete. Der zweite entscheidende Aspekt wird vor allem bei Platon thematisiert, wobei er das vorsokratische Verständnis der „sophia“ als eines göttlichen Wissens aufgreift. Im „Symposion“ diskutieren die Teilnehmer, ob der Philosoph die sophia nie erreichen kann oder ob es doch Augenblicke gibt, in denen ihm das vorübergehend möglich ist. Im „Phaidros“ wird ausgeführt, dass Weisheit im vollen Sinne allein nur Gott zukommt. Der Mensch ist im besten Fall weisheitsliebend. Genau in diesem Kontext entwickelt Platon schließlich seinen Begriff der einzig „wahren Philosophie“. Sie ist durch die beständige kontemplative Hinwendung der Seele zu Gott charakterisiert, denn dem wahren Philosophen geht es um die „methexis“ (Teilhabe) an der göttlichen Weisheit. Im „Theaitetos“ wird sogar geschildert, wie das Ziel der „wahren Philosophie“ mit der Überwindung des Bösen in der Welt zusammenfällt, nämlich durch die „homoiosis theo“ (Gottverähnlichung des Menschen). Ausblick Karl Jaspers bezeichnete einige antike Philosophen als „aus dem Ursprung denkende Metaphysiker“. Das trifft ziemlich genau den Punkt, auf den es hier ankommt. Plotin sprach in diesem Zusammenhang Der Mensch im technologischen Kommunikationszeitalter scheint immer unfähiger zu werden, in sich hineinzuhören. von einem Denken über dem Denken. Es ist kein menschliches Denken, wie er sagt und damit auch kaum vergleichbar. Zudem lässt es sich nicht in Begriffen erfassen. Und selbst der so überaus kritische Sokrates, der angeblich wusste, dass er nichts weiß, vertraute nahezu blind auf jenes „daimoneion“ in ihm, das er gelegentlich erwähnte. Von einigen bedeutenden Forschern hören wir, dass ihnen im Traume großartige Ideen eingegeben wurden und womöglich verweist gerade der Begriff der „Intuition“ auf derartige, urplötzliche Eingebungen aus dem Nichts. Wir mögen uns einmal ernsthaft fragen, auf welchen Ursprung die Bedeutung solcher Begriffe wie „Inspiration“ (in-spiritus), „enthusiasmos“ (en-theos) und „Genialität“ verweisen. Im Englischen deutet „stroke of genius“ auf eine geniale Anwandlung hin, die ebenso wie die Intuition plötzlich und wie aus dem Nichts auftaucht. Daneben scheint sich menschliche Kreativität oft wesentlich aus unbewussten, nicht weiter beobachtbaren Quellen zu speisen. Es ist ein riesiges Problem unserer Zeit, dass der Mensch im technologischen Kommunikationszeitalter, umgeben von einem nie da gewesenen Unterhaltungsangebot, immer unfähiger zu werden scheint, wirklich in sich hineinzuhören. Alleinsein-Können, innerlich Still-sein-können, um in kontemplativer Zurückgezogenheit Kontakt herzustellen mit dem wahren Quell nicht nur der Inspiration, sondern auch eines unvergleichlichen Friedens. Gerade das gelingt dem heutigen Menschen immer seltener – mit dramatischen Folgen für die psychische Gesundheit. ☐ Literaturhinweis: • SCHADEWALDT, Wolfgang: 1978. Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 218), S. 162-209 • WEISCHEDEL, Wilhelm: 2013. Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus. 5. Auflage. Darmstadt: Lambert Schneider, S. 39 • JASPERS, Karl: 2007. Die großen Philosophen. 8. Auflage. München: Piper, S.967 Nr. 135 / Abenteuer Philosophie 19