HARTMUT SCHWEITZER POPULISMUS: ANSATZ ZU EINER KLÄRUNG1 (1) EINLEITUNG Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen ist die Überlegung, dass ein offensichtlich so weit verbreitetes soziales Phänomen wie Populismus auf Voraussetzungen beruhen muss, die nicht allein im politisch-sozialen Bereich wurzeln (können), sondern sich aus allgemeineren Bedingungen der jeweiligen sozialen und politischen Situationen nähren. Anders gesagt: hinter den unterschiedlichen Erscheinungsformen von Populismus, von denen unten einige wenige skizziert werden, muss es Tatbestände geben, die es als Erfolg versprechend erscheinen lassen, im politischen Raum, der ja zwingend auch immer ein allgemein sozialer ist, in einer spezifischen Weise zu agieren, die als populistisch bezeichnet wird. Dieser Aufsatz bietet eine erste Fixierung allgemeinerer Gedanken zu diesem Problemkreis. Es geht darum, sich den Tatbeständen anzunähern, sie vielleicht sogar zu identifizieren, die Populismus konstituieren und daraus Antworten auf die Frage zu gewinnen, ob Populismus als eine nur vorübergehende Erscheinung unserer demokratischen Gesellschaften angesehen werden kann oder ob er vielleicht sogar als ein integraler Bestandteil unseres demokratischen Systems verstanden werden muss. Es scheint in Demokratien ja nur unter sehr besonderen Umständen möglich zu sein, notwendige, aber sehr unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen und solche Umstände können z.B. durch tatsächliche oder vermeintliche Bedrohungen von außen bedingt sein, wie z.B. die Bedrohung durch ein militärisch aggressives Nazi-Deutschland 1939 gegenüber dem Rest Europas. Eine politische Führung oder eine politische Gruppe, die die Führung gewinnen will, sieht sich also der Versuchung ausgesetzt, bestimmte Ereignisse so darzustellen, dass sie als eine solche Bedrohung interpretiert und daher für ihre Zwecke instrumentalisiert werden können. In solchen Situationen tendieren die Inhalte populistischer Argumentationen in die Richtung von Lügen. Man kann feststellen, dass der Begriff Populismus sehr viele Facetten auf1 Dieser Text ist eine erweiterte, deswegen auch inhaltlich veränderte Version eines Vortrages, den ich am 11.10. 2002 auf einem Workshop in Montabaur gehalten habe. Er hat lange geruht, wurde aber jetzt, Mitte 2008, noch einmal überarbeitet, weil sich beim Autor inzwischen der Eindruck verstärkt hat, dass das Phänomen mehr denn je einer Klärung bedarf, u. a. auch deswegen, weil viele Themenfelder der öffentlichen Diskussion zunehmend von populistischen Gedankengängen beherrscht werden, die unter dem Deckmantel ideologiefreier, sachlicher Analysen und Meinungsäußerungen daher kommen. Das gilt vor allem für ökonomische Themen, Fragen der Bevölkerungsentwicklung, bei der man gegenwärtig ja einen überraschenden reaktionären Rückschlag beobachten kann, und für die Bildungs- und - fast noch ausgeprägter - die Hochschulpolitik. Ich habe verschiedenen Personen für Hinweise und Anregungen zu danken, kann sie aber nicht mehr weist und sich inhaltlich mit anderen Begriffen überschneidet, weswegen eine umfassende Analyse kaum in einem kurzen Text zu leisten ist. Daher sollen hier vor allem Anregungen vermittelt und Zwischenergebnisse eines Reflektionsprozesses wiedergegeben werden, der noch nicht abgeschlossen ist. Die Ausführungen standen ursprünglich in direktem Zusammenhang mit den Diskussionen über Sinn und Möglichkeiten eines „Online Social Sciences Service for Journalists (OSJ)“ für die qualitative Verbesserung der journalistischen Arbeit, ein Dienst, der seit einigen Jahren unter dem Namen >JOURNASCIENCE.ORG< angeboten wird. Ich hoffe sehr, dass dieser Text immer noch als ein Plädoyer für diesen Dienst verstanden werden kann. (2) ZUR ALLGEMEINEN VERWENDUNG DES BEGRIFFS >POPULISMUS< Üblicherweise wird der Begriff „Populismus“ fast ausschließlich auf soziale und / oder politische Bewegungen, Organisationen oder sogar Parteien angewendet und nur in Zusammenhängen wie „populistisches Programm“ oder „populistische Rede“ wird indirekt ein Hinweis auf eine als spezifisch angenommene Geisteshaltung vorgenommen. Aus diesem Grund sind wohl auch die Bestimmungen von Populismus eher Beschreibungen als wirkliche Definitionen, was an einigen Beispielen gezeigt werden soll. Zuerst aus dem „Brockhaus“, der Populismus so versteht: „Schlagwort (mit z.T. negativer Tendenz) für eine um >Volksnähe< bemühte Politik, die Stimmungen der Unzufriedenheit und akute Konfliktlagen aufgreift“. Umfangreicher ist die folgende Beschreibung von Populismus durch KOSCHNIK (vgl. dort): „Pauschalbezeichnung für eine Vielzahl politischer Überzeugungen, deren zentraler Gedanke es ist, daß alle Macht in den Händen ‚des Volkes‘ liegen solle; in der amerikanischen Variante eine plebiszitär getönte Variante des politischen Liberalismus, die sich als soziale und politische Bewegung vorwiegend auf das Kleinbürgertum (Geschäftsleute, Farmer etc.) stützte, starke Affekte gegen die Großindustrie, die Regierung, die Zentralverwaltung und gegen die Gewerkschaften mobilisierte und generell die kaum beschränkte Autonomie der politischen Gewalten gegenüber dem Volk im System der repräsentativen Demokratie in Frage stellte“. Einen stärker politisch ausgerichteten Ansatz, in dem den spezifischen politisch-historischen Umständen noch größere Bedeutung eingeräumt wird, präsentiert das verbreitete >Lexikon zur Soziologie<, in dem es heißt: „Populismus: wirtschaft- identifizieren. 2 lich und kulturell ausgeprägter Nationalismus, besonders in Lateinamerika, der politisch und ideologisch rückständige Massen zusammenfaßt und damit für bestimmte Interessen organisiert. Durch oft charismatische Führung soll die >oberhalb aller Klassen stehende politische Einheit< durch Klassengrenzen verwischende Massenmobilisierung hergestellt werden. Die Strategien des P(opulismus) entsprechen nach marxistischer Auffassung den Interessen der dynamischen nationalen Bourgeoisiefraktionen, die eng mit dem Industrialisierungsprozeß gekoppelt sind. Der P(opulismus). beinhaltet eine Reihe von Nationalisierungs-, Protektionsund Umverteilungsreformen, die den Wünschen der ihn stützenden Bevölkerungsgruppen (Mittelklassen und Proletariat) entsprechen und einer Industrialisierung nicht im Wege stehen“ (EICH)2. Hier sehen wir ganz deutlich den Versuch, die Bestimmung des Begriffsinhalts von Populismus unmittelbar mit politischen bzw. weltanschaulich-ideologischen Aussagen zu verknüpfen (ausgeprägter Nationalismus; politisch und ideologisch rückständige Massen) und überdies Urteile über Gewinn und Verlust der involvierten Parteien (für bestimmte Interessen organisiert; den Wünschen der ihn stützenden Bevölkerungsgruppen ... entsprechen) abzugeben, ein Verfahren, das methodologisch unsauber ist und letztlich wissenschaftlich unergiebig bleiben muss, weil eine derartige „Definition“ praktisch unbrauchbar ist. LINZELL stellt fest 3: „Der Gattungsbegriff wird unterschiedlichsten politischen Bewegungen gegeben deren hauptsächliche Gemeinsamkeit darin besteht, sich an das Volk als Ganzes zu wenden, wobei der gewöhnliche Bürger hervorgehoben wird, den man als im Gegensatz zum Big Business und den riesigen Gewerkschaften stehend sieht. Populistische Rhetorik ist jedoch sehr viel weiter verbreitet als es populistische Organisationen sind und sie wird besonders von einigen Politikern innerhalb der traditionellen Parteien übernommen, wenn sie die Führung und damit die überkommenen Wege des politischen Denkens herausfordern wollen. Für Populisten ist das Volk die Quelle politischer Tugend, aber diese ist bedroht durch verdeckte, mächtige und bösartige Feinde. Zusätzlich zum Glauben an eine Verschwörung gegen den gemeinen Mann auf der Straße hatte der Populismus immer auch folgende Züge: Unterstützung durch diejenigen, die normalerweise das Rückgrat von Parteien der Mitte und liberalen Parteien bilden, eine extremistische Sprache und ein ebensolches Verhalten im politischen Bereich, ein reaktionäres Programm, welches dadurch, dass es die dominanten Trends der modernen Zeit 2 alle Hervorhebungen und Ergänzungen in Klammern von H.S. 3 umzukehren sucht und abwehrt, paradoxerweise revolutionär wird, ein spektakuärer, komentengleicher Weg über den politischen Himmel. Obgleich eine enge Charakterisierung des Populismus die Gruppen der russischen Narodniki aus den 1880er Jahren und die American People‘s Party aus den 1880 und 90er Jahren umfaßt, wurde der Begriff auch auf faschistische und nationalsozialistische Bewegungen, den Poujadismus, den Peronismus und sogar den McCarthyismus, Plaid Cymru und die Scottish National Party angewendet“. Alle diese Beschreibungen von Populismus, denen noch viele ähnliche hinzugefügt werden könnten4, sind noch weit entfernt von wissenschaftlich zuverlässigen und daher verwendbaren Definitionen. Überdies ist ihnen eine mangelnde Präzision gemeinsam, was zum großen Teil darauf beruht, dass auch die in ihnen verwendeten Begriffe ungenau sind. Sie beziehen sich z.B. auf höchst unterschiedliche politische Bewegungen, deren einziges gemeinsames politisches Merkmal darin besteht, sich nicht an die Elite(n), sondern an die „Massen“, das „gemeine Volk“ oder die „Klein-Bürger“, eben „populus“, zu wenden. Aber das ist in einem politischen „One-man, one-vote-System“, in dem die Zahl der gewonnenen Stimmen über den Zugang zur Macht entscheidet, eigentlich nur naheliegend, wenn man den Machtgewinn als Hauptziel politischen Handelns ansieht. Man muss daher der Behauptung zustimmen, dass der Begriff „Populismus“ tatsächlich zu jenen ziemlich zahlreichen Begriffen in der sozialen und politischen Diskussion gehört, die, gerade weil sie so unpräzise sind, sich sehr gut zum Kampfbegriff eignen, denn sie bieten jedermann die Möglichkeit, ihnen jeweils den Inhalt „anzuheften“, der den vermutlich höchsten Aufmerksamkeitswert hat. Daher wird der Begriff „Populismus“ auch üblicherweise dazu verwendet, solche Phänomene in der Politik zu etikettieren, denen man zwar ablehnend gegenübersteht, mit denen man sich aber auch nicht genauer befassen möchte und die man hofft, auf diese Weise als politisch unseriös etikettieren und damit auch diskreditieren zu können. Die Verwendung dieses Begriffes hat also neben politischen Zielen mit Sicherheit auch eine intellektuelle Entlastungsfunktion: der so etikettierten politischen Kraft wird damit die notwendige intellektuelle Dignität abgesprochen, die eine Sache haben muss, damit sich ernsthafte Menschen mit ihr befassen. Es kann also nicht verwundern, wenn weder unter Wissenschaftlern noch in der Bevölkerung Einigkeit darüber herrscht, welche Züge die verschiedenen Phä3 Übersetzung durch H.S. 4 nomene, denen das Etikett „Populismus“ angeheftet wird, miteinander gemeinsam haben. Wohl auch daher kann CANOVAN wenigstens sieben verschiedene Typen politischer Phänomene identifizieren, die jeweils zumindest von einigen Wissenschaftlern als populistisch bezeichnet werden. Sie skizziert zuerst drei mehr oder minder agrarisch geprägte und mit politischen Bewegungen verbundene Erscheinungen, aber sieht überdies auch vier weitere, die populistisch genannt werden (vgl. CANOVAN; 190f): (1) Die >Populistische Diktatur<, in der ein charismatischer Führer sich unter Umgehung der akzeptierten politischen Wege direkt an die Massen wendet, die sich größtenteils aus der Landvölkerung und kürzlich in die Stadt Gewanderten zusammensetzt. Dadurch dass er diesen Massen „Brot und Spiele“ anbietet, gewinnt er verfassungswidrige Macht. Das Musterbeispiel für diesen Typus wäre wohl MUSSOLINI. (2) Als >Populistische Demokratie< bezeichnet CANOVAN eine den repräsentativen Formen feindliche politische Bewegung, die versucht, soviel Macht wie möglich in der Hand des Volkes zu belassen. Typische Mittel dafür sind Volksbefragungen zu Gesetzen, die von den repräsentativen gesetzgegebenden Körperschaften verabschiedet wurden. Hierfür kann man wohl die frühen - oder wenn man so will: fundamentalistischen - GRÜNEN anführen (3) >Reaktionären Populismus< nennt CANOVAN solche politischen Handlungen, die die reaktionären Vorurteile der Massen gegen die aufgeklärten Ansichten der politischen Elite (Hervorhebung H.S.) ausspielen, ein Phänomen, das z.B. zu beobachten ist, wenn es zur öffentlichen Diskussion über die Legitimität der Todesstrafe kommt. (4) Zum Schluß nun erkennt CANOVAN >Populismus< als einen besonderen politischen Stil. >Populismus der Politiker< nennt sie jenen Stil, der ideologisch - weltanschauliche Verpflichtungen und Bindungen vermeidet und den Anspruch erhebt, für das ganze Volk bzw. für dessen wohlverstandene Interessen zu sprechen und nicht für bestimmte Interessengrupperungen, gegen die man sich u.U. aggressiv abzugrenzen sucht. Politische Parteien mit diesem Stil nehmen jeden als Mitglied auf, haben keine wirklichen politischen Prinzipien und sind in ihren Zielsetzungen höchst eklektisch, weswegen sie auch bereit sind, Unterstützung von jedem und aus jeder „Ecke“ zu akzeptieren. 4 Vgl. beispielsweise auch R.B. COLLIER 5 EXKURS-1: Diese Beschreibung trifft das Verhalten einer wachsenden Zahl von Politikern und Parteien sowohl in West- als auch in Osteuropa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Wir finden hier, um einige Beispiele herauszugreifen, nicht nur solche „Parteien“ wie PIM FORTUYNS Bewegung in den Niederlanden, die „SCHILL-Bewegung“ in Hamburg oder die >Forza Italia< des SILVIO BERLUSCONI, jetzt Italiens Ministerpräsident, oder die >Lega Nord< von BERLUSCONIS Koalitionspartner UMBERTO BOSSI mit seinen schlagwortartigen und teilweise offen rassistischen Parolen, sondern auch viele ehemals kommunistische, jetzt linksorientierte, sozialistische Parteien in Ost-Europa und auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gab es die „Partei des Demokratischen Sozialismus“ (PDS), die jetzt Teil der Partei „Die Linke“ ist. Aber auch viele Politiker und Parteien im alten „Ostblock“, die sich von den Kommunisten / Sozialisten abheben wollen, argumentieren vielfach populistisch, wie z.B. VAÇLAV KLAUS in Tschechien oder die KASCYNSKY-Brüder in Polen. Aber auch viele unserer traditionsreichen Parteien in Westeuropa, von den Konservativen über die Liberalen bis zu den Sozialdemokraten haben in den letzten anderthalb Dekaden starke Tendenzen in Richtung auf den erwähnten „Populismus der Politiker“ entwickelt und dieser „Trend“ ist noch keineswegs zum Stillstand gekommen. So ist Populismus auch eine zutreffende Etikettierung des Verhaltens der FDP - und ihres damaligen Vize-Vorsitzenden MÖLLEMANN - vor der Bundestagswahl 2002 oder aller Landtagswahlkämpfe des hessischen Ministerpräsidenten KOCH. Wenn wir konstatieren können, dass eine Tendenz zu einem politischen Verhalten, das als populistisch bezeichnet wird, quer zum traditionellen politischen Spektrum existiert, dann erhebt sich unausweichlich die Frage: ist Populismus nur eine Form bzw. Vorgehensweise oder gibt es auch einen Inhalt? Wenn man sich die oben angeführten „Definitionen“ ansieht, dann wird klar, dass eine Rechts-LinksKlassifizierung kein Licht in dieses Problem bringt, weil es unmöglich ist, eine der in den letzten Jahren entstandenen populistischen Bewegungen klar der rechten oder linken Seite zuzuschlagen. Man kann also zumindest den modernen Populismus als - weitgehend - ideologielos bezeichnen, wodurch er zu schnellen, opportunistischen Reaktionen und Wendungen fähig ist. Weltanschauung ist weitestgehend nur lockere Verkleidung, die man sich angelegt hat, da man in den modernen Demokratien mit ihren zumindest tendenziell weltanschaulich ausgerichteten Parteien keine „amoralische“ Macht- und Interessenpolitik betreiben kann - auch nicht in der Außenpolitik, sondern für alle Handlungen eine wie auch immer durchsichtige moralische Rechtfertigung benötigt. Jedoch ist es ein gemeinsamer Zug allen populistischen Redens und Handelns, dass keiner ihrer Anhänger oder Akteure sich selbst je als populistisch bezeichnet. Es ist eine Bezeichnung, die nur für >die anderen< verwendet wird, also ein Etikett, das von politische Gegnern und von nicht zustimmenden Beobachtern 6 verwendet wird. Die Verwendung dieses Begriffs zur Etikettierung einer Gruppe verweist unweigerlich auf eine Position außerhalb dieser Gruppe, also auf eine Fremdgruppe. Populismus ist immer ein Outgroup-Begriff 5. Die Beschäftigung mit populistischen Bewegungen und Trends nährte sehr stark meine Zweifel daran, ob die Begrenzung des Blicks auf die sozialen und politischen Bereiche und Umgebungen wirklich dabei hilft, wahrscheinlich vorhandene Gemeinsamkeiten aller dieser unterschiedlichen politischen und sozialen Bewegungen herauszufinden. Solche Gemeinsamkeiten müssen ja bei Tatbeständen vermutet werden, die mit ein und demselben Begriff bezeichnet werden, und wenn sie nicht offensichtlich sind- wie im vorliegenden Fall, dann können diese unter der Oberfläche versteckt und außerhalb des unmittelbaren politisch-sozialen Bereichs liegend vermutet werden, von wo sie auf diesen aber direkt wirken. Wenn es gelingt, sie zu identifizieren, sind wir tatsächlich berechtigt, einen Begriff für ziemlich unterschiedliche Phänomene zu verwenden. (3) POPULISTISCHES DENKEN Wir müssen uns also zuerst dem populistischen Denken zuwenden, denn die Beschäftigung mit Populismus zeigt, dass das, was wir im sozialen und politischen Bereich populistisch nennen, tatsächlich nichts anderes ist als die Auswirkung einer bestimmten Art des Denkens und Argumentierens auf politische und soziale Angelegenheiten. Betrachtet man die zitierten „Definitionen“ am Anfang dieses Textes etwas genauer, dann sieht man einige formale Konstanten des populistischen Argumentierens: Große Einfachheit verbunden mit scheinbarer Gradlinigkeit, eine starke argumentative Simplifizierung komplexer Sachverhalte, Diskreditierung von Partikularinteressen zugunsten von behaupteten Gemeinschaftsinteressen, Rekurs auf den „gesunden Menschenverstand“ und auf „gesunde“ moralische Ansichten6. Gerade aus den beiden letztgenannten Faktoren gewinnt dieses Argumentieren einen erheblichen Teil seines Gewichts, denn damit wird die Welt in UNS und DIE geteilt, also in GUT und BÖSE. Derartige Denkmuster, die unabhängig vom jeweiligen Gegenstand sind, kann man nicht nur, sondern muss man insofern als ideologieverhaftet und vormodern bezeichnen 7 , denn ein moralisches Argument ist ein 5 Es sei denn, der Begriff wird so umgewertet, dass er als der eigentlichen Gehalt einer Demokratie verstanden wird bzw. verstanden werden soll, wie man es vor der Wahl 2002 hier und da aus der Ecke der FDP hören konnte. 6 Diesen Appell an die vorgeblich gesunde Moral kann man in Italien bei UMBERTO BOSSI sehr gut beobachten. 7 Es kann wohl kein Zweifel daran bestehen, dass dieser Art von Populismus ein stark religiöses, ja sogar manichäisches 7 Werturteil, das man als solches glauben muss (oder nicht), das aber auf der kognitiven Ebene keiner rationalen Argumentation über richtig oder falsch zugänglich ist. Ein Populist argumentiert also grundsätzlich mit als Sachaussagen verkleideten Wertaussagen. Wenn ein Populist behauptet, dass die Sache, die er vertritt, richtig sei, dann kann man das glauben oder auch nicht - aber er wird niemals zu einer (primär) rationalen Abwägung der Vor- und Nachteile gelangen und diese auch gar nicht anstreben, denn der Populist meint mit >richtig< nicht rational richtig, sondern moralisch >gut< und gut ist immer das Volk bzw. der Teil desselben, auf den sich der Populist stützt. In der Politik der modernen Massendemokratien repräsentiert eben „das Volk“, wer immer das konkret sein mag, typischerweise „die Guten“ bzw. das Gute, die es zu schützen oder das es zu vertreten gilt. Auch deswegen geben sich Diktaturen immer diesen demokratischen Anstrich, die „wahren Interessen“ des Volkes, also der Guten zu vertreten, während Interessengruppen das Gemeinwohl zugunsten ihrer Partikularinteressen schädigen. Das ist auf der emotionalen Ebene vielleicht einsichtig, kognitiv dürfte aber gerade das Gemeinwohl nicht, ein Partikularinteresse aber sehr wohl genau zu bestimmen sein. Daher erklärt sich wohl auch das typische tiefe Misstrauen gegenüber den Eliten, „denen da oben“, die nur ihren Vorteil, ihr - genau zu definierendes - Partikularinteresse im Auge haben. Hier lauert im Hintergrund immer noch die unselige ROUSSEAUsche Unterscheidung von volonté generale, die man dem guten Gemeininteresse zuordnen kann, und volonté des tous, die zu den schlechten Partikularinteressen gehört. Populistisches Argumentieren ist also primär emotional und damit automatisch vorurteilsbehaftet und wenn rational, dann nur zufällig. Üblicherweise sind diese moralisch und emotional fundierten Behauptungen aber als rationale, objektive Aussagen „getarnt“ - ein Trick, den bereits THEODOR GEIGER (1953) bei der Analyse der Struktur von Ideologien herausgearbeitet hat. Werturteile werden als ideologische Aussagen zu para-theoretischen Aussagen gemacht und dadurch erscheinen Wertaussagen im "erschlichenen" Gewand von Sachaussagen. Deshalb wird nicht gesagt: „Wir denken, dass diese oder jene Maßnahme ungerecht ist“, sondern: „Diese Maßnahme ist falsch“, so als sei „falsch“ ein objektiver, intersubjektiv unbestreitbarer Tatbestand und nicht eine Wertaussage. HERZINGER behauptet, die modernen Formen des Populismus stammten alle Element innewohnt. Das wird gegenwärtig mit der Argumentation von G.W. BUSH mit seiner Konstruktion der sog. Achse des Bösen - auf diesen Begriff würde ein rational analysierender Mensch ja nie kommen - und dem Irak -Konflikt exemplarisch im Weltmaßstab vorgeführt. 8 vom Liberalismus, Konservativismus oder Sozialismus ab, also von den ideologischen und politischen Hauptströmungen des 19. Jhdts., jedoch seien die Probleme, auf die diese Konzepte einst gezielt hätten, weitestgehend verschwunden, während sich die Parteiprogramme immer noch an ihnen orientierten, ganz so als seien die Probleme der Menschen immer noch dieselben8. Danach liegen hier also Denkmuster vor, denen ihre materielle Basis weitgehend abhanden gekommen ist und wenn, wie MARX behauptet hat, das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt9, dann schweben die Ideen jetzt in einem leeren sozialen Raum. Vermutlich deshalb sind sich die Parteiprogramme immer ähnlicher geworden und deswegen herrscht in der politischen Arena auch eine weitestgehende Übereinstimmung sowohl über die Probleme als auch über die Tabus. In Deutschland kann man das u. a. an der Weigerung sehen, eine substanzielle Debatte über die Einwanderungspolitik zu führen. Diese von der Bevölkerung so empfundene Leerstelle hat ROLAND KOCH in seinem ersten hessischen Landtagswahlkampf erfolgreich ausgenutzt, um eine zwar kognitiv inhaltsleere, aber dafür umso emotionalere Kampagne zum geplanten Staatsbürgerschaftsgesetz zu lancieren. Die Diskussionsverweigerung wurde und wird mit der Phrase begründet: „Dies darf nicht zum Gegenstand von Wahlkämpfen gemacht werden“, eine unehrliche Behauptung und überdies eine Form dessen, was ich „elitistischen Populismus“ nenne10. Ähnliche „Argumente“ wurden vor der Einführung des Euro verwendet. Dagegen zeigen die gegenwärtigen Diskussionen über den Reformstau in Deutschland, dass sich die Parteien in ihren Problemformulierungen weitestgehend übereinstimmen bzw. so gut wie nicht voneinander unterscheiden Den deutlichsten Ausdruck fand dieser elitistische Populismus jedoch in der lächerlichen (oder besser: ärgerlichen) Weigerung der deutschen Parlamentarier mit ihrer damaligen CDU-Mehrheit - den Souverän, also das deutsche Volk, in dessen Auftrag, und nicht aus eigener Legitimität heraus, sie einzig und allein zu handeln berechtigt sind, über seine Verfassung abstimmen zu lassen, deren Überarbeitung nach der Wiedervereinigung unausweichlich geworden war11. 8 Allerdings scheinen viele Menschen - und deren Interessenvertreter - das auch noch zu glauben, wie die aktuellen Diskussionen um Veränderungen der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland verdeutlichen, in denen oft der Eindruck vermittelt wird, die Arbeitsbedingungen und –belastungen hätten sich in den letzten 100 Jahren nicht entscheidend verändert. 9 MARX, 1959; 13 10 Der mit dem oben erwähnten Populismus der Politiker eine große Schnittmenge hat, aber nicht mit ihm identisch ist. 11 Der Grund für diese Weigerung lag darin, dass die entscheidenden Vertreter in dem entsprechenden Ausschuss kein Vertrauen in die politische Vernunft der deutschen Bevölkerung hatten, also derjenigen, die sie gewählt haben - ein Vorgang, der leider bis heute zu Unrecht keinen PETRONIUS gefunden hat. 9 Man kann natürlich fragen, ob der Begriff >elitistischer Populismus< nicht einen Widerspruch in sich darstelle. Ich denke, dass er das nicht tut, denn mit diesem Begriff soll ein vor allem in der wirtschaftlichen und politischen Elite verbreiteter Denkstil bezeichnet werden, in dem der uralte und weit verbreitete Fehler begangen wird, technisches Wissen mit politischer Einsicht zu verwechseln, bzw. so zu tun, als sei derjenige, der den Mechanismus politischer Entscheidungsfindung kennt und beherrscht auch derjenige, der die richtige Politik mache. Die Grundzüge dieser Ansicht findet man schon in PLATOs Argumenten gegen die athenische Demokratie (im Protagoras-Dialog). Die Entscheidung für oder gegen etwas ist aber ihrem Wesen nach eine Wertentscheidung und darin sind die politischen Manager keineswegs besser als Laien. Hier setzt ein Denken ein, dass man - als Elite - dazu verpflichtet sei, dem Volk auf der Grundlage des eigenen besseren - technischen Wissens den Weg vorzuschreiben. Das führt dann u.a. zu jener nicht besonders überzeugenden Theorie, die seit den 60er Jahren des 20. Jhdts. vor allem in den USA unter Politikwissenschaftlern Verbreitung gefunden hat, nämlich dass eine geringe Wahlbeteiligung ein Zeichen für eine gute Demokratie sei, da ja offensichtlich die Nichtwähler mit der herrschenden Politik zufrieden seien. In dieser Gedankenführung zeigt sich ganz deutlich, dass dieser elitistische Populismus im Kern antidemokratisch ist12. Das erklärt dann auch, dass der von CANOVAN behauptete aufgeklärte Geist der politischen Elite bzw. deren Vertrauen in die demokratische Qualität der „Massen“ tatsächlich nur so lange hält, wie er eigenen vitalen Interessen nicht entgegensteht, eine Erfahrung, die ja schon die „alten“ Athener am Ende des Peloponnesischen Krieges machen durften, als große Teile ihrer Aristokratie eine gegen die Demokratie gerichtete Schreckensherrschaft errichteten. Tatsächlich ist es sehr häufig die Elite, die zur Verteidigung ihrer Privilegien reaktionären Ideen Vorschub leistet und nicht „das Volk“, was ja u.a. zum Niedergang der Weimarer Republik beigetragen hat. Deswegen ist eine Differenzierung der politischen Argumentationsstile in einen rationalen, der von der Elite und einen populistischen, der von den Massen oder selbsternannten Repräsentanten „der Massen“ stammt, für eine Analyse populistischer Rhetorik und Politik nicht nur unbrauchbar, sondern offensichtlich Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass der repräsentativen Demokratie, die man ja strukturell als Prinzipal-Agenten-Verhältnis definieren muss, die Tendenz innewohnt, den Prinzipal - das Volk - durch die Agenten (Abgeordneten, Regierung) zu entmündigen, dann ist er durch dieses Verhalten der Abgeordneten des Deutschen Bundestages erbracht worden. 12 Vgl. dazu auch FINLEYs lichtvolle Ausführungen zur antiken (athenischen) und modernen Demokratie. 10 falsch. Man kann populistisches Denken als eine Art des sozialen und politischen Argumentierens bezeichnen, die sich auf eine Interessen gebundene, emotionale Vereinfachung der Realität stützt. Nun ist allerdings jedes politische Handeln interessengebunden und komplizierte und komplexe Sachverhalte müssen notwendigerweise vereinfacht werden, wenn sie an ein großes, in der Regel heterogenes Publikum kommuniziert werden sollen. Weil das so ist, kann DUBIEL behaupten: „Populismus ist Teil der Massendemokratie - und ihr Problem“, wobei er allerdings merkwürdigerweise Populismus als eine Herrschaftstechnik denunziert, „deren sich eine Elite bedient, um mithilfe des ‚Volkes‘ an die Macht zu kommen“. Nach dieser Beschreibung ist tatsächlich jede Demokratie „populistisch“, denn in Demokratien strebt nun einmal eine Elite (wer oder was auch immer im konkreten sozialen Umfeld dazu zu zählen ist) in einer Wahl, also mithilfe des Volkes, an die Macht. Das war schon im demokratischen Zeitalter des antiken Athens so, ähnlich auch im Republikanischen Rom13 und ist in den europäischen Stadtrepubliken ebenso wie in den modernen Massendemokratien gewesen. Dabei handelt es sich heute allerdings meistens um sog. Leistungseliten, während es früher adelig-patrizische Erb-Eliten waren. DUBIELs „Definition“ macht aber deutlich, dass man auch auf diesem Wege nicht zu einer sinnvollen Bestimmung dessen kommt, was den Kern von Populismus ausmacht14. EXKURS-2: Man kann große Teile der seit ca. 20 Jahren andauernden, aufdringlichen deutschen Reformdebatte als Erfindung von Problemen im Sinne bestimmter Interessengruppen beschreiben. Mit großem finanziellem und personellem Aufwand - z.B. durch die Anzeigen etc. der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ oder in den unsäglichen Talkshows von Frau Christiansen und ihren Geistesverwandten 15 - werden immer wieder dieselben Themen und Behauptungen von immer dem gleichen Personenkreis vorgetragen - man kann auch sagen: in die Köpfe des staunenden Publikums gehämmert - und auf der Ebene von Scheinplausibilitäten Konsequenzen aus angeblichen Missständen oder vorgeblich vollkommen neuen Entwicklungen gefordert, für deren Existenz und damit für die Richtigkeit der Diagnosen allerdings weitestgehend keine stichhaltigen Belege geliefert werden. Es bleibt bei den Behauptungen, z.B. die über die angeblich fundamental neuen Auswirkungen 13 Man kann allerdings mit Recht daran zweifeln, dass dieses Rom eine Demokratie war. Eine andere Art von elitistischem Populismus, der vor allem Gefühle anspricht, beschreiben BURUMA und MARGALIT in ihrer Analyse der gegen den Westen und westlich-aufklärerisches Denken gerichteten Geisteshaltung, die sie Okzidentalismus nennen. 15 Vgl. zur Beschreibung des Rituals VON ROSSUM 14 11 der ach so neuen Globalisierung auf unsere Wirtschaft16, oder die unseriösen Behauptungen über die Konsequenzen der Veränderungen der Bevölkerungspyramide17 mit ihrem sich angeblich zwingend daraus ergebenden umfassenden Umbau der staatlichen sozialen Sicherheitssysteme hin zu privater Vorsorge, oder die angeblich zu hohen Steuern für Betriebe, deren Senkung unabdingbare Voraussetzung für die Schaffung von Arbeitsplätzen sei u.v.a.m., alles verbunden mit überzogenen Angriffen gegen einen aussaugenden Staat und Lobpreisungen der ordnenden Hand des Marktes, wobei geflissentlich dessen Schwächen übersehen werden, aber „Blindes Vertrauen in den Markt ist ein eigensüchtiges und oftmals schädliches Dogma“ (BURUMA & MARGALIT; 17). Auch bei diesen Argumenten handelt es sich weitestgehend um elitistischen Populismus, mit dem man versucht, im eigenen Interesse dem Publikum Scheinwahrheiten als richtig einzureden. Die Konsequenzen zum „Kurieren“ dieser Scheinwahrheiten müssen aber nicht die tragen, die diese verbreiten, sondern das Publikum, denen man sie einredet. Hier passt die Diagnose, die KONRAD ADAM unserer derzeitigen Politik stellt, nämlich die „Absicht, die Bürger an die Leine zu nehmen, ihn nicht nur durch Eingriffe in seine äußeren Verhältnisse, sondern auch innerlich, durch die Gestaltung seiner Vorstellungen und Gedanken zu domestizieren. Selbständigkeit und Widerspruchsgeist,... der Wille, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, werden gelähmt und dadurch abgetötet, dass man den Leuten einredet, sie würden ihre eigene Meinung äußern, wenn sie nachsprechen, was andere ihnen vorgesprochen haben. Das ist die sanfte Tyrannei der Mehrheit“ (ADAM; 120). Nur ist es diesmal nicht die Mehrheit, sondern eine lautstarke, finanzstarke und einflussreiche Minderheit, die der Mehrheit der Bevölkerung ihre Weltsicht einhämmern will. Die offensichtliche Erfolglosigkeit der auf Scheinanalysen und Behauptungen beruhenden Reformen hat aber bisher nicht, wie man das bei einer rationalen Problemanalyse und darauf aufbauender Handlungen erwarten dürfte, zu einem Innehalten und Überdenken geführt, sondern die Protagonisten aller politischen Couleur zu hektischem, nachdenkensfreien Aktivismus verführt. Sie verschärfen die Scheintherapie durch nachgeschobene sog. ergänzende Reformen, deren behauptete Wirkung genau so auf Glauben beruht, wie die der vorhergehenden. Dieses Verhalten ähnelt in verblüffender Weise den Reaktionen der von FESTINGER et al. beschriebenen amerikanischen Sekte, die nach dem von ihren Mitgliedern zu einem bestimmten Zeitpunkt fest erwarteten, aber nicht eingetretenen Weltuntergang nicht vom „Glauben abfiel“, sondern im Gegenteil in hektische Proselytenmacherei verfiel, weil sie die Wirkungslosigkeit der Prophezeiung darauf schob, dass die Sekte nicht fest genug im Glauben gewesen sei. Das ist eine Art, kognitive Dissonanz zu reduzieren. Offenbar ist ein Großteil unserer politisch-wirtschaftlichen Elite in einem Zustand ähnlicher Geistesverwirrung gefangen, wie seinerzeit diese Sekte von Weltuntergangspropheten. 16 Ist den Globalisierungsapokalyptikern eigentlich schon einmal aufgefallen, dass die Globalisierung seit 1492 „läuft“ und dass beispielsweise das Werk von KARL MARX ohne Rekurs auf die schon damals heftige Globalisierung nicht angemessen zu verstehen ist - egal, ob man ihm zustimmt oder ihn ablehnt? Auch der Aufschwung der Bundesrepublik nach der Währungsreform wäre ohne Globalisierung gar nicht möglich gewesen. 17 Ein Teil dieser unsäglichen Diskussionen ist der schlichten Tatsache geschuldet, dass diejenigen, die diese Schreckenszenarien malen, nicht in der Lage sind, Statistiken richtig zu lesen und sie angemessen, d.h. zurückhaltend, nicht extensiv, zu interpretieren. Tut man das nicht, dann kommt natürlich so ein Unsinn heraus, wie FRANK SCHIRRMACHERs Methusalem-Komplott. Hier herrscht nicht nur die von PAULOS beschworene Zahlenblindheit und mathematisches Analphabetentum, sondern diese werden kombiniert mit sozialwissenschaftlichem Analphabetismus: eine wirklich grandiose Kombination, um unsere soziale Welt zu verstehen und zu erklären. 12 (4) ZUR DYNAMIK POPULISTISCHEN DENKENS Die Wurzeln des Populismus reichen tiefer als der politisch-soziale Bereich und sie deuten in eine andere Richtung. Wenn oben gesagt wurde, dass immer die anderen populistisch sind, so deutet das einerseits auf die Einengung der Wahrnehmung und des Denkens hin, die nur bestimmte, nur die interessengebundenen Ausschnitte der Realität wahrnimmt bzw. als relevant gelten läßt und andere (absichtlich) ausblendet. Auf der anderen Seite deutet sie auf das hin, was MERTON so schön als moral alchemy bezeichnet hat, nach der ingroup-virtues zu outgroup-vices18 werden und vice versa, wobei der geübte Moral-Alchimist das Adjektiv firm (fest; unbeirrbar) folgendermaßen dekliniert: I am firm Thou art obstinate He is pigheaded Die Interessengebundenheit wird in der populistischen Argumentation noch mit einer einseitigen moralischen Wertung der sozialen und politischen Verhältnisse verbunden. Schon „normales“ moralisches Argumentieren führt zu starken Vereinfachungen, die man als Schwarz-Weiß-Denken kennt und die sich im sozial-politischen Bereich in der verbreiteten Trennung in >DIE< und >UNS< niederschlägt. Die Verbindung von Interessen geleiteter Wahrnehmung und einseitigen moralischen Urteilen liegt also in der im Populismus immer wieder festgestellten Simplifizierung des Denkens begründet und legitimiert diese ihrerseits wieder, so dass ein Circulus vitiosus in Gang gesetzt wird. Wenn nun bestimmte Probleme als drängend, evtl. sogar als bedrohlich wahrgenommen werden (- es vielleicht sogar (objektiv) sind -), dann erhält diese Tendenz zur kognitiv-moralischen Vereinfachung überdies einen verstärkenden Schub und diejenige Person (oder Personengruppe), die die für diese Situation plausibelsten Erklärungen und Lösungen formuliert, gewinnt die Unterstützung eines großen Teiles der Betroffenen oder sich betroffen Fühlenden. Wenn sich nun größere Teile einer Gesellschaft von bestimmten Entwicklungen bedroht fühlen, wie z.B. durch die Migration, dann ist der Teil der Gesellschaft, der von populistischen Parolen angesprochen werden kann, natürlich ziemlich groß. Dabei ist es nebensächlich, ob eine Bedrohung tatsächlich vorhanden ist oder nur so wahrgenommen wird - u.a. vermittelt durch die Massenmedien - denn in allen Situationen gilt das THOMAS-Theorem, das lautet: „If men define situations as 18 Vgl. MERTON; 480 ff 13 real, they are real in their consequences“ (zitiert nach MERTON; 475). Menschen richten ihr Verhalten eben nicht nach den objektiven Gegebenheiten einer Situation aus, die sie oftmals gar nicht erkennen können, sondern vielmehr danach, welche Bedeutung eine Situation für sie hat. So finden nicht nur in der Politik sehr häufig „Schwellenereignisse“ statt: gewisse Ansichten zu bestimmten Tatbeständen finden erst wenige Anhänger, aber diese Ansichten werden ab einem meist nicht vorherzusagenden Punkt zur Mehrheitsmeinung, was wiederum dazu führt, dass es für jedes Individuum schwieriger wird, sich dem Meinungsdruck der Mehrheit zu entziehen und eine abweichende Meinung zu vertreten19. Dieser Mechanismus gilt besonders für Situationen, die plötzlich auftauchen und / oder sich (sehr) schnell entwickeln und für die bisher keine allgemein akzeptierte Definition gefunden werden konnte oder die ihre allgemeine Geltung aus Gründen schnellen sozialen Wandels verloren haben. Solche „Definitionslücken“ sind in der Regel bei zwei Arten von Situationen gegeben: - Auftauchen neuer, bisher unbekannter oder als irrelevant wahrgenommener sozialer Tatbestände, z.B. Konsequenzen der Zuwanderung, der islamistische Terrorismus, die Globalisierung, aber auch technische Entwicklungen (Atomenergie, Gentechnik, „Handystrahlen“); - Verschwinden bisher handlungsleitender Tatbestände, z.B. Verschwinden des Ostblocks und der aus seiner Existenz abgeleiteten Bedrohung. In solchen Situationen müssen die Prioritäten neu geordnet, vielleicht sogar ganz neue Prioritäten definiert werden und diese Aufgabe wird sozial als umso dringlicher empfunden, je eingreifender neue bzw. veränderte Tatbestände für das Leben der Individuen sind. Beide Arten von Situationen konstituieren Konstellationen, die wir im Sinne von DURKHEIM - und MERTON - als tendenziell anomisch bezeichnen können. Es müssen also zwei Anpassungsleistungen vollbracht werden: die Individuen müssen sich auf eine neue Definition der Situation einigen, was, wie ESSER (1999; 161 ff) gezeigt hat, sowohl intellektuell als auch emotional erhebliche Leis19 Dieser Mechanismus hat ja NOELLE-NEUMANN seinerzeit zu der waghalsigen Konstruktion der >Schweigespirale< verführt. Mit einer vollkommen anderen Blickrichtung hat sich MARTIN WALSER (2008) kürzlich dieses Phänomens angenommen, nämlich als Kritik am vorverurteilenden und nicht differenzierenden Zeitgeist. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Exkurs-2, denn von unseren „Reformern“ wird versucht, genau eine solche Schwellensituation herbeizuführen und offenbar hatten sie schon ziemlichen Erfolg damit, denn abweichende Meinungen hört man in der (ver)öffentlich(t)en Diskussion so gut wie gar nicht mehr. 14 tungen erfordert. Wenn die neue Definition der Situation „erarbeitet“ wurde, dann müssen aus dieser Definition Handlungsanweisungen abgeleitet werden, die dabei helfen, eine (möglichst) Erfolg versprechende Strategie bereitzustellen. Das bedeutet aber, dass aus der prinzipiell unendlichen Zahl der Möglichkeiten jeweils eine sehr viel kleinere Anzahl als „vernünftig“, also erfolgversprechend selektiert, sozial vermittelt und durchgesetzt werden muss. Beide Schritte sind aber wegen der Unvollständigkeit der vorhandenen bzw. übermittelten Informationen, über die Menschen normalerweise nur verfügen, äußerst schwierig und fehleranfällig und daher ideal für Populisten, die hier eine gute Möglichkeit haben, ohne großen Aufwand die soziale Definitionsmacht zu usurpieren. Wenn in solchen Situationen das einsetzt, was wir als Populismus bezeichnen und man die unter diesem Etikett laufenden „Empfehlungen“ unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, dann wird deutlich, dass das ihnen zugrunde liegende Muster bei weitem nicht nur in der Politik auftaucht, sondern in allen sozialen Bereichen, in denen abstraktes Denken notwendig ist: im Konsumverhalten ebenso wie in der Beurteilung von Umwelttatbeständen oder von technischen Risiken. Hier ist es hilfreich, sich daran zu erinnern, dass Menschen die für die Beurteilung komplizierter, oftmals ja nur sehr abstrakt erfahrbarer Tatbestände völlig unangemessene Angewohnheit haben, induktiv zu denken und zu argumentieren, also vom Einzelfall auf das Allgemeine zu schließen, wodurch selbsterlebte, erzählte oder über die Medien kolportierte Einzelfälle den Charakter von “wissenschaftlichen“ Beweisen zugesprochen bekommen20 (was dann besonders apart wird, wenn dieses Verfahren noch mit esoterischen Weltsichten kombiniert wird). Damit erhalten diese Fälle natürlich auch eine sehr stark das Verhalten beeinflussende Wirkung, was wir in Deutschland an der „gefühlten“ Teuerung durch den Euro feststellen konnten, die sich so in den Statistiken nicht wieder finden ließ. So entstehen aufgrund selektiver Wahrnehmung, die durchaus auch massenmedial beeinflusst wird, auf einmal soziale „Tatbestände“ und es werden Prioritäten neu definiert (zumindest für eine gewisse Zeit), die wir im politischen Bereich eben als Populismus wahrnehmen. Dabei kann man dann immer wieder die Feststellung machen, dass die Themenbereiche der Populisten sehr häufig ja keine eigenständigen Erfindungen sind, sondern diese entweder aktuelle Themen bzw. Probleme aufgreifen oder neue 20 Diese Erfahrung kann man auch im soziologischen Grundstudium immer wieder machen, wenn z.B. eine generelle Aussage über das Verhalten alter Menschen mit dem Hinweis konterkariert wird: „Aber meine Oma macht doch dies oder jenes ganz anders.....“ NOELLE-NEUMANN hat dieses Dilemma so schön mit dem Satz: „Alle, nicht jeder“ auf den Begriff gebracht. 15 (andere) Lösungen anbieten oder dass sie vorhandene Unsicherheiten zu einem einzigen Problem (schein)bündeln: dann sind auf einmal die Zuwanderer an der Arbeitslosigkeit (oder der Kriminalität ) schuld oder die Juden oder die Globalisierung. Interessant ist hierbei, aber das ist auch nicht auf den politischen Bereich beschränkt, dass meistens die Definitionen des Problems ziemlich ungenau sind, was schon den Verdacht nahelegt, dass auch eine „Lösung“ wenig zielgenau ausfallen und deswegen scheitern wird. Diese Überlegung wird ja auch durch die politisch-historische Erfahrung gestützt. Es gibt wohl keine populistische Politik, die, auf die Dauer gesehen, erfolgreich war und es würde mich sehr überraschen, wenn das tatsächlich einmal passieren sollte. Selbst eine politische Strömung, die die Probleme auf dem Wohnungs- und dem Arbeitsmarkt den „Asylbewerbern“ - welch wunderschöne Wortschöpfung - und den Arbeitsmigranten anlastet und damit eine in der Bevölkerung vorhandene Meinungsströmung verstärkt, scheitert, da die Probleme selbst durch noch so restriktive Maßnahmen in diesem Bereich nicht kleiner werden. (5) ZUR STRUKTUR POPULISTISCHEN DENKENS >Das Geheimnis des Agitators ist, sich so dumm zu machen, wie seine Zuhörer sind, damit sie glauben, sie seien so gescheit wie er< (KARL KRAUS) Populistische Argumentation arbeitet typischerweise mit Behauptungen und Verknüpfungen, von denen die Autoren wissen könnten und müssten, dass sie mit dem Problem nichts oder nur marginal etwas zu tun haben. Es werden Scheinverknüpfungen hergestellt, die auf der emotionalen Ebene mit einer gewissen Scheinplausibilität funktionieren, aber tatsächlich nichts zur Lösung der fraglichen Probleme beitragen. Das kann man besonders deutlich an dem gesamten Komplex der angeblichen Konkurrenz um Arbeitsplätze zwischen Deutschen und Ausländern beobachten. Alle Experten sagen, dass es aus verschiedenen Gründen diese Konkurrenz tatsächlich nicht gibt, trotzdem wird sie immer wieder als politisches Argument hervorgeholt. Das wird teilweise deswegen getan, um von eigenen Versäumnissen und Fehlern abzulenken, aber auch deswegen, weil der fehlende sachliche Zusammenhang eine Garantie dafür ist, dass restriktive Maßnahme wirkungslos bleiben müssen21, der Populist sich aber dadurch die Möglichkeit offenhält, den mangelnden Erfolg der falschen Politik anzulasten, anstatt eingestehen zu 21 Die restriktive Ausländerpolitik der letzten Jahre hat keinem Deutschen einen Arbeitsplatz beschert; die Senkung der Unternehmenssteuern hat auch keinen Aufschwung gebracht. Der ist auf andere Faktoren zurückzuführen. 16 müssen, dass sein Ansatz falsch ist. Populistisches Argumentieren hat in derartigen Fällen also die Funktion, Sündenböcke zu generieren bzw. zu erhalten. Man kann daher die Frage, ob Populismus mit Lüge gleichzusetzen ist, für derartige Situationen bejahen22. Das Herstellen von falschen bis absurd erscheinenden Zusammenhängen ist auch in der populistischen Politik ein beliebtes Verfahren. So ist es BERLUSCONI zur Diskreditierung der italienischen Linken auf wundersame Weise gelungen, eine direkte Verbindung zwischen der antifaschistischen linken Resistenza und den Roten Brigaden der 80er Jahre herzustellen, während sich andererseits sein Koalitionspartner BOSSI gar nicht genug darin tun kann, in der EU die Manifestation und Personalisierung aller negativen Erscheinungen der modernen Welt zu identifizieren und vielleicht erinnert man sich noch in Deutschland daran, wie der CDU-Politiker H. GEIßLER es vor Jahren fertig brachte, die Pazifisten für Auschwitz verantwortlich zu machen. Alles dieses sind typische populistische Argumentationen, die nur der Verleumdung und Verächtlichmachung politischer Gegner dienen (sollen) und die noch nicht einmal den Anschein erwecken, man habe sich die Mühe gemacht, realitätsangemessen zu argumentieren. So taucht in populistischen Argumentationen ja auch das faszinierende Phänomen des >Anti< auf, ohne dass es die Verursacher, auf die sich das >Anti< beziehen könnte, in der Realität gibt. So haben wir im Italien BERLUSCONIs einen Antikommunismus ohne Kommunisten, in der Ex-DDR einen Antisemitismus ohne Juden und einen Fremdenhass ohne Fremde. Von dieser Konstruktion von Sündenböcken bis hin zu Verschwörungstheorien ist es nur noch ein kleiner Schritt und hier tut sich ein unübersehbar großes Gebiet auf, das den politischen Bereich weit hinter sich lässt. Dieselben Argumentationsstrukturen findet man auch in den Verfahren, durch unzulässige Vereinfachungen und / oder Überzeichnungen Ängste zu erzeugen und zu schüren, worunter der gesamte Komplex, den man als „Überzeichnung der Gewaltkriminalität“ bezeichnen kann, nur einer von mehreren ist. Zur Methode populistischer Argumentation gehört auch der oben schon angesprochene gezielte Tabubruch, bei dem problematische Tatbestände thematisiert werden, die von den etablierten Parteien aus verschiedenen Gründen gemieden werden. Wie man am Aufstieg PIM FORTUYNs oder am Wahlerfolg ROLAND SCHILLs 22 Lüge ist eine bewusste Falschaussage. Bei manchen Politikern kann eine solche bewusste Falschaussage sicherlich als gegeben angenommen werden, bei manchen anderen beruhen ihre schlichten Aussagen aber einfach auf Dummheit und /oder gedankenlosem Nachplappern. 17 sehen konnte, reicht es oft schon aus, ein lange verschwiegenes, aber die Bevölkerung bedrängendes Thema anzusprechen, um den Eindruck zu vermitteln, der Tabubrecher hätte auch die Lösung. Zumindest in diesen beiden Fällen sind die Erfolge populistischer Argumentation nicht auf deren Inhalt, sondern auf das Ignorieren von Problemen durch die etablierten Parteien zurückzuführen. Der scheinbare Erfolg populistischer Argumente, der sich in diesen Wahlerfolgen ausdrückte, war vor allem der Ausdruck eines Protests gegen einen stillschweigenden Konsens der etablierten Politiker, über bestimmte Dinge nicht zu sprechen. Damit hängt aber ein weiteres Charakteristikum populistischer Politik zusammen: da Populismus auf Emotionen zielt, ist er notwendigerweise immer in Bewegung und um das emotionale Niveau zu halten, muss populistische Politik immer neue Reize erzeugen, sie darf nicht zur Ruhe kommen und besonnener und damit reizarmer Reflektion Platz machen. Daher werden populistisches Denken und eine darauf beruhende politische Agitation auch immer neue oder wechselnde „Feindschaften“ und Probleme erfinden oder betonen. In dieser prinzipiellen Unruhe liegt auch die tiefe Affinität der Massenmedien, besonders des Fernsehens, zum Populismus begründet. (6) POPULISMUS UND MEDIEN – POPULISMUS IN DEN MEDIEN Man kann die Massenmedien als natürliche Verbündete populistischen Denkens und Handelns betrachten, was schon die Historie nahelegt, da es, funktional und sozial-strukturell betrachtet, kaum ein Zufall sein kann, dass der Populismus etwa zur gleichen Zeit auftaucht wie die ersten wirklichen modernen Massenmedien, die großen Tageszeitungen. Beide bedingen und stützen sich gegenseitig. Die Massenmedien benötigen im Konkurrenzkampf um Auflagen permanent Schlagzeilen und was eignet sich besser für Schlagzeilen als emotionalisierte Parolen, die einfache, wenn vielleicht auch falsche Tatbestände konstituieren? Auch das Agenda-Setting der Medien funktioniert weitgehend nach denselben Mechanismen wie im Populismus: es wird ein Einzelfall herausgegriffen, in seiner Bedeutung überhöht und damit zum allgemeinen Problem erklärt. Ein besonders absurdes Beispiel war der „Fall“ von „Florida-Rolf“, eine Lappalie, die im August 2003 von der BILD-Zeitung rein auf der emotionalen Schiene des Sozialneids ohne genauere Betrachtung der Hintergründe „hochgekocht“ wurde und die, und das ist der eigentliche Skandal in dieser Sache, unsere Sozialministerin zur Ablenkung von anderen Problemen sofort aufgriff und dazu einen Gesetzesentwurf 18 im Kabinett einbrachte23, der Entschlossenheit demonstrieren sollte, wo es nichts zu demonstrieren gab, und der der sonst immer so propagierten und geforderten Mobilität von Personen vollkommen ins Gesicht schlägt. Dieselbe Emotionalisierung ohne Sinn und Verstand kann mit fast allen Tatbeständen erreicht werden, deren Umfang unklar ist und deren Bedeutung bedrohlich erscheint. Vor allem im Bereich der Ökologie mit ihren für Laien schwer oder gar nicht erkennbaren Zusammenhängen, die sich ja meistens nur durch statistische Wahrscheinlichkeitsberechnungen identifizieren lassen, tut sich hier in Verbindung mit Katastrophenszenarien ein weites Feld auf. Dass diese Undurchschaubarkeit bewusst ausgenutzt wird, um Probleme in die Welt zu setzen und damit eine gewisse Definitionsmacht auszuüben, die sich politisch – manchmal aufgrund des agenda settings auch monetär - auszahlt, kann man immer wieder beobachten. Hier schließt sich unabweisbar die Frage an, ob es so etwas wie Themenbereiche mit hoher Affinität zum Populismus gibt? Diese Frage kann man m.E. uneingeschränkt bejahen, wobei die negative Bestimmung der Themenbereiche einfacher als die positive ist. Themen und Fragestellungen, die sich - relativ - eindeutig formulieren und beantworten lassen, werden keine große Chance haben, von Populisten aufgegriffen zu werden. Naturwissenschaftlich-technische Probleme haben jedoch dann eine besonders große Chance, wenn ein behaupteter Wirkungszusammenhang schwer eindeutig zu belegen oder zu widerlegen ist und Auswirkungen als bedrohlich empfunden werden können, wie z.B. Elektrosmog (Handy-Strahlen), Abweichungen in der Häufigkeit von Blutkrebserkrankungen im Umkreis von Atomkraftwerken oder die angeblich permanent zunehmende Vergiftung unserer Lebensmittel. Auch soziale Erscheinungen, über die man nicht offen redet und / oder die moralisch negativ bewertet werden, eignen sich hervorragend für populistische Argumentationen und Agenda-setting, z.B. Kindesmisshandlungen, Kindesmissbrauch, familiäre Gewalt etc. Im engeren Bereich der Politik eignen sich alle Themen dazu, mit denen sich Zukunftsängste schüren lassen24 oder Gefühle der Verletzung der Verteilungsgerechtigkeit oder der Fairness aktivieren lassen, z.B. alle Steuerfragen, die Probleme der sozialen Sicherheit, Fragen der sozialen Lastenverteilung etc. 23 24 vgl. zu „Florida Rolf“ das Stichwort aus >wikipedia< am Ende dieses Textes. Vgl. Exkurs-2 19 (7) BEKÄMPFUNG POPULISTISCHER TENDENZEN Wir können also feststellen, dass der als Populismus bezeichnete Argumentations- und Handlungskomplex seine Grundlage nicht im politischen Bereich hat, sondern im Bereich des Denkens, der Informationsvermittlung und -verarbeitung. Dazu kommt noch, dass die Informationen, die zur Verfügung gestellt werden, sehr oft nicht dem fraglichen Problem angemessen sind. Wer aber von einer Sache wenig versteht, dem kann man viel erzählen, er hat nur geringe intellektuelle Kontrollmöglichkeiten. Wer überdies nicht gelernt hat, auch die eigenen Gedanken auf ihre Tragfähigkeit hin kritisch zu überprüfen und auch Gegenargumente angemessen zu würdigen, der ist geneigt, plausibel erscheinenden Gedankengängen zu glauben, auch wenn sie eklatant falsch sind. Gegen die dem Populismus zugrunde liegenden Denkgewohnheiten in jedem Bereich helfen also nur ausreichende und verständliche Informationen und vor allem - viel wichtiger - eine Erziehung zu (selbst)kritischem Denken. Im politisch-sozialen Bereich betrachte ich die Vermittlung von grundlegenden Erkenntnissen der modernen Sozialwissenschaften als eine unverzichtbare Bedingung, denn in diesem Bereich herrscht in unserer Gesellschaft tatsächlich eine sehr viel größere geistige Ödnis als im technischen Bereich - auch wenn das nicht gern gehört und oftmals gar nicht gemerkt wird, weil es sich mit unbefragten Vorurteilen ja so schön leben lässt, vor allem, wenn diese von der Umgebung geteilt werden. Da stört Aufklärung nur. Es ist immer wieder erstaunlich und erschreckend, in welchem Ausmaß sozialwissenschaftliches Analphabetentum selbst bei Menschen herrscht, die sich als gebildet ansehen oder die im öffentlichen Leben stehen. Das Ausmaß an Unsinn, der teilweise öffentlich über soziale Tatbestände verbreitet wird25, ist beängstigend, führt aber direkt zu populistischem Denken und vor allem zu einem Publikum, das wegen fehlenden Wissens eine zwar sozial blinde, aber gerade deswegen dankbare Gefolgschaft bildet. Die Bekämpfung des Populismus wird in den modernen repräsentativen Demokratien nie zu einem Sieg führen, dazu ist er zu eng mit diesem System und vor allem mit dem modernen Leitmedium, dem Fernsehen, verwoben. Populismus in diesem Umfeld in seiner Wirkung zu neutralisieren und der – meistens nicht fernsehtauglichen - Vernunft einen breiteren Einfluss zu verschaffen, wäre eine nicht nur 25 Übrigens herrscht diese Ignoranz auch und gerade bei vielen der gegenwärtig in Deutschland tonangebenden Ökonomen, von denen viele so argumentieren, als sei ihre Disziplin, weil in ihr so schöne Formeln und Kurven verwendet werden, eine exakte Naturwissenschaft und keine - leider immer noch - ziemlich unpräzise Sozialwissenschaft, in der Zeitgeist, Ideologien, vorgefaßte Meinungen und materielle Interessen eine ausschlaggebende Rolle spielen. 20 mühsame und notwendige, sondern letztlich auch lohnenswerte Aufgabe. Es ist sicherlich das Bohren dicker Bretter, von dem MAX WEBER als dem Charakteristikum der Politik sprach, aber dieses liegt gegenwärtig offensichtlich nicht im genuinen Interesse der meisten deutschen Politiker. LITERATUR ADAM, KONRAD: Die Tyrannei der Revolutionäre; in Cicero, Juli 2008, S.116 - 120 BURUMA, IAN & MARGALIT, AVISHAI: Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde; München, Carl Hanser Verlag, 2004 CANOVAN, MARGARET: Populism; in KUPER, JESSICA (Ed.) Political Science and Political Theory; London-N.Y., Routledge & Kegan Paul, 1987 CLAESSENS, DIETER & CLAESSENS, KARIN: Gesellschaft. Lexikon der Grundbegriffe; Systhema Verlag, München 1995 (Diskette) COLLIER, R.B.: Populism; in International Encyclopedia of the Social and Behavioral Scíences; Amsterdam u.a.; Elsevier, 2001 (IEoSBS); 11813 ff DUBIEL, HELMUT: POPULISMUS. Die Stunde der Verführer; Populismus ist Teil der Massendemokratie - und ihr Problem; in DIE ZEIT Nr. 37 05.09.2002 EICH, DIETER: Populismus; in FUCHS, WERNER u.a. (Hrsg.) : Lexikon zur Soziologie; Opladen, Westd. Verlag, 1978 ESSER, HARTMUT: Soziologie. Spezielle Grundlagen. 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Saur Vlg., 1984 KRAUS, KARL: In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige; Frankfurt/M., 1996, Insel Verlag (Insel-Clip 23) LINZELL, JON: Populism; in MANN, MICHAEL (Ed.): The International Encyclopedia of Sociology; New York, Continuum Publ., 1984 MARX, KARL: Zur Kritik der politischen Ökonomie; Berlin, Dietz Verlag, 1959 MERTON, ROBERT K.: The self-fulfilling prophecy, in ders.: Social Theory and Social Structure; New York, The Free Press, 1968²; 475 ff NOELLE-NEUMANN, ELISABETH; Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung - unsere soziale Haut; Berlin, Ullstein Vlg., 1982 und PETERSEN, THOMAS: Alle, nicht jeder; München, dtv, 1996 PAULOS, JOHN: Zahlenblind. Mathematisches Analphabetentum und seine Konsequenzen, München, Heyne Vlg., 1995 SCHIRRMACHER, FRANK: Das Methusalem – Komplott; München, Heyne Vlg., 2004 WALSER, MARTIN: Das dunkle Parlament unter dem Schädeldach. Über Erfahrungen mit dem Zeitgeist – ein Potpourri; in Süddeutsche Zeitung; 5.-6. Juli 2008; S. 19 VON ROSSUM, WALTER: Meine Sonntage mit „Sabine Christiansen“. Wie das Palaver uns regiert; Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2004 21 ANHANG Florida-Rolf ist der deutsche Rentner Rolf John (leicht gekürzt bzw. umformuliert) Rolf John geriet in die Schlagzeilen, als die BILD-Zeitung im August 2003 berichtete, dass er mit der monatlich aus Deutschland überwiesenen Sozialhilfe in Miami Beach ein Apartement in unmittelbarer Strandnähe finanzierte, und ihn als Sozialschnorrer brandmarkte. John war … 1979 nach Florida gezogen und arbeitete dort als Immobilienmakler. Nach .. einer Bauchspeicheldrüsenentzündung wurde John 1985 erwerbsunfähig. (In einem Gutachten wurde ihm bei einer Rückkehr nach Deutschland eine erhöhte Suizidgefährdung bestätigt, woraufhin) das Sozialamt Johns Wohnsitz in Florida zu(stimmte) und … ihm monatlich 1.425 Euro als angemessenen Lebensunterhalt (überwies). … Grundlage der Zahlungen war §119 des Bundessozialgesetzes, wonach in besonderen Notfällen auch im Ausland lebende deutsche Staatsbürger ein Anrecht auf Sozialhilfe haben. Dieses Gesetz war geschaffen worden, um sozialhilfebedürftig gewordenen Opfern des Nazi-Terrors die Rückkehr nach Deutschland zu ersparen. Zum Zeitpunkt des BILD-Artikels waren laut Spiegel 959 im Ausland lebende Personen sozialhilfeberechtigt. Infolge der öffentlichen Diskussion verabschiedete das Kabinett auf Betreiben der Bundessozialministerin Ulla Schmidt eine Verschärfung der Richtlinien zur Zahlung von Sozialhilfe ins Ausland. Seither wird nur noch deutschen Staatsbürgern, die in ausländischen Gefängnissen einsitzen, Krankenhauspatienten, Frauen, die im Ausland um ihr Sorgerecht kämpfen, und Überlebenden der Nazi-Diktatur der Anspruch auf Sozialhilfezahlungen ins Ausland gewährt. Vor diesem Hintergrund kündigte der nunmehr 64-jährige John nun an, nach Deutschland zurückkehren und Altersrente beantragen zu wollen. Von "http://de.wikipedia.org/wiki/Florida-Rolf" 22