Yes they can-Bachelorarbeit

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Hochschule Esslingen
Fakultät: Soziale Arbeit, Gesundheit & Pflege
Studiengang: Soziale Arbeit
Bachelorarbeit
Yes they can!
Flüchtlinge werden selbst aktiv
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen
am Beispiel des Projektes ARTIF in Plymouth
vorgelegt von
Judith Nettelroth
[Matrikelnummer: 24753]
Betreuerin:
Prof. Dr. Marion Laging
Prüfer:
Prof. Dr. Thomas Heidenreich
Esslingen
Dezember 2008
Inhaltsverzeichnis
INHALTSVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ........................................................................................ 3
EINLEITUNG ................................................................................................................... 4
TEIL A: Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit ................................. 7
1.
Empowerment – Ein Begriff und seine geschichtliche Entwicklung ............................. 7
2.
Empowerment in der Sozialen Arbeit................................................................................ 9
2.1.
Kontextfaktoren............................................................................................................. 9
2.1.1.
2.1.1.1.
Ethik, Werte und Definition Sozialer Arbeit ................................................... 10
2.1.1.2.
Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession .............................................. 12
2.1.1.3.
Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit...................... 12
2.1.2.
2.2.
Folgen gesellschaftlicher Entwicklung als Kontext ............................................ 13
Theoretische Grundlagen ........................................................................................... 14
2.2.1.
Ausgangslage .................................................................................................... 14
2.2.2.
Zielstationen des Empowerment-Konzeptes in der Sozialen Arbeit .................. 16
2.2.3.
Grundsätze und Werte des Empowerment-Konzeptes ..................................... 17
2.2.4.
Veränderte Rolle Sozialer Arbeit........................................................................ 19
2.3.
Überlegungen zur Praxis einer „empowernden“ Sozialen Arbeit ............................... 20
2.3.1.
Elemente empowernder Sozialer Arbeit ............................................................ 20
2.3.2.
Ebenen und Werkzeuge des Empowerments ................................................... 20
2.3.3.
Der Empowerment Prozess ............................................................................... 22
2.3.4.
Stolpersteine ...................................................................................................... 23
2.4.
3.
Profession der Soziale Arbeit als Kontext für Empowerment .............................. 9
Kritik am Empowerment-Konzept ............................................................................... 24
Fazit und eigene Einschätzung........................................................................................ 24
3.1.
Warum ist Empowerment wichtig? ............................................................................. 24
3.2.
Perspektive: Empowerment als Haltung in der Sozialen Arbeit ................................. 25
3.3.
Zusammenfassung: Kriterien für eine „empowernde“ Soziale Arbeit ......................... 26
1
Inhaltsverzeichnis
TEIL B: Soziale Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland .................................................... 28
4.
Lebenslage von Flüchtlingen in Deutschland ................................................................ 29
4.1.
4.1.1.
Asylpolitik und Asylrecht auf internationaler Ebene........................................... 29
4.1.2.
Politische und rechtliche Rahmenbedingungen in Deutschland........................ 32
4.2.
Dimensionen der Lebenslagen von Flüchtlingen in Deutschland............................... 36
4.2.1.
Asylsuchende und De-facto-Flüchtlinge ............................................................ 36
4.2.2.
Asylberechtigte und GFK-Flüchtlinge ................................................................ 41
4.3.
5.
Politische und rechtliche Rahmenbedingungen ......................................................... 29
Bewertung der Rahmenbedingungen und Lebenslagen ............................................ 42
Theorie und Praxis Sozialer Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland .......................... 45
5.1.
Flüchtlinge als NutzerInnen von Mainstream-Angeboten der Sozialen Arbeit ........... 46
5.2.
Flüchtlingssozialarbeit ................................................................................................ 47
5.2.1.
Zielgruppe .......................................................................................................... 48
5.2.2.
Rahmenbedingungen......................................................................................... 49
5.2.3.
Erwartungen....................................................................................................... 50
5.2.4.
Konfliktpotentiale in der Flüchtlingssozialarbeit ................................................. 50
5.2.5.
Orientierung, Ziele und Aufgaben der Flüchtlingssozialarbeit ........................... 51
TEIL C: Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen ........................................ 54
6.
Empowerment mit Flüchtlingen – nötig und möglich? ................................................. 54
7.
ARTIF – ein Empowerment-Projekt ................................................................................. 58
7.1.
7.1.1.
Entstehung - Aus CDIF wird ARTIF ................................................................... 59
7.1.2.
Aufbau, Akteure und Finanzierung .................................................................... 61
7.1.3.
Ziele, Annahmen und Aufgaben ........................................................................ 61
7.1.4.
AdressatInnen und geförderte Projekte ............................................................. 62
7.1.5.
Prozess der Vergabe von Förderungsmitteln .................................................... 62
7.1.6.
Rolle der Sozialen Arbeit.................................................................................... 63
7.2.
8.
ARTIF – Asylum Seekers and Refugees together Investment Fund.......................... 59
Ist ARTIF ein Empowerment-Projekt? ........................................................................ 63
Fazit – Empowerment mit Flüchtlingen ist nötig und möglich!.................................... 64
RESÜMEE ...................................................................................................................... 66
LITERATURVERZEICHNIS .................................................................................................. 68
ERKLÄRUNG ................................................................................................................. 76
ANHANG ........................................................................................................................ 77
2
Abkürzungsverzeichnis
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
Abs.
Art.
AsylbLG
AsylVfG
AufenthG
Aufl.
AWO
BAMF
DBSH
DSM-VI
EKD
etc.
EU
f
ff
GFK
GG
ggf.
GU
Hrsg.
IASSW
ICD-10
IFSW
Kap.
PTSD
S.
u.a.
UNHCR
UNO
vgl.
v.a.
WHO
z.B.
Absatz
Artikel
Asylbewerberleistungsgesetz
Asylverfahrensgesetz
Aufenthaltsgsetz
Auflage
Arbeiterwohlfahrt in Deutschland
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V.
4. Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental
Disorders (Diagnostisches und Statistisches Handbuch psychischer
Störungen)
Evangelische Kirche in Deutschland
et cetera
Europäische Union
folgende
fortfolgende
Genfer Flüchtlingskonvention
Grundgesetz
gegebenenfalls
Gemeinschaftunterkunft
Herausgeber
International Association of Schools of Social Work
International Classification of Diseases (Internationale Klassifikation
der Krankheiten)
International Federation of Social Workers
Kapitel
Post-traumatic Stress Disorder (Posttraumatische
Belastungsstörung)
Seite
und andere
United Nations High Commissioner for Refugees (Hoher
Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen)
United Nations Organization (Organisation der Vereinten Nationen)
vergleiche
vor allem
World Health Organisation (Weltgesundheitsorganisation)
zum Beispiel
Alle in dieser Arbeit verwendeten Abbildungen (Titelblatt, Text), stammen aus den
Materialien der Öffentlichkeitsarbeit von ARTIF (siehe Anhang 9-11).
3
Einleitung
EINLEITUNG
„Man hilft den Menschen nicht, wenn man für sie tut,
was sie selbst tun können.“ Abraham Lincoln (Herriger 2002, 7)
Oft ist der Ausgangspunkt Sozialer Arbeit dort, wo Menschen die Kontrolle verlieren, sich
ohnmächtig
fühlen,
eine
subjektive
Niederlage
erleben
und
situative
Handlungsanforderungen, mit den ihnen zur Verfügung stehenden sozialen und
personalen Ressourcen, nicht bewältigen können. Die Identifizierung der vorhandenen
Problemlagen ist die Grundlage der Hilfegewährung im traditionellen Sinne. Ist die
zugehörige
„Problemkategorie“
gefunden,
kann
Soziale
Arbeit
die
richtige
Interventionsmethode ausfindig machen (vgl. Herriger 2002, 63f). Norbert Herriger
entwickelte das Empowerment-Konzept für die Soziale Arbeit1 und setzt damit der
historisch gewachsenen und strukturell verankerten Sichtweise einen Gegenpol. In dieser
Arbeit soll dargestellt werden, inwiefern sich das Empowerment-Konzept von traditionellen
Ansätzen Sozialer Arbeit unterscheidet und warum es in unserer heutigen Gesellschaft
ein passender Ansatz ist. Der oben zitierte Ausspruch von Abraham Lincoln kann als
Philosophie des Empowerment-Konzeptes bezeichnet werden und ist eins meiner
persönlichen Lieblingszitate für die Praxis der Sozialen Arbeit. Nicht nur in der Sozialen
Arbeit sondern vor allem auch politisch hat der Empowerment-Begriff eine hohe Brisanz.
Weniger präsent in der politischen und sozialarbeiterischen Debatte sind Flüchtlinge. Sie
werden häufig nur dann zum Thema gemacht, wenn mit ihrem Auftreten Konflikte
verbunden sind. Und dennoch sind Flüchtlinge, behaupte ich, eine Gruppe, mit der so gut
wie jede/r SozialarbeiterIn in seiner/ ihrer Berufspraxis in Berührung kommt, da ihre
Bedürfnis- und Problemlagen oft vielseitig sind. Sie sind häufig KlientInnen, die nicht in
das „normale“ Bild passen oder besondere Herausforderungen mit sich bringen, für die es
vor allem in Mainstream-Angeboten2 der Sozialen Arbeit, noch keine geeigneten
Umgangsstrategien gibt. Unter Mainstream-Angeboten der Sozialen Arbeit verstehe ich
klassische Angebote und Dienstleistungen der Sozialen Arbeit, welche die (kommunale)
Grundversorgung der KlientInnen umfassen und die prinzipiell der breiten Masse der
Bevölkerung zur Verfügung stehen, wie beispielsweise Jugendhaus, ASD, Psychosoziale
1
Der Begriff Empowerment wird in Kap.1, Soziale Arbeit in Kap.2 definiert, bzw. näher erläutert.
Der Begriff Mainstream kommt aus dem Englischen und bedeutet Hauptstrom, bzw. –strömung ,
sowie vorherrschende Richtung (vgl. Duden 2003, 833)
2
4
Einleitung
Beratung
und
Suchtberatung.
„Durchschnittsverbraucher“
Flüchtlinge
(mainstream
sind,
cutomers)
so
und
behaupte
das
ich,
Handlungsfeld
keine
der
Flüchtlingssozialarbeit, kein Mainstream-Angebot der Sozialen Arbeit. Da sie innerhalb
der wissenschaftlichen Debatte oft vernachlässigt werden, ist es mir wichtig, einen
Überblick über die Lebenslagen dieser Personengruppe und das Arbeitsfeld der
Flüchtlingssozialarbeit zu geben.
In meinem Praxissemester arbeitete ich für einen gemeinnützigen Verein namens
„Students and Refugees Together“ (START) in Plymouth, Großbritannien. Zu meinem
Aufgabengebiet gehörten sowohl die soziale Einzelfallhilfe, vorwiegend mit Flüchtlingen,
die gerade als Asylberechtigte anerkannt worden waren, als auch Projekt-/ bzw.
Gruppenarbeit.
STARTs Zielsetzung ist „To work in partnership with families, individuals and organisations
to facilitate the transition of refugees from people in need to self-reliant contributors to their
local community“ (Butler 2007, 237)
START
als gesamte Organisation verfolgt damit eine radikale Empowerment-
Orientierung. Meine Arbeit bei START und damit auch die Supervision mit Avril Butler von
der University Plymouth, regten mich zu einer konsequenten Orientierung an den
Ressourcen und Bedürfnissen meiner KlientInnen an, sodass eine der Fragen, die mich
während meines Praxissemesters am meisten beschäftigte, war, wie ich diese
Perspektive tatsächlich umsetzen kann. Zu Beginn meiner Zeit bei START war es mir ein
Rätsel, wie ich meine KlientInnen empowern kann. Am Ende meiner Zeit dort waren zwar
noch immer einige Fragen offen, doch vor allem durch die Einzelfallhilfe und die Arbeit in
dem Projekt „Asylum Seekers and Refugees Together Investment Fund“ (ARTIF) konnte
ich viele Empowerment-Erfahrungen sammeln und der Antwort ein Stück näher kommen.
Durch die Brisanz und Aktualität des Themas Empowerment und Ressourcenorientierung
gibt es bereits eine Vielzahl an Fachliteratur zu diesem Thema. Der Themenbereich
„Flüchtlinge“ wird vor allem im Zusammenhang mit Interkultureller Sozialer Arbeit häufiger
erwähnt, bekommt jedoch weiterhin keinen hohen Stellenwert zugemessen. In der
wissenschaftlichen Diskussion gibt es ebenfalls noch nicht viele Stellungsnahmen zu der
Frage, ob Empowerment ein geeigneter Ansatz für die Soziale Arbeit mit Flüchtlingen ist.
Eine Empowerment-Haltung ist meiner Meinung nach ein wichtiger Bestandteil
sozialarbeiterischen Handelns und muss, so die These meiner Arbeit, auch Bestandteil
der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen sein. Die Frage, auf die ich versuchen möchte eine
Antwort mit dieser wissenschaftlichen Arbeit zu geben, ist, ob Empowerment mit
Flüchtlingen nötig und möglich ist und wie dies konkret aussehen kann. Hierzu werde ich
das Projekt ARTIF als Beispiel vorstellen.
5
Einleitung
Aufbau der Arbeit
In Teil A wird zunächst der Begriff Empowerment erklärt und dessen universelle
Verwendung von Empowerment innerhalb der Sozialen Arbeit abgegrenzt. Die Profession
der Sozialen Arbeit und die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen sollen hierbei als
Kontext, in dem Empowerment stattfindet, dargestellt werden. Anschließend werden die
theoretischen Grundlagen, sowie Überlegungen zur praktischen Umsetzung des
Konzeptes vorgestellt. Abschließend werde ich eine eigene Einschätzung des Konzeptes
geben und Empowerment als Haltung in der Sozialen Arbeit vorschlagen
Im zweiten Abschnitt der Arbeit – Teil B – soll ein Überblick über die Thematik der
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland gegeben werden. Da Soziale Arbeit an
den Lebenslagen ihrer AdressatInnen ansetzt, nimmt die Beschreibung der Lebenslage
von Flüchtlingen, eingebettet in die in Deutschland geltenden politischen und rechtlichen
Rahmenbedingungen, einen großen Stellenwert ein. Folgend wird ein Überblick über die
Soziale
Arbeit
mit
Flüchtlingen
gegeben,
indem
Flüchtlinge
zunächst
als
Querschnittsthema innerhalb der Praxis Sozialer Arbeit, bzw. als NutzerInnen von
Mainstream-Angeboten Sozialer Arbeit und anschließend als spezielle Zielgruppe des
Handlungsfeldes Flüchtlingssozialarbeit dargestellt werden.
Abschließend werden in Teil C die Ausführungen zur Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen und
der Empowerment-Gedanke miteinander verknüpft. Hierbei soll die zentrale Fragestellung
dieser wissenschaftlichen Arbeit beantwortet werden, ob Empowerment mit Flüchtlingen
nötig und möglich ist. Anhand des Projektes ARTIF in Plymouth wird exemplarisch
dargestellt, wie Soziale Arbeit unter dem Empowerment-Gedanken/ der EmpowermentHaltung in der Praxis aussehen kann.
Sowohl die Beschreibung des Empowerment-Konzeptes als auch die Darstellung der
Lebenslagen von Flüchtlingen, eingebettet in die geltenden asylrechtlichen und politischen Rahmenbedingungen, nehmen einen großen Stellenwert in dieser Arbeit ein.
Meines Erachtens schafft erst die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen
beiden Themen die Grundlage für die Beantwortung der in dieser Arbeit gestellten
Fragen. Aus Mangel an wissenschaftlicher Literatur zum Thema Empowerment mit
Flüchtlingen, macht die Behandlung dieser Thematik im Verhältnis einen geringen Teil
aus. Dennoch kommt den Ausführungen zu diesem Thema in Teil C eine hohe Bedeutung
zu, da hier die in Teil A und Teil B gewonnenen Erkenntnisse miteinander zu einer
Antwort auf die Fragestellung dieser Arbeit verknüpft werden.
6
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
TEIL A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen
Arbeit
Der Empowerment-Gedanke fand laut Herriger seine Wurzeln in der afroamerikanischen
Bürgerrechtsbewegung in den USA (vgl. Herriger 2002, 20) und ist vor allem seit den 90er
Jahren des letzten Jahrhunderts auch in Deutschland ein vieldiskutierter Ansatz innerhalb
der Sozialen Arbeit. Doch auch außerhalb der Profession der Sozialen Arbeit ist
Empowerment
inzwischen
ein
bekannter
Begriff.
So
werden
beispielsweise
Bürgerrechtsbewegungen als Empowerment-Prozesse bezeichnet. Verständlicherweise
wird unter Empowerment als ein Konzept der Sozialen Arbeit etwas anderes verstanden,
als in anderen Kontexten. Daher wird zunächst der Begriff Empowerment und seine
geschichtliche Entwicklung vorgestellt, sowie die universelle Verwendung des Begriffs von
der innerhalb der Sozialen Arbeit abgegrenzt. Anschließend wird ein Überblick gegeben,
was Empowerment innerhalb der Sozialen Arbeit bedeutet. Die Profession der Sozialen
Arbeit und die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte werden hierzu als
Kontext des Empowerment-Konzeptes dargestellt, auf dem es aufbaut und Anwendung
findet. Weiterhin werden die Prinzipien und theoretischen Grundzüge des Konzeptes
skizziert und dargestellt, wie der Ansatz praktisch in der Sozialen Arbeit umgesetzt
werden kann. Abschließend werde ich diskutieren, warum Empowerment in der Sozialen
Arbeit nötig ist und werde eine eigene Einschätzung des Konzeptes geben. Ziel des Teil A
ist es, einen Überblick zu geben, was Empowerment ist und wie es in der Sozialen Arbeit
eingesetzt werden kann.
1. Empowerment – Ein Begriff und seine geschichtliche Entwicklung
Empowerment ist, wie bereits erwähnt, ein aktueller und vielseitig genutzter Begriff.
Wörtlich übersetzt bedeutet er Selbstbemächtigung, Stärkung von Autonomie und
Selbstbestimmung (vgl. Herriger 2002, 11), sowie Gewinnung von Stärke (vgl. Lenz, Stark
2002, 13). Schon in der Vielfalt der Übersetzungen ist ersichtlich, dass es kein passendes
Wort in der deutschen Sprache gibt, jedenfalls keins, das flächendeckend anerkannt ist.
Dies spiegelt eine gewisse Uneinigkeit darüber wider, was der Begriff wirklich bedeutet.
Daher gibt es auch keine einheitlich anerkannte Definition von Empowerment. Um nur
einige zu nennen:
7
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
„By definition, empowerment is aimed at the disadvantaged with the aspiration of creating
the transition from a state of power-less to a state of power at both the individual and
collective level.“ (Al-Haj, Mielke 2007, 2)
„Empowerment beschreibt mutmachende Prozesse der Selbstbemächtigung, in denen
Menschen in Situationen des Mangels, der Benachteiligung oder der gesellschaftlichen
Ausgrenzung beginnen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, indem sie sich
ihrer Fähigkeit bewusst werden, eigene Kräfte entwickeln und ihre individuellen und
kollektiven Ressourcen zu einer selbstbestimmten Lebensführung nutzen lernen.“ (Herriger
2002, 18)
Letztere Definition umfasst einige Aspekte, die Herriger bei der Entwicklung des
Empowerment-Konzeptes in der Sozialen Arbeit wichtig sind. Diese Definition bezeichnet
er als seine Arbeitsdefinition (vgl. Herriger 2002, 18).
Empowerment, so der kleinste gemeinsame Nenner aller Definitionen, ist ein Prozess, in
dem Individuen oder Gruppen aus einer Lage der Entmutigung/ Demoralisierung/
Schwäche entweder durch Eigeninitiative, oder durch Unterstützung herausfinden, indem
sie sich Kompetenzen aneignen und Ressourcen erschließen. Dies können bereits
vorhandene Ressourcen und Kompetenzen sein die im Moment der Schwäche
„verschüttet“ sind. Ziel dieser Prozesse ist, dass Individuen und Gruppen die „Kontrolle“
über ihr Leben wieder selbst in der Hand haben und sich trauen ihr Leben, bis zu einem
gewissen Grad, in Eigenregie zu führen, bzw. in einigen Bereichen ihres Lebens wieder
handlungsfähiger sind und für ihre Rechte, Wünsche und Bedürfnisse eintreten. Herriger
bezeichnet den Prozess des Empowerments als eine „Reise in die Stärke“ (vgl. Herriger
2002, 167).
Bei der näheren Betrachtung des Begriffs des Empowerments wird deutlich, dass er das
Wort „Power“ beinhaltet. Dies impliziert, dass Empowerment etwas mit Macht bzw.
Machtverhältnissen zu tun hat. Genauer gesagt soll durch Empowerment-Prozesse eine
Veränderung von ungesunden Machtverhältnissen angestrebt werden und Menschen, die
über wenig Macht verfügen, sollen mehr davon erhalten.
Seine Wurzeln hat die Empowerment-Bewegung an verschiedenen Stellen. Als Ursprung
wird allgemein die Bürgerrechtsbewegung der schwarzen Amerikaner (civil rights
movement) gesehen (vgl. Galuske 2007, 261). Andere Wurzeln des Empowerments sind
Stark
und
Herriger
zufolge
die
Erfahrungen
des
Kommunitarismus
und
der
Selbsthilfebewegung, sowie andere soziale Bewegungen wie beispielsweise der
Feminismus und schließlich neuere Forschungen des Sozialwesens (vgl. Herriger 2002,
20-35; Galuske 2007, 261). In all diesen Bewegungen hat eine Befreiung aus einer
8
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
Situation der Unterdrückung und Machtlosigkeit stattgefunden (vgl. Knuf, Seibert 2001,
5f). Es wird deutlich, dass Empowerment nicht nur ein Handlungskonzept Sozialer Arbeit
ist, sondern davon losgelöst, einen Prozess der Selbstbemächtigung von Individuen oder
Gruppen, sei es auf individueller, struktureller oder politischer Ebene, beschreibt. Im
Folgenden wird skizziert, was Empowerment innerhalb der Sozialen Arbeit bedeutet.
2. Empowerment in der Sozialen Arbeit
Norbert Herriger gilt als der Begründer des Empowerment-Konzeptes innerhalb der
Sozialen Arbeit. In den weiteren Ausführungen dieses Kapitels wird somit vor allem auf
Herriger, jedoch auch auf andere TheoretikerInnen, die das Konzept weiterentwickelten,
bzw. Herriger zitierten, Bezug genommen.
2.1.
Kontextfaktoren
2.1.1. Profession der Soziale Arbeit als Kontext für Empowerment
Die Profession der Sozialen Arbeit als solche ist noch relativ jung. Erst 1950 verbanden
sich in Deutschland die damalige Sozialarbeit und Sozialpädagogik nach gegenseitiger
Annäherung endgültig (vgl. Thiersch 2005, 618ff). Die klassische Sozialarbeit wurde vor
allem von Kirchen und Frauen als Armenfürsorge, mit dem Motiv christlicher
Nächstenliebe, geleistet. Wolfgang Müller führt hier das Beispiel des Barmherzigen
Samariters an und kritisiert an der bisherigen Praxis, dass nicht nur den Armen geholfen
werden sollte, sondern auch die Ursachen ihrer Armut bekämpft werden müssen. Mit der
Einführung der Lohnarbeit verloren „die Armen“ ihren Stand als festen Teil der
Gesellschaft und das Bild, dass jede/r für seinen Lebensunterhalt arbeiten muss, setzte
sich mehr und mehr durch (vgl. Müller 2007, 13ff). Die Sozialpädagogik hingegen
beschäftigte sich mit Fragen der Bildung, Erziehung und Entwicklung von Menschen und
war nicht speziell an sozial benachteiligte Menschen gerichtet, sondern an die gesamte
Gesellschaft. Ab 1920 fand allmählich eine Annäherung zwischen den beiden Theorieund Handlungssträngen statt, als sich die Sozialarbeit auch für pädagogische Fragen und
die Sozialpädagogik für die Arbeit mit Benachteiligten öffnete. Trotz der noch relativ
jungen Profession gibt es bereits eine Vielfalt an Theorien innerhalb der Sozialen Arbeit in
Deutschland (vgl. Frey 2007, 35f). Natürlich haben auch Theorieentwicklungen aus
anderen Ländern Einfluss auf die Soziale Arbeit in der Deutschland. Da Soziale Arbeit
jedoch in einer bestimmten Gesellschaft agiert, müssen diese internationalen Theorien
immer auf die jeweiligen, in diesem Fall deutschen, Verhältnisse und die aktuelle
gesellschaftliche Situation übertragen werden. Damit ist schon angedeutet, dass sich mit
der gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Situation immer auch die theorie- und
handlungsbezogene Soziale Arbeit verändert/e. Seit es Soziale Arbeit als Profession in
9
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
Deutschland gibt, besteht wie beschrieben eine Vielfalt an theoretischen Ansätzen. Heute
bewegen sich diese, zusammengefasst dargestellt, zwischen dem Systemischen
Paradigma, das sich auf Individuen als Teil eines gesellschaftlichen Gefüges bezieht, und
einem individualistisch neo-liberalem Paradigma, das sich auf Individuen bezieht, die so
frei wie möglich von allen gesellschaftlichen Zwängen sein sollen (vgl. Staub-Bernasconi
2007, 28-50). Bestehende Theorien tendieren meistens stärker zu einem der beiden
Paradigmen und siedeln sich sozusagen auf einer Skala an, wenn man diese als Pole
auffassen möchte. Staub-Bernasconi plädiert jedoch für ein „Zeitgeist unabhängiges
Theorieprogramm Sozialer Arbeit“ indem sie sagt, dass allen Theoriesträngen gemeinsam
ist, dass sie sich auf Rechte, wie Sozial-, Freiheits- und Wirtschaftsrechte beziehen und
fordert eine Soziale Arbeit, die sich konsequent auf Menschenrechte als oberste Priorität
konzentriert. Sie schließt damit nicht aus, dass sich Soziale Arbeit weiterentwickeln kann
und soll, regt jedoch dazu an, dass sie sich nicht nach „Lust und Laune“ verändern sollte
(vgl. Staub-Bernasconi 2007, 51ff).
2.1.1.1.
Ethik, Werte und Definition Sozialer Arbeit
Laut Münchmaier ist Ethik bezogen auf die Soziale Arbeit die Grundlage des Handelns,
als auch die Grundlage der Reflektion, bzw. Überprüfung des Handelns. In jedem theorieund handlungsbezogenen Ansatz Sozialer Arbeit gibt es zwar durchaus unterschiedliche
ethische Überzeugungen und Werte, zusätzlich zu denen, die jede/r SozialarbeiterIn
persönlich mitbringt, diese sollten jedoch immer auf den national und international für
SozialarbeiterInnen geltenden Ethikkodizes aufbauen (vgl. Münchmaier 2005, 184). Die
internationalen ethischen Grundlagen für die Profession der Sozialen Arbeit wurden von
der International Federation of Social Workers (IFSW) und der International Association of
Schools of Social Work (IASSW) aufgestellt. National gibt es in Deutschland
„Berufsethische Prinzipien des DBSH“ (Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit).
Beide Papiere werden im Folgenden kurz vorgestellt.
Ethics in Social Work, Statement of Principles (IFSW & IASSW)
Dieses Papier wurde 2004 verabschiedet und bezeugt, dass ethisches Bewusstsein ein
grundlegender Teil beruflicher Praxis von SozialarbeiterInnen ist und diese sich als
Professionelle zu ethischem Handeln verpflichten müssen. Das Ziel des Dokumentes ist,
ethische
Debatten
und
Überlegungen
anzuregen,
sowie
Konfliktpotentiale
ins
sozialarbeiterische Bewusstsein zu rufen, damit im beruflichen Alltag reflektiert ethisch
gehandelt werden kann (vgl. IFSW, IASSW 2004a+b, 1). Ausgangspunkt der ethischen
Überlegungen ist die von IFSW und IASSW 2001 verabschiedete Definition Sozialer
Arbeit:
10
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
„The social work profession promotes social change, problem solving in human relationships
and the empowerment and liberation of people to enhance well-being. Utilising theories of
human behaviour and social systems, social work intervenes at the points where people
interact with their environments. Principles of human rights and social justice are
3
fundamental to social work.“ (IFSW, IASSW 2004a, 1)
Anschließend wird in den ethischen Erklärungen auf internationale Übereinkommen über
Menschenrechte verwiesen, welches ebenfalls als Grundlage sozialarbeiterischen
Handelns akzeptiert werden. Nach der näheren Erläuterung der in der Definition bereits
aufgezeigten wichtigsten ethischen Werte der Sozialen Arbeit - Menschenrechte,
Menschenwürde und Soziale Gerechtigkeit - wird kurz das berufliche Verhalten von
SozialarbeiterInnen angesprochen. An dieser Stelle wird jedoch darauf verwiesen, dass
alle nationalen Mitglieder des IFSW und IASSW diese Ausführungen zum beruflichen
Verhalten erweitern und aktualisieren sollen und die Pflicht haben, SozialarbeiterInnen in
ihrem Land über diese zu informieren (IFSW, IASSW 2004a+b, 2ff).
Berufsethische Prinzipien des DBSH
Gleichwie das „Statement of Principles“ des ISFW und IASSW auf die Pflicht nationaler
Abkommen verweist, bezieht sich der DBSH in den Berufsethischen Prinzipien auf das
internationale Abkommen als Grundsatzpapier (vgl. DBSH 1997, 1). Ausgangslage
berufsethischen Handelns wird wie folgt beschrieben:
„In jeder Gesellschaft entstehen Probleme. Diese zu entdecken, sie mit ihren Ursachen und
Bedingungen zu veröffentlichen und einer Lösung zuzuführen, ist der gesellschaftlich
überverantwortete Auftrag Sozialer Arbeit. Seine Grenzen sind bestimmt durch strukturelle,
rechtliche und materielle Vorgaben. Beruflich geleistete Soziale Arbeit gründet jedoch
letztlich in universellen Werten, wie sie etwa im Katalog der Menschenrechte oder den
Persönlichkeitsrechten und dem Sozialstaatsangebot des Grundgesetzes zum Ausdruck
kommen. Diese Werte fordern die Mitglieder des DBSH auf, den gesellschaftlichen Auftrag
der Sozialen Arbeit mit seinen Begrenzungen zu bewerten und gegebenenfalls zu
optimieren. In der Würde der Person erfährt das Handeln der Mitglieder des DBSH seine
unbedingte allgemeine Orientierung. In der Solidarität und der Strukturellen Gerechtigkeit
verpflichten sie sich auf Werte, die die Einbindung der Person in die Gesellschaft und ihren
Schutz in der Gesellschaft sichern.“ (DBSH 1997, 1)
3
Deutsche Übersetzung: „Soziale Arbeit als Beruf fördert den sozialen Wandel und die Lösung von
Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen, und sie befähigt die Menschen, in freier
Entscheidung ihr Leben besser zu gestalten. Gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse über
menschliches Verhalten und soziale Systeme greift soziale Arbeit dort ein, wo Menschen mit ihrer
Umwelt in Interaktion treten. Grundlagen der Sozialen Arbeit sind die Prinzipien der
Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit.“ (DBSH 2004b, 2)
11
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
Davon ausgehend werden „Allgemeine Grundsätze beruflichen Handelns“, sowie
Verhaltensgrundsätze gegenüber Klientel, BerufskollegInnen, Angehörigen anderer
Berufe, ArbeitgeberInnen und Organisationen, sowie der Öffentlichkeit festgelegt (vgl.
DBSH 1997, 1ff). Der DBSH hat sich dazu verpflichtet die beschriebenen Grundsätze
ständig zu aktualisieren (vgl. DBSH 1997,4). Dieser Verpflichtung wird der DBSH meiner
Meinung nach mit einem elf Jahre alten Dokument nicht gerecht. Spätestens als die neue
internationale Erklärung ethischer Prinzipien des IFSW und IASSW publiziert wurden,
hätte sich auch im nationalen Bereich etwas tun müssen.
2.1.1.2.
Silvia
Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession
Staub-Bernasconi
fordert
eine
Soziale
Arbeit,
die
sich
konsequent
für
Menschenrecht einsetzt (vgl. Staub-Bernasconi 1995, 99). Diese Orientierung wird auch
vom
IFSW
und
IASSW
in
der
Definition
Sozialer
Arbeit
klar
vorgegeben.
SozialarbeiterInnen haben die Aufgabe, sich für die Rechte von sozial benachteiligten
Menschen einzusetzen und die Ursachen ihrer Armut und Diskriminierung öffentlich zu
machen und zu bekämpfen (vgl. DBSH 1997, 1-2). Laut IFSW und IASSW sind
Menschenrechte und die Menschenwürde die Handlungsgrundlage Sozialer Arbeit. Wird
das Recht der Selbstbestimmung der KlientInnen wahrgenommen, so werden sie von
SozialarbeiterInnen in ihren Stärken und Ressourcen gefördert und somit dazu befähigt,
ein selbstbestimmtes Leben zu führen, sowie eigene Entscheidungen zu treffen (vgl.
IFSW, IASSW 2004a+b, 2f). Auch die Förderung Sozialer Gerechtigkeit ist eine wichtige
Aufgabe Sozialer Arbeit. Soziale Inklusion, Gleichverteilung von Gütern und das Beenden
von Diskriminierung sind somit wichtige Ziele. Staub-Bernasconi stellt eine Theorie
Sozialer Arbeit auf, die „zeitgeistunabhängig“ bestehen kann und sich an den ethischen
Werten und Prinzipien Sozialer Arbeit orientiert.
2.1.1.3.
Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit
In den letzten zwei Kapiteln wurde deutlich gemacht, dass Soziale Arbeit nicht nur einfach
geleistet wird, sondern durchaus theoretische und ethische Grundlagen hat. BüschgesAbel schreibt in einem Artikel über Menschenrechte und Soziale Arbeit, dass Soziale
Arbeit ein Zirkel aus Praxis, Theorie, Ethik und Politik ist, nicht zu vergessen den
persönlichen Haltungen,
Einstellungen und Erfahrungen,
die SozialarbeiterInnen
mitbringen (vgl. Büschges-Abel 2001, 25). Deutlich wurde auch, dass es in der Sozialen
Arbeit verschiedenste theoretische Ansätze gibt, sowie dass sich Theorie und Praxis
analog
zur
gesellschaftlichen
Entwicklung
veränderen.
Tatsache
ist,
dass
Menschenrechte, die menschliche Würde und soziale Gerechtigkeit, wichtige ethische
Grundlagen der Sozialen Arbeit sind und per Definition eine Aufgabe sozialarbeiterischen
12
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
Handelns ist, sich für diese Werte einzusetzen und Menschen zu befähigen, „in freier
Entscheidung ihr Leben besser zu gestalten“ (IFSW, IASSW 2004b, 2). Wie sehr diese
theoretischen und ethischen Überlegungen jedoch in die Praxis umgesetzt werden ist eine
andere Frage. Tatsache ist auch, dass in der heutigen Praxis dort der Ausgangspunkt
Sozialer Arbeit ist, wo Menschen hilflos sind und ihnen ihr Lebensmanagement nicht
gelingt, bzw. dann, wenn sie auffallen, weil sie nicht den gesellschaftlichen Normen
entsprechen. Es gibt anerkannte Problemschubladen deren Identifizierung Legitimation
und Ausgangspunkt der sozialarbeiterischen Intervention ist. Auch wenn seit Jahren in der
Diskussion der Theorie und Praxis Sozialer Arbeit der Begriff Ressourcenorientierung oft
verwendet wird, ist dies oft nur ein Lippenbekenntnis und der Defizitblickwinkel ist
hingegen weit verbreitet und sogar tief strukturell verankert (vgl. Herriger 2002, 63-69).
Damit verbunden bestehen oft eine Machtasymmetrie und teilweise sogar eine
Entwürdigung der KlientInnen Sozialer Arbeit. Weber bezeichnete Macht als „[...] jede
Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben
durchzusetzen [...]“ (Sambale 2005, 15). Fazit: Theorie, Ethik und Praxis der Sozialen
Arbeit stimmen, jedenfalls in Deutschland, nicht miteinander überein.
2.1.2. Folgen gesellschaftlicher Entwicklung als Kontext
Durch die Industrialisierung bekam der Mensch die Möglichkeit seine Arbeitskraft frei auf
dem Markt anzubieten. Zunächst mussten zur Existenzsicherung Arbeitsbündnisse
eingegangen werden, doch als diese Phase abgeschlossen war, bekam der Mensch
immer mehr Freiheit, sein Kapital und seine Arbeitskraft dort einzusetzen, wo er wollte
bzw. die Gelegenheit dazu geboten bekam. In dieser zweiten Stufe kam es zu einem so
genannten Fahrstuhleffekt, der mit zunehmender soziale Ungleichheit verbunden war (vgl.
Herriger 2002, 38ff). Mit diesem Prozess kam es auch zu einer Individualisierung und
Pluralisierung. Individualisierung ist laut Beck der „Prozess der Herauslösung und der
Freisetzung
der
Menschen
aus
historisch
vorgegebenen
Sozialbindungen
und
Kontrollzusammenhängen“ (Herriger 2002, 38). Dimensionen dieser Individualisierung
waren die Auflösung tradierter Sozial- und Kontrollbindungen, Erosion normativer
Sinnhorizonte, sowie Entstrukturierung der subjektiven Lebensverläufe (vgl. Herriger
2002, 38). Sie hatte also umfassende Auswirkungen auf jeden elementaren Bereich des
Lebens. Bisher feste Familienverbände waren nicht mehr selbstverständliche Quelle von
Unterstützung und Ressourcen, sondern Menschen waren verstärkt dazu gezwungen,
sich ein „soziales Netzwerk“ aufzubauen (vgl. Keupp 1994, 94; Keupp 1988, 74). Diese
gesellschaftliche Veränderung brachte also sowohl Chancen, beispielsweise in Form von
Freiheitschancen,
als
auch
Herausforderungen,
z.B.
in
Form
von
radikaler
Verunsicherungen, mit sich. Herriger bezeichnet das Leben von Menschen unter diesem
13
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
Paradigma als „zur Freiheit verurteilt“ (vgl. Herriger 2002, 42), was für Individuen Gewinn
und/ oder Verlust bedeuten kann. Als Facetten des Gewinns bezeichnet Herriger
beispielsweise die Auflösung von traditionellen und sozialen Verpflichtungen, die sich
öffnenden Werthorizonte und damit verbunden die Möglichkeit, sein Leben nach eigenem
Sinn und Vorstellungen zu gestalten. Als Schattenseiten benennt er die neue
Rollenvielfalt und damit verbundene Komplikationen, Orientierungsverlust durch in sich
zusammenfallende Sinnwelten, sowie den Entscheidungszwang und der Zwang sein
Leben eigenverantwortlicher zu führen (vgl. Herriger 2002, 42ff). Diese veränderte
gesellschaftliche Situation fordert laut Herriger vom Individuum besonders drei
Kompetenzen:
Multiple
•
Identität
und
Kohärenz:
Verschiedene
Lebensbereiche
bringen
unterschiedliche Anforderungen und Sinnhorizonte mit sich, was von Individuen die
Bildung einer multiplen Identität fordert. Diese kann vom Individuum nur dann
gemeistert werden, wenn er/ sie über ein Gefühl der Kohärenz (Lebens-Stimmigkeit)
verfügt und die „Splitter“ zu einem Bild zusammenfügen kann.
Das Subjekt als Baumeister: Wie bereits erwähnt, kann sich das Individuum nicht
•
mehr wie früher auf den Familienverband verlassen, sondern muss sich selbst
soziale Beziehungen aufbauen und diese auch pflegen.
Kommunitarismus: Es wird ein neues Solidaritätsgefühl von Individuen gefordert,
•
das ihnen Zutritt zu neuen Zusammengehörigkeitsgemeinschaften verschafft
(vgl. Herriger 2002, 47ff).
2.2.
Theoretische Grundlagen
2.2.1. Ausgangslage
Die Ausgangslage, auf der Soziale Arbeit unter dem Empowermentgedanken ansetzt ist
vielseitig. Zum einen sind die in Kapitel 2.1. beschriebenen Kontextfaktoren zu nennen:
Die Profession der Sozialen Arbeit beruht zwar auf klaren ethischen Grundsätzen, die
jedoch oft keine Anwendung in der teilweise entwürdigenden und bevormundenden Praxis
Sozialer Arbeit finden. Weiterhin bezieht sich das Empowerment-Konzept auf Individuen,
die in unserer heutigen Gesellschaft zwar viele neue Chancen haben, jedoch genauso vor
große Herausforderungen gestellt sind. Hinzu kommt das Konzept der erlernten
Hilflosigkeit nach Seligman und anderen, das Herriger als Ausgangslage des
Empowerments in der Sozialen Arbeit sieht. Er sieht den Ansatzpunkt Sozialer Arbeit dort,
wo Menschen sich in einer Lage befinden, in der sie in einem bestimmten, mehreren oder
allen
Bereichen
ihres
Lebens
unter
Autonomieverlust,
Fremdbestimmung
und
Machtlosigkeit leiden. Individuen haben das Gefühl, ihr Handeln habe keinerlei Einfluss
14
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
auf ihre Lebenssituation, ein Gefühl der Ohnmächtigkeit hat sich etabliert. Herriger
bezeichnet dies als Nullpunkterfahrung (vgl. Herriger 2002, 52ff). An anderer Stelle wird
es als Zustand der Demoralisierung bezeichnet (vgl. Knuf 2001, 32ff).Die Theorie erlernter
Hilflosigkeit nach Seligman erklärt, wie Menschen in diesen Zustand „geraten“.
Ausgangspunkt für die Entstehung ist eine Lebenskrise, die das Individuum nicht
bewältigen konnte und welche die gesamte, oder auch die spezielle Lebenssituation
unkontrollierbar erscheinen lässt. Es müssen somit zwei Bedingungen für das Entstehen
von Hilflosigkeit erfüllt werden: eine krisenhafte Situation und das subjektive Erleben
Dieser als unkontrollierbar (vgl. Seligman 1999, 8-37). Bleiben alle Bemühungen die
krisenhafte Situation zu beenden - die so genannten Coping Strategien - welche ein
Individuum anwendet, erfolglos (wirkt eine Situation also unkontrollierbar), sinken die
Motivation und Erfolgserwartungen, stellt sich Passivität ein, treten Folgen wie sozialer
Rückzug, Depression und Hilflosigkeit ein (vgl. Herriger 2002, 52-56). Menschen lernen
somit Seligman zufolge, dass sie hilflos sind. Diese Erkenntnisse gewann Seligman
zunächst aus Tierversuchen und übertrug die gewonnenen Ergebnisse auf Menschen.
Abramson, Seligman und Teasdale fügen in ihrer Neuformulierung der Theorie hinzu,
dass die Entstehung von Gefühlen der Unkontrollierbarkeit mit inneren Attributionen (bzw.
Attributionsstilen) zusammen hängt. Damit meinen sie die Sinnkonstruktionen und
Ursachenerklärungen, in die Individuen die erlebte Situation einbetten. Der jeweilige
Attributionsstil beeinflusst die Planung von Bewältigungsstrategien und die Bewertung der
Bewältigungsversuche. Sie unterscheiden drei Dimensionen der Attributionsstile: Internal
vs. external (Ursachen liegen innerhalb oder außerhalb der Person), universell vs. speziell
(Ausweitung der Hilflosigkeit auf die Lebensbereiche), stabil vs. variabel (zeitliche
Beständigkeit der Auswirkungen). Aus diesen Dimensionen ergibt sich ein Erklärungsstil
für erlebte Situationen im Leben der Individuums. Ein optimistischer Erklärungsstil ist eher
external, speziell und variabel geprägt, ein Pessimistischer hingegen internal, universell
und stabil. Liegt ein pessimistischer Attributionsstil vor, ist die Wahrscheinlichkeit dass
erlernte Hilflosigkeit entsteht laut Seligman, Abramson und Teasdale relativ hoch (vgl.
Herriger 2002, 57ff). Haben Individuen den Punkt erlernter Hilflosigkeit erreicht, stellt sich
ein kognitives, motivationales und emotionales Defizit ein. Diese Diagnose bezeichnet er
als Hilflosigkeitsdepression (vgl. Herriger 2002, 60f). Dieses Konzept nennt als
Erklärungskontext allein die Erfahrungen eines Individuums und vernachlässigt Faktoren
der ökonomischen, kulturellen und sozialen Lebenslage. Es hat sich allerdings laut
Seligman herausgestellt, dass erlernte Hilflosigkeit kongruent zu sozialer Benachteiligung
verteilt ist (vgl. Herriger 2002, 62). Seligmans Theorie wurde oftmals reformuliert und
erneuert, sowie empirisch untersucht (vgl. Seligman 1999, 210-235). Behandelt werden
kann erlernte Hilflosigkeit dadurch, dass die Erwartung der Unkontrollierbarkeit
15
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
aufgehoben wird (vgl. Seligman 1999, 52). Hier kommt Empowerment innerhalb der
Sozialen Arbeit zum Tragen. Wie das Empowerment-Konzept auf die beschriebene
Ausgangslage reagiert, soll in weiteren Verlauf des Teil A dargestellt werden.
2.2.2. Zielstationen des Empowerment-Konzeptes in der Sozialen Arbeit
Laut Herriger ist
Empowerment eine Reise in die Stärke, die psychologisches und
politisches Empowerment umfasst. Prozesse des psychologischen Empowerments
setzten an Hilflosigkeit, Demoralisierung und Problemen der Lebensführung an und
wollen eine veränderte psychologische Ausstattung von Individuen und Gruppen von
Individuen erreichen. Soziale Arbeit soll an dieser Stelle fragen, welche psychosozialen
Schutzfaktoren Menschen über schwierige Lebenssituationen hinweghelfen. Herriger geht
davon aus, dass dies sowohl personale als auch soziale Faktoren sein können und dass
ein ständiger Balanceakt zwischen der belastenden Situation und den zur Verfügung
stehenden Bewältigungsressourcen stattfindet4. Durch psychologisches Empowerment
sollen
beispielsweise
Unkontrollierbarkeitserwartungen
durchbrochen
und
ein
Schutzschild gegen erneute Hilflosigkeit aufgebaut werden (vgl. Herriger 2002, 169-182).
Politisches Empowerment beabsichtigt die Veränderung der Lebenssituation von
Individuen und Gruppen, sowie deren politische Partizipation und Umweltgestaltung. Ziel
ist die strukturelle Veränderung der Lebenswelt von KlientInnen und der Ausbau von
bürgerschaftlichem Engagement, also mehr Partizipation und Mitentscheidung von
BürgerInnen in behördlichen und politischen Strukturen. Außerdem ausgebaut werden
sollen partizipatorische Kompetenzen und solidarische Gemeinschaften (vgl. Herriger
2002, 167f; 183-189)
Dies zeigt deutlich, dass Empowerment auf mehreren Ebenen ansetzt und Ziele
formuliert: Auf der individuellen, der Gruppen- und der strukturellen Ebene. Sambale
beschreibt dies folgendermaßen:
„Dementsprechend entfaltet Empowerment seine Wirkung erst dann, wenn über die
Orientierung auf die synergetischen Potenziale der Gemeinschaft eine verbesserte
gemeinsame Kontrolle und Gestaltbarkeit der Umwelt angestrebt wird“. (Sambale 2005, 15)
An dieser Stelle soll nochmals die Arbeitsdefinition Herrigers herangezogen werden:
„Empowerment beschreibt mutmachende Prozesse der Selbstbemächtigung, in denen
Menschen in Situationen des Mangels, der Benachteiligung oder der gesellschaftlichen
Ausgrenzung beginnen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, indem sie sich
ihrer Fähigkeit bewusst werden, eigene Kräfte entwickeln und ihre individuellen und
4
Bei der näheren Erläuterung bezieht sich Herriger auf das Konzept der Salutogenese nach
Antonovsky und das Konzept der Widerstandsfähigkeit nach Kobasa. Diese können an dieser
Stelle aufgrund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit nicht ausführlicher erläutert werden.
16
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
kollektiven Ressourcen zu einer selbstbestimmten Lebensführung nutzen lernen.“ (Herriger
2002, 18)
Daraus abgeleitete Ziele des Empowerments sind Selbstbemächtigung, die Beendigung
einer Mangel- bzw. Benachteiligungssituation oder gesellschaftlicher Ausgrenzung, sowie
dass Menschen, die in benannten Situationen leben, aktiv werden, erkennen dass sie
etwas tun können um ihre Situation zu ändern und dies auch umsetzen, sowie in diesem
Prozess Ressourcen erschließen und Kompetenzen zu einer selbstbestimmten
Lebensführung erwerben.
2.2.3. Grundsätze und Werte des Empowerment-Konzeptes
„Empowernde“ Soziale Arbeit hat gewisse Grundsätze. In der Literatur werden diese
theoretischen Annahmen und Ansatzpunkte beschrieben, welche die Soziale Arbeit unter
der Empowerment-Perspektive mit sich bringt. Die wichtigsten dieser Grundlagen und
Orientierungspunkte werden nun kurz beschrieben und sind Ressourcenorientierung,
Partizipation, Ressourcenaktivierung, Netzwerkförderung und soziale Gerechtigkeit.
Verändertes Menschenbild: Ressourcen- statt Defizitorientierung: Herriger zieht als
Grundlage des Menschenbildes einer von Empowerment geleiteten Sozialen Arbeit die
Philosophie der Menschenstärken nach Ann Weik heran, die sie selbst als Gegenrezept
für den allgemein in der sozialarbeiterischen Praxis verbreiteten Defizitblickwinkel
bezeichnet (vgl. Herriger 2002, 70). Die AdressatInnen werden hier als kompetente
KonstrukteurInnen eines gelingenden Alltags gesehen, die, wenn sie auch verschüttet
oder momentan nicht zugänglich sind, über Fähigkeiten, Ressourcen und Stärken
verfügen. Weik u.a. kritisieren den traditionellen Defizitblickwinkel und glauben an den
Wert und das Potential in jeder Person. Sie formulieren drei Grundannahmen:
•
Jeder Mensch besitzt eine Lebenskraft, die durch Empowerment stimuliert wird,
•
Diese Kraft ist die Quelle wertvollen Wissens und bringt jeden Menschen, also auch
KlientIn und SozialarbeiterIn auf eine Ebene,
•
Die Nutzung von Stärken und deren Wachstum kann durch Empowerment gefördert
werden.
Diese Annnahmen bezeichnet Herriger als einen Baustein für eine veränderte Berufsethik
Sozialer Arbeit5(vgl. Herriger 2002, 70f). Allerdings kritisiert Herriger diese Philosophie in
zwei Punkten: Zum einen kritisiert er, dass Schwächen nicht zugelassen werden, zum
anderen mahnt er den mangelnden Umweltbezug an, der die Ellenbogenmentalität
unserer Gesellschaft völlig aus dem Blick verliert (vgl. Herriger 2002, 80ff).
5
Schaut man sich hier jedoch die bestehenden ethischen Grundlagen der Sozialen Arbeit an, die
in Kapitel 2.1.1. beschrieben wurden wird deutlich, dass keine berufsethische Veränderung,
sondern eine Veränderung der Praxis nötig ist.
17
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
Ressourcen und Stärken von Menschen sind im Empowerment-Konzept zentral. Durch
die Orientierung an den Ressourcen der KlientInnen, soll ihnen unter anderem ein
positiveres Bild über sich selbst vermittelt werden. Steinforth sagt in diesem
Zusammenhang, dass Selbstachtung eine Voraussetzung dafür ist, sein Leben
selbstverantwortlich führen zu können. Er sagt, dass Soziale Arbeit Selbstachtung fördern
kann, wenn sie sich an den Stärken eines Menschen orientiert und respektvoll mit
KlientInnen und ihren Wünschen und Bedürfnissen umgeht. Sie kann Selbstachtung jeoch
auch gefährden, wenn sie sich nur an Schwächen orientiert (vgl. Steinforth 2002, 50ff).
Dieser veränderte Blickwinkel hat Auswirkungen auf sozialarbeiterisches Handeln:
•
Beziehung zwischen KlientIn und SozialarbeiterIn: SozialarbeiterInnen müssen
sich von ihrem gewohnten Expertentum und fürsorglichem Aktivismus abkehren und
sollen die KlientInnen stattdessen als ExpertInnen ihrer Lebenswelt anerkennen.
Dies bedeutet auch Vertrauen in die AdressatInnen und ihre Stärken zu setzen
sowie sie selbst aktiv werden zu lassen.
•
Zielsetzung und Wege: Ziele sollten keine angebotenen sozialarbeiterischen
„Fertigprodukte“, sondern eine Begleitung der Wege der KlientInnen, von ihren
Wünschen, Bedürfnissen und Zielen geleitet sein (vgl. Keupp 1994, 98f). Stark
bezeichnet als eine Aufgabe Sozialer Arbeit, offene Prozesse anzustoßen und
Entwicklungsraum für KlientInnen zu lassen (vgl. Stark 2002, 70ff). Es soll nicht eine
Anpassung an Normalität erreicht werden, sondern die KlientInnen sollen dazu
befähigt werden ihr eigenes Lebenskonzept zu verwirklichen (vgl. Kraft/ Mielenz
2005, 234). Dies bedeutet, die Lebensentwürfe und das Selbstbestimmungsrecht
der KlientInnen anzuerkennen, sowie Umwege und Irrtümer zuzulassen, da diese
nach Knuf wichtige Schritte auf dem Weg zu autonomen Handeln sind (vgl. Knuf
2002, 42f). Grenzen sind jedoch dort, wo das Verhalten von KlientInnen sie selbst
oder andere verletzt. Außerdem hängt das Gelingen von Empowerment immer auch
von institutionellen Gegebenheiten ab. (vgl. Herriger 2002, 16ff)
Partizipation: Partizipation ist eine grundlegende Struktur des Empowerments, die
sowohl in der Beziehung zwischen KlientIn und SozialarbeiterIn als auch auf struktureller
Ebene
in
der
Kommune/
Stadt/
in
Behörden
angestrebt
werden
soll.
Trotz
Teilnahmestrategien ist die sozialarbeiterische Beziehung oft asymmetrisch. Über die
dadurch bestehende Gefahr der Bevormundung und Manipulation sollten sich
SozialarbeiterInnen bewusst sein (vgl. Herriger 2002, 19ff). Erfolgreiches Empowerment
kann nur eine Koproduktion sein. Knuf und Siebert gehen sogar soweit dass sie sagen:
„Professionelle Arbeit kann Empowerment Prozesse nur fördern und unterstützen, sie jedoch nicht
primär bewirken.“ (Knuf u. Siebert 2002, 18).
18
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
Ressourcenaktivierung: Ressourcenaktivierung zielt darauf ab den Handlungsspielraum
und die –möglichkeiten der KlientInnen zu erweitern. Ressourcen können z.B.
physikalischer,
biochemischer,
materieller,
interpersonaler,
sozialer,
makro-
soziokultureller Art sein. Oft sind Ressourcen vorhanden, können aber wegen der
aktuellen Lebenssituation nicht genutzt werden. Sie gelten als „verschüttet“ und sollen
wieder entdeckt und nutzbar gemacht werden. (vgl. Herriger 2002, 25-30)
Netzwerkförderung: Soziale Netzwerke ist ein Schlüsselbegriff des EmpowermentKonzeptes, da sie viele Ressourcen bieten. Herriger geht davon aus, dass sie bei der
Bewältigung von Belastungen helfen und sich generell positiv auf das Wohlbefinden von
Individuen auswirken. Daher ist ihre Herstellung, Erweiterung und Restaurierung von
großer Bedeutung innerhalb des Empowerment Ansatzes. Sie können allerdings ebenso
eine Quelle von Belastungen sein. Somit ist die Erforschung und Überprüfung von
sozialen Netzwerken nötig. (vgl. Herriger 2002, 31ff)
Soziale Gerechtigkeit: Herriger bezeichnet Soziale Gerechtigkeit als wichtigen Wert des
Empowerments. Soziale Arbeit muss sich mehr für diesen Wert einsetzen und Betroffene
dazu befähigen. Ausdruck findet dies in der Praxis des Empowerments beispielsweise in
demokratischer Partizipation, in Form von Bürgerbeteiligung und Mitbestimmung, auf die
hingearbeitet werden soll (vgl. Herriger, 2000, 174ff). Mit dem Begriff engagierter
Parteilichkeit deutet Herriger an, Soziale Arbeit solle sich wieder aktiver für die Lösung
gesellschaftlicher Probleme einsetzen. (vgl. Herriger 2002, 35f)
2.2.4. Veränderte Rolle Sozialer Arbeit
Anhand der beschriebenen Zielsetzungen, Werte und Strategien „empowernder“ Sozialer
Arbeit ergeben sich neue Rollen für SozialarbeiterInnen:
•
Lebensweltanalytiker: Aufgabe von SozialarbeiterInnen kann sein, eine sensible
Analyse der Lebenswelt mit dem Ziel soziale Ungleichheiten aufzudecken,
Kognitionen zu hinterfragen und negative Abhängigkeiten ausfindig zu machen.
•
Kritischer Lebensinterpret: Retrospektiv sollen bisherige Lebenswege analysiert
und prospektiv soll aus den Wünschen der KlientInnen eine Lebensperspektive
geformt werden, wobei SozialarbeiterInnen die Rolle haben, Kritik zu üben und
gemeinsam mit den KlientInnen Grenzen des Verhaltens zu ziehen.
•
Netzwerker und Ressourcenmobilisierer: Ressourcen sollen mobilisiert und
Kompetenzen aufgefrischt bzw. neu erschlossen werden.
•
Intermediärer Brückenbauer: Soziale Arbeit kann eine Brückenfunktion haben um
die Kluft zwischen Menschen/ Gruppen und Institutionen zu überbrücken.
•
Normalisierungsarbeiter: KlientInnen werden in ihren Lebenswegen unterstützt.
19
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
Organisations- und Systementwickler: SozialarbeiterInnen setzen sich für die
•
Öffnung administrativer und politischer Strukturen gegenüber Bürgerbeteiligung ein.
(vgl. Herriger 2002, 213ff; Kreft, Mielenz 2005, 179ff)
2.3.
Überlegungen zur Praxis einer „empowernden“ Sozialen Arbeit
Wie die benannten Ziele und Prinzipien des Empowerments in die Praxis umgesetzt
werden können wird im Folgenden dargestellt. Dies ist lediglich ein kleiner Ausschnitt der
praktischen Möglichkeiten des Empowerments. Vor allem da Prozesse individuell
gestaltet werden sollen wäre es verquer, einen festgelegten Maßnahmekatalog zu haben.
2.3.1. Elemente empowernder Sozialer Arbeit
Die im Folgenden dargestellten Elemente empowernder Sozialer Arbeit sollen
sicherstellen, dass Ressourcenorientierung und Partizipation ernst genommen und
verwirklicht werden. Solche Elemente sind beispielsweise:
Informierte Zustimmung: Innerhalb der Beziehung zwischen SozialarbeiterInnen und
KlientInnen herrscht stets eine Transparenz bezüglich ablaufender Prozesse und
Hintergrundinformationen, damit KlientInnen wirklich partizipieren können. Hierzu gehört,
dass die KlientInnen zustimmen müssen bevor ein Prozess gestartet/ ein Schritt getan
wird und dass die/ der SozialarbeiterIn sicherstellt, dass alle vermittelten Informationen
verstanden und Fragen geklärt wurden (vgl. Lenz, Stark 2002, 20f). Bei der
Informationsvermittlung ist außerdem zu beachten, dass sowohl zu wenige Informationen,
als auch zuviel Informationen zur falschen Zeit zu Verunsicherungen führen können (vgl.
Knuf 2001, 45ff).
Systemische Kontraktbildung: Hier treten SozialarbeiterInnen und KlientInnen in
einen Dialog über den Kontext des Hilfeersuchens, die Ziele des gemeinsamen
Prozesses, sowie Erwartungen, Bedürfnisse und Wünsche aller Beteiligten. Diese
Kontraktbildung kommt aus der Systemik und soll sicherstellen, dass alle Beteiligten zu
Wort kommen und dass die Bedürfnisse und Ziele der KlientInnen im Vordergrund stehen,
nicht die der SozialarbeiterInnen. Hier soll eine Grundlage für Zusammenarbeit
geschaffen werden. (vgl. Lenz u. Stark 2002, 22ff)
2.3.2. Ebenen und Werkzeuge des Empowerments
Empowerment findet auf verschiedenen Ebenen statt, die jedoch oft miteinander verknüpft
sind (vgl. Stark 2002, 61f). Herriger beschrieb zunächst drei Ebenen, die individuelle,
Gruppenebene und die institutionelle und fügte später die Gemeindeebene hinzu. Die
Methoden und Werkzeuge des Empowerments lassen sich klassischerweise diesen
Ebenen zuordnen (vgl. Herriger 2002, 83; Herriger 2000, 176). Es gibt jedoch durchaus
praktische Ansätze und Methoden, die empowernde Wirkung auf verschiedenen Ebenen
20
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
haben, bzw. Elemente unterschiedlicher Ebenen miteinander verbinden. Jede Ebene wird
hier mit je zuzuordnenden Instrumenten beschrieben. Aufgrund des begrenzten Rahmens
dieser Arbeit können die Instrumente jedoch nur kurz beschrieben werden.
Individuelle Ebene: Empowerment auf individueller Ebene findet vorwiegend
innerhalb der Sozialen Einzelfallhilfe statt. Das Ziel der Intervention ist die Konstruktion
lebbarer Zukunftsentwürfe und der Erwerb dazu nötiger Kompetenzen, sowie erschließen
von Ressourcen. Laut Mewes ist bei vielen KlientInnen zunächst die Herstellung bzw.
Sicherung eines Grundfundamentes von Lebensressourcen wichtig (vgl. Mewes 2006,
130). Auf dieser Ebene gibt es vor allem zwei Werkzeuge. Das Biografische Lernen ist der
Grundstein, das Unterstützungsmanagement baut darauf auf (vgl. Herriger 2000, 176f).
Innerhalb des Biografischen Lernens gibt es drei verschiedene Ansätze: Durch die
Erinnerungsarbeit beispielsweise, soll sich das Individuum darüber bewusst werden,
welche Kompetenzen sie/ er in der Vergangenheit erworben hat. Außerdem sollen offene
Lebensfragen beantwortet werden. Herriger geht davon aus, dass Erinnerung immer
Neuinterpretation des Erlebten ist, so dass die/ der Betroffene das Erlebte aus einem
anderen Blickwinkel betrachten kann. Teilziele der Erinnerungsarbeit sind das Entdecken
von lebensgeschichtlich verschütteten Stärken, das Herstellen von Zugehörigkeit, die
retrospektive Bearbeitung von Lebensmarkierungen und der Zugewinn von Zukunft. Der
Kompetenzdialog, ein anderer Ansatz, folgt einer viel radikaleren Zukunftsorientierung.
Das Refraiming (Suchen nach Settings des Gelingens in der Vergangenheit und
Veränderung der Selbstwahrnehmung und Sicht auf die Lebensgeschichte der
KlientInnen), ist im Vergleich zur Erinnerungsarbeit, hier nur eine von drei Prozessphasen
(vgl. Herriger 2002. 84-117).
Gruppenebene: „Empowerment ist [...] das gemeinschaftliche Produkt von Menschen also,
die ihre Kräfte bündeln [...].“ (Herriger 2000, 178f) Auf der Gruppenebene sollen Individuen
vernetzt und Selbstorganisation gefördert werden. Prozesse auf dieser Ebene können
entweder ganz aus der Gruppe selbst, oder mit sozialarbeiterischer Unterstützung
angestoßen werden. So ist es beispielsweise Aufgabe der Sozialen Arbeit, den Aufbau
und die Gestaltung von Netzwerken unterstützend zu begleiten. Netzwerkanreicherung
und -förderung sind hier wichtige Prinzipien (vgl. Herriger 2000, 178). Instrumente sind
beispielsweise Bürgerschaftliches Engagement, Unterstützung Eigeninitiierter Prozesse
der Selbstorganisation und Netzwerkarbeit im intermediären Raum. Prozesse der
Selbstorganisation entstehen meist aus einer Situation der Ohnmacht heraus und
kommen in Schwung, wenn Individuen sich zusammen tun und gemeinsam etwas an ihrer
Situation ändern wollen. Soziale Arbeit kann solche Prozesse unterstützen, wenn
Gruppen an ihre Grenzen stoßen. Die Netzwerkarbeit im intermediären Raum geht eine
Stufe weiter. Sie setzt dort ein, wo Individuen nicht über genügend Ressourcen verfügen
21
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
selbst aktiv zu werden. In solchen Situationen ist die Forderung an die Politik, die
benötigten Ressourcen zur Verfügung und die an die Soziale Arbeit, verlässliche Hilfen
bereit zu stellen. Dieses Instrument könnte auch als Förderung von Selbsthilfe bezeichnet
werden und gliedert sich in fünf Arbeitszweige: Wegweiserfunktion, Vermittlung von
Starthilfen,
Vernetzung
von
vorhandenen
Netzwerken,
Angebot
von
Weiterbildungsmöglichkeiten und Aufbau und Begleitung von Netzwerken. Die Rolle der
SozialarbeiterInnen kann hier laut Herriger als MentorIn bezeichnet werden und bringt ein
breit gefächertes Anforderungsprofil mit sich(vgl. Herriger 2002, 118-144).
Institutionelle Ebene: Auf dieser Ebene geht es vor allem um den Aufbau von
Strukturen, die Bürgerbeteiligung in Dienstleistungsbehörden zulassen und fördern, sowie
um die Entwicklung von Verfahren, die dies ermöglichen (vgl. Herriger 2000, 178). Es gibt
zwei Instrumente die besonders ausgeprägt sind: Die Förderung von Ehrenamt und die
Organisationsentwicklung als innere Reform der Sozialen Arbeit. Für gelingendes
Empowerment müssen Strukturen, Konzeptionen, Organisation und Einrichtungen
Sozialer Arbeit reformiert werden. Die Organisationsentwicklung findet auf drei Ebenen
statt: 1. Der Umbau organisatorischer Strukturen: Strukturen wie Verwaltungsdelegation,
Problemfragmentierung und selektiver Umweltbezug müssen auf ihre Wirkung hinterfragt
und gegebenenfalls reformiert werden. 2. Teamkultur und Organisationsidentität:
Mitspracherechte für Mitarbeiter und ein positives Klima im Team erleichtern
Empowerment-Prozesse.
3.
Kompetenzerweiterung
und Organisationales
Lernen:
Organisation bleiben in einem Lernprozess und einzelne MitarbeiterInnen bekommen die
Möglichkeit sich fortzubilden (vgl. Herriger 2002, 145-166).
Gemeindeebene: Innerhalb der Gemeinde soll ein Klima geschaffen werden das
Selbstorganisation fördert. Außerdem soll die Lebensqualität der Bürger verbessert
werden. (vgl. Herriger 2000, 179)
2.3.3. Der Empowerment Prozess
Empowerment ist ein dynamischer Prozess und vollzieht sich in folgenden Phasen, die
jedoch nicht immer strikt nacheinander ablaufen:
Mobilisierung: Menschen beginnen ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten zu erkunden
und nehmen wahr, dass sie etwas an ihrer Situation verändern können und ihr nicht völlig
machtlos ausgeliefert sind. Ein „Umdenken“ ist hier zentral. Individuen und Gruppen
beginnen in dieser Phase aktiv zu werden.
Engagement und Förderung: Erste spontane Aktivität entwickelt sich zu stabilem
Engagement. In dieser Phase sind MentorInnen wichtig, die ermutigten, unterstützen und
verborgene Fähigkeiten identifizieren.
Integration und Routine: Menschen sind „soziopolitisch erwachsen geworden“. Sie
22
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
müssen außerdem lernen mit ihrer neuen Rolle umzugehen.
Überzeugung und brennende Geduld: Sicherheit im Umgang mit partizipatorischen
Kompetenzen hat sich eingestellt. Individuen sind überzeugt, dass Veränderung, auch
wenn dazu Geduld nötig ist, möglich ist. Diese Phase ist jedoch nicht unbedingt mit dem
Erreichen des (politischen) Ziels verbunden. (vgl. Galuske 2007, 264; Stark 2002, 55-61)
2.3.4. Stolpersteine
„Stolpersteine für die Alltagspraxis der Sozialen Arbeit“ beschreibt Herriger auf drei
Ebenen:
Intrapersonale Widerstände: Empowerment bringt, eine veränderte Rolle der
Sozialen Arbeit und Hilfeprozesse mit sich. So wird beispielsweise Erfolg anders definiert
und Prozesse brauchen länger und sind oft mit Rückschritten verbunden. Dies erfordert
viel Geduld von SozialarbeiterInnen. Weiterhin werden Machtverhältnisse radikal
verändert, was anfangs sehr schwierig für SozialarbeiterInnen sein kann (vgl. Herriger
2002, 193ff). Dass das Ziel sozialarbeiterischen Handelns ist, sich überflüssig zu machen,
ist oft nicht einfach für SozialarbeiterInnen (vgl. Herriger 2002, 144). Sie haben deshalb
die Aufgabe, ihr eigenes Verhalten und Denken stets kritisch zu hinterfragen.
Beziehungswiderstände
(zwischen
KlientIn
und
SozialarbeiterIn):
Eines
der
wichtigsten Prinzipien des Empowerment-Konzeptes ist die Orientierung an den
Wünschen und Zielen der/ des KlientIn. Anfangs überfordert dies KlientInnen jedoch
häufig, vor allem wenn sie bereits eine lange „Hilfekarriere“ hinter sich haben. Sie
reagieren oft abwehrend und lassen sich nur schwer auf die veränderte Arbeitsweise ein.
Soziale Arbeit muss außerdem dem Eigenwillen der KlientInnen dort Grenzen setzen, wo
SozialarbeiterInnen an ihre psychischen Grenzen kommen, bzw. wo KlientInnen sich
selbst oder andere gefährden oder verletzen (vgl. Herriger 2002, 198ff).
Institutionelle
Widerstände:
Partizipation
ist
eine
wichtige
Strategie
des
Empowerments. KlientIn und SozialarbeiterIn sollen gleichberechtigte Partner sein.
Trotzdem stehen SozialarbeiterInnen mit dem ihnen auferlegten doppelten Mandat immer
im Zwiespalt zwischen Hilfe und Kontrolle. Dies erzeugt schon fast von Natur aus
Asymmetrie (vgl. Quindel 2002, 129ff). Dieses strukturell angelegte Konfliktpotential
schränkt den Handlungsspielraum sozialarbeiterischen Agierens ein. Eine weitere
Schwierigkeit ist der strukturell verankerte Defizitblickwinkel. Um Finanzierung zu
bekommen bzw. Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen zu können, müssen
bestimmte
„Problemkategorien“
erfüllt
sein.
Somit
fängt
die
sozialarbeiterische
Unterstützung oft mit der Analyse der Problemlage und Schwächen an. Auch hohe
Fallzahlen und der SozialarbeiterInnen somit auferlegter Zwang zur Sparsamkeit sind
Hindernisse für zeitintensive empowernde Ansätze (vgl. Herriger 2002, 201ff).
23
Teil A
2.4.
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
Kritik am Empowerment-Konzept
Die hauptsächliche wissenschaftliche Kritik an das Empowerment-Konzept ist, dass reale
Leidenserfahrungen sowohl vom
Konzept, als
auch von der Philosophie der
Menschenstärken, die diesem zugrunde liegt, nicht anerkannt werden. Herriger selbst hat
Kritikpunkte an dieser Philosophie und sieht die Kritik auf der einen Seite als berechtigt.
Auf der anderen Seite meint er, dass Leidenserfahrungen nicht verleugnet, sondern aus
einem anderen Blickwinkel betrachtet werden. So geht er davon aus, dass auch
Leidenserfahrungen wichtige Lernprozesse anstoßen und bewirken können und dass
Stärken und Kompetenzen aus diesen Erfahrungen gewonnen werden können. (vgl.
Sambale 2005, 56f)
3. Fazit und eigene Einschätzung
3.1.
Warum ist Empowerment wichtig?
Gebraucht wird ein Konzept der Sozialen Arbeit meiner Meinung nach dann, wenn es auf
die vorhandenen Problem- und Bedürfnislagen reagiert. Wirft man einen Blick auf die
geschilderte Ausgangslage und die Kontextfaktoren der Sozialen Arbeit und der aktuellen
gesellschaftlichen Situation wird ersichtlich, dass Empowerment auf diese reagiert.
Zunächst wurde die Diskrepanz zwischen der Theorie, Ethik und Praxis der Sozialen
Arbeit festgestellt. Vor allem der Punkt, dass Individuen gefördert werden sollen, ihr
Leben eigenverantwortlich zu führen, wird wenig in die Praxis umgesetzt. Empowerment
hat hier eine besondere Stärke, da dies seine Zielsetzung ist. In Kap. 2.1.1.3 fasste ich
zusammen, dass Menschenrechte, die menschliche Würde und soziale Gerechtigkeit
wichtige Werte und damit ethische Grundlage der Sozialen Arbeit sind und dass per
Definition eine Aufgabe sozialarbeiterischen Handelns ist, sich für diese Werte
einzusetzen und Menschen dazu befähigt werden sollen, „in freier Entscheidung ihr Leben
besser zu gestalten“ (IFSW, IASSW 2004b, 2). Vergleicht man dies mit den Werten des
Empowerment-Konzeptes (siehe Kap. 2.2.3), wie beispielsweise Soziale Gerechtigkeit,
Partizipation und Ressourcenorientierung, ist eine große Übereinstimmung festzustellen.
Somit ist Empowerment ethisch gesehen ein passendes Konzept für die Soziale Arbeit.
Betrachtet man speziell die theoretischen Überlegungen der Sozialen Arbeit als
Menschenrechtsprofession
Staub-Bernasconis
näher,
wird
ersichtlich,
dass
Empowerment ein Konzept ist, was diese Werte konsequent umsetzt.
Zum Zweiten habe ich die Folgen der gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse der
Individualisierung und Pluralisierung aufgezeigt. Menschen die mehr unter den Risiken
dieser Entwicklungen leiden als die Chancen wahrnehmen zu können, sind zunehmend
verunsichert und haben Schwierigkeiten, ihr Leben selbstbestimmt und frei zu führen. Die
24
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
drei genannten Kompetenzen, die Individuen für diese neue Art der Lebensführung
brauchen sind: In den multiplen Anforderungen einen Kohärenzsinn herstellen zu können,
erfolgreich ein unterstützendes soziales Netzwerk aufzubauen und sich solidarisch mit
anderen zu verbünden. Empowerment fördert Individuen in genau diesen drei Bereichen,
indem das Individuum wertgeschätzt und unterstützt wird, seinen einen Lebensentwurf zu
gestalten, soziale Netzwerke auf- und ausgebaut werden sollen und auch die solidarische
Verknüpfung von Menschen mit dem Ziel der Selbstorganisation eine große Rolle spielt.
Schließlich ist die erlernte Hilflosigkeit eine Ausgangslage des Empowerment Konzepts.
Hierauf reagiert „empowernde“ Soziale Arbeit, indem sie Menschen in ihren Stärken
fördert und dort gemeinsam mit ihnen versucht Kompetenzen zu entwickeln und
Ressourcen zu erschließen, wo Defizite liegen. Die Zielsetzung des Psychologischen
Empowerments ist es unter anderem, Erwartungen der Unkontrollierbarkeit aufzuheben
und Lösungsansätze zu finden.
Außerdem wirft Empowerment meiner Meinung nach einen selbstkritischen Blick auf die
Praxis Sozialer Arbeit, der dringend nötig ist. Neben dem Anbringen von Kritik bietet das
Konzept Handlungsvorschläge und zeigt, wie die Ideen in die Tat umgesetzt werden
könnten. Bei einem Blick auf die Ausgangslage der erlernten Hilflosigkeit, kam bei mir
zunächst der Gedanke auf, dass auch das Empowerment-Konzept an Defiziten ansetzt.
Doch Sieht man es in Verbindung mit dem Konzept der Menschenstärken, so wird
deutlich dass unter einem empowernden Blickwinkel Individuen auch in solchen
Umständen über (verschüttete) Stärken und Ressourcen verfügen. Das Konzept erkennt
somit die schwierigen Lebensumstände der AdressatInnen an und sucht Auswege aus
diesen Umständen, indem es Schutzfaktoren aufbaut und an den Stärken der
AdressatInnen ansetzt. Hierin liegt ein klarer Unterschied zu traditioneller Sozialer Arbeit.
Es
wird deutlich,
dass
das
Empowerment-Konzept
durchaus
auf
gegebene
Bedürfnislagen reagiert. Das Konzept ist meines Erachtens sehr befruchtend für die
Soziale Arbeit und schlägt den Perspektivenwechsel der Sozialen Arbeit vor, der schon
lange nötig ist. Auch in der Definition Sozialer Arbeit steht, dass die Soziale Arbeit
Menschen dazu befähigen soll, ihr Leben in freier Entscheidung besser zu gestalten.
Empowerment wird sozusagen in der Definition gefordert.
3.2.
Perspektive: Empowerment als Haltung in der Sozialen Arbeit
Trotz vieler guter Aspekte des Konzeptes sehe ich auch Defizite. Ähnlich wie andere
AutorInnen, die das Empowerment-Konzept dahingehend kritisieren, dass es wirkliche
Leidenserfahrungen ausblendet kritisiere ich, dass es nicht angemessen auf die
Bedürfnislage der Menschen reagiert, die (momentan) zu „schwach“ sind, um selbst aktiv
zu werden (bzw. dies in der Literatur nicht als Option erwähnt wird). Ich denke, dass mit
25
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
diesen Menschen trotzdem unter einer „empowernden Haltung“ gearbeitet werden sollte
und Empowerment ein langfristiges Ziel ist, dass aber auch Zeiten der Schwäche ihren
Platz haben sollten. Mein Vorschlag an dieser Stelle ist nicht, das Empowerment-Konzept
auszuweiten und an diese Bedürfnislagen anzupassen, sondern dass SozialarbeiterInnen
dort wo sie tätig sind, unter einer „Empowerment-Haltung“ arbeiten und ihren
Handlungsspielraum auf Empowerment-Möglichkeiten untersuchen. Denn davon dass
jeder Mensch Stärken, Kompetenzen und Ressourcen hat, bin ich überzeugt. Wo
Empowerment scheinbar nicht möglich ist, ist es meines Erachtens nach Aufgabe der
Sozialen Arbeit die Ausgangslage bzw. Bedingungen dahingehend zu verändern, dass
Empowerment möglich wird. Anders formuliert muss Empowerment hier auf einer anderen
Stufe ansetzen.
Ein weiterer Kritikpunkt, der stark mit dem eben genannten zusammenhängt, ist die
fehlende Wahrnehmung der anwaltschaftlichen Funktion Sozialer Arbeit. Es gibt zu viel
soziale Ungerechtigkeit auf dieser Welt, als dass Soziale Arbeit einfach darüber hinweg
sehen könnte. Und auch diese Funktion Sozialer Arbeit ist bereits in der Definition des
IFSW festgelegt, indem definiert wird, dass Soziale Arbeit als Beruf den sozialen Wandel
fördert (vgl. IFSW, IASSW 2004b, 1). In vielen Fällen erachte ich es für nötig, dass
SozialarbeiterInnen den ersten Schritt machen und sich, als Angehörige der
Menschenrechtsprofession, für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit einsetzten
(auch dies wird in der Definition Sozialer Arbeit festgelegt). Wenn einmal ein Anfang
vorhanden ist, fällt es Individuen und Gruppen oft leichter aktiv zu werden, da sie neuen
Mut schöpfen können. Soziale Gerechtigkeit wird zwar als wichtiger Wert des
Empowerment-Konzeptes bezeichnet, findet aber in den weiteren Ausführungen meiner
Ansicht nach nicht genügend Beachtung.
3.3.
Zusammenfassung: Kriterien für eine „empowernde“ Soziale Arbeit
Ich möchte nun der Übersichtlichkeit halber kurz zusammenfassen, was die wichtigsten
Kriterien des Empowerments in der Sozialen Arbeit sind:
• Ziele des Empowerments sind Selbstbemächtigung, die Beendigung einer Mangelbzw. Benachteiligungssituation oder gesellschaftlicher Ausgrenzung, dass Menschen
die in benannten Situationen leben aktiv werden und erkennen dass sie den Faktoren
ihrer Lebenslage nicht machtlos ausgeliefert sind, sondern diese beeinflussen und
ändern können, dies auch umsetzen, sowie dass in diesem Prozess Ressourcen
erschlossen und Kompetenzen zu einer Selbstbestimmten Lebensführung erworben
werden.
• Werte der sozialen Gerechtigkeit, Partizipation, Ressourcenorientierung und –
aktivierung werden angestrebt und umgesetzt.
26
Teil A
Empowerment – Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit
• Veränderter Blickwinkel und Haltung der Sozialen Arbeit bedeutet theoretisch,
dass der Prozess eine Koproduktion ist und die KlientInnen ExpertInnen sind und
über
Entscheidungsmacht
innerhalb
des
Unterstützungsprozesses
verfügen.
AdressatInnen werden von den handelnden SozialarbeiterInnen nicht vor allem in
ihren Defiziten und ihrer Hilfsbedürftigkeit gesehen, sondern in ihren Ressourcen und
Stärken als gleichberechtigte Partner. In der praktischen Umsetzung bedeutet dies,
dass
die
Ziele
und Wünsche,
sowie Wege
und Tempi
der
KlientInnen
richtungweisend sind und sie aktiv beteiligt werden bzw. Hauptakteure sind und
Soziale Arbeit oft nur als Unterstützung oder Begleitung agiert. Dies bringt eine
veränderte Rolle und ein verändertes Selbstverständnis der Sozialen Arbeit mit sich.
• Die benannten Werte sind keine Leerformeln sondern werden konsequent in die
Praxis umgesetzt. Dies bedeutet beispielsweise konkret, dass Ressourcen
erschlossen und Kompetenzen beispielsweise durch Netzwerkarbeit erworben
werden, Selbstorganisation gefördert und Einfluss auf politische und kommunale
Strukturen genommen wird.
• Nach meinen weiteren Überlegungen zu Empowerment aus dem letzten Kapitel muss
ein weiterer Punkt hinzugefügt werden: Dort wo Empowerment Prozesse scheinbar
nicht möglich sind sollen die fehlenden Grundlagen hierfür geschaffen werden (z.B.
Veränderung von Strukturen, politischen Einsatz). Dies bedeutet dass manchmal eine
anwaltschaftliche Rolle eingenommen werden muss und sich SozialarbeiterInnen
konkret für die Rechte ihrer KlientInnen und die Menschenrechte aller einsetzen.
Folgendes Zitat drückt meiner Meinung nach aus, was Empowerment im Kern ist:
„Das Empowerment-Konzept richtet den Blick auf die Selbstgestaltungskräfte der
Adressaten sozialer Arbeit und auf die Ressourcen, die sie produktiv zur Veränderung von
belastenden
Lebensumständen
einzusetzen
vermögen.
Empowerment
ist
so
programmatisches Kürzel für eine veränderte helfende Praxis, deren Ziel es ist, der
Menschen zur Entdeckung ihrer eigenen (vielfach verschütteten) Stärken zu ermutigen, ihre
Fähigkeiten zur Selbstbestimmung und Selbstveränderung zu stärken und sie bei der Suche
nach Lebensräumen und Lebenszukünften zu unterstützen, die einen Zugewinn von
Autonomie, sozialer Teilhabe und eigenbestimmter Lebensregie versprechen“ (Herriger
2002, 7)
Meiner Ansicht nach kann Empowerment als Grundhaltung mit seinen Prinzipien und
Anregungen für die Soziale Arbeit der Anfang einer Reform der bisherigen Praxis sein und
die Perspektive eines veränderten Selbstverständnisses der Sozialen Arbeit aufzeigen,
das den theoretischen und ethischen Grundlagen Sozialer Arbeit entspricht – ein (nötiger)
Perspektivenwechsel in der Sozialen Arbeit.
27
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
TEIL B
Soziale Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
„Sicherlich gibt es in der Sozialen Arbeit „leichtere“ Arbeitsfelder, aber nur wenige die
wichtiger sind. Denn Arbeit mit Flüchtlingen ist immer auch ein extremer Kampf mit
beschränkenden Rahmenbedingungen, mit entwürdigenden Gesetzen, behördlicher Willkür
und täglich erlebter Hilflosigkeit. Sie erfordert daher viel Kraft, Mut und Bereitschaft politisch
zu denken und zu handeln. Wer sich darauf einlässt, wird einen unermesslichen Reichtum
an Erfahrungsschätzen gewinnen, wird viel über fremde Kulturen, Denkweisen und
Verhaltensmuster lernen und damit zugleich über sich selbst im Spiegel des Gegenübers.“
(Fritz, Groner 2004,VI)
Die Arbeit mit Flüchtlingen ist kein Handlungsfeld, welchem in der Theorie und Praxis
Sozialer Arbeit bisher viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Bereiche wie Behinderten-,
Alten- und Jugendhilfe sind im Vergleich klassischere Tätigkeitsfelder. Laut Bernhard Zepf
ist die Soziale Arbeit mit Flüchtlingen einerseits ein „normales Handlungsfeld“ Sozialer
Arbeit, da der Gegenstand allgemein formuliert die Bearbeitung von sozialen Problemen
darstellt. Andererseits ist Flüchtlingssozialarbeit laut Zepf jedoch ein Bereich, der mit
seinen
spezifischen
Anforderungen
und
Rahmenbedingungen
außerhalb
des
Kernbereichs sozialarbeiterischen Handelns liegt (vgl. Zepf 1999, 104). In diesem Teil der
Arbeit wird ein Überblick über die Soziale Arbeit mit Flüchtlingen gegeben. Da Soziale
Arbeit an der Lebenslage ihrer KlientInnen ansetzen soll, wird zunächst die Lebenslage
von
Flüchtlingen
beschrieben.
Hierzu
werden
asylrechtliche
und
–politische
Rahmenbedingungen dargestellt und auf deren Auswirkung auf die Lebenslage von
Flüchtlingen in Deutschland eingegangen, die zunächst deskriptiv beschrieben und
anschließend bewertet werden soll. Anschließend wird ein Überblick über das
„Handlungsfeld Flüchtlinge“ der Sozialen Arbeit gegeben, unterteilt in Flüchtlinge als
NutzerInnen von Mainstream-Angeboten der Sozialen Arbeit und der spezifischen
Flüchtlingssozialarbeit.
28
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
4. Lebenslage von Flüchtlingen in Deutschland
Der Begriff der Lebenslage stammt ursprünglich aus der Soziologie und wurde zur
Erforschung sozialer Ungleichheit und Armut eingesetzt. Lebenslage ist im Kern ein
multidimensionales Konstrukt, mit dessen Hilfe verschiedene Lebensbereiche, Bedingungen und prinzipielle Handlungsspielräume eines Individuums oder einer Gruppe
dargestellt
werden
können.
Das
Lebenslagenkonzept
bezieht
sich
neben
der
Berufsposition und dem –Einkommen auch beispielsweise auf die Bildungs- und
Wohnsituation von Menschen. Eine vollständige Auflistung der Dimensionen der
Lebenslage gibt es nicht (vgl. Fuchs-Heinritz u.a. 2007, 387; Voges u.a. 2003, 25-61).
Wendt fasst Lebenslage folgendermaßen zusammen:
„... Offenkundig meint die (Lebens-)Lage eine Berücksichtigung aller Umstände, unter denen
sich die Person befindet, auf mehreren Ebenen der Betrachtung in Relation zu und mit
Rücksicht auf die Fähigkeiten, mit den Verhältnissen zurecht zu kommen und auf die
Absicht, die man nach seinem Lebensentwurf verfolgt.“ (Hey 2000, 412)
Neben Risiken und Schieflagen innerhalb der Lebensumstände von Individuen und
Gruppen, sucht das Lebenslagenkonzept vor allem nach Fähigkeiten, Ressourcen und
Handlungsspielräumen (vgl. Voges u.a. 43). Die Lebensumstände von Flüchtlingen, im
Kontext des Empowerment-Gedankens der sich durch diese Arbeit zieht, mit Hilfe des
Konstruktes der Lebenslage darzustellen, erweist sich somit als sinnvoll. Die Lebenslage
soll zunächst in die für Flüchtlinge vorherrschenden rechtlichen und politischen
Rahmenbedingungen eingebettet und beschrieben, sowie anschließend bewertet werden.
4.1.
Politische und rechtliche Rahmenbedingungen
Im Folgenden werden die Asylpolitik und das Asylrecht auf internationaler und nationaler
Ebene vorgestellt. Bei diesen Ausführungen besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit. Es
soll lediglich ein Einblick in die in diesem Bereicht wichtigsten Regelungen gegeben
werden. Sowohl politische, als auch rechtliche Rahmenbedingungen haben einen
erheblichen Einfluss auf die Lebenslage von Flüchtlingen.6
4.1.1. Asylpolitik und Asylrecht auf internationaler Ebene
Asyl bedeutet im eigentlichen Sinne Freistätte oder Zufluchtsort (vgl. Wahrig-Burfeind
2004, 89). Asyl soll Menschen Schutz bieten, die ohne diesen ihre Lebensaufgaben nicht
mehr bewältigen könnten, da die unter Bedrohung oder Verfolgung leiden (vgl. Pschibul
2006, 6). Wenn über Asyl gesprochen wird, ist jedoch meist politisches Asyl gemeint.
6
Zur Vertiefung: Es gibt einige Werke, die einen guten Überblick über die für Flüchtlinge in
Deutschland relevanten rechtlichen Regelungen geben. Hiervon sind einige ins
Literaturverzeichnis aufgenommen, wie beispielsweise Marx 2005, Hailbronner 2006, Walhalla
Fachverlag 2007, sowie Heinhold 2007b.
29
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
Politisches Asyl bietet Schutz für Personen, die wegen ihrer politischen Überzeugung,
Zugehörigkeit zu einer Rasse, Nationalität, Geschlecht, oder Religion verfolgt werden.
Von ihnen kann z.B. in Deutschland das so genannte politische Asyl beantragen werden,
das in Art.16aGG als Grundrecht geregelt ist. In der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte der UNO vom 10.12.1948 ist Asyl zudem in Art.14Abs.1 als ein
Menschenrecht festgelegt (vgl. Müller 1990, 29). Eine weitere internationale Regelung, die
im Bereich des Asyls wichtig wird, ist die Europäische Menschenrechtskonvention
(EMRK), die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (vgl. von
Loeper 1995, 02.000.001). An dieser Auswahl der rechtlichen Grundlagen wird bereits
deutlich, dass es beim Thema Flüchtlinge auch um das Thema Menschenrechte geht.
Weil ihnen diese in ihrem Herkunftsland aus verschiedenen Gründen nicht gewährt
wurden, suchen sie Asyl in einem anderen Land, um sie dort in Anspruch nehmen zu
können und Schutz zu finden.
Weiterhin zentral ist die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), das internationale
Übereinkommen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen vom 28.7.1951. Sie regelt nicht
das Recht auf Asyl, sondern das Recht im Asyl (vgl. Nuscheler 1995, 71). Sie regelt
erstmals die Rechtsstellung von Flüchtlingen und definiert, wer ein Flüchtling ist. Der
Flüchtlingsbegriff, der zunächst eine Sammelkategorie ist (Sie umfasst als solche alle in
Kapitel 1.1.2 beschriebenen Statusgruppen), die eine Gruppe von Menschen meint,
welche vor allem ein Aspekt verbindet - sie verließen ihre Heimat aus einer Notlage
heraus, die sie subjektiv als Bedrohung für ihr Leben empfanden – wird durch die GFK
spezifiziert und eingegrenzt und gilt rechtlich gesehen nicht als Sammelbegriff, sondern
ausschließlich für Personen, welche die Kriterien dieser Definition erfüllen7.
Als Flüchtling gelten laut der GFK Personen, die „aus der begründeten Angst vor Verfolgung
wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen
Gruppe oder wegen ihren politischen Überzeugungen sich außerhalb des Landes befindet,
dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch
nehmen will; oder die sich als staatenlos infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes
befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte und nicht dorthin zurückkehren
kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.“ (UNHCR
1951, Kap.1 Art. 1A).
Diese Definition stellt die rechtliche Grundlage der Hilfegewährung des UNHCR dar. Der
UNHCR wurde 1951 für den Rechtsschutz von Flüchtlingen und zur Lösung der
Flüchtlingsproblematik von der UNO eingesetzt (vgl. von Loeper 1995, L.009.001). Nur
7
In dieser Arbeit wird der Begriff nicht nach seiner rechtlichen Definition, sondern als
Sammelkategorie verwendet. Diese Verwendungsweise vereinfacht es über Aspekte zu schreiben,
die alle Statusgruppen betreffen. Wird also in dieser Arbeit von Flüchtlingen gesprochen, meint
dies keine der in diesem Kapitel beschriebenen spezifischen Gruppen.
30
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
Individuen, welche die Kriterien der Definition der GFK erfüllen, kommen in den Genuss
der Hilfemaßnahmen des UNHCR, dessen festgelegten Mindestleistungen für Flüchtlinge
in den Vertragsstaaten und den Rechtschutz der GFK. Kritik an den Grenzen der GFK
hegt zum Beispiel Müller. Er benennt vier Gruppen, die von dem Schutz der GFK
ausgeschlossen werden, da sie die Kriterien nicht erfüllen, doch eigentlich einbezogen
werden sollten: Binnenflüchtlinge, Opfer militärischer Auseinandersetzungen, sowie
Armuts- und Umweltflüchtlinge. Das Kriterium der „begründeten Angst vor Verfolgung“
sieht er zudem als kaum objektivierbar (vgl. Müller 1990, 29).
Drei weitere Abkommen sind auf europäischer Ebene (EU, Norwegen und Schweiz)
zentral.
Zunächst gibt es
das
Schengener
Abkommen,
das
die
verringerte
Grenzkontrolle zwischen der EU-Mitgliedsstaaten, jedoch eine verstärkte gemeinsame
Kontrolle an den EU-Außengrenzen regelt. Im Dublin II Übereinkommen wird festgelegt,
in welchem Mitgliedsstaat eine Person, die Asyl sucht, dieses zu beantragen hat (vgl. Pro
Asyl 2008b). Dies kann nämlich seit diesem Übereinkommen nicht mehr frei gewählt
werden. Asyl ist in dem Mitgliedsstaat zu beantragen, den die Person auf ihrer Flucht
zuerst betrat (vgl. Pro Asyl 2006, 4f). Das Schengener Abkommen ist also ein
außenpolitisches, das Dublin II Abkommen ein innenpolitisches Instrument der EUAsylpolitik. Zusätzlich zu Dublin II gibt es innerpolitisch die Eurodac Verordnung. Sie
ermöglicht
einen
europaweiten
Fingerabdruckabgleich
von
„Menschen
ohne
Aufenthaltsrecht“ über 14 Jahre. Dieses System ist seit 2003 im Einsatz und hat zum Ziel
die Zuständigkeit für Flüchtlinge innerhalb der EU noch besser zu regeln (vgl. Pro Asyl
2008b). Diese drei Verordnungen haben stark zur Senkung der Flüchtlingszahlen in der
EU beigetragen. Dies liegt jedoch nicht daran, dass weltweit weniger Menschen fliehen,
sondern
ist
vielmehr
auf
die
verstärkte
Kontrolle
an
den
EU-Außengrenzen
zurückzuführen (vgl. Pro Asyl 2008a, 22ff). So nehmen beispielsweise Flüchtlingszahlen
in Schwellen- und Entwicklungsländern wie Pakistan, Tansania und Syrien zu (Syrien
nahm allein im Jahr 2006 500.000 iranische Flüchtlinge auf), wohingegen im Jahr 2007 in
den 27 Mitgliedsstaaten der EU insgesamt 223.000 Asylanträge gestellt wurden (vgl. Pro
Asyl, Medico International 2008, 4). Innerhalb der EU sanken die Asylantragszahlen in
den meisten Ländern, lediglich in Ländern an den EU-Außengrenzen, wie z.B. Italien,
Malta und Ungarn stiegen sie durch Dublin II in den letzten Jahren (vgl. BAMF 2008b, 8).
31
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
4.1.2. Politische und rechtliche Rahmenbedingungen in Deutschland
In Deutschland wird die aufenthaltsrechtliche Situation von verschiedenen Gesetzen
geregelt. Als besonders wichtig sind folgende zu nennen: Das Grundgesetz, regelt in
Art.16a das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte8 (vgl. BAMF 2008a,1), das
Aufenthaltsgesetz, das Asylverfahrensgesetz und das Asylbewerberleistungsgesetz
(vgl. Walhalla Fachverlag 2007, 12-13). Es gibt fortlaufend Gesetzesänderungen in
diesem Bereich. Dies liegt zum Teil daran, dass Rechtssprechung und Politik immer auf
gegebene Umstände reagieren. Im Bereich des Asyls sind sie beispielsweise immer
abhängig von den aktuellen Flüchtlingszahlen. So führte die stetige Zunahme der Zahl der
Asylanträge in den 90er Jahren zu einer Reform des Asylrechts in Deutschland. In diesem
Zug wurde das AsylbLG verabschiedet, das die Sozialleistungen für Asylsuchende vor
allem über die Vergabe von Sachmitteln wie z.B. Essenspakete regelt (vgl. Heinhold
2007a, 2). Die letzte große Gesetzesänderung in diesem Bereich fand 2005 statt. Hier
wurde das AufenthG erlassen und löste das bis dato gültige Ausländergesetz ab. Dies
hatte vielseitige Auswirkungen auf die Lebenslage von Flüchtlingen in Deutschland (vgl.
Zepf 1999, 107; Pschibul 2006, 12-26). Im Folgenden wird das Asylverfahren in
Deutschland dargestellt. In diesem Rahmen werden die verschiedenen Status, die
Flüchtlinge in Deutschland haben können, genannt und kurz erläutert. Es werden vor
allem rechtliche, aber auch einige oft verwendete, nicht rechtliche Begriffe berücksichtigt.
In dieser Arbeit sollen alle Begriffe nach ihrer Definition verwendet werden. Ausnahmen
werden an betreffenden Stellen kenntlich gemacht.
Zweck des Asylverfahrens ist zu prüfen, ob entweder die Kriterien des Art.16aGG (Recht
auf politisches Asyl) oder die Kriterien für das kleine Asyl nach §60Abs.1AufenthG und
damit die Kriterien der GFK-Flüchtlingsdefinition erfüllt werden (vgl. Nuscheler 1995, 72).
Meldet sich eine Person innerhalb des deutschen Bundesgebietes bei einer Behörde als
asylsuchend, wird er/ sie zunächst nach dem Erstverteilungssystem EASY der
zuständigen Erstaufnahmeeinrichtung zugewiesen (vgl. Weiß 2007, 31). Während
Asylsuchende dort untergebracht sind, beantragen sie Asyl bei der zuständigen
Außenstelle des BAMF. Kurze Zeit später findet eine Anhörung statt, in der von dem/ der
AntragsstellerIn die Verfolgungsgründe und –Erfahrungen vollständig dargestellt werden
müssen. Falls möglich sollten getroffene Aussagen mit Beweismaterial untermauert
werden. Hier muss der Flüchtling seine subjektive, begründete Furcht vor Verfolgung
darstellen (vgl. Nuscheler 1995, 72). Vielen Flüchtlingen ist die Wichtigkeit dieser
Anhörung nicht bewusst. Oft stellen sie aus diesem Grund, sowie weil sie Angst vor
deutschen Behörden haben und ihnen nahe stehende Personen, die noch im Heimatland
8
An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass das Thema Grund- und Menschenrechte für
Flüchtlinge zentral ist.
32
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
leben, schützen wollen, nicht alle Tatsachen und Gründe ihrer Flucht vollständig dar (vgl.
Brand, Weidenhammer 1995, S.10.009.001). Nach der Antragsstellung erhalten
Asylsuchende eine Aufenthaltsgestattung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung über ihren
Antrag. Nach der Prüfung der von dem/ der AntragsstellerIn gemachten Angaben und
eventueller weiterer Überprüfung der im Herkunftsland herrschenden Bedingungen, wird
vom BAMF eine Entscheidung getroffen, die dem/ der Asylsuchenden schriftlich mitgeteilt
wird
(vgl.
BAMF
festgeschriebenen
2008a,
1).
Zeitrahmen
Während
gibt)
der
wird
Prüfungszeit
der/
die
(für
die
Asylsuchende
es
in
keinen
einer
Gemeinschaftsunterkunft für Asylsuchende untergebracht (vgl. Lillig, Strasser 2004, 126).
Nach der Entscheidung verändert sich der rechtliche Status der Asylsuchenden Person.
Im Folgenden werden die verschiedenen Status und ihre rechtliche Bedeutung
dargestellt.
Status vor der Entscheidung des BAMF: „AsylbewerberInnen“ sind Personen, die beim
BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) einen Antrag auf Asyl nach Art.16a GG
gestellt haben. Dies ist somit der Status, den eine Asyl suchende Person vom Zeitpunkt
der Antragsstellung bis zur Entscheidung innehat (vgl. BAMF 2008, 1). Mit diesem
rechtlichen Status sind gesetzliche Restriktionen verbunden, die im Rahmen der
Lebenslagenschilderung in Kap.4.2.1 näher erläutert werden. Der Begriff „Asylsuchende/r“
wird vor allem in de Schweiz als Synonym bzw. ersatzweise für Asylbewerber gebraucht.
Da Asylsuchende/r meiner Meinung nach positiver klingt, verwende ich diesen anstelle
von Asylbewerber.
Status nach einer „positiven“ Entscheidung des BAMF: Eine „positive“ Entscheidung
kann entweder die Gewährung des politischen oder des kleinen Asyls bedeuten.
„Asylberechtigte“ sind Personen, denen vom BAMF nach Art.16aGG politisches Asyl
gewährt wird (vgl. Mestrovic 2003, 6f; Diakonisches Werk der EKD 1996, 15f).
Asylberechtigte erhalten eine Aufenthaltserlaubnis nach §25Abs.1AufenthG, sowie eine
Arbeitserlaubnis und unterliegen weniger Restriktionen als bislang (siehe Kap.4.2.2).
Unter der Bezeichnung „GFK-Flüchtling“ werden Personen verstanden, die zwar kein
politisches Asyl nach Art.16aGG erhalten, jedoch im Rahmen des so genannten „kleinen
Asyls“ die Kriterien des §60Abs.1AufenthG erfüllen (vgl. von Loeper 1995, L.006.001) und
somit nach §25Abs.1AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Sie sind rechtlich
Asylberechtigten gleichgestellt. Das wichtigste Kriterium, welches das politische Asyl von
dem kleinen Asyl unterscheidet, ist die staatliche bzw. nicht staatliche Verfolgung.
Politisches Asyl wird nur bei Verfolgung direkt von Herkunftsstaat, oder von diesem
unterstützt, gewährt (vgl. BAMF 2005, 4ff). Die erhaltene Aufenthaltserlaubnis gilt für 3
Jahre. Nach Ablauf der Frist werden Widerrufs- und Rücknahmevoraussetzungen des
33
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
Asyls nach §73Abs.2aAsylVG geprüft. Sind die Gründe, die eine Asylgewährung
legitimierten nicht mehr gegeben, wird das Asyl widerrufen. Sind die Gründe nach wie vor
gegeben, erhalten Flüchtlinge eine unbefristete Niederlassungserlaubnis. Das BAMF hat
auch nach Ablauf dieser 3 Jahre jederzeit das Recht, den Sachverhalt neu zu überprüfen
und eine Widerrufung auszusprechen (vgl. BAMF 2005, 16).
Status nach „negativer“ Entscheidung des BAMF: Entscheidet das BAMF, dass weder
die Kriterien des Art.16aGG, noch die Kriterien des §60Abs.1AufenthG erfüllt werden, wird
der Antrag auf Asyl entweder als unbegründet oder als offensichtlich unbegründet
abgelehnt9. Bei einer solchen Entscheidung wird anschließend zusätzlich geprüft, ob der/
die AntragsstellerIn abgeschoben werden kann oder nicht. Aus bestimmten humanitären
oder politischen Gründen (vgl. Blahusch 1992, 150), kann den Flüchtlingen ein
Abschiebungsverbot nach §60Abs.2-7AufenthG gewährt werden10. Personen mit einer
solchen Entscheidung werden als „De-facto-Flüchtlinge“ bezeichnet. In Behörden lautet
die gängige Bezeichnung „ausreisepflichtige Ausländer“ (vgl. Lillig, Strasser 2004, 125).
Sie erhalten eine Duldung für jeweils 3-6 Monate (vgl. von Loeper 1995, L.004.001). Alle
3-6 Monate wird neu entschieden, ob weiterhin Bedingungen bestehen, die ein
Abschiebeverbot legitimieren. Viele Flüchtlinge leben jahrelang mit diesem Status in
Deutschland. Liegen die humanitären bzw. politischen Gründe zum Zeitpunkt einer
Prüfung nicht mehr vor, wird eine Abschiebeandrohung ins Heimatland mit einer
einwöchigen Frist (bei offensichtlich unbegründetem Antrag) bzw. einer einmonatigen
Frist (bei unbegründetem Antrag) ausgehändigt. Gegen eine Abschiebungsandrohung
kann innerhalb einer gewissen Frist Klage eingereicht werden. Da im Asylverfahren
geprüft wurde, ob die Kriterien der GFK-Definition vorliegen und dies bei De-factoFlüchtligen als negativ entschieden wurde, greift der Rechtsschutz der GFK nicht für
Personen mit diesem Aufenthaltsstatus (vgl. Nuscheler 1995, 72). Sie leben weiterhin
unter denselben Bedingungen wie Asylsuchende, mit dem Unterschied, dass sie keine
Aufenthaltsgestattung,
sondern
eine
Duldung
erhalten.
Eine
weitere
mögliche
Konsequenz einer negativen Entscheidung kann eine Abschiebungsandrohung in einen
sicheren Drittstaat sein. Hier greift die Dublin II Verordnung (vgl. BAMF 2008a, 1).
Weitere - nicht rechtliche - Begriffe: Der Begriff des „Flüchtlings“ kann wie in Kapitel
4.1.1 erwähnt ein Sammelbegriff oder ein rechtlicher Begriff nach der GFK sein. Nach
Deutschem Recht kommen Asylsuchende dann unter den Rechtsschutz der GFK, wenn
9
Als offensichtlich unbegründet wrden Anträge abgelehnt, wenn dem/ der AntragsstellerIn z.B.
Verbrechen im Herkunftsland nachgewiesen werden können, oder er/ sie unehrlich bei Angaben
zur Identität oder Staatsangehörigkeit war (vgl. BAMF 2005, 15)
10
Dieses Abschiebungsverbot wird auch als „Subsidiärer Schutz“ bezeichnet (vgl. BAMF 2005, 8).
34
Teil B
sie
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
nach
Art.16aAbs.1GG
als
Asylberechtigte
politisches
Asyl
oder
nach
§60Abs.1AufenthG als GFK-Flüchtlinge das kleine Asyl erhalten (vgl. BAMF 2008a, 1).
Weiterhin existiert der Begriff des „Armutsflüchtlings“, der kein rechtlicher in Deutschland
ist. Dies ist lediglich eine Bezeichnung für Menschen, die aus einer armutsbedingten
Notlage, die durchaus auch in Verbindung mit Verfolgung stehen kann, geflohen sind.
Fälschlicherweise werden sie im Laiensprachgebrauch oft als Wirtschaftsflüchtlinge
bezeichnet, was auch lediglich eine laienhafte bzw. höchstenfalls politische Bezeichnung
ist. Als Wirtschaftsflüchtlinge werden Personen bezeichnet, denen unterstellt wird, dass
sie Asyl in einem westlichen Industriestaat suchen, um ihre wirtschaftliche Lage zu
verbessern. Dieser Begriff wird oft im Zusammenhang mit Asylmissbrauch verwendet. Ein
weiterer Begriff, der häufig in alltäglicher Kommunikation gebraucht wird, ist „AsylantIn“.
Dieser Begriff ist jedoch lediglich ein abwertender, umgangssprachlicher Ausdruck für
Flüchtlinge (vgl. von Loeper 1995, L.002.001) und wird daher in dieser Arbeit nicht
verwendet. Andere Personengruppen sind beispielsweise Binnen-, Bürgerkriegs- und
Kontingentflüchtliche. Da diese Personengruppen jedoch in dieser Arbeit keine
gesonderte Rolle spielen, werden sie hier nicht näher erläutert.
Ein besonderes Verfahren gibt es bei Asylsuchenden die Deutschland per Flugzeug
erreichen, das Flughafenverfahren. Diese bleiben auf dem Flughafengelände bis sie
einen Antrag gestellt haben und eine erste Prüfung stattgefunden hat. Fällt diese für die
Betroffenen negativ aus, werden sie abgeschoben. Ist sie positiv, werden sie als
Asylsuchende in einer GU untergebracht und es gelten ab diesem Zeitpunkt dieselben
Rechtssprechungen wie im „normalen“ Asylverfahren. (vgl. BMAF 2008a, 1)
Da Asylrecht und –Politik unter anderem von Flüchtlingszahlen abhängig sind, sollen die
aktuellen Asylantragszahlen und ihre Entwicklung der letzten Jahre nun kurz vorgestellt
werden. Anfang der 90er Jahre begann die Anzahl der Asylerstanträge in Deutschland
kontinuierlich zu steigen. 1992 war mit 438.191 Erstanträgen der Höchststand erreicht. Ab
1993 fingen die Zahlen wieder an, stark zu sinken (vgl. BAMF 2008b, 27). Im Jahre 2007
erreichte Deutschland mit 19.164 Asylersuchen den historischen Tiefstand seit 1977 (vgl.
Pro Asyl 2008a, 22). Insgesamt wurden im Jahr 2007 vom BAMF 28.572
Asylentscheidungen getroffen. Diese Zahl beinhaltet Erst- und Folgeanträge. Die
Gesamtschutzquote beträgt 27,5 %, worunter 304 AntragsstellerInnen politisches Asyl
nach
Art.16aGG
(1,1%),
6.893
AntragsstellerInnen
das
kleine
Asyl
nach
§60Abs.1AufenthG (24,1%) und 673 Personen wurde der so genannte Abschiebeschutz
(2,4%) gewährt bzw. eine Duldung ausgesprochen wurde. Durch Dublin II wurden 5.390
Personen an die jeweils zuständigen sicheren Drittstaaten abgeschoben (vgl. Pro Asyl
2008a, 22f). Diese Abschiebung ist ein längerer Prozess der oft mit Inhaftierung von bis
35
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
zu 11 Monaten verbunden ist (vgl. Pelzer 2008, 20-21). Im Jahre 2007 wurden in
Deutschland außerdem 13.784 Widerrufsverfahren geführt, wobei 6.025 Personen ihr
Schutz- bzw. Flüchtlingsstatus entzogen wurde. Im Zeitraum der letzten 5 Jahre hat das
BAMF 20.676 Personen Schutzstatus gewährt, sowie 51.250 weiteren Personen ihren
Schutzstatus entzogen (vgl. Pro Asyl 2008a, 23f).11
4.2.
Dimensionen der Lebenslagen von Flüchtlingen in Deutschland
Folgend sollen die Lebenslagen von Flüchtlingen in Deutschland dargestellt werden.
Natürlich lebt jeder Flüchtling unter individuellen Umständen. Dennoch geben die
rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen einen engen Rahmen für die
Lebenslagen von Flüchtlingen in Deutschland vor. Wie sich diese Regelungen konkret auf
die Lebenslage bzw. einzelne Dimensionen auswirken soll nun dargestellt werden. Die
Lebenslagen von Flüchtlingen werden auch von anderen Faktoren, wie den Erfahrungen
und Situationen in den Herkunftsländern bestimmt, sind aber zu einem großen Teil von
den geschilderten Rahmenbedingungen abhängig. Bei der Darstellung muss aufgrund
unterschiedlicher Statusgruppen zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb der
Personen, die hier als Flüchtlinge bezeichnet werden, unterschieden werden. Der Fokus
liegt hierbei besonders auf der Situation der Gruppe der De-facto-Flüchtlinge und
Asylsuchenden, da diese sich als besonders komplex darstellt.
4.2.1. Asylsuchende und De-facto-Flüchtlinge
Dimension Wohnen: Die Mehrzahl der Asylsuchenden und De-facto-Flüchtlinge sind in
so genannten GUs oder Sammellagern untergebracht. Die Unterbringung ist auf
landesgesetzlicher Ebene geregelt (vgl. Kühne 2004, 165)12. In wenigen Kommunen sind
Flüchtlinge dezentralisiert untergebracht. Da innerhalb der Unterkünfte selten auf
kulturelle Zusammensetzung geachtet wird, leben Asylsuchende und De-facto-Flüchtlinge
oft mit einer Vielzahl von verschiedenen Kulturen auf engem Raum zusammen. Auf
engem Raum deshalb, weil sie selten über ein eigenes Zimmer verfügen, sondern ihren
kompletten Lebensraum (Wohnraum, Koch- und Sanitäranlagen) mit mehreren Personen
teilen müssen (vgl. Lillig, Strasser 2004, 127). Rechtlich stehen ihnen 10qm zu, diese
haben sie jedoch vielmals in der Realität nicht zur eigenen Verfügung. Teilweise leben
vier Personen in einem Mehrbettzimmer mit einer Fläche von 12-16qm (vgl. Weiß 2007,
35). In vielen Unterkünften herrscht zudem striktes Kochverbot. Die BewohnerInnen
werden hier fremdversorgt. (vgl. Nuscheler 1995, 174ff). Die GUs befinden sich meist in
11
Ausführlichere Daten zu Herkunftsländern und der Entwicklung der nationalen und
internatonalen Antragszahlen gibt es in dem vom BAMF erstellten Dokument „Asyl in Zahlen 2007“
(BAMF 2008b).
12
Die Standards der Unterbringung in den Bundesländern differieren stark (vgl. Kühne2004, 165f).
36
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
Stadtteilen mit hohem Migrationsanteil (vgl. Weiß 2007, 40). Asylsuchende und De-factoFlüchtlinge unterliegen außerdem einer Residenzpflicht, was bedeutet, dass sie sich nur
im Bezirk der für ihnen zuständigen Ausländerbehörde aufhalten dürfen. Wollen sie
diesen Bezirk verlassen, müssen sie eine Genehmigung beantragen (vgl. Lillig, Strasser
2004, 127).
Dimension Bildung und Arbeit: In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom
10.12.1948 ist Bildung in Art.26Abs.1 - „Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung“ - und Arbeit
in Art.23 - „Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und
befriedigende
Arbeitsbedingungen,
sowie
auf
Schutz
gegen
Arbeitslosigkeit“
-
als
Menschenrecht formuliert (vgl. Flüchtlingsrat Niedersachsen 2007a, 3;25). Das Recht auf
Arbeit für Asylsuchende wurde laut Franz Nuscheler nur deswegen nicht ins Recht auf
Asyl aufgenommen, weil es bereits als Menschen- und Grundrecht gilt (vgl. Nuscheler
1995, 177). Für Kinder dieser Personengruppe besteht in Deutschland keine Schulpflicht
(vgl. Geißberg 1990, 100). Diese und andere Zugangsbarrieren sorgen dafür, dass der
Zugang von Flüchtlingskindern zu Bildung oft nicht frei ist (vgl. Flüchtlingsrat
Niedersachsen 2008, 23). Bildungstitel und –abschlüsse, die Flüchtlinge in ihrem
Herkunftsland erworben haben, werden meist in Deutschland nicht anerkannt. Dies führt
dazu, dass falls sie die Möglichkeit bekommen einer Erwerbsarbeit nachzugehen, sie
zunächst nur die Aussicht auf Tätigkeiten haben, die keine höhere Qualifikation
voraussetzen. Für Asylsuchende gilt ein 12-monatiges Arbeitsverbot ab dem Tag der
Einreise. Nach Ablauf dieser Frist kann eine eingeschränkte Arbeitserlaubnis beantragt
werden13 (vgl. Lillig, Strasser 2004, 125).
Auch Kenntnisse der deutschen Sprache und Sprachkurse gehören in die Dimension
Bildung. Laut Gülzlaff ist Sprache ein wichtiges Merkmal für Integration (vgl. Gülzaff 2008,
147). Sprachkurse sind jedoch für Asylsuchende nicht verpflichtend und werden auch
nicht flächendeckend angeboten (vgl. Lillig, Strasser 2004, 127).
Dimension Sozialleistungen und Einkommen: Die Grundleistungen die Asylsuchende
bzw. De-facto-Flüchtlinge erhalten, sind in §3Abs.1AsylbLG geregelt:
„Der notwendige Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung Kleidung, Gesundheits- und
Körperpflege
und
Gebrauchs-
und
Verbrauchsgütern
des
Haushalts
wird
durch
13
Diese eingeschränkte Arbeitserlaubnis unterliegt jedoch, falls sie erteilt wird, weiteren
Restriktionen. So gilt sie beispielsweise bei De-facto-Flüchtlingen jeweils nur für den Zeitraum der
aktuellen Duldung. Wollen Asylsuchende und De-facto-Flüchtlinge eine Arbeitserlaubnis
beantragen, müssen sie sich durch eigene Bemühungen eine Stelle suchen. Gefundene Stellen
müssen der Agentur für Arbeit gemeldet werden. Diese schreibt sie vier Wochen lang für andere
Arbeitssuchende aus. Nur wenn sich in diesem Zeitraum niemand für die Stelle bewirbt, darf der
Asylbewerber sie annehmen und bekommt eine Arbeitserlaubnis (vgl. Lillig, Strasser 2004, 125).
37
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
Sachleistungen abgedeckt. Kann Kleidung nicht geleistet werden, so kann sie in Form von
Wertgutscheinen oder anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen gewährt werden.“
(Walhalla Fachverlag 2007, 402)
Der Sozialhilfesatz, der vor allem in Sach- und teilweise in Geldleistungen an
Asylsuchende ausbezahlt wird, beträgt für einen Zeitraum von 36 Monate 202 Euro
monatlich. Sanktionen bei Regelverstößen können diesen Satz nach dem Ermessen der
zuständigen Behörde kürzen. Nach 36 Monaten erhalten Asylsuchende den vollen
Sozialhilfesatz, der auch Deutschen zusteht (vgl. Lillig, Strasser 2004, 126). Über ein
Erwerbseinkommen
verfügt
die
Mehrzahl
der
Asylsuchenden
aufgrund
des
Arbeitsverbotes nicht. Der Bedarf der Ernährung wird vielerorts über Essenspakete bzw.
Fremdversorgung innerhalb der GU abgedeckt. Zum „Einzug“ erhalten Asylsuchende
üblicherweise in vielen Einrichtungen ein Hausratspaket, das sie mit Gegenständen wie
Bettwäsche und Handtüchern ausstattet (vgl. Lillig, Strasser 2004, 126).
Dimension Beziehungen: Die Dimension Beziehungen hat in der aktuellen Lebenslage
von Flüchtlingen einen besonderen Stellenwert. Im Zuge der Flucht haben sie ihren
gewohnten Lebensraum und damit alle Beziehungen verlassen. Viele wissen nicht, ob
ihre Familie noch lebt, oder wo Familienmitglieder sich aufhalten, andere haben noch
Kontakt ins Heimatland. Viele Flüchtlinge kennen zumindest ein paar Landsleute, die
auch nach Deutschland flohen, haben aber wegen der Residenzpflicht meist legal
gesehen nicht die Möglichkeit diese zu treffen, wenn sie nicht zufällig im selben Bezirk
leben. Fliehen Flüchtlinge zusammen, wird deren Familieneinheit im Asylverfahren nur
begrenzt beachtet. Kinder unter 16 Jahren müssen, falls ihre Eltern auch einen Asylantrag
stellen, in diesen einbezogen werden (vgl. BAMF 2005, 10). Werden von verschiedenen
Familienmitgliedern einzelne Asylanträge gestellt, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit,
dass die AntragsstellerInnen verschiedenen Bezirken zugeteilt werden (vgl. Lillig, Strasser
2004, 127). Der Wunsch von Flüchtlingen in der Nähe von Familie oder Freunden zu sein
wird nicht beachtet (vgl. Weiß 2007, 35). Auch innerhalb der GU ist es für Asylsuchende
und De-facto-Flüchtlinge oft schwierig Beziehungen aufzubauen, da dort viele
verschiedene Kulturen zusammenleben und es meist allein durch die Sprache
Kommunikationsbarrieren gibt. Solche und weitere Barrieren bestehen auch zwischen
Asylsuchenden und der Aufnahmegesellschaft. Oftmals haben Asylsuchende keinerlei
Kontaktmöglichkeiten außerhalb der Einrichtung, da sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen
und sich die Mitgliedschaft in einem Verein zur Freizeitgestaltung nicht leisten könnten
und ihnen dies in vielen Fällen auch kulturell fremd ist. Der fehlende Austausch zwischen
Asylsuchenden
und
Mitgliedern
der
Aufnahmegesellschaft
ist
teilweise
auf
Fremdheitskonstruktionen zurückzuführen, die zwischen beiden Gruppen bestehen. Das
Problem ist hier nicht die Andersartigkeit an sich, sondern die vorhandenen Assoziationen
38
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
und Gefühle, die mit dieser Fremdheit verbunden sind (vgl. Sprung 2004, 24). Dies
können beispielsweise Vorurteile auf beiden Seiten sein. Castro Varela spricht in diesem
Zusammenhang von der Angst vor dem Fremden und meint, dass Andersartigkeit
einerseits exotisch, andererseits aber auch gefährlich auf uns wirken kann (vgl. Castro
Varela 2004, 37). Auch Friedrich Blahusch thematisiert diesen Zwiespalt und formuliert:
„Fremdheit als soziologische Kategorie beschreibt jenes labile und prekäre Verhältnis von
Nähe und Distanz, von Vereinnahmung und Ausgrenzung, die Abstoßungs- und
Anziehungsprozesse als Gewährung von Zugangschancen oder Abwehrreaktionen, die sich
zwischen ‚Ingroup-Mitgliedern’ und ‚Neuankömmlingen’ abspielen und den Status von
Nichtzugehörigen charakterisieren“ (Blahusch 1991, 42)
Dimension Freizeitgestaltung: Aufgrund des Arbeitsverbotes und fehlender finanzieller
Mittel sich an Freizeitangeboten der Mehrheitsgesellschaft zu beteiligen, haben viele
Asylsuchende und De-facto-Flüchtlinge viel freie Zeit, mit der sie oft nichts anzufangen
wissen. Sie verbringen viel Zeit in der GU oder in der Stadt, wo sie in Gruppen
Einheimishen wiederum oft als „Herumlungernde“ auffallen. (vgl. Nuscheler 1995, 178)
Dimension Gesundheit: Vor allem zu der psychischen Gesundheit von Flüchtlingen und
Asylsuchenden gibt es viel Fachliteratur. Dies ist vermutlich die am meisten erforschte
Dimension der Lebenslage von Flüchtlingen. Der erste Begriff, der in der Fachliteratur an
vielen Stellen in Verbindung mit Flüchtlingen auftaucht, ist Trauma bzw. Traumatisierung.
Laut Andreas Knuf bedeutet „Trauma“ Wunde, seelische Erschütterung oder Schock. In
einer traumatischen Situation sind Menschen äußerst bedrohlichen Umständen
vollkommen ausgeliefert und können weder davor fliehen noch dagegen ankämpfen (vgl.
Knuf u. Tilly 2004, 128). Zudem wird das Gehirn mit einer Flut von Reizen überschüttet,
die in nicht sofort verarbeitet werden können (vgl. Huber 2005, 39). Es ist jedoch nicht
jedes schreckliche Erlebnis sofort ein Trauma. Traumatisierend wird ein Erlebnis erst in
Zusammenhang mit der Bedeutungszuschreibung, die Betroffene dieser Situation
beimessen (vgl. Weiß 2007, 5). In der Fachliteratur wird zwischen verschiedenen
Traumen unterschieden, z.B.schweren (und langen) und nicht schweren (und kurzen),
sowie zwischen „man-made“ und zufällig entstehenden Traumen unterschieden (vgl.
Weiß 2007,6ff). Nicht jede traumatisierte Person war zwangsläufig Opfer in der erlebten
Situation. Traumen können sowohl bei Opfern als auch bei TäterInnen und ZeugInnen
hervorgerufen werden (vgl. Huber 2005, 40). So vielfältig wie die möglichen
traumatisierenden Umstände14, sind auch deren Folgen bzw. Reaktionen von Individuen.
14
Laut einer Studie hatten 25-30 % aller Flüchtlinge in Mittel- und Nordeuropa Folter zu erleiden.
Dies umfasst Folter psychischer und physischer Art. Physische Folgen erhöhen das Risiko einer
starken psychischen Reaktion (vgl. Birck 2004, 177ff).
39
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
Eine häufige Reaktion ist beispielsweise die Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD).
Im ICD-10 wird sie folgendermaßen definiert:
„...entsteht als verzogene oder protrakierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine
Situation
kürzerer
oder
längerer
Dauer,
mit
außergewöhnlicher
Bedrohung
oder
katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“
(WHO 2006, 164)
Typische Merkmale dieser Störung sind laut ICD-10 beispielsweise das wiederholte
Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, andauerndes Gefühl des
Betäubtseins, emotionale Stumpfheit, Gleichgültigkeit anderen Menschen gegenüber,
Freudlosigkeit, Vermeidung von Aktivitäten die Erinnerungen an die traumatische(n)
Situation(en) hervorrufen könnten, Schlafstörung, Angst, Depression und Suizidalität (vgl.
WHO 2006, 164). Im DSM-IV heißt es außerdem, dass diese Reaktion in der Regel
innerhalb der ersten drei Monate nach dem Erlebnis eintreten (vgl. Saß u.a. 1998, 490).
Eine weitere Folge traumatischen Erlebens kann eine Akute Belastungsreaktion (ICD10) bzw. Akute Belastungsstörung (DSM-IV) sein. Typische Merkmale sind hier neben
den Symptomen der PTSD Dissoziation und die verminderte Wahrnehmung der Umwelt.
Diese Reaktion ist, was sich schon aus ihrem Titel erahnen lässt, eher von kurzer Dauer
(vgl. Weiß 2007, 16). Es gibt außerdem eine Vielzahl an anderen möglichen Reaktionen,
wie beispielsweise Dissoziation, Depression, Hilflosigkeit, und Persönlichkeitsstörung,
bzw. –veränderung (vgl. Weiß 2007, 17). Diese hier alle ausführlich zu beschreiben würde
allerdings den begrenzten Rahmen dieser Arbeit sprengen.
Neben den Reaktionen auf traumatische Erlebnisse sind bei Flüchtlingen oft zusätzlich
psychosoziale Folgen der Flucht zu sehen. Durch die Flucht werden die Kontinuität und
Stabilität der bisherigen Lebenssituation und –abläufe zerstört. Der Wiederaufbau dieser
Komponenten im Exilland braucht Zeit und verläuft oft nicht gerade problemlos. Das
Verlassen der Heimat ist bei vielen Flüchtlingen zusätzlich mit einer Entwurzelung
verbunden.
Flüchtlinge
suchen
nach
Geborgenheit,
Annahme
und
Schutz
im
Aufnahmeland und stoßen stattdessen oft auf Ablehnung. Han zufolge sind viele
Flüchtlinge desorientiert und verunsichert, da sie nicht komplett mit dem Herkunftsland
abbrechen und sich oft nicht ganz auf die Aufnahmegesellschaft einlassen können. Im
Zusammenhang mit diesem Prozess leiden Flüchtlinge unter Akkulturationsstress15 (vgl.
Weiß 2007, 37ff). Das „verschwimmen“ von allgemeingültigen Normen in Deutschland,
verursacht durch den Prozess der Individualisierung, erschwert es Flüchtlingen, sich der
Aufnahmegesellschaft anzunähern, da zum eine Unterschiede zum Wertesystem des
15
Akkulturation ist laut Han der Prozess der allmählichen Einführung in die Kultur der
Aufnahmegesellschaft (vgl. Weiß 2007, 39).
40
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
Herkunftslandes größer werden und es zum anderen kein einheitliches Bild der deutschen
Kultur bzw. Gesellschaft gibt.
Aus einer Kombination der Fluchterfahrungen, den falschen Erwartungen (die vor allem
von Schleppern bzw. FluchthelferInnen hervorgerufen werden (vgl.Abdallah-Steinkopf
2008)), die Asylsuchende oft mit sich bringen und den Rahmenbedingungen im Exilland,
entsteht bei vielen Flüchtlingen eine „Entwurzelungsdepression“. Zunächst sind viele
Flüchtlinge wegen der Erwartungen einer sich bessernden Lebenssituation sehr
euphorisch, werden aber deprimiert, wenn sie die Realität der in Deutschland für sie
gegebenen Bedingungen begreifen (vgl. Brand u. Weidenhammer 1995, S.10.003.001ff).
Eine Untersuchung ergab, dass „Lagersituationen“ wie die unter denen Flüchtlinge leben,
Deprivationserscheinungen und Hospitalismusschäden hervorrufen können. Diese
Situation und die ständige Angst vor Abschiebung bei Asylsuchenden und De-factoFlüchtlingen rufen Folgen wie den Verlust einer gesicherten Lebensperspektive,
verringertes Selbstwertgefühl, Scham, Schuldkomplexe, verminderte Affektregulation,
psychosomatische Beschwerden und den Verlust von Eigeninitiative hervor (vgl.
Nuscheler 1995, 179f). Dadurch dass vor allem Männer nicht arbeiten und Frauen nicht
kochen dürfen, leiden viele Familien darunter, dass sie ihre traditionellen Rollen nicht
mehr ausführen können und fühlen sich nutz- und wertlos. Laut Angelika Birk begünstigen
die Rahmenbedingungen in Deutschland Angst- und Ohnmachtsgefühle der Flüchtlinge
und verschärfen ihre psychische Belastung (vgl. Birck 2004, 178).
Die Gesundheitsversorgung von Asylsuchenden und De-facto-Flüchtlingen ist auf ein
Mindestmaß reduziert. Es findet lediglich eine Notlinderung statt (vgl. Weiß 2007, 33).
4.2.2. Asylberechtigte und GFK-Flüchtlinge
Viele der beschriebenen Aspekte der Lebenslagendimensionen von Asylsuchenden und
De-facto-Flüchtlingen treffen durchaus auch auf Asylberechtigte und GFK-Flüchtlinge zu.
Die drei stärksten Gemeinsamkeiten sind die psychische Situation, die fehlende
Anerkennung der Qualifizierung aus dem Herkunftsland und die Schwierigkeiten in der
Beziehungsgestaltung
zu
Mitgliedern
der
Aufnahmegesellschaft.
Für
diese
Personengruppe ist der Erwerb der deutschen Sprache sogar noch zentraler als für die in
den GUs untergebrachten Flüchtlinge, da sich Asylberechtigte und GFK-Flüchtlinge in
ihrem alltäglichen Leben noch stärker mit der deutschen Aufnahmegesellschaft
auseinandersetzen müssen und (vgl. Gützlaff 2008, 147). Es gibt jedoch auch einige
Unterschiede zwischen den beiden Statusgruppen. So sind Asylberechtigte und GFKFlüchtlinge in der Lage ihren Wohnort frei zu wählen und sind im Sozialhilfegesetz
deutschen Bürgern gleichgestellt. Auch unterliegen sie keinem Arbeitsverbot, sondern
können sich nach eigenem Belieben auf dem deutschen Arbeitsmarkt einbringen (vgl.
41
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
Lillig, Strasser 2004, 124). Zusammenfassend ist also zu sagen, dass diese
Statusgruppen zwar Freiheit auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt haben und trotzdem
weiterhin viele Barrieren, v.a. kommunikationstechnischer und psychischer Art vorliegen.
4.3.
Bewertung der Rahmenbedingungen und Lebenslagen
„Stellen Sie sich vor, Sie müssen in ein fremdes Land fliehen, weil Krieg herrscht und
sämtliche Lebensgrundlagen zerstört sind. Weil Sie wegen Ihrer Hautfarbe, Ihrem Glauben,
Ihrer politischen Überzeugung oder Ihrem Geschlecht fürchterliche Repressalien
ausgesetzt
sind,
weil
niemand
Sie
und
Ihre
Angehörigen
vor
Übergriffen,
Vergewaltigungen, Folter und Mord schützt. Sie erreichen unter großen Anstrengungen ein
Land wie z.B. Deutschland und glauben sich endlich in Sicherheit. Aber man begegnet
Ihnen mit Misstrauen und Abneigung. Man kennt die Verhältnisse in Ihrer Heimat nicht
genau und glaubt Ihnen nicht. Sie sprechen die Sprache nicht. Ihre Versorgung mit
Wohnraum, Lebensmitteln und medizinischer Behandlung beschränkt sich auf ein
absolutes Minimum. Sie dürfen nicht arbeiten und Ihren zugewiesenen Aufenthaltsort unter
Strafandrohung nicht verlassen. In solchen und ähnlichen Situationen befinden sich viele
tausend Flüchtlinge in unserem Land.“ (Pro Asyl 2004, 1)
Die Asylantragszahlen in Europa sinken seit ein paar Jahren immer mehr. Dies liegt vor
allem an der abschottenden Außenpolitik, die seitens der EU betrieben wird. So gibt es
immer mehr Flüchtlinge in Schwellen- und Entwicklungsländern (vgl. Pro Asyl, Medico
International 2008, 4). In diesen Ländern leben Flüchtlinge in großen Massenlagern unter
prekären Umständen. Dadurch dass viele von ihnen nicht unter die GFK-Definition und
somit auch nicht unter den GFK-Schutz fallen, erhalten Flüchtlinge hier oft keine bzw.
nicht genügend Unterstützung des UNHCR. Es reicht jedoch bereits einen Blick
beispielsweise nach Malta, Süditalien oder Griechenland zu werfen. Auch hier leben
Flüchtlinge in großen Massenlagern, während Länder wie Deutschland, das Vereinigte
Königreich und Frankreich durch Dublin II sinkende Asylantragszahlen verzeichnen und
viele AntragsstellerInnen an Drittländer abschieben. Pro Asyl bemängelt, dass Europa
somit für Flüchtlinge zu einem „Verschiebebahnhof“ geworden ist (vgl. Pro Asyl 2006, 9ff).
Asylpolitik in Deutschland findet natürlich nicht unabhängig von der europäischen
Abschottungspolitik statt. An vielen Stellen bezeichnen Autoren die Politik in Deutschland
als Abschreckungspolitik mit der Zielsetzung, Deutschland als Aufnahmeland unattraktiv
für Flüchtlinge zu machen (vgl. Nuscheler 1995, 79). Eine nähere Betrachtung der
Lebenslage lässt diese Aussage auch heute noch nicht unberechtigt erscheinen: Durch
die beengte Wohnsituation, haben Asylsuchende oftmals keinerlei Privatsphäre (vgl. Weiß
2007, 36) und sind ständigen Konflikten mit ihren MitbewohnerInnen ausgeliefert. Diese
Situation ist ein Nährboden für Frustration und Gewaltausbrüche (vgl. Nuscheler 1995,
42
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
175f). Durch fehlende Möglichkeiten einer sinnvollen Freizeitgestaltung, sowie einer
Erwerbsarbeit nachgehen zu können, verbunden mit Niederlagen bei dem Versuch eine
Arbeitserlaubnis zu erlangen, haben viele Asylsuchende keine Alternative zum
Herumlungern und Nichtstun (vgl. Nuscheler 1995, 178; Lillig, Strasser 2004, 124).
Gekoppelt mit ihrer schlechten ökonomischen Lage kommt es bei Asylsuchenden und Defacto-Flüchtlingen oft zu einer von zwei Reaktionen: 1. Frustration und Hilflosigkeit. Je
länger die Beschäftigungslosigkeit anhält, desto mehr brechen Zeit- und Lebensstrukturen
weg. Vor allem bei Familienvätern, denen ihre oft traditionelle Rolle des Familienernährers
genommen wird, kommt es nicht selten zu Selbstwertverlust und Aggression (vgl. Lillig,
Strasser 2004, 128). Viele fühlen sich als bloßes Objekt staatlicher Fürsorge (vgl. Weiß
2007, 36). 2. Betroffene nehmen ein illegales Beschäftigungsverhältnis auf. Dies
geschieht oft nicht aus reinen Gründen der Langeweile, sondern vor allem, weil viele
Asylsuchende und De-facto-Flüchtling um die hohen Kosten für die im Asylverfahren
unumgänglichen Rechtsbeistände und Dolmetscher wissen. Lillig zieht aus einer Studie
das Fazit, dass Flüchtlinge in Deutschland kriminalisiert werden, sobald sie versuchen ein
„normales Leben“ zu führen (vgl. Lillig, Strasser 2004, 128; Nuscheler 1995, 178). Diese
Kriminalisierung bezieht sich nicht allein auf die Aufnahme illegaler Beschäftigung,
sondern ebenso auf den Versuch, Beziehungen zu leben. Viele Asylsuchende und Defacto-Flüchtlinge setzten sich über die Residenzpflicht hinweg, um Familienangehörige
und Freunde in anderen Teilen Deutschlands zu besuchen. Besonders wenn
Familienmitglieder für die Betroffenen so nah und doch unerreichbar sind, ist dies für Viele
vor dem Hintergrund der mit der Flucht verbundenen Beziehungsabbrüche und dem
kulturell hohen Stellenwert der Familie schlimm (vgl. Lillig, Strasser 2004, 127). Auch um
überhaupt eine Chance auf Asyl in Deutschland zu haben, machen viele Flüchtlinge
falsche Angaben über ihren Weg nach Deutschland. Seit Dublin II ist es für Flüchtlinge,
die Deutschland nicht mit dem Flugzeug erreichen, fast unmöglich, nicht durch einen
sicheren Drittstaat gekommen zu sein (vgl. Steffen 2004, 44ff). Wegen fehlender
Angebote der Krankenversorgung bleiben psychische Belastungen und Störungen oft
unbehandelt und werden durch die Lebensumstände in Deutschland sogar noch
verschärft (vgl. Birck 2004, 178f; Weiß 2007, 33). Ambivalent ist auch die Umsetzung der
GFK-Kriterien in den Asylentscheidungen des BAMF. Das Kriterium ist hier die subjektive
begründete Furcht vor Verfolgung, das BAMF gründet seine Entscheidung jedoch eher
auf objektive Gegebenheiten (vgl. Flüchtlingsrat Niedersachsen 2007b, 9ff). In der
Anhörung fällt es Asylsuchenden wegen ihrer psychischen Belastung zudem schwer, in
widerspruchsfreie Aussagen zu machen. Sie empfinden aufgrund der im Heimatland
gemachten Erfahrungen Angst und Misstrauen gegenüber deutschen Behörden und
können nicht einschätzen, wie mit den Informationen, die sie weitergeben, umgegangen
43
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
wird. Diese Ängste und der generelle Misstrauensverdacht, der Flüchtlingen in vielen
Behörden entgegengebracht werden sorgen oft für negative Entscheidungen (vgl.
Flüchtlingsrat Niedersachsen 2007b, 7; Weiß 2007, 33; Lillig, Strasser 2004, 124). Fasst
man all diese vor allem durch Rahmenbedingungen in Deutschland verursachten
Lebensumstände zusammen ist es nicht mehr ganz so abwegig, von einer
Abschreckungspolitik im Bereich Asyl in Deutschland zu sprechen.
Wie bereits beschrieben, ist ebenfalls die Konfrontation mit sehr fremden kulturellen
Werten für Flüchtlinge oft zunächst schwierig. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten die
eigene kulturelle Identität auszuleben beispielsweise dadurch sehr eingeschränkt, dass
Asylsuchende durch Essenspakete oder Fremdversorgung Nahrungsmittel erhalten. Dies
nimmt zudem Frauen die Möglichkeit eine weitere ihrer gewohnten Rollen auszufüllen
(vgl. Weiß 2007, 35). Flüchtlinge bilden somit eine Randgruppe, die von der eigenen
Gesellschaft ausgestoßen und von der fremden Gesellschaft nicht aufgenommen wird
(vgl. Nuscheler 1995, 182; Weiß 2007, 40f). In einem Zeitungsartikel der ZEIT (siehe
Anhang 1) geht es um drei junge Tschetschenen, die im Rahmen einer Fahndung im
Fernsehen, Radio und Zeitungen mit Bildern als Terrorverdächtige gesucht wurden.
Auslöser der Fahndung war ein Mann, der sie an einer Bushaltestelle sah und zu hören
meinte, dass sie auf arabisch über einen geplanten Anschlag sprachen. Nach einer
Großrazzia, verbunden mit Untersuchungshaft und einigen Stunden Verhör für die
Tschetschenen, stellte sich heraus, dass die drei jungen Männer völlig unschuldig waren,
sich auf Russisch unterhalten hatten und der Mann, der die Polizei alarmierte, der
arabischen Sprache nicht mächtig war. Die drei Asylsuchenden sind noch heute, drei
Jahre nach dem Vorfall, traumatisiert und werden sowohl von eigenen Landsleuten, als
auch von Einheimischen teilweise gemieden (vgl. Denso 2008, 12). Was die Polizei in
einer solchen Situation tun kann, ist eine schwierige Frage, doch vor allem verdeutlicht
mir dieser Artikel, welch gravierende Auswirkungen das Bild haben kann, das viele
Deutsche noch immer von Ausländern, vor allem islamischen Hintergrunds, vertreten. Die
Ausländerpolitik und Medien sind meines Erachtens nicht unschuldig an dieser Situation.
Zieht man eine Bilanz aus den Restriktionen und Umständen, unter denen Asylsuchende
in Deutschland leben, wirft dies nicht gerade ein positives Licht auf den Umgang
Deutschlands mit Flüchtlingen. Im Grundgesetz heißt es in Art.1: „Die Würde des
Menschen ist unantastbar“, Arbeit und Bildung sind Menschenrechte. Flüchtlinge, die aus
ihrem Land wegen Menschenrechtsverletzungen fliehen, sind diesen, zwar in milderer
Form aber dennoch, auch in Deutschland ausgesetzt. Schulze-Gockel formuliert, dass
Asylsuchende durch diese Ungleichbehandlung gegenüber anderen AusländerInnen und
Deutschen, zu Menschen dritter Klasse degradiert werden (vgl. Schulze-Gockel 2003, 8f).
44
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
Stellungnahme der EKD: „Jeder Flüchtling ist ein Mensch. Unabhängig von den Motiven
seiner Flucht, seiner Rechtsstellung und der Dauer seines Aufenthaltes bei uns hat er
Anspruch auf menschenwürdige Behandlung“ (Nuscheler 1995)
Anstatt Flüchtlinge aus einem Blickwinkel von Vorurteilen, Fremdheit anzusehen, sollten
wir anerkennen, welche Stärke sie erweisen mussten, um den Weg nach Deutschland auf
sich nehmen zu können (vgl. Weiß 2007, 40). Soziologisch gesehen ist Flucht kein ReizReaktionsmuster, sondern impliziert Individuen, die, wenn auch nicht frei gewählt, aktiv
fliehen (vgl. Treibel 2008, 165ff). Avril Butler schreibt, dass Flüchtlinge als Bürde
empfunden werden, anstatt als Bereicherung. Sie bezeichnet die Flüchtlinge als eine
Personengruppe, die sich in einem Übergang befindet, jedoch bedeutende Ressourcen
hat. Sie sieht sie jedoch ebenfalls als eine Gruppe, die von der Befriedigung existenzieller
Bedürfnisse wie Nahrung, Beziehungen und Familienleben ausgeschlossen sind (vgl.
Butler 2005, 149ff). Flüchtlinge kommen nach Deutschland, um einen Neuanfang zu
machen (vgl. Weiß 2007, 41). Die Soziale Arbeit und deutsche Aufnahmegesellschaft
sollten dafür sorgen, dass ein Neuanfang mit vereinten Kräften und Ressourcen unter
guten Bedingungen möglich ist.
5. Theorie und Praxis Sozialer Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft. Dies hat inzwischen auch die Politik
eingesehen und ist wohl eine der großen, politisch sehr umkämpften, Einsichten der
letzten Jahre. 2004 schrieben Treichler und Cyrus, dass noch keine offizielle politischstaatliche Anerkennung der Bundesrepublik Deutschland als Einwanderungsland
stattgefunden habe (vgl. Cyrus, Treichler 2004, 11). Da die Soziale Arbeit immer von
gesellschaftlichen und politischen Bedingungen abhängig ist und ihr Gegenstand soziale
Probleme und individuelle Betroffenheit sind, wird auch die Praxis der Sozialen Arbeit
immer interkultureller.
„Die Geschichte der Sozialen Arbeit zeigt, dass es immer einen Zusammenhang zwischen
gesellschaftlichen Entwicklungen und den sich daraus erwachsenden Problemlagen, die zu
Aufgabenfeldern der Sozialen Arbeit werden können, gibt.“ (Blahusch 1991, 41)
Hubertus Schröer meint, „Soziale Arbeit ist heute interkulturell, oder sie ist nicht professionell“
(Schröer 2008, 15). Auch Richmond behauptete bereits 1917, dass Soziale Arbeit
scheitere, ignoriert sie ihre kulturelle Vielfalt und ihre damit verbundene ethische
Komponente (vgl. Maroon 2007, 371). Diese Interkulturalität stellt die Theorie und Praxis
der postmodernen Sozialen Arbeit in Deutschland vor vielerlei Herausforderungen. Zwei
dieser Herausforderungen heißen Interkulturelle Öffnung und Kompetenz. Im Folgenden
sollen zwei Erscheinungsformen von Interkulturalität bzw. Flüchtlingen in der Sozialen
Arbeit dargestellt werden.
45
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
5.1.
Flüchtlinge als NutzerInnen von Mainstream-Angeboten der Sozialen Arbeit
Da in Deutschland zunehmend Menschen mit verschiedenem kulturellem Hintergrund
leben wird auch das Klientel Sozialer Arbeit verstärkt interkulturell. Sei es im Jugendhaus,
in der Beratungsstelle des ASD, oder in der Betriebssozialarbeit, Menschen aus anderen
Kulturen bringen veränderte Erwartungen, Problemlagen und Anforderungen mit sich. Die
Soziale Arbeit kann in vielen Fällen ihr „bewährtes Standardprogramm“ nicht auf diese
Klientelgruppe übertragen, sondern ist herausgefordert, Strategien zu entwickeln, welche
diesen Anforderungen gerecht werden. Im Zuge dieser Diskussion sind in der
Fachliteratur besonders zwei Begriffe wichtig: Interkulturelle Öffnung und Kompetenz.
Interkulturelle Öffnung meint den Prozess, in dem Behörden und Einrichtungen
Zugangsbarrieren für Menschen mit verschiedenem kulturellen Hintergrund erkennen,
abbauen (vgl. Sprung 2004, 22) und lernen, sie in die bestehende Angebotsstruktur
effektiv
einzubinden.
Sie
wird
als
Schlüssel
zur
Gestaltung
der
Einwanderungsgesellschaft verstanden und angemahnt (vgl. Simon-Hohm 2004, 231).
Manfred Budzinskis versteht Interkulturelle Öffnung als „ ... wesentliche Rahmenbedingung
für den Integrationsprozess im Einwanderungsland Deutschland. Sie hat Auswirkungen auf
die Mitarbeiter, Strukturen, Prozesse und Ergebnisse des Handelns in öffentlichen
Institutionen und Verwaltung. Interkulturelle Öffnung führt zur Veränderung von Aufbau- und
Ablauforganisation und zum Abbau von Zugangsbarrieren.“ (Budzinski 2008, 8)
Der Begriff der Interkulturellen Öffnung verdeutlicht, dass Multikulturalität und somit die
Arbeit mit Flüchtlingen, nicht nur ein spezielles Handlungsfeld Sozialer Arbeit, sondern ein
Querschnittsthema ist, dass Flüchtlinge und andere AusländerInnen also in MainstreamAngeboten der Sozialen Arbeit präsent sind. Avril Butler stellt fest, dass die Bedürfnisse
von Flüchtlingen oft nicht in die Kriterien der angebotenen Hilfeleistungen passen Sie
plädiert für eine kultursensible Arbeitsweise Sozialer Arbeit (vgl. Butler u.a. 2006, 63ff).
Dies trifft den Kernbereicht der zweiten Anforderung an die Soziale Arbeit in der
Einwanderungsgesellschaft Deutschland, die Interkulturelle Kompetenz, die Schröer als
zweite Seite des interkulturellen Veränderungsprozesses sieht (vgl. Schröer 2008, 15).
Interkulturelle Kompetenz ist ein Begriff der innerhalb und außerhalb der Sozialen Arbeit
viel diskutiert ist, oft ohne genau Bedeutungszuschreibung verwendet wird (vgl. SimonHohm 2002, 39) und eine Schlüsselkompetenz der Sozialen Arbeit mit AusländerInnen
darstellt (vg. Freise 2005, 10f). Simon-Hohm definiert Interkulturelle Kompetenz als
„
...
ein
komplexes
Bündel
von
Kompetenzen,
das
Reflexionsvermögen
und
Handlungsfähigkeit in kulturellen Überschneidungssituationen ermöglicht. Interkulturelle
Kompetenz umfasst ein Repertoire an kognitivem Wissen und individuellen, persönlichen
Fähigkeiten. Interkulturelle Kompetenz bedeutet dieses Bündel von Teilkompetenzen in
unterschiedlichem kulturellen Kontext situationsgerecht und professionell einsetzen und mit
ethischen Reflexionen verknüpfen zu können.“ (Simon-Hohm 2002, 41)
46
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
Anette Sprung spricht im Zusammenhang mit interkultureller Kompetenz von einem
veränderten Umgang mit Fremdheit, dem sich unter anderem die Soziale Arbeit stellen
muss (vgl. Sprung 2004, 20). Verfügen SozialarbeiterInnen über zu wenig Wissen und
Interesse an der Kultur der KlientInnen und zuwenig kulturelle Sensibilität, kommt es laut
Maroon zu einer verkürzten Erfassung ihrer Lebenslage, wodurch sie sich missverstanden
fühlen. Seiner Meinung nach stellt sich nicht die Frage, ob kultursensible Soziale Arbeit
nötig ist, sondern wie sie aussehen kann (vgl. Maroon 2007, 371f).
5.2.
Flüchtlingssozialarbeit
Interkulturelle Kompetenz wird sowohl in Mainstream-Angeboten Sozialer Arbeit benötigt,
die mit Interkulturalität und AusländerInnen als einem Querschnittsthema arbeiten, als
auch in der Arbeit mit AusländerInnen, als speziellem Handlungsfeld der Sozialen Arbeit,
der Migrationssozialarbeit. Die Soziale Arbeit mit Zuwanderern fing im 19. Jahrhundert mit
der Ausländerbeschäftigung an und fand in den 60er und 70er Jahren ihren Höhepunkt in
der Betreuung von Gastarbeitern und deren nachgezogenen Familien (vgl. Blahusch
1991, 43). Die Migrationssozialarbeit wird heute vorwiegend von AWO, Caritas und der
Diakonie geleistet und folgt in ihrer Tradition eher einer paternalistischen Hilfekultur, in der
AusländerInnen vor allem als hilflose, politisch und gesellschaftlich entmündigte „Wesen“
gesehen werden. Ansätze der Selbstorganisation und Selbsthilfe von MirgantInnen sind in
diesem Zusammenhang bislang wenig gefördert, jedoch immer mehr am Entstehen (vgl.
Woge e.V.; Institut für Soziale Arbeit e.V. 1999, 498ff). Dass diese Selbstorganisation
trotz wenig Förderung und Bemühungen seitens der Politik entsteht, zeigt, dass es einen
Bedarf gibt. Sprung meint, dass in Deutschland die Soziale Arbeit mit MigrantInnen zu
abgeschirmt von Mainstream-Angeboten stattfindet und dass eine stärkere interkulturelle
Öffnung angestrebt werden sollte (vgl. Sprung 2004, 22). Meinem Erachten nach ist
Flüchtlingssozialarbeit jedoch weiterhin wichtig, besonders solange besagte interkulturelle
Öffnung noch nicht ausgeprägt stattgefunden hat.
Im Rahmen der interkulturellen Sozialen Arbeit werden auch Flüchtlinge als eine
spezifische Gruppe unter den Zuwanderern erfasst. Auch sie tauchen sowohl als
KlientInnen in Mainstream-Angeboten auf, sind jedoch auch zunehmend eine spezifische
Zielgruppe der Sozialen Arbeit. In der Fachliteratur wird von Flüchtlingssozialarbeit
gesprochen. Bis in die 1970er Jahre war sie Teil der Ausländersozialarbeit. Durch
beständig steigende Flüchtlingszahlen war die Entwicklung eines eigenständigen
Teilbereichs der Sozialen Arbeit nötig. Aus dieser „Not“ steigender Flüchtlingszahlen
heraus wurden zum Teil von den Wohlfahrtsverbänden, zum Teil von staatlichen Trägern,
Stellen für die Flüchtlingssozialarbeit geschaffen (vgl. Kothen 2000,26). Ein Blick auf die
Hochschulen an denen Soziale Arbeit gelehrt wird zeigt, dass dieser Themenbereich noch
47
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
nicht ins Gewicht fällt. Inzwischen werden zwar einzelne Lehreinheiten zur interkulturellen
Sozialen Arbeit angeboten, die spezielle Arbeit mit Flüchtlingen wird jedoch hier selten
thematisiert. Es stellt sich die Frage, ob dies mit einem tatsächlich niedrigen Bedarf
begründet werden kann, oder ob es eher die politischen, rechtlichen und strukturellen
Bedingungen in Deutschland sind, die einer großflächigen Etablierung dieses Zweiges im
Wege stehen. Auch die nun wieder sinkenden Flüchtlingszahlen sprechen nicht gerade
für die Ausweitung des Handungsfeldes Trotzdem ist die Soziale Arbeit mit Flüchtlingen
meines Erachtens eine wichtige Aufgabe Sozialer Arbeit.
Flüchtlingssozialarbeit ist ein Bereich innerhalb des Handlungsfeldes Sozialer Arbeit,
das sowohl in Theorie, als auch in Praxis noch nicht sehr professionalisiert und erforscht
ist. Albert befürchtet, dass sie durch ihre geringe Eigenthematisierung früher oder später
ihre Legitimation, die auch unter gegebenen Umständen nicht sehr hoch ist, völlig
verlieren könnte. Ein Grund den Albert dafür sieht, ist die hohe Personalfluktuationsrate,
die sich aus den besonderen Schwierigkeiten dieses Arbeitsfeldes ergibt. (vgl. Albert
2001, 60). Es unterliegt besonderen Spannungen und Konfliktpotentialen. In diesem
Kapitel wird ein grober Überblick über dieses Handlungsfeld der Sozialen Arbeit gegeben.
Dieses „kurz“ vorzustellen ist herausfordernd, da es eine multidimensionale Vielfalt mit
sich bringt, so gibt es beispielsweise die Aktionsbereiche Bund, Länder und Kommunen,
die
Träger
staatliche,
Adressatengruppen
und
freie
damit
Wohlfahrtsverbände
verbundene
und
unterschiedliche
private,
spezifische
Zielsetzungen
und
Anforderungen (vgl. Blahusch 1991, 45f).
5.2.1. Zielgruppe
Die Zielgruppe von Flüchtlingssozialarbeit sind, wie die Bezeichnung bereits impliziert
Flüchtlinge. Dieser Begriff umfasst sämtliche in Kap.4.1.2 dargestellten Gruppen.
Dieser Personenkreis ist nicht gerade uniform. Angefangen bei verschiedenen
Statusgruppen, über verschiedene Altersgruppen, Geschlechter und Herkunftsländer sind
Menschen mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen in dieser Zielgruppe erfasst (vgl.
Blahusch 1991, 46). Auch in den jeweiligen Lebenslagen dieser AdressatInnen gibt es,
vor allem in Bezug auf die Statusgruppen elementare Unterschiede (siehe Kap. 4.2).
Daher sind auch verschiedene Aufgaben und Zielsetzungen in Zusammenarbeit mit
unterschiedlichen Personengruppen wichtig. Da sie trotzdem einige Gemeinsamkeiten
aufweisen, werden in diesem Arbeitsbereich der Sozialen Arbeit alle als Flüchtlinge
bezeichneten Personen zusammengefasst und sollen alle Beachtung finden.
48
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
5.2.2. Rahmenbedingungen
Soziale Probleme erhalten ihre Gewichtung aufgrund gesellschaftlicher und politischer
Zuschreibungs- und Bewertungsprozesse. Diese beeinflussen die Interventionsstruktur
und den Handlungsspielraum, der Sozialer Arbeit zur Bewältigung jenes Problems
zugestanden wird (vgl. Blahusch 1991, 41f). Aus der Beschreibung der politischen
Rahmenbedingungen in Kap.4.1 wurde deutlich, dass der „Flüchtlingsfrage“ keine hohe
Bedeutung in Deutschland zugemessen wird. Stattdessen wird versucht, diesen Bereich
politisch so wenig wie möglich zu thematisieren. Geringe politische Wertschätzung und
Brisanz ist eine erste Erklärung für die mangelhafte Bereitstellung von Mitteln, von Bund,
Ländern und Kommunen, für die Flüchtlingssozialarbeit. Dies hat zudem zur Folge, dass
die Soziale Arbeit im Bereich der Flüchtlingsarbeit oft nur eine „Feuerwehrfunktion“ hat,
nämlich nur dort intervenieren soll, wo es nicht zu vermeiden ist (vgl. Albert 2001). Auch
AWO,
Diakonie
und
Caritas,
die
größten
drei
Arbeitsgeber
im
Bereich
der
Flüchtlingssozialarbeit wissen zwar um Bedürfnisse und Lebenslagen der Flüchtlinge
können jedoch aufgrund geringer Mittel oft nur Missstandsverwaltung betreiben (vgl. Lillig,
Strasser 2004, 130). Laut Zepf unterscheidet sich die Soziale Arbeit mit Flüchtlingen als
einer Randgruppe in unserer Gesellschaft vor allem dadurch von anderer sozialer
Randgruppenarbeit, dass andere Personenkreise in die Gesellschaft integriert, Flüchtlinge
jedoch eher marginalisiert bzw. exkludiert werden sollen (vgl. Zepf 1999, 105). Dies mag
populistisch und provokativ klingen, bewahrheitet sich jedoch vor dem Hintergrund der
politischen Sicht, Flüchtlinge sollten nur für eine kurze Weile in Deutschland bleiben und
nur minimal versorgt werden. Kühne schreibt, dass der rechtliche Ausnahmezustand, der
Flüchtlingen gegenüber verhängt ist, Prozesse der sozialen Integration erschwert bzw.
sogar verhindert (vgl. Kühne 2004, 170).
In den institutionellen Rahmenbedingungen herrscht, wie in der Einleitung dieses Kapitels
erwähnt eine Vielfalt an Trägerformen auf Bund-, Land- und Kommunen Ebene, als auch
Staatlichen Einrichtungen, freier Wohlfahrt und privaten Initiativen. Den Akteuren kommen
hierbei unterschiedliche Aufgaben zu. Hauptdienstleister sind AWO, Diakonie und Caritas.
Sozialarbeiterische Intervention staatlicher Träger ist überwiegend auf die Betreuung
innerhalb der Gemeinschaftsunterkünfte beschränkt.
Auch
die
gesellschaftliche
Geringschätzungen
von
Flüchtlingen
ist
für
die
Flüchtlingssozialarbeit nicht ohne Bedeutung, da sie leicht von SozialarbeiterInnen
internalisiert werden kann und Einheimische nicht gerade karitativ in diesem Bereich sind,
sei es durch Spenden oder Ehrenamt (vgl. Schulze-Gockel 2003, 9).
49
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
5.2.3. Erwartungen
An die Flüchtlingssozialarbeit werden unterschiedliche Erwartungen gerichtet. Flüchtlinge
möchten Hilfe bei der Sicherung ihres Aufenhaltsstatus, zur Verbesserung ihrer
defizitären Lebenslage, dass Sorge für die Achtung ihrer Würde getragen und eine
Mittlerfunktion zur Aufnahmegesellschaft erfüllt wird. Aus der Erfahrung meiner eigenen
Tätigkeit kann ich bestätigen, dass von Seiten der Flüchtlinge oft enorm hohe
Erwartungen an die Soziale Arbeit gestellt werden. Dies hängt meines Erachtens vor
allem damit zusammen, dass Soziale Arbeit vielen Flüchtlingen fremd ist und sie nicht
wissen, was sie erwarten können. Flüchtlinge erwarten also Hilfe. Im Gegensatz dazu
erwarten Politik und Behörden, dass die Soziale Arbeit eine Kontrollfunktion einnimmt und
beispielsweise Hilfe zur Orientierung gibt, Fehlverhalten im Rahmen hält und Beratung zur
Rückkehr gibt. (vgl. Zepf 1999, 104). Hier lässt sich ein klassisches Konfliktfeld und
gleichermaßen Strukturmerkmal Sozialer Arbeit erkennen: Das Doppelte Mandat – die
Diskrepanz zwischen Hilfe und Kontrolle.
5.2.4. Konfliktpotentiale in der Flüchtlingssozialarbeit
Konfliktpotentiale gibt es in der Flüchtlingssozialarbeit nicht gerade wenige. Diese haben
unterschiedlichste Ursachen, Ausmaße und Folgen für die Praxis. Bei den hier
beschriebenen Konfliktpotentialen besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit. Ziel ist es
lediglich einige Problemfelder exemplarisch aufzugreifen, um die Komplexität des
Arbeitsfeldes zu verdeutlichen (siehe Zitat Einleitung Teil B).
Aufgrund der mangelhaften zur Verfügung stehenden Finanzierung, beschränkt sich
Flüchtlingssozialarbeit vielerorts auf Soziale Einzelfallhilfe in Krisen, die von Lillig und
Strasser als Mangelverwaltung der Asylpolitik bezeichnet wird (vgl. Lillig, Strasser 2004,
130). Folgen sind überarbeitete SozialarbeiterInnen, eine hohe Personalfluktuationsrate
(was wiederum schwierig für die wichtige Komponente der Beziehungsgestaltung
zwischen
Professionellen
und
Flüchtlingen
ist)
und
viele
unbefriedigte
Unterstützungsbedürfnisse der Flüchtlinge. Ein weiteres Konfliktpotential ist das bereits in
Kap.5.2..3 angedeutete Doppelte Mandat bzw. die verschiedenen Aufträge und
Erwartungen an die Flüchtlingssozialarbeit. So befinden sich viele SozialarbeiterInnen in
ethischen Dilemmata. Ein Dilemma ergibt sich beispielsweise aus der Schweigepflicht
einerseits und der Meldepflicht andererseits16. Würden SozialarbeiterInnen ihren
gesetzlichen
Pflichten
jederzeit
Rechnung
tragen,
wäre
der
Aufbau
eines
Vertrauensverhältnisses zu den KlientInnen unmöglich. Entscheidet er/ sie sich jedoch
16
Beispielsituation: Der Familienvater einer 6köpfigen Familie erzählt der SozialarbeiterIn im
Vertrauen, dass er einer illegalen Beschäftigung nachgeht, um die Anwaltskosten in seinem
Asylverfahren decken zu können und somit eine Abschiebung zu vermeiden.
50
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
stets dagegen, gesetzlich zu handeln, macht er/ sie sich strafbar (vgl. Schulze-Gockel
2003, 12; Weiß 2007, 60f).
Aufgrund des Asylverfahrens müssen SozialarbeiterInnen in manchen Positionen
Entscheidungen für ihre KlientInnen treffen. Neben der psychische Verfassung vieler
KlientInnen und weitere Faktoren sorgt dies für ein großes Machtgefälle in der Beziehung
zwischen SozialarbeiterInnen und Flüchtlingen (vgl. Zepf 1999, 108). Fehlende
Kenntnisse der deutschen Sprache der Flüchtlinge und fehlende Kultursensibilität, –
Verständnis und –Interesse der SozialarbeiterInnen können Barrieren in der Beziehung
zwischen SozialarbeiterInnen und KlientInnen darstellen (vgl. Blahusch 1991, 55f).
Zepf sieht die Flüchtlingssozialarbeit als Handlungsfeld mit vielen Restriktionen, in dessen
Rahmen
momentan
eher
Einzelfallhilfen
im
Sinne
von
Armenfürsorge,
als
emanzipatorische Soziale Arbeit angeboten werden (vgl. Zepf 1999, 104).
5.2.5. Orientierung, Ziele und Aufgaben der Flüchtlingssozialarbeit
All diese Konfliktpotentiale erschweren eine emanzipatorische Praxis der Sozialen Arbeit,
doch kann Soziale Arbeit meines Erachtens nach an manchen Stellen durch eine
bewusste und reflektierte Praxis zur Vermeidung von Konflikten beitragen. Die Reflektion
der eigenen Haltungen und Vorurteile beispielsweise ist neben dem Einsatz von
Dolmetschern (vgl. Butler u.a. 2006, 66ff) und Supervision ein wichtiges Element.
Konfliktpotentialen, wie beispielsweise die beschriebenen ethischen Dilemmata muss
ethisch reflektiert begegnet werden. Soziale Arbeit kann laut Zepf auf gegebene
Konfliktpotentiale auf zweierlei Weise reagieren: Sie kann defensiv reagieren und sich
hilflos mit der Situation abfinden, sie kann jedoch auch offensiv mit einen zweiphasigen
Prozess reagieren: Im ersten Schritt wird das Handlungsfeld der Flüchtlingssozialarbeit
professionalisiert und die Grundsätze Advocacy (anwaltschaftliche Funktion), Autonomie
(Empowerment) und Akzeptanz (Arbeit mit Einheimischen) auf die Soziale Arbeit mit
Flüchtlingen herunter gebrochen. Im zweiten Schritt sollte dann jede/r SozialarbeiterIn ihr
eigenes Wirkungsfeld auf Handlungsspielräume untersuchen und eine emanzipatorische
Praxis Sozialer Arbeit umsetzen (vgl. Zepf 1999, 108ff). Ein Blick auf die Definition
Sozialer Arbeit, die in Teil A angeführt wurde, bestätigt die von Zepf genannten drei
Aufgaben Sozialer Arbeit:
„Soziale Arbeit als Beruf fördert den sozialen Wandel [Advocacy] und die Lösung von
Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen [Akzeptanz], und sie befähigt die
Menschen, in freier Entscheidung ihr Leben besser zu gestalten [Autonomie]. Gestützt auf
wissenschaftliche Erkenntnisse über menschliches Verhalten und soziale Systeme greift
soziale Arbeit dort ein, wo Menschen mit ihrer Umwelt in Interaktion treten. Grundlagen der
Sozialen Arbeit sind die Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit.“
(IFSW, IASSW 2004b, 2)
51
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
Im Folgenden soll dieser erste Schritt einer offensiven Bewältigungsstrategie der
Flüchtlingssozialarbeit,
das
„Herunterbrechen“
dieser
Grundsätze
auf
die
Flüchtlingssozialarbeit, vorgenommen werden:
Advocacy: Die Profession der Sozialen Arbeit ist von politischen Entscheidungen und
Rahmenbedingungen
abhängig
Rahmenbedingungen
mitgestalten
und
(vgl.
sollte
Zepf
somit
1999,
politisch
110).
agieren
Soziale
und
Arbeit
als
Menschenrechtsprofession sollte sich für die Menschenrechte und Würde von
Asylsuchenden und De-facto-Flüchtlingen einsetzen, die, wie deutlich wurde, in
Deutschland teilweise als Menschen dritter Klasse behandelt werden (vgl. Weiß 2007,
58). Varchmin sagt dazu, dass die Würde des Menschen als Realutopie Grundlage allen
sozialarbeiterischen Handelns, sein sollte17 (vgl. Vrachim 1990, 229). Bei allem politischen
Engagement sollte Professionellen und Laien, die sich haupt- und ehrenamtlich für
Flüchtlinge einsetzen, allerdings bewusst sein, dass sich Szenarien einer staatlichen
Abwehr von Flüchtlingen nicht einfach beheben lassen, sondern dass hierzu ein
Paradigmenwechsel innerhalb der Politik nötig ist, „der die bisherige Politik der
Zurückweisung und Integrationsverweigerung durch eine Politik der Anerkennung und sozialen
Integration ersetzt“ (Kühne 2004, 175f) und lediglich angeregt werden kann. Forderungen
sollten außerdem realistisch formuliert werden, da die Flüchtlingslobby sonst schnell an
Glaubwürdigkeit verliert, was wiederum den Betroffenen schadet (vgl. Nuscheler 1995,
183). In diesem Fordern der Besserung der Lebensumstände von Flüchtlingen (vgl. Lillig,
Strasser 2004, 130) sollte sich jede/r SozialarbeiterIn hinterfragen, welche Haltung und
Vorurteile er/ sie den KlientInnen gegenüber einnimmt, da beispielsweise Idealisierungen
der KlientInnen leicht entstehen können, bzw. die Sicht der Aufnahmegesellschaft
übernommen wird (vgl. Vrachim 1990, 229; Sprung 2004, 24f). Sie sollten nicht nur als
Opfer sondern auch als Überlebende gesehen werden. Professionelle und ehrenamtliche
UnterstützerInnen müssen somit deren Opferrolle würdigen, ihnen aber auch den Blick für
ihre Stärken und die Möglichkeit eines Neuanfangs öffnen (vgl. Abdallah-Steinkopff 2008).
Akzeptanz: Flüchtlingssozialarbeit soll nicht nur zwischen Individuen und der
Gesellschaft vermitteln, sondern auch zwischen Kulturen. Dazu ist interkulturelle
Kompetenz,
wie
bereits
beschrieben,
eine
zentrale
Voraussetzung
in
diesem
Handlungsfeld (vgl. Weiß 2007, 59). Die Arbeit mit Einheimischen stellt in der Sozialen
Arbeit mit Flüchtlingen eine zentrale Aufgabe dar. Wichtige Elemente können hier
beispielsweise Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, anstreben interkultureller Öffnung,
kulturvermittelnde Angebote, sowie die Schulung und Begleitung von Ehrenamtlichen sein
17
Siehe Werte in der Definition Sozialer Arbeit, Kap.2.1.1.1
52
Teil B
Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
(vgl. Uhilein 1995, 07.019.001; Thieme 2005, 1ff). Das Abbauen von Vorurteilen und
falschen Fremdheitskonstruktionen (siehe Kap.4.2.1) sollten hier Ziele sein.
Autonomie: Autonomie, bzw. Menschen zu befähigen, ihr Leben in eigener Entscheidung
besser zu gestalten, ist zentrale Aufgabe des Empowerments. In Teil C dieser Arbeit wird
diskutiert, ob dies ein geeigneter Ansatz für die Soziale Arbeit mit Flüchtlingen ist. Daher
wird dieser Aufgabenbereich der Flüchtlinhssozialarbeit an dieser Stelle nicht näher
ausgeführt.
Innerhalb der Flüchtlingssozialarbeit gibt es verschiedene wichtige Akteure, die
unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Staatliche Einrichtungen sorgen meist ausschließlich
für die Sicherung der Grundbedürfnisse von Flüchtlingen. Nichtstaatliche Einrichtungen
wie freie Wohlfahrtsverbände und Kirchen sehen sich eher verantwortlich für die
Befriedigung sozialer, psychischer und kultureller Bedürfnisse, sowie die Aufklärung über
Rechte und Unterstützung bei der Inanspruchnahme dieser (vgl. Blahusch 1991, 47;
Kühne 2004, 172). Die Evangelische Kirche und Diakonie erklären eine Verantwortung
gegenüber Flüchtlingen (vgl. Diakonisches Werk in Kurhessen-Waldeck e.V. 2006, 3f)
und beziehen sich hierbei auf mehrere Bibelstellen, beispielsweise als Jesus im
Matthäusevangelium sagt „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen [...] Was ihr einem
meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (vgl. Müller 1990, 220ff). Dabei
sollten die Flüchtlinge, so betont Peter Rottländer, jedoch nicht bevormundet und betreut,
sondern solidarisch begleitet werden (vgl. Rottländer 1995). Weiterhin wichtige Akteure
sind Ehrenamtliche und Bürgerschaftliche Initiativgruppen, die praktische Hilfen zur
alltäglichen Lebensführung, sowie Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit leisten können.
Schließlich sind die Flüchtlinge selbst wichtige Akteure (vgl. Kühne 2004, 172ff).
Meiner Meinung nach ist Flüchtlingssozialarbeit deswegen ein wichtiges Handlungsfeld
Sozialer Arbeit, da es um eine Personengruppe geht, deren Menschenrechte in
Deutschland
stark
eingeschränkt
sind.
Soziale
Arbeit
hat
hier
als
Menschenrechtsprofession den Auftrag, sich für die Rechte der Flüchtlinge und eine
Verbesserung ihrer Lebenslage einzusetzen. In der Darstellung Lebenslagen und
Rahmenbedingungen der Flüchtlingssozialarbeit wurde ebenfalls deutlich, unter welch
schwierigen Bedingungen SozialarbeiterInnen in diesem Arbeitsfeld handeln. Ob
Empowerment trotzdem möglich ist, soll in Teil C diskutiert werden.
53
Teil C
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen
TEIL C
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen
Die Meinungen darüber, ob Empowerment ein geeigneter Ansatz für die Soziale Arbeit mit
Flüchtlingen ist, sind in der Fachliteratur nicht einheitlich. Die VerfasserInnen des ersten
Artikels, den ich zum Thema Empowerment mit Flüchtlingen las – der Bericht einer
Einrichtung die unter dem Empowerment-Gedanken arbeitet - kamen zu folgendem Fazit:
„Solange AsylbewerberInnen durch Strukturen, administrative Vorgaben und Gesetze in
ihren Entscheidungsfähigkeiten, Handlungsspielräumen und ihrem Zugang zu Ressourcen
so drastisch eingeschränkt bleiben, ist ein nachhaltiges Empowerment der Zielgruppe nicht
möglich (...)“ (Österreichische Equal Partnerschaften 2008, 3)
In meiner folgenden Argumentation möchte ich zeigen, dass Empowerment mit
Flüchtlingen doch möglich ist. Hierzu werden zunächst die Fragen beantwortet, ob
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen nötig und möglich ist. Anschließend
werde ich das bereits in der Einleitung erwähnte Projekt ARTIF vorstellen und
exemplarisch verdeutlichen, wie Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen
praktisch umgesetzt werden kann.
6. Empowerment mit Flüchtlingen – nötig und möglich?
Abschließend wurden in Kap.5.2.5 die Aufgaben und Ziele der Flüchtlingssozialarbeit
dargestellt. Dabei wurden vor allem die drei, in der Definition Sozialer Arbeit, der IFSW
und IASSW implizierten Elemente, Advocacy, Akzeptanz und Autonomie fokussiert
(vglZepf 1999, 108ff). Der Punkt Autonomie wird nun näher ausgeführt:
„Soziale Arbeit in Einwanderungsgesellschaften verbindet Sozialarbeit, Politik, Kultur- und
Bildungsarbeit, aber auch Intervention und Prävention. Empowerment-Zugänge machen auf
die politische Verantwortung, ein emanzipatorisches Menschenbild sowie die Bedeutung der
Stärkung von Selbstorganisation aufmerksam.“ (Sprung 2004, 29)
Ein zentrales Ziel sozialarbeiterischer Unterstützung sollte sein, Flüchtlinge in die Lage zu
versetzen, in der sie das rechtliche Asylverfahren verstehen und sich in der deutschen
Gesellschaft besser zurecht finden und agieren können. Sowohl ihre Selbstständigkeit
und Urteilsfähigkeit (vgl. Abdallah-Steinkopff 2008), als auch Eigenkräfte und –
Verantwortung sollen somit gestärkt werden. Dies sollte die Zielsetzung jeder
sozialarbeiterischen Handlung sein. Uhilein gibt zu, dass dies unter Rahmenbedingungen
54
Teil C
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen
der Mittelknappheit und des Zeitdrucks innerhalb der Flüchtlingssozialarbeit nicht einfach
zu realisieren ist, dass an dieser Zielsetzung jedoch festgehalten werden muss. Hilfen
sollten außerdem an der individuellen Situation und den Bedürfnissen der AdressatInnen
ansetzen. So brauchen Asylberechtigte aufgrund ihrer Lebenslage und ihrem rechtlichen
Status andere Hilfestellungen, als Asylsuchende oder De-facto-Flüchtlinge (vgl. Uhilein
1995, 07.016.001ff). Erfahrungen eines Projektes in Ostbrandenburg zeigten, dass viele
Asylberechtigte und GFK-Flüchtlinge ihre Selbstständigkeit, nach einem langen Aufenthalt
in einer GU, fast vollständig verloren haben. Das selbstständige Leben außerhalb der GU
fiel
ihnen
zunächst
schwer
und
stellt
einen
wichtigen
Ansatzpunkt
der
Flüchtlingssozialarbeit dar. Als Ziel des Projektes wurde die vorintegrative Förderung von
Flüchtlingen formuliert, was die Vermittlung der deutschen Sprache, Rechten und
Pflichten beinhaltet (vgl. Thieme 2005, 1ff). Bei Asylsuchenden und De-facto-Flüchtlingen
mit unsicherem Aufenthaltsstaus ist dessen Sicherung zunächst zentral (vgl. Birck 2004,
180ff). In der Herstellung der äußeren und inneren Sicherheit für Flüchtlinge sollte die
Soziale Arbeit sich ihrer Grenzen bewusst sein und mit VertreterInnen anderer
Professionen zusammenarbeiten (vgl. Weiß 2007, 63). Laut Heiner Keupp ist die
Förderung von Selbsthilfe und –Organisation ein wichtiger Bestandteil jeder sozialen
Unterstützung. Zur praktischen Umsetzung schlägt er z.B. di Etablierung eines Fonds zur
Förderung selbstorganisierter Projekte für spezifische Volksgruppen vor, der durch die
betreffende Gruppe selbst verwaltet werden soll und deren geförderte Projekte zur
verbesserten Lebensbewältigung von Individuen und Systemen innerhalb dieser Gruppe
beitragen sollte18 (vgl. Keupp 1988, 41f). Auch Annette Sprung fordert, dass die
Migrationssozialarbeit von der Empowerment-Perspektive erfasst wird und sich, damit
verbunden, von paternalistischen Konzepten verabschiedet, sowie der Forderung von
Chancengleichheit und Ressourcenorientierung zuwendet (vgl. Sprung 2004, 24ff).
Es wird deutlich, dass Autonomie, ersatzweise kann meines Erachtens der Begriff
Empowerment eingesetzt werden, ein wichtiger Bestandteil der Flüchtlingssozialarbeit als
Handlungsfeld der Sozialen Arbeit ist. Die Frage nach der Nötigkeit von Empowerment in
der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen ist damit geklärt. In der wissenschaftlichen Debatte
besteht, so scheint es, der Konsens, über dessen hohen Stellenwert.
In der Frage, die damit auch noch lange nicht beantwortet ist, nämlich die Frage nach der
Möglichkeit, besteht weder ein Konsens noch gibt es viel Fachliteratur. Kommt es in der
wissenschaftlichen Debatte zu diesem Thema, dann meist in Verbindung mit
Selbstorganisation. Dursun Tan benennt drei Gründe für das bisherige Fehlen, bzw. den
Mangel an Selbstorganisation unter Flüchtlingen. Zum ersten ist der Flüchtlingsstatus ein
18
Keupp hatte so gesehen schon 1988 die Idee für Initiativen wie ARTIF (siehe Kap.7).
55
Teil C
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen
Übergangsstatus, der so schnell wie möglich von den Betroffenen als beendet erwünscht
wird. Wenn Flüchtlinge sich engagieren, so tun sie dies zweitens meist für ihr
Herkunftsland bzw. ihre Familie und drittens erschweren die deutschen asylrechtlichen
und
-politischen
Rahmenbedingungen
deren
Selbstorganisation
(vgl.
Tan
1995,07.020.001ff). Angelika Münz betont die politische Verantwortung Deutschlands im
Bereich der fehlenden Selbstorganisation von MigrantInnen und Flüchtlingen, indem sie
sagt,
dass
sich
Selbstorganisation
von
MigrantInnen
in
europäischen
Aufnahmegesellschaften immer im Spannungsfeld zwischen den nationalpolitischen
Bestrebungen, Zuwanderung zu begrenzen, sowie den sozialpolitischen Bestrebunge,n
Zuwanderer zu integrieren, entwickelt (vgl. Münz 2003, 30). In den Niederlanden
beispielsweise wird Selbstorganisation von MigrantInnen und Flüchtlingen sozialpolitisch
schon lange unterstützt und gefördert. Daher lassen sich dort, im Gegensatz zu
Deutschland, bereits mehr und ausdifferenziertere Formen solcher Selbstorganisation
finden (vgl. Münz 2003, 32ff). Stefan Gaitandides beschreibt drei Arten, auf die sich
Flüchtlinge selbstorganisieren können: Die familiäre und verwandtschaftliche Selbsthilfe,
die Partizipation an Freiwilligenorganisationen der Mehrheitsgesellschaft und ethnische
Selbstorganisation.
In
Freiwilligenorganisationen
der
Mehrheitsgesellschaft
sind
AusländerInnen zahlenmäßig stark unterrepräsentiert, was laut Gaitandides an den
Zugangsbarrieren,
die
für
diese
Personengruppe
bestehen
liegt.
Er
fordert
Freiwilligenorganisationen dazu auf, sich für MigrantInnen und Flüchtlinge zu öffnen und
Barrieren abbauen. Formen der ethnischen Selbstorganisation werden von der
Mehrheitsgesellschaft eher negativ und als Bildung von Parallelgesellschaften gesehen.
Es zeigt sich jedoch, dass solche Zusammenschlüsse zum einen eine Brückenfunktion
zwischen der Minderheit und der Mehrheit erfüllen und zum anderen Möglichkeit zur
Bewahrung der kulturellen Identität bieten. Laut Gaitandides schließt sich ethnische
Selbstorganisation von AusländerInnen und Integration nicht aus. Im Bereich dieser
Formen des Aktivwerdens ist ein politisches Umdenken erforderlich, dass die
Empowerment-Wirkung solcher Bewegungen wahrnimmt (vgl. Gaitandides 2003, 21ff).
Lediglich an zwei Stellen stieß ich in Zusammenhang mit Traumatisierung auf eine
konkrete Antwort auf die Frage, ob Empowerment mit Flüchtlingen möglich ist. An beiden
Stellen heißt es, dass die Ausgangsbedingungen zwar sehr erschwert sind, dass es
jedoch möglich sei (vgl. Knuf u. Tilly 2004, 137; Verwey 2001, 9ff). Was hingegen öfter zu
finden ist, sind Erfahrungsberichte, die von Empowerment-Projekten bzw. -Initiativen der
Selbstorganisation von Flüchtlingen und MigrantInnen berichteten. Lediglich ein Projekt,
dessen Fazit in der Einleitung zu Teil C bereits zitiert wurde, kommt zu dem Schluss, dass
Empowerment unter den gegebenen restriktiven Rahmenbedingungen und aufgrund der
56
Teil C
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen
psychischen Verfassung von Flüchtlingen nicht möglich sei19 (vgl. Österreichische Equal
Partnerschaften 2008, 1ff). Alle anderen Erfahrungsberichte zeigen zwar Hindernisse auf,
kommen jedoch zu dem Schluss, dass Empowerment mit Flüchtlingen möglich ist. Im
Folgenden werden exemplarisch drei dieser Erfahrungsberichte vorgestellt20. In den
Ausführungen dieses Kapitels ging es sehr stark um Selbstorganisation. Dies ist der
Bereich, der wissenschaftlich bisher am meisten thematisiert wird. Vermutlich ist der
Grund für diesen Fokus, dass in der Selbstorganisation von Flüchtlingen ein Aktivwerden,
also eine klare Zielsetzung
von Empowerment
besonders
sichtbar
ist.
Doch
Selbstorganisation ist nicht das einige Ziel bzw. die einzige Form von Empowerment,
sondern es findet wie in Kap.2.3.3 beschrieben auf vier Ebenen statt. Die folgenden
Berichte beschreiben verschiedenartige Formen des Empowerments.
Erfahrungen aus Deutschland: Im Rahmen des Bielefelder Flüchtlingsrates gibt es eine
Initiative, in der sich Flüchtlinge und Deutsche zu einer solidarischen Gemeinschaft
zusammen schließen, die Lobbyarbeit betreibt und sich für die Rechte der Flüchtlinge in
Deutschland einsetzt. Ein Ziel der Initiative ist, vor allem Flüchtlinge aktiv zu beteiligen
und eine Plattform hierfür geschaffen wird. Dies erwies sich aus verschiedenen Gründen
als schwierig. Viele Flüchtlinge engagierten sich nur, wenn es um eigene Anliegen ging.
Doch
wird
berücksichtigt,
was
Flüchtlinge
durchgemacht
haben,
ist
es
nicht
21
verwunderlich, dass ihre Solidarität den Hinterbliebenen im Heimatland gehört . Auch
wenn nicht der gewünschte Grad an Aktivität seitens der Flüchtlinge erreicht wurde, hatte
sie durchaus positive Effekte, wo sie vorhanden war (vgl. Jünemann1990, 167-213).
Erfahrungen aus der Schweiz: Aus den Erfahrungen eines Projektes in der Schweiz, in
dem traumatisierte bosnische Flüchtlinge und Schweizer im Umgang mit Traumata und
traumatisierten Menschen als Multiplikatoren geschult wurden, wurde deutlich, dass die
teilnehmenden Flüchtlinge über mehr Ressourcen verfügten als anfangs erwartet, sowie
dass am Anfang eines Aktivwerdens von den Betroffenen der Umgang mit den eigenen
Traumafolgen im Vordergrund stehen muss. Die Autorin kam zu der Schlussfolgerung,
dass Empowerment mit Flüchtlingen möglich ist (vgl. Perren-Klingler 2001, 133-138).
19
Diese Aussagen sind zwar auf Österreich bezogen. Die Rahmenbedingungen unter denen
Flüchtlinge in Österreich leben, sind jedoch denen in Deutschland sehr ähnlich.
20
Zwei der Erfahrungsbericht stammen aus dem europäischen Ausland. Da in diesen Ländern
ähnliche Restriktionen vorliegen wie in Deutschland, ist dies nicht weiter störend. Es zeigt lediglich,
dass dieser Bereich in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern noch nicht weit entwickelt ist.
21
Zumal viele Flüchtlinge unter Schuldgefühlen leiden, Hinterbliebene allein gelassen zu haben.
57
Teil C
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen
Erfahrungen aus England: Jane Smith berichtet über ein Gartenprojekt, das von START
in Plymouth mit Flüchtlingen durchgeführt wird. Sie beschreibt, wie AsylbewerberInnen
durch den Einsatz ihrer Fähigkeiten wieder anfingen, an ihre Stärken zu glauben und den
Flüchtlingen durch die praktische Arbeit, Werte und Arbeitsweisen der englischen
Aufnahmekultur vermittelt werden konnten. Daraus folgend sieht sie die Entwicklung einer
„ ... creativ, emanzipatory practice and radical social work that is geared towards supporting
people in their struggle to break free from the disavantage, discrimination and oppression
they experience“ (Smith 2007, 2).
Innerhalb des Projektes werden die AdressatInnen als gleichberechtigte PartnerInnen mit
wertvollen Ressourcen gesehen. Durch eine regelmäßige Teilnahme können die
AsylbewerberInnen ihr soziales Netzwerk ausbauen. START erkennt die schwierigen
Umstände unter denen die KlientInnen leben an und gibt ihnen innerhalb des Projektes
beispielsweise durch Planungstreffen die Möglichkeit, Entscheidungen selbst zu treffen
(vgl. Smith 2007, 5f). Aus den Erfahrungen meiner eigenen sozialarbeiterischen Tätigkeit
bei START kann ich bestätigen, dass der Empowerment-Gedanke konsequent in die
Praxis umgesetzt wird. Sowohl durch Projekte wie das beschriebene Gartenprojekt als
auch durch die angebotene Einzelfallhilfe wurden Flüchtlinge aus verschiedenen
Statusgruppen dazu angeregt, selbst Entscheidungen zu treffen und aktiv zu werden.
Diese Arbeitsweise machte einen deutlichen Unterschied im Leben der AdressatInnen.
Im Folgenden möchte ich Anhand des Projektes ARTIF deutlich machen, wie
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen konkret umgesetzt werden kann.
7. ARTIF – ein Empowerment-Projekt
„Can Do Investment Fund“ (CDIF) war der Titel, unter dem ARTIF im Frühjahr 2007
seinen Ursprung fand. Dies war das Angebot einer Organisation privater Trägerschaft
namens „The Scarman Trust“, deren Zielsetzung die Formierung und Unterstützung von
Selbstorganisation lokaler Gruppen in ganz Großbritannien war. Der „Can Do Investment
Fund“ war Teil ihres Arbeitszweiges „Can Do – support for learning communities“22.
„Can Do Investment Fund: This small grants scheme provides money for local people and
groups to put their ideas into action, prove the value of this to outside agencies and then
bring in further funds to increase the impact“ (vgl. The Scarman Trust 2005, 2)
22
Siehe Anhang 2+3.
58
Teil C
7.1.
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen
ARTIF – Asylum Seekers and Refugees together Investment Fund
7.1.1. Entstehung - Aus CDIF wird ARTIF
Can Do Investment Fund – Idee und Grundannahmen
„Learning communities are groups and networks of people who organise themselves to learn
what they want, when they want, how they want“ (The Scarman Trust 2005, 1)
Der Can Do Investment Fund des Scarman Trust sollte in so genannten lernenden
Gemeinschaften (learning communities) etabliert werden. Zentrale Annahmen und Ziele in
Bezug auf solche lernenden Gemeinschaften und Can Do sind:
•
Lernende Gemeinschaften bemächtigen Individuen eigene Lösungen für Aufgaben
des alltäglichen Lebens zu finden. Lernen findet dabei unabhängig von Alter,
Geschlecht, Vorlieben, Ort, Räumlichkeit, Medium und Aktivität statt.
•
Dabei sollen vorhandene Ressourcen entdeckt, erschlossen und genutzt werden.
•
Eine Lernende Gemeinschaft funktioniert, wenn ein Zweck, ein Ort an dem die
AkteurInnen sich treffen können, lokale AkteurInnen die das Lernen organisieren
und
Beteiligte
ermutigen,
sowie
VertreterInnen
lokaler
Einrichtungen
und
Organisationen, die den Prozess unterstützen und ihre Ressourcen der Initiative zur
Verfügung stellen, vorhanden sind.
•
Jede Gemeinschaft verfügt über mehr Ressourcen, als sie wissen und nutzen.
•
In jeder Gemeinde leben Personen die wissen, was die zugehörigen Individuen
wollen, Menschen vernetzen können, sowie die Stärken der Gruppe und das lokale
System kennen. (vgl. The Scarman Trust 2005, 1)
Ziel des CDIF ist Formen der lokalen Selbstorganisation innerhalb einer spezifischen
Bevölkerungsgruppe
anzustoßen.
Am
Ende
soll
eine
Organisation
bzw.
ein
Förderprogramm entstehen, das aus der Gruppe selbst heraus geleitet und zum Nutzen
für dieselbe Personengruppe wird23. Die neu zu gründende Organisation hat hierbei die
Rolle einer intermediären Instanz, die einen Fond bildet, aus dem kleinere Summen Geld
an Individuen und Gruppen gegeben werden, die durch ein Projekt das psychosoziale
und/ oder körperliche Wohlbefinden der Zielgruppe fördern wollen. Die Beantragung von
Fördermitteln aus diesem Fond ist von den aufgestellten Kriterien der jeweiligen
Gruppierung abhängig. Gelder für den Fond kommen zum einen anfangs von Scarman
Trust (in Form eines einmaligen Betrages von 2000 – 5000 Britische Pfund), zum anderen
können öffentliche Gelder, Spenden etc. Finanzierungsquellen sein. (Siehe Anhang 2+3)
23
Solche Gruppen könnten zum Beispiel Jugendliche, Frauen, Männer, Familien, Iraker,
Flüchtlinge, Ältere Menschen, Menschen mit Behinderung, etc sein.
59
Teil C
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen
Can Do Investment Fund in Plymouth
Im Mai 2007 kontaktierte ein Mitarbeiter des Scarman Trust START mit dem Anliegen
unter den Flüchtlingen in Plymouth den Prozess der Selbstorganisation im Rahmen eines
„Can Do Investment Funds“ anzuregen. START sollte hierbei als Mittler eine
Brückenfunktion zwischen dem Scarman Trust und der „Asylum seeking and refugee
community“ in Plymouth einnehmen, sowie dem neuen Projekt langfristig (so lang wie
nötig und von der Gruppe gewollt) Ressourcen und Unterstützung zur Verfügung stellen.
Gemeinsam
mit
einer
anderen
Studentin
übernahm
ich
im
Rahmen
meines
Praxissemesters diese Aufgabe. Die erste Phase bestand darin, die Idee unter den
Flüchtlingen in Plymouth bekannt zu machen, zu erfahren, ob es InteressentInnen gibt
und ein solches Vorhaben von der Zielgruppe gewünscht ist. Neben den AdressatInnen
selbst informierten wir Organisationen in Plymouth, die mit Flüchtlingen arbeiten und
potentielle Kooperationspartner darstellten. Vor allem in der Anfangsphase war ein relativ
großes Unterstützungsnetzwerk für die Gruppe wichtig. Nachdem sich Interesse und
potentielles Engagement gezeigt hatte, gab es erste Sitzungen der Interessierten – Phase
zwei - die dann später den Vorstand bzw. das Leitungskomitee der neu zu gründenden
Organisation bilden sollten. Natürlich bestand hierin kein Zwang. Jede/r Beteiligte konnte
frei entscheiden wie viel Zeit und Engagement er/ sie investieren wollte. Als nach einiger
Zeit eine motivierte Gruppe zusammen war, die das Vorhaben durchführen wollte, wurden
in der dritten Phase die teilnehmenden Personen vom Identifizieren der eigenen Stärken
bis hin zu Themen wie Organisationsentwicklung und Finanzierung geschult.
Laut dem Scarman Trust sollte es innerhalb dieses Projektes
drei verschiedene
AkteurInnen geben: Der Scarman Trust als „Provider“, der den Prozess in Gang setzt, die
Gruppe schult und Materialien, sowie erste finanzielle Mittel zur Verfügung stellt. Die
MitarbeiterInnen von START als „Learning Community Organiser“, einem Mittler zwischen
dem Provider und der Community, der den Prozess langfristig begleitet und eigene
Ressourcen zur Verfügung stellt24 und schließlich die wichtigste Akteursgruppe, die
Flüchtlinge, als VertreterInnen der (learning) Community. Einige Personen dieser Gruppe
sollen später die Organisation führen, andere bewerben sich für eine Förderung ihres
Projektes aus dem Fond (vgl. The Scarman Trust 2005, 1). An dieser Stelle klarzustellen,
dass alle Entscheidungsmacht bei den AdressatInnen liegt und die beiden anderen
Akteursgruppen lediglich eine unterstützende Rolle einnehmen.
Nach dieser Schulungsphase musste das CDIF Konzept, im vierten Schritt, auf die
spezielle Bedürfnislage und Möglichkeiten der Flüchtlinge in Plymouth herunter
24
Aus der Erfahrung des Projektes zeigte sich, dass nicht nur eine Person als VertrerterIn einer
Organisation unterstützend zur Seite stehen sollte, sondern dass vor allem in der Anfangsphase
ein breites Unterstützungsnetzwerk sinnvoll ist.
60
Teil C
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen
gebrochen werden. Die zu diesem Zeitpunkt Beteiligten sollten sich überlegen, mit
welcher Rechtsform sie die Organisation gründen wollen, wer sich genau für eine
Förderung aus dem Fond bewerben kann, welche Kriterien es für die Vergabe von Geld
geben soll etc. In dieser Phase wurde außerdem das Vorhaben unter den Flüchtlingen in
Plymouth öffentlich gemacht. Hierbei war es beispielsweise wichtig, dass Informationen in
verschiedene Sprachen übersetzt wurden (siehe Anhang 4+5), um Niedrigschwelligkeit zu
garantieren.
Auch
für
die
bereits
aktiven
Flüchtlinge
mussten
viele
der
Schulungsunterlagen des Scarman Trust übersetzt bzw. näher geklärt werden. Sprache
stellte hier eine Barriere da, die jedoch keinesfalls unüberwindbar war, sondern lediglich
mehr Zeit in Anspruch nahm. Nachdem diese Überlegungen abgeschlossen waren,
konnte das Förderprogramm ARTIF gegründet werden.25
7.1.2. Aufbau, Akteure und Finanzierung
Das Leitungskomitee ARTIFs entschied sich zunächst keine rechtliche Organisation zu
gründen, sondern zunächst unter der Schirmherrschaft STARTs zu bleiben. Da das
Komitee
zum
damaligen
Zeitpunkt
aus
drei
Personen
bestand,
waren
die
Voraussetzungen für die Gründung eines gemeinnützigen Vereins (registered charity)
nicht gegeben. Viele Geldgeber setzen jedoch als Kriterium der Mittelvergabe einen
solchen Status voraus. Die Schirmherrschaft STARTs ermöglicht es ARTIF, Teil eines
solchen Vereins zu sein, sowie dessen Räumlichkeiten und Ressourcen nutzen zu
können (vgl. ARTIF 2008a, 1). Das Leitungskomitee hat die Befugnis, rechtliche
Entscheidungen zu treffen und Handlungen auszuführen, die zur Erreichung der von
ARTIF festgelegten Ziele nötig sind (vgl. ARTIF 2008b, 1). Das Komitee verfügt zudem
über Entscheidungsmacht, soll jedoch solang dies nötig und sinnvoll ist, von START und
anderen lokalen Akteuren ihres Vertrauens unterstützt werden. Anfangs erhielt ARTIF von
der Organisation Scarman Trust als Starthilfe 2000 Britische Pfund. (siehe Anhang 6+7)
7.1.3. Ziele, Annahmen und Aufgaben
Ziele ARTIFs sind: „1. To raise and destribute funds that support and/ or benefit individuals
or communites who wish to support the integration, advancement of education, relief of
poverty and improvement of quality of life of refugees and asylum seekers and people in
communities where they live. 2. To work in partnership with other agencies to promote the
sharing of information that supports the mentioned above. 3. To undertake these activities in
the city of Plymouth and the Counties of Devon and Cornwall.“ (ARTIF 2008a, 1).
Ziel von ARTIF ist es einen Fond zu bilden und zu verwalten und aus diesem
Förderungsmittel zu vergeben um Projektvorhaben zu unterstützen, die das psychische,
25
Dies war ein langer Entstehungsprozess mit Hochs und Tiefs. Aufgrund des begrenzten
Rahmens dieser Arbeit kann der Prozess leider nicht ausführlicher beschrieben werden.
61
Teil C
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen
soziale und körperliche Wohlbefinden von Flüchtlingen fördern, sowie Gruppen und
Individuen dadurch befähigen selbst aktiv zu werden, Ressourcen und Kompetenzen zu
erschließen und dadurch insgesamt die Lebenslage von Flüchtlingen verbessern. ARTIF
vertritt die These, dass sich Gemeinschaften nur durch den Ansatz an vorhandenen
Potentialen, Kapital und Ressourcen entfalten können. Gemeinschaften sind voll von
solchen, bisher oft unentdeckten Ressourcen. (vgl. ARTIF 2008a, 2). (siehe Anhang 6+7)
7.1.4. AdressatInnen und geförderte Projekte
Für eine Förderung des ARTIF Fonds kann sich Jede/r26, nicht nur Flüchtlinge, bewerben.
Die erworbenen Mittel müssen für Projekte ausgegeben werden, welche die von ARTIF
aufgestellten Kriterien erfüllen. Dies sind beispielsweise, dass Projekte nur von
Ehrenamtlichen durchgeführt werden dürfen, das Wohlbefinden von Flüchtlingen in Devon
und Cornwall gefördert wird, Förderung des Erwerb und der Erweiterung von
Kompetenzen der Beteiligten sowie dass es ein neues Projekt ist, oder ein vorhandenes
Projekt weiterentwickelt wird. Projekte sollten außerdem beispielsweise mit Familien oder
jungen Menschen arbeiten, sowie interkulturelle Integration verbessern. Nicht unterstützt
werden religiöse Zwecke, politisch fundamentale Ziele, Ausbesserungen an Gebäuden
etc. (vgl. ARTIF 2008a, 2). Die Fördermittel dürfen außerdem nie nur einer Person zugute
kommen, sondern sollen jeweils eine Teilgruppe der Zielgruppe Flüchtlinge in Devon und
Cornwall unterstützen. Grundsätzlich werden Projekte gefördert, die der Zielsetzung von
ARTIF entsprechen. Dies können beispielsweise auch Öffentlichkeitsarbeit und
Lobbyarbeit für Flüchtlinge und von Flüchtlingen sein. (siehe Anhang 6-8)
7.1.5. Prozess der Vergabe von Förderungsmitteln
Eine Individuum/ eine Gruppe füllt einen Antrag auf einen Förderbetrag aus dem ARTIF
Fond aus, worin vor allem das Vorhaben mit jeweiligen Zielen und die Verwendung des
Geldes beschrieben werden sollen. Das ARTIF Leitungskomitee - bzw. wächst die
Organisation - das zuständige Gremium, entscheidet dann innerhalb einer gesetzten Frist
über die Vergabe eines Förderungsbetragen von bis zu 200 Britischen Pfund.
Anschließend tritt das Komitee mit den AntragsstellerInnen in Verbindung und arrangiert
ggf. ein Treffen, in dem die Bedingungen der Vergabe des Geldes nochmals erklärt
werden. Sind alle Unklarheiten beseitigt unterschreiben beide Parteien einen Vertrag.
Die Verantwortlichen des geförderten Projektes sollten vor ARTIF Rechenschaft über die
Verwendung des Geldes ablegen. Ggf. kann durch das Projekt eingenommenes Geld in
den ARTIF Fond einbezahlt werden.
26
Somit können auch Mitglieder der Aufnahmegesellschaft Teil von ARTIF sein, indem sie Projekte
für Flüchtlinge durchführen.
62
Teil C
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen
7.1.6. Rolle der Sozialen Arbeit
Die Rolle der Sozialen Arbeit (in diesem Fall des Mitarbeiters des Scarman Trust, meiner
Kollegin und mir) war es, das Projekt so lange und intensiv zu unterstützen, wie dies von
den beteiligten Flüchtlingen gewünscht ist. Die Rollen, die SozialarbeiterInnen in diesem
Prozess innehatten waren, Schulung und Beratung, (kritische) Begleitung des Prozesses,
eine
Brückenfunktion
zwischen
verschiedenen
AkteurInnen
zu
erfüllen,
eigene
Ressourcen soweit möglich und sinnvoll zur Verfügung zu stellen und das ARTIF
Leitungskomitee, sowie die AntragsstellerInnen auf Anfrage zu unterstützen. Die
Erfahrung zeigte, dass anfangs am meisten Unterstützung nötig war, die Intensität dann
jedoch kontinuierlich abnahm. Wichtig ist, dass die beteiligten SozialarbeiterInnen den
Flüchtlingen
mit
einer
Empowerment-Haltung
gegenüber
treten,
sie
eigene
Entscheidungen treffen lassen und ihnen zunehmend Eigenverantwortung zugestehen27.
7.2.
Ist ARTIF ein Empowerment-Projekt?
In Kap. 3.3 wurde ein Überblick über die wichtigsten Empowerment-Kriterien gegeben. Im
Folgenden soll nun geprüft werden, ob diese auf ARTIF zutreffen und es somit als
Empowerment-Projekt bezeichnet werden kann. Als erstes Kriterium wurden im
genannten Kapitel folgende Ziele genannt: Selbstbemächtigung, Beendigung einer
Mangel- bzw. Benachteiligungssituation oder gesellschaftlicher Ausgrenzung, Förderung
der Aktivität von Betroffenen und Bewusstmachen ihres potentiellen Einflusses auf ihre
Situation,
sowie
Ressourcenerschließung
und
Kompetenzgewinn
zu
einer
Selbstbestimmten Lebensführung. Die von ARTIF formulierten Ziele in Kap.7.1.3 zeigen
eine deutliche Übereinstimmung. Als zweites Kriterium wurden die Werte soziale
Gerechtigkeit, Partizipation, sowie Ressourcenorientierung und –Aktivierung benannt.
Auch ARTIF sind diese Werte wichtig, was sich in den Zielen und Annahmen
widerspiegelt. Auch der veränderte Blickwinkel und die Haltung der beteiligten
SozialarbeiterInnen gegenüber ihren KlientInnen - das dritte Kriterium - war eine
zentrale Voraussetzung dafür, dass ARTIF entstehen konnte. Das von mir hinzugefügte
vierte Kriterium besagt, dass die Voraussetzungen für Empowerment dort, wo sie
scheinbar nicht gegeben sind, hergestellt werden sollen. Vor allem in ARTIFs
Anfangsphase waren viele KollegInnen skeptisch, ob ARTIF überhaupt eine Chance zum
entstehen hätte. Zudem mussten meine Kollegin und ich zunächst viel Zeit investieren,
um Flüchtlinge zu ermutigen und ihnen den Prozess zu erklären. Das schließlich letzte
Kriterium, die konsequente praktische Umsetzung der formulierten Ziele und Werte, war
im Entstehungsprozess ARTIFs nicht immer einfach und ist es auch heute nicht. Meiner
27
Ebenfalls im Anhang zu finden sind Materialien, wie z.B. Flyer und Plakate aus der
Öffentlichkeitsarbeit von ARTIF (siehe Anhang 9-11).
63
Teil C
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen
Ansicht nach wäre die Behauptung, dass diese Werte und Vorsätze jederzeit, bei jeder
Entscheidung und Handlung eingehalten wurden falsch. Doch insgesamt können
Bemühungen der praktischen Umsetzung der Überzeugungen klar festgestellt und
bestätigt werden. Es passt ebenfalls gut in die Beschreibung der Netzwerkarbeit, eines
Werkzeugs des Empowerments auf der Gruppenebene (siehe Kap.2.3.3). Fazit: Alle für
das Empowerment wichtigen Kriterien, die in dieser Arbeit benannt wurden, werden von
ARTIF erfüllt. Somit besteht kein Zweifel daran, dass ARTIF ein Empowerment-Projekt ist.
8. Fazit – Empowerment mit Flüchtlingen ist nötig und möglich!
Die Frage nach der Nötigkeit des Empowerments in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen,
über die in der wissenschaftlichen Debatte ein Konsens besteht, konnte in Kap.7
eindeutig als gegeben beantwortet werden. Eine Antwort auf die Frage der Möglichkeit ist
aufgrund fehlender wissenschaftlicher Fundierung schwieriger. Erfahrungsberichte und
eigene Erfahrungen in der Praxis verdeutlichten, dass die Frage mit Ja beantwortet
werden kann. Alle Projekte zeigten jedoch auf, dass es einige Ausgangsschwierigkeiten
bzw. Hindernisse in der empowernden Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen gibt. Das
Bielefelder Projekt berichtet z.B. von wenig Engagement, das Gartenprojekt erkennt an,
dass die deprivierende Lebenslage von Flüchtlingen viele Hürden zum Aktivwerden in
sich birgt. Auch bei ARTIF gab es einige Anlaufschwierigkeiten und immer wieder lies das
Interesse und die Zuverlässigkeit einzelner Flüchtlinge nach einiger Zeit nach. Durch das
ARTIF Projekt wurde mir unter anderem bewusst, dass in der Frage der Möglichkeit von
Empowerment mit Flüchtlingen in einigen Punkten Unterschiede zwischen Personen mit
ungesichertem Aufenthaltsstatus und jenen mit gesichertem Aufenthaltsstatus bestehen.
Im Punkt Selbstorganisation ist beispielsweise ein langfristiges Engagement von
Asylsuchenden und De-facto-Flüchtlingen kaum möglich, da sie jederzeit abgeschoben
werden könnten. Und doch ist Empowerment auch mit ihnen auf einer anderen Ebene
möglih. Mir ist es daher wichtig nochmals auf die verschiedenen Ebenen des
Empowerments, heruntergebrochen auf die Flüchtlingssozialerbeit einzugehen. START ist
ein gutes Beispiel dafür, dass Empowerment auf verschiedenen Ebenen mit
verschiedenen Statusgruppen möglich ist.
STARTs Zielsetzung ist „To work in partnership with families, indivduals and organisations to
facilitate the transition of refugees from people in need to self-reliant contributors for their
local community“ (Butler 2007, 237).
Wichtige Elemente und Werte der Organisation sind, dass AdressatInnen TeilhaberInnen
sind, eine ganzheitliche und nicht an Kriterien gebundene Bedürfnisanalyse, ein
multiprofessionelles Team, dass die KlientInnen der Fokus aller Planungen sind und
Handlungen auf die Stärkung und Freisetzung dieser abzielen (vgl. Butler u.a. 2006, 64).
64
Teil C
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen
„The organisation incorporates further models in which disadvantage and oppression are
taken seriously and where assessment of need, resilience and strenghs results in creativ
responses, empowerment and respect as well as enhacing or restoring the capacity for
social funktioning, coping and developmental capacities.“ (Smith 2007, 3)
Auf der individuellen Ebene findet Empowerment bei START innerhalb der Einzelfallhilfe
statt. Hier werden Individuen dazu befähigt, ihr Leben innerhalb der englischen
Gesellschaft eigenverantwortlich und selbst gestaltend zu führen. Der Prozess fängt bei
einer ganzheitlichen Analyse der Lebenslage und Ressourcen an. Sowohl das
Gartenprojekt, als auch ARTIF haben meiner Meinung nach Effekte des Empowerments
auf individueller Ebene darin, dass Individuen aktiver werden und anfangen wieder an die
eigenen Stärken zu glauben. ARTIF hat jedoch ganz klar auch Effekte des
Empowerments auf der Gruppenebene, indem Kräfte und Ressourcen gebündelt, sowie
Menschen vernetzt werden. Durch die Einstellung von Flüchtlingen als Ehrenamtliche
innerhalb der Organisation und Vermittlung von Ehrenamt außerhalb der Organisation
empowert START Flüchtlinge auf institutioneller Ebene. Immer wieder hinterfragt START
die eigenen Strukturen auf eine empowernde Wirkung und bleibt somit eine lernende
Organisation. In Kontakten mit Behörden und Ämtern werden Kooperationen und
Veränderungen zugunsten der Lebenslage von Flüchtlingen in Plymouth angestrebt. Auf
der Gemeindeebene muss die Kommune selbst die Strukturen zur Förderung der
Selbstorganisation
von
Flüchtlingen
schaffen.
Trotzdem
kann
START
durch
Öffentlichkeitsarbeit und Vertretung der Interessen von Flüchtlingen, sowie durch ARTIF
einen Beitrag zum Empowerment von Flüchtlingen auf dieser Ebene leisten.
Durch diese Beschreibung am Beispiel der Organisation START wird deutlich, dass
sich die Ebenen des Empowerments nicht immer klar trennen lassen, sondern Projekte
wie ARTIF beispielsweise, empowernde Effekte auf verschiedenen Ebenen haben.
Dass sich der Zugang zu Selbstorganisation von Asylsuchenden als erscherter als für
Asylberechtigte darstellt, heißt jedoch nicht, dass Empowerment mit ihnen nicht möglich
ist. Hier wird mein Gedanke, den ich in Kap.3.3 formulierte, wichtig: Empowerment muss
hier dabei anfangen, die Bedingungen für gelingende Selbstbemächtigung der KlientInnen
herzustellen, indem sich SozialarbeiterInnen zum einen politisch für die AdressatInnen
einsetzen und zum anderen zur Schaffung innerer und äußerer Sicherheit dieser
beitragen. Wäre ich in dieser Arbeit zu einem anderen Schluss gekommen, nämlich dass
Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen aufgrund ihrer prekären
Lebenslagen nicht möglich ist, hätte dies die Kritik des Empowerment-Konzeptes an der
traditionellen Sicht der Sozialen Arbeit, nämlich dem Defizitblickwinkel, im Kern getroffen.
65
Resümee
RESÜMEE
Das Empowerment-Konzept schlägt, wie deutlich geworden ist, einen radikalen
Perspektivwechsel von einer Defizitorientierung, zu Ressourcenorientierung vor. Es
unterscheidet sich somit deutlich von der traditionellen Praxis Sozialer Arbeit und trägt
damit zu einer Reu-Orientierung an den berufsethischen Werten Sozialer Arbeit und
Anforderungen aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen bei.
Die Darstellung der prekären Lebenslagen von Flüchtlingen und die damit verbundenen
Menschenrechtsverletzungen gegenüber dieser Gruppe stellen die Forderung einer RePolitisierung an die Soziale Arbeit und zeigen wie wichtig die sozialarbeiterische
Unterstützung dieser Gruppe ist. Zu unterstützen ist ebenfalls eine interkulturelle Öffnung
der Mainstream-Angebote Sozialer Arbeit, um ihnen mehr Teilhabe zu ermöglichen.
Mit der Aussage, dass Empowerment in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen möglich ist,
möchte ich nicht leugnen, dass es einige Barrieren bzw. Hindernisse bei der Realisierung
einer empowernden Praxis gibt. Die dargestellten prekären Lebenslagen von Flüchtlingen
in Deutschland laden zu einer defizitorientierten Sichtweise auf diesen Personenkreis
geradezu ein. Oft sind SozialarbeiterInnen, die in der Flüchtlingssozialarbeit tätig sind
frustriert, da sie durch die restriktiven Rahmenbedingungen in vielen Situationen machtlos
sind, etwas zu verändern. Schon allein mit einem Blick auf die zeitliche Dimension
Empowerments einerseits und Arbeitsauslastung andererseits würde die Aussage, dass
eine empowernde Haltung in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen unmöglich ist, zunächst
nicht als ungerechtfertigt erscheinen lassen. Diese und andere Hindernisse stehen einer
empowernden und emanzipatorischen Sozialen Arbeit in diesem Arbeitsfeld im Weg.
Gerne wäre ich in meiner arbeit intensiver auf diese Hindernisse und Konfliktpotentiale
eingegangen, da deren Identifizierung meiner Meinung nach der erste Schritt zu einer
veränderten Praxis ist. Leider ist jedoch der Rahmen dieser Arbeit für eine solche
Ausarbeitung der Thematik zu eng gefasst. Außerdem wäre es aufgrund der geringen
Auseinandersetzung in der wissenschaftlichen Debatte mit diesem Thema schwer
geworden, wissenschaftlich, jedoch nicht forschend an diese Thematik heranzugehen.
Sowohl durch die Erfahrungen von ARTIF als auch die Erfahrungen aus den anderen
beschrieben Projekten wird jedoch deutlich, dass eine empowernde Praxis der Sozialen
Arbeit mit Flüchtlingen durchaus nötig und möglich ist. Wie bereits im Fazit des Teil C
beschrieben, wäre es ganz im Sinne der Kritik des Empowerment-Konzeptes an der
traditionellen Sozialen Arbeit, wenn aufgrund der defizitären Lage Empowerment für eine
66
Resümee
Illusion gehalten werden würde. Diese Aussage bzw. These müsste meiner Meinung nach
jedoch zum einen theoretisch und wissenschaftlich stärker fundiert werden. Zum anderen
ist innerhalb der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen ein Umdenken nötig, im Zuge dessen
SozialarbeiterInnen, die in diesem Feld tätig sind, ihr Handlungsfeld auf EmpowermentMöglichkeiten untersuchen. Gerne wäre ich in dieser Arbeit außerdem näher darauf
eingegangen, was wichtige Elemente und Grundsätze einer empowernden Praxis
Sozialer Arbeit mit Flüchtlingen sind und wie sich diese in die Praxis umsetzen lassen
bzw. wie eine solche Umsetzung aussehen könnte. Meiner Meinung nach ist dies eine
wichtige Fragestellung, die zukünftig in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit
diesem Thema gestellt und beantwortet werden sollte. Leider hat der Rahmen der
Bachelorarbeit eine solche Beschäftigung mit der Thematik nicht zugelassen. Das ARTIF
Projekt in Plymouth ist jedoch meiner Meinung nach ein Zeichen dafür, dass
Empowerment mit Flüchtlingen möglich ist und wie die Werte und Ziele des
Empowerment-Konzeptes praktisch umgesetzt werden können.
Da es jedoch angesichts der asylpolitischen Richtung in Deutschland, so wie es sich
darstellt, keinen Wechsel von einer Abschreckungspolitik zu einer Integrationspolitik
geben wird und somit kaum zu erwarten ist, dass mehr staatliche Gelder für die
Flüchtlingssozialarbeit zur Verfügung gestellt werden, plädiere ich dafür, dass sich
SozialarbeiterInnen zunehmend für eine interkulturelle Öffnung von Behörden und
Einrichtungen einsetzen und interkulturelle Kompetenz weiter ausgebaut und gefördert
wird. Zudem ist es meines Erachtens von Bedeutung, dass sich SozialarbeiterInnen als
VertreterInnen
der
Menschenrechtsprofession für
die
Rechte
von
Flüchtlingen,
insbesondere von Asylsuchenden und De-facto-Flüchtlingen in Deutschland einsetzen
und somit ihre politische Verantwortung wahrnehmen. Angestellte kirchlicher und freier
Träger haben hierbei eine besondere Verantwortung, da sie in gewissen Bereichen ein
anderes Verhältnis zum Staat haben, als Angestellte staatlicher Träger.
„Wieso macht man aus einem Flüchtling vier? Warum wird mit fragwürdigen Statistiken,
Behauptungen und Vorurteilen das ‚Asylproblem’ hochgespielt? Die ist uns allen ein Rätsel.
Da ich mit meinem Schreiben die Möglichkeit hatte, mein Anliegen in die Öffentlichkeit zu
bringen, bin ich zum ersten mal glücklich.“ (Mostafa Nahvi, in Varchmin 1990, 82)
Dieses Zitat stammt vom Ende des biographischen Aufsatzes von Mostafa Nahvi, der
selbst als Flüchtling nach Deutschland kam. Es verdeutlich meiner Meinung nach, was für
einen Unterschied eine ressourcenorientierte und empowernde Haltung und Arbeitsweise
im Leben von Flüchtlingen machen können. Vermutlich hat es eine lange Zeit gedauert,
bis Mostafa den Artikel verfasst hatte. Vermutlich wäre es schneller gegangen, wenn
jemand den Artikel für Mostafa verfasst hätte. Und doch hat das Ergebnis eine ganz
besondere Bedeutung für ihn und war die vermutlich aufgewendete Geduld wert
67
Literaturverzeichnis
L I T E R A T U R V E R Z E IC H N I S
Abdallah-Steinkopf, Barbara. „Hinweise für den Umgang mit traumatisierten
Flüchtlingen“.
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75
Erklärung
ERKLÄRUNG
Hiermit versichere ich gemäß § 28 der Studien- und Prüfungsordnung der Hochschule
Esslingen – Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege, dass ich diese Bachelorarbeit
selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel
benutzt habe.
Esslingen, Dezember 2008
Judith Nettelroth
76
ANHANG
Anhangsverzeichnis
Anhang 1:
„Drei Männer im Bus“ Zeitungsartikel
78
Anhang 2:
What is a Can DO Investment Fund?
80
Anhang 3:
Can Do – support for learning communities
81
Anhang 4:
Information über CDIF in Arabisch
82
Anhang 5:
Information über CDIF in Tigrinya
84
Anhang 6:
ARTIF Business Plan
86
Anhang 7:
ARTIF Constitution
89
Anhang 8:
ARTIF Terms of Reference
92
Anhang 9:
ARTIF Flyer
93
Anhang 10:
ARTIF Poster1
95
Anhang 11:
ARTIF Poster2
96
77
Anhang 1: „Drei Männer im Bus“ Zeitungsartikel
Quelle: DIE ZEIT. Vom 30.10.2008, S.12
78
79
Anhang 2: What is a Can Do Investment Fund?
Quelle: The Scarman Trust. Unveröffentlichtes Manuskript
80
Anhang 3: Can Do – support for learning communities
Quelle: The Scarman Trust. Broschüre: „Can Do – Support for LearningCommunities“. 2005
81
Anhang 4: Information über CDIF in Arabisch
Quelle: ARTIF. Unveröffentlichtes Manuskript. 2007
82
83
Anhang 5: Information über CDIF in Tirinya
Quelle: ARTIF. Unveröffentlichtes Manuskript. 2007
84
85
Anhang 6: ARTIF Business Plan
Quelle: ARTIF. Unveröffentlichtes Manuskript. 2008
86
87
88
Anhang 7: ARTIF Constitution
Quelle: ARTIF. Unveröffentlichtes Manuskript. 2008
89
90
91
Anhang 8: ARTIF – Terms of Reference
Quelle: ARTIF. Unveröffentlichtes Manuskript. 2008
92
Anhang 9: ARTIF Flyer
Quelle: ARTIF. 2008
93
94
Anhang 10: ARTIF Poster 1
Quelle: ARTIF. 2008
95
Anhang 11: ARTIF Poster 2
Quelle: ARTIF. 2008
96
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