Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabilitationsmedizin Prof. Dr. Florian Steger Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Medizinische Fakultät Magdeburger Str. 8 06112 Halle (Saale) Ein Fallbeispiel I Herr Maier ist 57 Jahre alt. Er arbeitet Vollzeit als Verkäufer in einem Warenhaus und hat dort einen unbefristeten Vertrag. Seit vielen Wochen leidet er unter Antriebslosigkeit sowie Schlafstörungen. Die Stimmung ist depressiv, er kann sich weniger freuen als früher. Er hat wenig Appetit, kann sich bei der Arbeit nur schwer konzentrieren, macht viele Fehler und traut sich kaum mehr etwas zu. Generell kann Herr Maier seinem Leben nur noch wenig Sinn abgewinnen. Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 2 Ein Fallbeispiel II Herr Maier wendet sich an seinen Hausarzt Dr. Fröhlich. In der Anamnese zeigt sich, dass der Arbeitsplatz zu einem „Burn out“ geführt hat. Herr Maier wird krank geschrieben und an einen psychologischen Psychotherapeuten überwiesen. Ein Psychopharmakon wird nicht erwogen. In den folgenden Wochen, Herr Maier ist noch immer krank geschrieben, bessert sich unter der Verhaltenstherapie sein Zustandsbild. Herr Maier hat wieder mehr Appetit, er kann besser schlafen und auch die Hoffnungslosigkeit relativiert sich wieder. Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 3 Ein Fallbeispiel III Herr Maier ist seit mehreren Monaten krank geschrieben, es geht ihm sichtlich besser, er ist immer noch in psychotherapeutischer Behandlung. Er bezieht seit mehreren Monaten Krankengeld von der Krankenkasse. Auf Veranlassung der Krankenkasse bei fortbestehender AU wird ihm nun eine Reha in einer psychosomatischen Klinik nahe gelegt. Herr Maier ist hierzu gerne bereit und freut sich auf seinen Aufenthalt in der Rehaklinik. Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 4 Ein Fallbeispiel IV Während des Aufenthalts in der Reha ist kaum mehr etwas von der Kernsymptomatik zu erkennen. Herr Maier ist compliant, er nimmt an allem teil, was ihm empfohlen wird. Es wird festgestellt, dass Herr Maier an seinen Arbeitsplatz zurückkehren kann: voll arbeitsfähig. Schon bei dem Gedanken, an seinen Arbeitsplatz wieder zurückkehren zu müssen, wird Herrn Maier ganz flau. Er wird aus der Reha entlassen. Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 5 Ein Fallbeispiel V Bereits in der Folgenacht setzen die Schlafstörungen wieder ein. Herr Maier kehrt an seinen Arbeitsplatz zurück, doch noch am ersten Tag beginnen erneut seine Konzentrationsstörungen. Und noch in der ersten Arbeitswoche stellt sich wieder das Gefühl der Hoffnungslosigkeit ein. Herr Maier verliert wieder seinen Appetit, ist zunehmend entmutigt und traurig. Noch am Freitag dieser ersten Arbeitswoche meldet er sich krank und sucht wieder seinen Hausarzt auf. Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 6 Ein Fallbeispiel VI Der behandelnde Hausarzt Dr. Fröhlich ist ernsthaft besorgt, Herrn Maier nun wieder in einem deutlich verschlechterten Zustand vorzufinden. Das „Burn out“ habe wieder zugeschlagen. Sofort schreibt er Herrn Maier krank und empfiehlt wiederum den psychologischen Psychotherapeuten ... Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 7 Kasuistik als Zugang didaktisch illustrativ vs. systematisch argumentativ 1. Fallsammlungen für Lehr- bzw. Studienzwecke (Beispiele mit kurzem Kommentar) 2. Beispiele dienen einer allgemeineren bzw. abstrakteren Betrachtung (z.B. Beauchamp/Childress) (positiv heuristisch vs. negativ falsifizierend) 3. Klassisch: In der Fallanalyse befindet sich der Inhalt der Ethik überhaupt. Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 8 Ethische Reflexion • Gibt es einen ethischen Konflikt? • Wie lässt sich der ethische Konflikt beschreiben? • Ethische Reflexion des Konflikts Ziele • Grundsätze der Humanität sind einzuhalten • Ethische Beurteilung als Handlungsempfehlung • Ethik als Instrument der Qualitätssicherung Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 9 Erkennen der relevanten medizinethischen Prinzipien Kohärentistischer Prinzipien-Ansatz (Beauchamp/Childress 2009) − − − − autonomy beneficence non maleficence (me blaptein; nil nocere) justice Literatur: Oliver Rauprich und Florian Steger (Hg.): Prinzipienethik in der Biomedizin. Moralphilosophie und medizinische Praxis. Frankfurt/M., New York 2005. Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 10 Spannungsfeld I Ärztinsein – Arztsein Besondere Situation in der Rehabilitationsmedizin: Ärztliche Rolle als Begleiter und Motivator des Patienten. Gutachterinsein - Gutachtersein Menschsein – Ichsein Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 11 Spannungsfeld II Konfligierende Erwartungshaltungen: Ärztin - Arzt Patient Leistungsträger Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 12 Spannungsfeld III • Streben nach objektiven Begutachtungskriterien (Normierung) • Evozierte Emotionalität (eigene Sozialisation) gefährdet „Eigenschutz“ • Wahrung von Neutralität • Unabhängigkeit von Interessen Dritter (Parteilichkeit) Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 13 Spannungsfeld IV • Zeit, Bürokratie, System • Individualethische Fürsorge und Verantwortung • Anwalt des Leistungsträgers? Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 14 Spannungsfeld V Sozialethische Fürsorge und Verantwortung in Anbetracht von • medizinischem Fortschritt • demographischer Entwicklung (Reha ++) mit den Handlungsoptionen • Effizienzsteigerung • Mittelerhöhung • Leistungsbegrenzung Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 15 Besonderheiten in der Reha Die Grundlagen der Rehabilitation haben sich durch die Verabschiedung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit durch die World Health Assembly im Jahre 2003 fundamental weiterentwickelt. Das lineare Krankheitsfolgenmodell der ICIDH wurde durch ein komplexeres bio-psycho-soziales Modell ersetzt, das von komplexen Wechselwirkungen zwischen Krankheit, Funktionen, Aktivitäten und der Teilhabe ausgeht (Kontextfaktoren!). Recht auf Rehabilitation in SGB IX Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 16 Zurück zur Kasuistik: Nosologische Diskussion Arbeitnehmer mit ... • Depression • „Burn out“ Herbert Freudenberger 1974, nur in Deutschland diskutiert: ICD-10 Z 73.0: Ausgebranntsein, Zustand der totalen Erschöpfung • Persönlichkeitsstörung • Hyperindividuation (Anspruchsdenken ++) (Niedermeier 2011) Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 17 Zurück zur Kasuistik ... II • Berufliche Wiedereingliederung sinnvoll? • In welcher Form? • Welche Rolle spielt bei dieser Entscheidung der Wille des Patienten bzw. des Arbeitnehmers? • Welche Rolle spielt bei der Entscheidung die Frage der Ressourcenallokation? Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 18 Zurück zur Kasuistik ... III • „Burn out“ als neue Krankheitsentität sinnvoll? • Schade ich dem Patienten, wenn ich diese neue nosolgische Entität schaffe? • Verhalte ich mich dem Patienten gegenüber wohltuend, wenn ich ihn mit einem Burn out „etikettiere“? • Wohin führt solche Medikalisierung? Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 19 Ausblick: Ethische Aspekte und Menschenrechtsfragen Lerninhalte •Selbstbestimmungsrecht des behinderten Menschen •Sexualität von behinderten Menschen •Religiöse und weltanschauliche Normen und Einflüsse •Besondere ethische Aspekte der Frührehabilitation (z.B. Entscheidungen bei Patienten mit beeinträchtigter Bewusstseinslage) •Rehabilitation und Menschenrechte •weitere ethische Aspekte (Musterkursbuch Rehabilitationswesen, Bundesärztekammer 2004) Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 20 Conclusio 1. In der Rehabilitationsmedizin stellen sich in einem ausgeprägten Spannungsfeld um die ärztliche Rolle zentrale ethische Fragen. 2. Diese ethischen Fragen haben sowohl individualethische als auch sozialethische Perspektiven. 3. Ethische Reflexion ist für die Versorgung ein Instrument der Qualitätssicherung. 4. Ethik ist der ärztlichen Praxis dienlich und sollte fester Bestandteil der Rehabilitationsmedizin sein. Prof. Dr. Florian Steger Zur Ethik der Arztrolle in der Rehabiliationsmedizin 21