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KLASSIK
MAGAZIN 2010
S t i m m e n, T ön e , H a r mon i e n
A l l e s ü b e r d e n E C H o K l a ss i k
I n t e rv i e w s , H i n t e rg rü n de u n d R e p ortag e n
Ist die Klassik
ein Monster?
Cecil i a Ba rtol i u nd a nder e Sta rs
e r k l ä r e n da s A be n t e u e r M usi k
Sendetermin
17.10.2010
22 Uhr im ZDF
w w w. e c h o k l a s s i k . d e
E CH O K LAS S IK M AGAZ IN
HOLEN SIE SICH DIE ECHO-STARS
NACH HAUSE.
2CD 480 4478
ET: 15.10.2010
DIE DOPPEL-CD MIT ALLEN PREISTRÄGERN
DES ECHO KLASSIK 2010
www.klassikakzente.de/echoklassik
So klug und so schön wie in diesem Jahr
war die Klassik selten! Der Beruf des Musikers
hat sich gewandelt. Heute wird nicht mehr nur schön
gesungen, genial gegeigt und virtuos Klavier gespielt.
Mit der Technik in der klassischen Musik ist es wie mit
den Leistungen im Sport: die Interpretationen werden
immer besser, ausgefeilter und raffinierter. Aber das
ist noch nicht alles. Heute beherrschen Musiker nicht
mehr nur ihre Instrumente. Sie sind zu Wissenschaftlern der Musik geworden, zu Abenteurern im Weinberg
des Klanges, zu Philosophen der Klassik:
Ein Dirigent wie Nikolaus Harnoncourt sucht seit jeher nach den
Ursprüngen seiner Musik,
Vorworte 4 · Das Multimedium 8 · Alice Sara Ott 12
Paavo Järvi oder die GeigeLeif Ove Andsens, Evgey Kissin, Arabella Steinbacher 14
rin Isabelle Faust stellen
Murray Perahia 15 · Jonas Kaufmann 16 · Joyce DiDonato 18
ganz neue Fragen an BeMinguet Quartett, Gautier Capucon, Christina Pluhar 20 · Nikolaus Harnoncourt,
ethoven, Cecilia Bartoli
Isabelle Faust 21 · MDG 22 · Angelika Kirchschlager 24 · Olga Scheps 25
wird zur Historikerin,
Tabea Zimmermann, Nils Mönkemeyer 26 · David Garrett 27 · Cecilia Bartoli 28
wenn sie sich auf die
Huelgas Ensemble, Paavo Järvi 30 Mariss Jansons, Ulf Schirmer 31 · Lang Lang 32
Suche nach der grauHannover Chöre 34 · Bryn Terfel 35 · Casal Quartett, Marek Janowsky 36 · Amarcord 37
samen Geschichte
Bruno Weil, Martin Schmieding, Jos van Immerseel 38 · Hélène Grimaud 39
der Kastraten macht,
Vivica Genaux, Karl Amadeus Hartmann, Yannick Nézet-Séguin 40
und die Geigerin TaLautten Compagney, Mihaela Ursuleasa, Christiane Karg 41 · Juan-Diego Flórez 42
bea Zimmermann verChristian Zacharias, Meta4 44 · Oswaldo Golijow, Janine Jansen 45
schachtelt das Barock
Gerd Schaller, Belcea Quartett 46 · Albrecht Mayer 47
mit der Moderne. Die MuFura dels Baus, See-Igel 48 · Fauré Quartett 49 · Sting 50
siker werden immer klüger
und verstehen es dabei, ihr
Publikum auf spannende Reisen
in die universelle Seelenlage des Menschen mitzunehmen. Sie sind auf den Konzertpodien
inzwischen ebenso zu Hause wie in Fernsehshows oder
in Stadthallen. Die Klassik ist zu einer neuen Populärkultur geworden. Und das im besten Sinne! Sie steht im
Mittelpunkt der Gesellschaft und nimmt sich Fragen
vor, die uns alle angehen. Sie spricht über Psychologie,
Politik und Gesellschaft. Und das stets mit der Logik
der strengen Form und der Emotionalität des Klanges.
Einige der klügsten und besten Musiker und ihre Missionen stellen wir ihnen in diesem Heft vor.
Die ECHO-Preisträger 2010 sind der Beweis, dass
die Klassik so munter lebt wie selten zuvor. Viel Vergnügen bei der Lektüre wünschen Ihnen Daniel Knöll und
Axel Brüggemann.
4|5
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN
Der ECHO Klassik:
Klassik für Millionen: 15. ECHO-Klassik-Verleihung im ZDF
Grußwort von ZDF-Programmdirektor Dr. Thomas Bellut
J
Sendertermin
17.10.2010
22 Uhr im ZDF
ubiläum einer Erfolgsgeschichte:
Zum 15. Mal überträgt das ZDF die
Verleihung des ECHO Klassik! 1996
war „Ein Echo für Dresden“, wie die
Sendung damals hieß, eine Benefizgala für
den Wiederaufbau der Frauenkirche, die live
zur Mittagszeit aus der Semperoper übertra­
gen wurde. Vom Ergebnis waren alle ebenso
überrascht wie erfreut: über 14 Prozent
Marktanteil. Damit war klar: Das müssen wir
fortsetzen.
2001 folgte für „Echo der Stars“ dann ein wei­
terer wichtiger Schritt: der Umzug ins Abend­
programm, was die Zahl der Zuschauer ver­
doppelte. Dieser Erfolg belegt, dass man auch
mit dem vermeintlich schwierigen Kulturgut
Klassik ein Millionenpublikum erreichen kann.
Noch dazu, wenn wie dieses Jahr Thomas
Gottschalk durch „Echo der Stars“ führt.
Unsere Aufgabe als Fernsehmacher ist, un­
seren Zuschauern in kontinuierlicher Format­
arbeit den Zugang zu klassischer Musik zu er­
leichtern und Lust auf Klassik zu wecken. Am
besten gelingt dies, wenn bekannte Künstler
beliebte Werke präsentieren. Doch wir suchen
auch die Stars von morgen. Anna Netrebko,
Rolando Villazón oder Lang Lang beispiels­
weise, heute weltberühmt, galten noch als
Geheimtipp, als sie im ZDF ihren ersten TVAuftritt in Deutschland hatten. Und auch bei
„Echo der Stars“ treten alljährlich Newcomer
neben gefeierten Stars auf: 2010 steht in
Essen der Pianist Lang Lang zusammen mit
seinen jungen Kolleginnen Olga Scheps und
Alice Sara Ott auf der Bühne.
Dabei garantieren auch in diesem Jahr ein mo­
dernes multimediales Bühnenbild sowie inno­
vative Bühnen-, Kamera- und Lichttechnik,
dass die großen Auftritte opulent in Szene
gesetzt werden. Wir bereiten der Klassik und
ihren Interpreten die Bühne, damit sich die
große emotionale Kraft der Musik und das
Talent der Künstler frei entfalten können.
In 15 Jahren steter Arbeit haben wir mit
„Echo der Stars“ eine Gala etabliert, die für
die Klassik­szene zum Branchentreff und für
das ZDF zu einer wichtigen Programmmarke
geworden ist.
Diese Gala ist seit 15 Jahren ein fixer Termin
für alle Klassikfans unter unseren Zuschauern
und die, die es noch werden wollen.
Ich danke unserem Partner, dem Bundesver­
band Musikindustrie, dessen Kulturinstitut,
die Deutsche Phono-Akademie, den ECHO
Klassik verleiht, für die gute Zusammenarbeit
und freue mich, sie in den nächsten Jahren
fortzusetzen.
DR. thomas bellut
programmdirektor des ZDF
Klimax Klassik
I
ch freue mich sehr, dass die Verleihung
des 17. ECHO Klassik in Essen – also
mitten in der europäischen Kulturhaupt­
stadt RUHR.2010 – stattfindet. Ich bin
mir sicher, dass die Preisverleihung ein wei­
teres Highlight des an kulturellen Höhepunk­
ten ja nicht armen Kulturhauptstadtjahres
sein wird. Auch in diesem Jahr werden wieder
Künstler von Weltrang beim ECHO Klassik
erwartet, was die hochkarätige Besetzung der
Fernsehgala „ECHO der Stars“ bestätigt.
Besonderes erfreulich ist die Rekordbeteili­
gung beim ECHO Klassik in diesem Jahr. Rund
60 Labels wie zum Beispiel Sony Classical,
Universal Classics & Jazz, EMI Classics, Hänss­
ler Classic, cpo, Ars Produktion oder MDG und
viele weitere reichten in diesem Jahr Tonträger
ihrer Klassik-Stars und jungen Talente aus al­
ler Welt für die Teilnahme am bedeutendsten
Klassikpreis ein. Insgesamt zählte die Deut­
sche Phono-Akademie, das Kulturinstitut des
Bundesverbandes Musikindustrie e. V., in der
siebenwöchigen Nominierungsphase mehr als
570 Nominierungen für 248 Tonträger. Diese
beachtliche Zahl belegt einmal mehr, dass
Klassik auf dem Vormarsch ist. So legte auch
das Gesamtangebot von Klassiktonträgern
auf dem deutschen Markt im letzen Jahr deut­
lich um 14,9 Prozent zu.
In diesem Jahr kommen mehr als die Hälfte
der ECHO Klassik-Preisträger von kleineren
Labels, die es sich zur besonderen Aufgabe
gemacht haben, die Vielfalt und Wahrneh­
mung klassischer Musik auch in speziellen
Genrebereichen zu fördern und zu stärken –
das freut mich ganz besonders.
Die Bemühungen der gesamten Branche,
Klassik einem jüngeren Publikum zugänglich
zu machen, scheinen Erfolg zu haben. Neue
Künstler und ECHO Klassik-Preisträger wie
beispielweise David Garrett, Nils Mönke­
meyer, Meta4., Olga Scheps oder Christiane
Karg sprechen auch eine junge Zielgruppe an
und sind Botschafter und Zeugen einer jungen
und frischen Generation.
Letztendlich ist dieser Erfolg auch ein Ergeb­
nis der guten Zusammenarbeit mit dem ZDF,
das nunmehr seit 15 Jahren gemeinsam mit
uns die klassische Musik einer breiten Öffent­
lichkeit präsentiert und dieser Musik einen
besonderen Stellenwert im Rahmen ihres
Sendekonzeptes einräumt. Besonders freue
ich mich in diesem Jahr darauf, dass Thomas
Gottschalk die Preisvergabe moderieren wird.
Er ist gleichsam einer der besten und be­
liebtesten Moderatoren des deutschen Fern­
sehens und wird dem ECHO Klassik ein neues
Gesicht geben und ihn in der öffentlichen
Wahrnehmung weiter stärken.
Ihnen allen wünsche ich einen unterhalt­
samen und fulminanten ECHO Klassik in der
Philharmonie Essen.
Herzlichst
Prof. Dieter Gorny
Vorstandsvorsitzender Bundesverband
Musikindustrie e.V.
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN
KULTUR IN ESSEN.
TUP
16. November 2010
Cecilia Bartoli
& Kammerorchester Basel
„Sacrificium – La Scuola dei Castrati“
WILLKOMMEN IN essen!
Sehr geehrte Damen und Herren, der ECHO
Klassik gehört ohne Frage zu den bedeu­
tendsten Auszeichnungen für Interpreten
klassischer Musik. Dass die Gala zur Preisver­
leihung nun erstmals in Essen stattfindet, ist
für die Stadt eine besondere Ehre. Ich nehme
die Wahl nicht zuletzt als Anerkennung für
all das wahr, was Essen in den vergangenen
Jahrzehnten zu einer lebendigen Kulturland­
schaft über die Region hinaus beigetragen
hat und auch in Zukunft beitragen wird. Ich
bin überzeugt, dass die Philharmonie als
Gastgeber und die Essener Philharmoniker
der diesjährigen ECHO Klassik-Gala einen
außergewöhnlichen Glanz verleihen werden.
Allen Preisträgerinnen und Preisträgern
gratuliere ich ganz herzlich und wünsche den
mitwirkenden Künstlern und Gästen einen
wunderbaren Abend in der Kulturhauptsstadt
RUHR.2010!
Reinhard Paß
Oberbürgermeister der Stadt Essen
Als Generalmusikdirektor der Stadt Essen
freut es mich außerordentlich, dass der Echo
Klassik dieses Jahr im Zentrum der Kultur­
hauptstadt RUHR.2010 verliehen wird. Die
Stadt und mit ihr die Essener Philharmoniker,
die als Orchester die heutige hochkarätige
Konzertveranstaltung mittragen, blicken auf
eine reiche musikalische Tradition bis zu Gu­
stav Mahler und Richard Strauss zurück, die
in diesem Haus ihre Werke aufgeführt haben.
Die herausragenden Musiker von heute und
morgen, die jetzt hier ausgezeichnet werden,
haben ihr Publikum erreicht. Sie sind Bot­
schafter unserer wunderbaren Kunst und mit
ihrer Präsenz auf Tonträgern der Beweis, dass
Musik mitten ins Leben der Menschen ge­
hört. Damit unterstützen sie uns wirksam in
unserer Aufgabe, die Musik der Bürgerschaft
dieser Stadt immer wieder nahe zu bringen.
Ich sage allen Teilnehmern ein aufrichtiges
Toi-toi-toi und wünsche den Zuhörern einen
inspirierenden, genussreichen Abend.
Stefan Soltesz
Generalmusikdirektor der Stadt Essen
Wir freuen uns sehr, dass die Philharmonie
Essen erstmals Gastgeber der ECHO KlassikGala sein wird. Dieses Haus ist mit seinem klar
formulierten Anspruch ein wirklich passender
Ort für die Veranstaltung. Schließlich sollen mit
dem ECHO Klassik nicht nur Weltstars ausge­
zeichnet, sondern auch junge Talente gefördert
werden. Das ist eine Balance, mit der sich die
Philharmonie identifiziert. Zum einen sind wir
mit unserem eigenen Programm bestrebt, dem
Publikum neben großen Namen auch die inter­
nationalen Nachwuchskünstler zu präsentieren,
die uns alle mit ihrem unglaublichen Können,
ihrer leidenschaftlichen Hingabe zur Musik
und ihrer musikalischen Neugier begeistern.
Zum anderen verkörpert das Gebäude selbst
eine gelungene Synthese aus Alt und Neu, aus
etablierter und moderner Architektur: Der histo­
rische Saalbau, in dem Gustav Mahler einst die
Uraufführung seiner sechsten Sinfonie leitete,
erstrahlt seit 2004 in neuem Glanz. Ich heiße
Sie als Gäste sowie alle auftretenden Künstler
in der Philharmonie herzlich willkommen beim
ECHO Klassik 2010!
Gefördert von der NATIONAL-BANK AG.
30. Oktober 2010
2. Dezember 2010
Christian Gerhaher, Bariton
Gerold Huber, Klavier
Michael Autenrieth, Rezitation
Berg · Schönberg · Beethoven ·
Webern · Haydn
Martin Stadtfeld, Klavier
Mozarteumorchester Salzburg
Ivor Bolton, Dirigent
Gluck · Mozart
7. November 2010
„Tell it like it is“
Thomas Quasthoff
& Friends
Lied & Lyrik
Christian Gerhaher
Martin Stadtfeld
spielt Mozart
18. Dezember 2010
Brahms: Requiem
Windsbacher Knabenchor
Christiane Oelze, Sopran u. a.
Juan Diego Flórez, Tenor
Württembergisches Kammerorchester
Alessandro Vitiello, Dirigent
Rossini · Verdi · Cimarosa · Boieldieu u. a.
Anne Sofie von Otter, Mezzosopran
Michael Schade, Tenor
Thomas Quasthoff, Bassbariton
Max Raabe, Gesang | Maria João, Gesang
Götz Alsmann und Thomas Quasthoff,
Moderation u. v. a.
Mahler Chamber Orchestra &
Andrea Marcon
WDR Big Band Köln &
Michael Abene
Gefördert von der Kulturstiftung Essen.
Gefördert von der DIHAG.
Gefördert von der Philharmonie-Stiftung
der Sparkasse Essen.
25. November 2010
Juan Diego Flórez
29. November 2010
In Residence: András Schiff
Hommage à
Robert Schumann
Alle Konzerte der Spielzeit 2010 | 2011 sind
bereits im Vorverkauf!
Karten-Telefon:
02 01 81 22-200
01 80 59 59 59 8 (0,14 € /Min.)
András Schiff, Klavier
Dr. Johannes Bultmann
Intendant Philharmonie Essen
www.philharmonie-essen.de
8|9
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN
ein Multimedium
Musik ist älter als das Fernsehen –
dabei scheint sie fürs TV gemacht zu sein
M
usik ist – wenn man so will – eines der ersten Multimedien. Sie
ist ein Gefühlsverwandler, eine Weltsprache und eines der ersten
Kommunikationsmittel der Menschen! Schon in der Steinzeit­
höhle wurde auf Knochenflöten geblasen, im alten Ägypten
hat die Harfe den Kontakt zu den Göttern hergestellt, Indianer
haben bei Gefahr getrommelt, im Mittelalter haben die Mönche
ihren Gott im Chor angerufen, und nebenbei wurde vom Volk zu
Fiedelklängen getanzt. Heute hat sich die Musik problemlos in
die modernen Multimedien eingegliedert: Klassik macht Radio, und im Internet wird sogar Bach
legal „gedownloaded“. Die Schallplatte wurde von der DVD ersetzt, auf der man Dirigenten,
Sänger und Musiker nicht nur hören, sondern auch sehen kann. Selbst im Kino hält die Oper
Einzug. Natürlich sind Mozart und Puccini auch im Fernsehen angekommen. So modern wie in
den letzten Jahren war die klassische Musik selten.
Kein Wunder also, dass sie viele neue Fürsprecher gefunden hat: Popmusiker wie Sting (siehe
letzte Seite) erklären den Rock längst für tot und suchen neue Inspiration bei Stravinsky. Natür­
lich auch, weil Klassik-Stars wie Thomas Quasthoff oder Renée Fleming die Grenzen ihres Gen­
res längst brillant überspringen, ihre Stimmen drosseln, mit dem Mikrofon flirten
und besten Jazz und Pop machen. Das sind keine Pseudo-Crossover mehr
wie früher, sondern ernste Ausflüge in die aktuelle Musik mit den
Mitteln des klassischen Handwerkzeugs. Und auch die Klassik­
künstler selbst sind inzwischen keine Elfenbeinturm-Musiker
mehr, sondern bedienen Facebook (siehe Sara Ott oder das
Fauré Quartett) ebenso selbstverständlich wie einen alten
Steinway. Es ist nicht mehr klar, wer eigentlich moderner
ist: Lady Gaga oder Bach! Auf jeden Fall stehen sie sich
nicht mehr im Weg.
Die Klassik scheint unserer bewegten Zeit etwas zu
geben, das wir zunehmend vermissen: Beständigkeit,
Tradition und wahrhafte Gefühle. Aber gleichzeitig ist
sie auch das Medium des ständigen Wandels: von einer
Epoche zur nächsten wurden die Regeln der Harmonie
gesprengt, ebenso wie sich die Regeln des Staates verändert haben. Musik ist ein Abbild
unserer Gesellschaft. Komponisten haben neue Instrumente entdeckt: Bach das Ham­
merklavier, Strauss die Kuhglocke, Stockhausen den Computer. Doch neben der dauernden
Erneuerung wurden stets die alten Klassiker in die aktuelle Zeit übersetzt: ein Mozart unter
Karajan klingt nach 1970, einer unter Harnoncourt nach 2010!
Die Mediengesellschaft hat erkannt, dass die Inzest-, Hass- und Liebesüberschriften der
„BILD“ in den Opern von Mozart, Verdi und Wagner längst vorgedacht waren und dass der
Systemiker Bach auch die Grundlagen für den Pop gelegt hat: Egal, ob Götz Alsmann in
seiner „Nachtmusik“ Mozart mit Ukulele begleitet und als Herzblutmusiker keine Probleme
damit hat, Jazzer wie Jamie Cullum neben der Cellistin Sol Gabetta auftreten zu lassen. Oder
ob Thomas Gottschalk stets einen Platz auf seinem „Wetten dass …“-Sofa für Anna Ne­
trebko, Rolando Villazón oder Lang Lang reserviert.
Dieses Jahr übernimmt Gottschalk die ECHO-Präsentation von Götz Alsmann. Für Gott­
schalk gehören Besuche in Bayreuth und Salzburg zur Abwechslung vom Showgeschäft.
Vielleicht, weil er weiß, dass seine Lieblingsgäste, die Scorpions und einst Michael Jackson,
die legitimen Erben von Mozart und Wagner sind. Die Klassik ist im Fernsehen zu Hause.
Und das ist nur der Anfang: Live-Opernübertragungen von Originalschauplätzen begeistern
das Publikum, Konzerte werden durch Künstlergespräche bereichert. Irgendwann wird die
Klassik sicherlich auch eine eigene Sendung bekommen, in der über Politik und Psychologie,
über Macht und Mode, über Krieg und Frieden geredet wird. Denn um all das geht es in der
Musik. Sie ist das einzige Medium, das das Unerklärliche erklären kann. Man muss die Musik
nur lassen!
Der ECHO Klassik ist eines der (viel zu seltenen) Musik-Fernsehhighlights des Jahres. Die
Möglichkeiten der Musik im Fernsehen sind längst nicht ausgeschöpft. Beim ECHO können
die Stars, die sich täglich um Neudeutungen, um historische Zusammenhänge, um die Tech­
nik und die Fragen der Interpretation kümmern, ihre Ergebnisse vorstellen. Plötzlich steht
die Musik im Rampenlicht. Die Klassik wird zur Show, ohne sich dabei selbst aufzugeben.
Für eine Stunde zeigt sie, dass sie mehr ist als schöne Klänge, dass sie der Pulsschlag un­
serer Vergangenheit und unserer Gegenwart ist. Dass sie Dinge aussprechen kann, die mit
Worten nicht auszudrücken sind. Dass sie das Multimedium Fernsehen vorgedacht hat und
Axel Brüggemann
es noch heute in neue Dimensionen führen könnte.
Von Axel Brüggemann ist gerade das Buch „Wie Krach zu Musik wird – die etwas
andere Musik­g eschichte“ bei Beltz und Gelberg erschienen. Unter anderem mit Beiträgen
der ECHO-Klassik-Preisträger Cecilia Bartoli und Nikolaus Harnoncourt
Vir Politicus
Kurt Masur wird für sein
Lebenswerk geehrt
Er ist der Dirigent der Einheit. Kurt
Masur hat das Musikleben der DDR
geprägt und die Freiheit der Klassik
hochgehalten. Er hat in New York und
in London am Klang getüftelt – und ist
doch immer in der
Musik zu Hause.
Egal, welchen
Komponisten
sich Kurt Masur
vorknöpft: für ihn
ist die Musik eine Frage von Herz und
Verstand, von Logos und Emotion.
Beethoven und Co. sind für ihn Mahner, Visionäre und Menschen aus
unserer Gegenwart. In ihren Klängen
stöbert Masur die epische Geschichte
des Humanismus auf. Ebenso wie sie
verkörpert er die Tradition, die Erfahrung und die ewige Wandelbarkeit in
eine neue Epoche. Dafür wird er nun
mit dem ECHO-Klassik für sein Lebenswerk ausgezeichnet.
WIR GRATULIEREN!
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN
DEN ECHO KLASSIK-PREISTRÄGERN 2010
UND FREUEN UNS AUF DIE GEMEINSAMEN NEUEN KONZERTE
Der Echo hat sie alle!
Schauspieler, Medienmenschen und Prominente zu Gast beim ECHO Klassik 2009
JONAS
KAUFMANN
JOYCE
DIDONATO
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06.05.11 BADEN-BADEN
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08.05.11 FRANKFURT/M.
14.06.11 WIESBADEN
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E CHO KLA S S IK M AG A Z IN
Eine Romanfigur
am Klavier
Alice Sara Ott stellt die Welt gern auf den Kopf.
In ihrer Musik vereint sie selbst den Gegensatz von Leben und Tod
E
iner der besten japanischen Autoren ist Haruki Murakami: ein Zaube­
rer zwischen Wirklichkeit und Phantasie und ein Erfinder merkwür­
dig transzendenter Frauengestalten, die mit geschlossenen Augen
durch die Welt wandern und anderen so die Augen öffnen. Alice Sara
Ott könnte aus einem Roman von Haruki Murakami kommen.
Die junge Pianistin ist schräg, sie verdreht die Standards unserer Welt, taucht in
psychologische Bücher ab und lebt, wenn sie wieder aufgetaucht ist, ihre ureigene
Wirklichkeit. Die Schwerkraft der Welt scheint für sie nicht immer zu gelten. Ott
bewegt sich durch ihr Leben und durch die Klassik-Szene wie es ihr gefällt, mal
zutiefst ernsthaft, dann ausgelassen fröhlich, zuweilen albern — und immer: ganz
sie selbst. Wenn ein Mensch Musik sein könnte, wäre er wahrscheinlich so wie Alice
Sara Ott. Ein Aggregatzustand, eine Laune, ein Hauch, der kommt, verschwindet —
und ganz anders wieder auftaucht. Ein sehr seltenes Phänomen.
Die Deutsch-Japanerin wurde in München geboren (das Aussehen hat sie von der
Mutter, die großen Hände vom Vater). Sie ging zur japanischen Schule und begreift
sich selbst etwas ironisch als „Produkt des internationalen Verständnisses“. Doch
so eine Formulierung ist — wie immer bei ihr — doppeldeutig. Sie ist nicht konkret
politisch gemeint, sondern eher zutiefst menschlich. Selten gibt es eine Musikerin,
die so offen für alles ist, die jeden Zustand in dem sie sich bewegt, einzusaugen
scheint, um ihn irgendwie zu verarbeiten.
Alice Sara Ott scheint eine eigene Lebensphilosophie etabliert zu haben. Die
Wirklichkeit ist für sie so etwas wie ein Traum, der Traum immer auch ein bisschen
Wirklichkeit. Manchmal, sagt sie, wacht sie auf, hat von der Donau geträumt und
stellt erschrocken fest, dass sie in Hamburg ist. In solchen Momenten dauert es
einige Zeit, bis die Wirklichkeit und Phantasie sich in den Gedanken von Alice Sara
Ott wieder trennen.
Aber Ott beherrscht natürlich auch die Umkehrung der Verkehrung der Welt. Dann
ist sie plötzlich eine unglaublich ernsthafte, ganz unträumerische, disziplinierte
Arbeiterin an den Tasten. Anders wäre es auch gar möglich gewesen, dass sie
zunächst bei „Jugend musiziert“ und dann bei mehr als 17 internationalen Wett­
bewerben mit dem ersten Preis nach Hause gegangen ist und dass sie zu einer der
renommiertesten Klavierspielerinnen unserer Zeit geworden ist, deren Karriere
gerade erst begonnen hat.
Fleiß, Ordnung, Klugheit sind die Grundlage. Auf dieser Basis erlaubt sich die Mu­
sikerin, die Welt ein wenig auf den Kopf zu stellen und zu fragen, ob das, was wir
sehen, immer wahr sein muss, oder ob das, was wir phantasieren, nicht wirklicher
sein kann. Die dauernde Überblendung von wahrhaftigen Träumereien und von
traumwandlerischem Realitätssinn durchströmt auch ihre Musik. Ganz besonders
ist das in den Walzern von Frédéric Chopin zu hören. Für sie weit mehr als nur schö­
ne Musik der Romantik!
Ott gelingt es mühelos, in diesen Werken den Spagat von aktueller Politik zu tran­
szendenten Träumereien zu spinnen. So hat sie sich etwa gewünscht, die ChopinWalzer auf der Danziger Werft zu spielen. Dort, wo einst die Solidarność geboren
wurde, wo Polens Befreiung begann und die Einigung des Landes. „Das war zeitle­
bens der Traum von Chopin“, sagt Ott, „leider hat er ihn nicht erlebt. Deshalb ist mir
diese Sache so wichtig.“ Wenn sie dann an ihrem Instrument mitten im Hafen sitzt
und Walzer spielt, wird das musikalische Spektakel zu einem intimen Moment. Und
man kann sich vorstellen, dass der Komponist ihr aus dem Himmel zuhört.
Alice Sara Ott scheint daran zu glauben, dass Musik selbst unüberwindbare Gren­
zen überschreiten kann. Grenzen, vor denen unsere Körper und die rationalen Ge­
danken kapitulieren. Etwa die Grenze vom Diesseits zum Jenseits, vom Leben zum
Tod. Wenn sie den a-Moll-Walzer von Chopin spielt, tut sie das immer auch für ihre
verstorbene japanische Großmutter. Sie hat mit ihr telefoniert, ihr das Stück vor­
gespielt — dabei ist die Oma an Lungenkrebs gestorben, übergegangen ins Jenseits.
Hört man Ott nun dabei zu, beginnt die Musik zu transzendieren, uns in eine andere
Welt mitzunehmen, in ein Reich der schwerelosen Gedanken. In Otts Interpretation
wird der Klang zu einer Liebeserklärung, zu einer sinnlichen Erfahrung, in der für
einen Augenblick in Gedanken tatsächlich alles möglich wird, selbst der Dialog mit
den Toten. Auf Japanisch bedeutet Musik übrigens: „Klang-Spaß“. Genau das hört
man bei Ott, wenn sie die Tasten streichelt.
Dabei ist die Klavierspielerin in ihrer Freizeit ein durchaus konkreter, irdischer
Mensch. Mit ihrer ebenfalls Klavier spielenden Schwester streitet sie schon mal
über die Farbe der Konzertkleider, über die Probezeiten am Steinway, der im Eltern­
haus steht oder darüber, wer für die Unordnung im gemeinsamen Zimmer verant­
wortlich ist. Ott führt längst das Leben eines Jet-Set-Stars, aufgekratzt, ewig auf
Tour, rastlos reisend, stets im Dienste der Musik. „Um so wichtiger sind die Mo­
mente, in denen ich zur Ruhe komme“, sagt sie, „denn erst in der absoluten Stille
beginne ich den Klang der Musik in mir selbst zu hören.“ Vielleicht ist das eines der
Geheimnisse der Pianistin: die ewige Dialektik aus Stille und Klang, aus Leben und
Tod, aus Traum und Wirklichkeit. In ihrer Musik scheinen all diese Gegensätze zu
einem märchenhaften Kosmos zu verschmelzen.
Die Sonne ist
eine Frau
Was bin ich? Ein Produkt internationaler Kommunikation, das versucht,
eine Orientierung zwischen Illusion und
Wirklichkeit zu finden und davon überzeugt ist, dass die Sonne weiblich und
der Mond männlich ist. Mir geht’s gut.
Lieblingszitat: „neeeeeeem!“ — von
einem mysteriösen Fremden.
Lieblingsmusik: Pink Floyd,
Guns N’ Roses, Hiroschi Itsuki,
Fall Out Boy, Metallica, Depeche Mode,
Schubert Lieder, Abba.
Das mag ich nicht: Den Klingelton
meines Weckers. Sicherheitskontrollen
am Flughafen — weil meine Schuhe da
immer piepen!
Nachwuchskünstlerin des Jahres (Klavier) Alice Sara Ott.
Frédéric Chopin: Sämtliche Walzer (Deutsche Grammophon/ Universal Music)
Sängerin des Jahres
Joyce DiDonato
Colbran, The Muse
Sänger des Jahres
Jonas Kaufmann
Sehnsucht
Instrumentalist des Jahres
Siegbert Rampe
Wilhelm Friedemann Bach: Klavierwerke
Instrumentalist des Jahres
Lang Lang
Tschaikowsky/Rachmaninoff: Klaviertrios
Virgin Classics/EMI Music
Decca/Universal Music
MDG — Musikproduktion Dabringhaus und Grimm
Deutsche Grammophon/Universal Music
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Musik für die Musik
Murray Perahia glaubt nicht an Worte — für ihn ist Musik eine Blume,
die von ganz allein und nur für sich selbst wächst
Spray it Baby!
Leif Ove Andsnes und Robin Rhode
haben Mussorgskys Bilder einer
Ausstellung neu gerahmt
Die beiden haben die Programmmusik selbst
zum Programm erhoben: der Pianist Leif Ove
Andsnes und der südafrikanische Streetart­
künstler Robin Rhode. Angefangen hat alles
damit, dass sie sich einen weißen Raum
gesucht haben, in dem ein Flügel stand. An­
dsnes hat sich hingesetzt und Mussorgskys
„Bilder einer Ausstellung“ gespielt. Rhode
hat die Spraydose in die Hand genommen und
ebenfalls losgelegt: ein Klavier, Verzierungen,
ein Monster gemalt. Als den beiden nichts
mehr eingefallen ist, sind sie nach draußen
gegangen und haben Tischtennis gespielt.
Denn die wichtigste Regel ihres Projekts war,
dass alles erlaubt sein muss.
Andsnes und Rhode wollten herausfinden,
wie die Klänge, die Mussorgsky einst zu einer
Ausstellung seines Freundes eingefallen sind,
heute wieder auf die Kunst wirken können.
So ist „Pictures Reframed“ entstanden. Ein
Versuch, wie der Klang die Malerei inspirie­
ren kann. Das Ergebnis, von dem die beiden
Künstler nicht wussten, wie es aussehen
würde, ist in einem opulenten Bildband zu
sehen und auf Andsnes’ Konzerten. Er spielt
vor Videoinstallationen, in denen Menschen
über gemalte Eisblöcke gehen, zu jeder mu­
sikalischen Stimmung entwickeln sich neue
Bilder. Die Programmmusik wurde auf den
Kopf gestellt — und funktioniert auch mit
neuem Rahmen!
Editorische Leistung des Jahres.
Mussorgsky: Pictures Reframed (Buch
Edition), Leif Ove Andsnes (EMI Classics)
Zum Weinen
schön
Evgeny Kissin ist mehr als ein
Klavierspieler. Er lebt die Musik
als eigene Welt
Evgeny Igorewitsch Kissin ist ein Unikum.
Ein Musiker, der kompromisslos für die Mu­
sik lebt. Er wurde 1971 in Moskau geboren,
seine Finger suchten die Tasten des hei­
mischen Klaviers, sobald er stehen konnte.
Wenn seine Mutter den Deckel schloss, be­
gann Evgeny zu weinen, und als er zwei Jahre
alt war, spielte er Bach-Sonanten aus dem
Kopf, die er bei seiner größeren Schwester
abhörte. Als der Vierjährige dem greisen Diri­
genten Herbert von Karajan Chopins f-MollPrelude vorspielte, kamen dem Maestro die
Tränen. Noch heute erinnert sich die Tochter
des Dirigenten, dass dieses der einzige
Moment war, in dem ihr Vater weinte. Und
bis heute berührt Kissin jeden, der ihn hört.
Kaum ein anderer Pianist verschmilzt so sehr
mit der Musik wie er, für niemanden ist der
Klang ein derart wahrhaftiger Kosmos.
„Natürlich muss ich verzichten“, sagt Kissin
selbst, „seit ich den ersten Ton auf einem
Klavier gespielt habe, verzichte ich. Jeder,
der ernsthaft Musik macht, muss mit dem
Verzicht leben. Die Verantwortung gegen­
über der Musik fordert das.“ Und dann sagt
er noch: „Wenn jemand eine C-Dur-Tonleiter
spielen kann, hat er die technischen Vo­
raussetzungen zum Klavierspiel. Wenn er
die C-Dur Tonleitern in Beethovens Opus
111 spielen kann, ist er auch in der Lage, die
Rückschläge des Lebens zu bewältigen.“
Wer solche Sätze sagt, der weiß mehr über
die Musik als die meisten von uns. Und viel­
leicht ist das der Grund, warum Kissins Spiel
uns so berührt.
Bestens in Form!
Arabella Steinbacher geigt die
Meisterwerke der Klassik stets an
der Grenze des Wahnsinns
Um die gefühlsbeladenen Werke von Dvorak
und Szymanowsky aufzuführen, muss man
zunächst einmal eine innere Ordnung in die
Noten bringen. Musik braucht Form, nur sie
bewahrt die Emotionen davor, willkürlich und
wahnsinnig zu werden. Arabella Steinbacher
ist eine Meisterin der Form! Sie geigt stets an
der Grenze der Ordnung, balanciert ständig
auf dem schmalen Grat von maximaler Emoti­
on und dem Absturz ins Nirgendwo. Das Label
Pentatone hat Geigerinnen wie Julia Fischer
entdeckt und gefördert — Arabella Steinba­
cher ist der nächste Klassik-Star des Labels,
einer der aufregendsten.
Privat ist sie eher formlos: „Ich fühle mich
wohler, wenn alles herumliegt, dann muss ich
nicht lange suchen. Auch Kochen muss bei
mir schnell gehen: meist Pasta oder Reis.“
Aber in der Musik ist alles ganz anders. Vor
großen Konzerten ist sie aufgeregt. „Ich
versuche, die Anspannung in den Griff zu
bekommen, indem ich meditiere, ganz in mich
gehe. Aber sobald ich den ersten Fuß auf die
Bühne setze, fällt die Aufregung von mir ab.
Wenn ich zu spielen beginne und in der Musik
bin, schließe ich die Augen, um von nichts
anderem abgelenkt zu werden.“ In diesen
Momenten ist Arabella Steinbacher vollkom­
men „in Form“ — sowohl auf ihrer ECHO-CD
als auch in der genialischen Nachfolgeaufnah­
me mit den beiden Violinkonzerten von Béla
Bartók.
A
m Anfang war: die Musik. Eine Sprache, die
nicht übersetzt werden kann und dennoch
allgemein verständlich ist. Davon ist jeden­
falls der Pianist Murray Perahia überzeugt,
der einmal den wundervollen Satz gesagt hat: „Musik wird
aus Musik gemacht, nicht aus Worten.“
Gemeint hat er damit, dass Musik ein eigener Kosmos ist,
der sich selbst entwickelt und selbst zum Blühen bringt
,ein Kommunikationssystem, das
sich selbst erfindet. Als Beweis für
seine These hat Perahia gegenüber
einem Interviewer von „Klassik Heu­
te“ den Urvater der Form ins Feld
gebracht: Johann Sebastian Bach.
„Vergessen Sie nicht“, erklärte der
Klavierspieler, „dass die zugrunde­
liegende Idee einer Bach-Suite der
Choral ist! Nehmen Sie seine Generalbass-Übungen — die
sind als Übungen gemeint, und ich bin sicher, dass er sie
selbst geschrieben hat. Da sind diese Akkorde, Akkord­
folgen, Modulationen. Aus diesen Akkorden gewann er
die lineare Entwicklung. Und aus solchen Modulationen
wachsen auch die Klaviersuiten hervor. Es wird so viel über
Rhetorik in der Musik gesprochen. Für mich ist das Unsinn.
Der Akkord, der Zusammenklang spricht sich aus, wird
hinausprojiziert, atmet, entfaltet Leben. Wie eine Blume.“
Ähnliches könnte auch für die Bach-Partitas gelten, mit
denen Perahia dieses Jahr den ECHO gewinnt. Johann Se­
bastian Bach führt den Pianisten zurück zur Urwurzel der
Musik, zur strengen musikalischen Form, zur sich selbst
konstruierenden Sprache. Vielleicht liegt genau darin das
Besondere seiner Interpretationen. Perahia behauptet
nichts anderes als die Musik selbst. Sein Klavierspiel hat
nie eine konkrete Botschaft, sondern dient allein der Mu­
sik, ihrer Reinheit und ihrer Form, ihrer Emotionalität und
ihrer Strenge. Hört man sein Spiel, ist man aufgehoben in
einer Welt, die in sich stimmig ist.
Kein Wunder, dass ein Pianist wie er die Deformationen
der Klassik mit Skepsis beäugt. „Viele Zuhörer verlangen
danach, immerzu etwas ‚Neues’ zu hören“,
beklagt er, „und merken dabei nicht, dass
diese Sucht nach ‚Neuem’ eine Reaktion auf
ihre eigen Langeweile ist.“ Er selbst bedient
diese Langeweile nicht. In seinem Bach (wie
in all seinen anderen Auseinandersetzungen
mit großen Komponisten auch) zieht er es
vor, zum Kern der Reinheit vorzudringen. Den
findet er nicht unbedingt in der Perfektion
des Kontrapunktes, sondern in der mindestens gleichbe­
deutenden Melodieführung bei Bach, die er fast eupho­
risch zelebriert. So ist Perahias Interpretation am Ende
eben doch ganz neu und gerade deshalb so glaubhaft, weil
sie es nicht sein will.
Kaum ein anderer Klavierspieler dringt so tief in die Parti­
turen ein wie er, und kaum ein anderer taucht mit so ver­
blüffenden und logischen Argumenten für seine Interpre­
tation wieder auf, um sie sinnlich und jenseits aller Besser­
wisserei, ganz ohne Worte, nur in Musik zu behaupten.
Solisitische Einspielung des Jahres
(17./ 18. Jahrhundert) Murray Perahia.
J.S. Bach: Partitas 1, 5, & 6 (Sony Classical)
Konzerteinspielung des Jahres
(19. Jahrhundert): Arabella Steinbacher.
A.Dvorak/k.Szymanowski: Violinkonzert
Op53/Romanze/Violinkonzert Op.35
(Pentatone)
Konzerteinspielung des Jahres (20./21.
Jahrhundert): Evgeny Kissin. Sergej
Prokofiev: Klavierkonzerte 2&3 (EMI)
Instrumentalist des Jahres
Albrecht Mayer
Bach-Werke für Oboe, Orchester und Chor
Decca/Universal Music
Instrumentalist des Jahres
Martin Schmeding
J. S. Bach: Goldberg-Variationen
(Fassung für Orgel)
Cybele Records
Instrumentalistin des Jahres
Tabea Zimmermann
M. Reger/J. S. Bach: Suiten für Viola
Dirigent des Jahres
Paavo Järvi
L. v. Beethoven: Sinfonien 2 & 6 „Pastorale“
Myrios Classics
Sony Classical
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R
ené Kollo war einer der besten
Lohengrin-Interpreten. Inzwi­
schen ist er ein älterer Herr,
der gern über die gute alte
Zeit spricht, der die Meister­
dirigenten Karajan, Bernstein und Solti lobt
und die Gesangskultur der goldenen 70er und
80er Jahre. Von modernen Stimmen hält er
nicht so viel. Neulich stand René Kollo in der
Pause des „Lohengrin“ auf dem Grünen Hügel
in Bayreuth und trank ein Bier. Ein Opernlieb­
haber kam auf ihn zu und wollte dem Sänger
schmeicheln: „Na, ja“, sagte er. „Was meinen
Sie?“, fragte Kollo. „Der Kaufmann, also,
wenn man den mit Ihnen vergleicht …“ Der Te­
nor unterbrach den Fremden und antwortete:
„Er ist einer der Besten, ich habe schon lange
keine so besondere Stimme mehr gehört.“ Der
Opernliebhaber staunte und zog von dannen.
Hören
und
staunen
Jonas Kaufmann hat den Lohengrin in
Bayreuth gesungen, mit einem ganz indi­
viduellen Ton: kein aufgeblasener WagnerHeld, sondern ein gebrochener Mensch. Kein
schmetternder Macho, sondern ein leisetö­
nender, sich nach Liebe sehnender Jüngling.
Keine Hau-Drauf-Stimme, die dem
Publikum die hohen Töne um die
Ohren schmettert, sondern eine
kluge, jede Phrase mit Bedeutung
aufladende Stimme.
Das wirklich Merkwürdige an Jonas Kaufmann
ist, dass er immer ein bisschen dieses und ein
bisschen das ist — und damit in jedem seiner
Auftritte auch immer alles. Kaum ein anderer
Sänger verbindet so viele Widersprüche wie
er. Er formt seine Arien wie aus der alten
Schule: klug, wortverständlich, theatral.
Gleichzeitig ist er modern, deckt durch seine
Interpretation die Knackpunkte der Rollen
auf, kümmert sich nicht um die effektvollen
Stellen, sondern um die psychologische Ebene
unter ihnen. Und wahrscheinlich liegt in die­
sem „sowohl als auch“ die Begeisterung für
Kaufmanns Stimme. Er ist ein Sänger, der die
Tradition kennt und sie in die Moderne führt.
Nicht nur das Publikum, sondern auch die
Sänger-Kollegen und Dirigenten hören ihn und
staunen.
Neulich ist Jonas Kaufmann an der Mailänder
Scala aufgetreten, als Don José in George
Bizets „Carmen“. Er hat die Rolle schon einige
Male gesungen, und im ersten Akt dachte
man: „Komisch, so habe ich das noch nie
gehört. Was für ein Weichei ist dieser Kerl!“
„Er ist einer der Besten. Ich habe
schon lange keine so besondere
Stimme mehr gehört.“ René Kollo
Doch, als Jonas Kaufmann am Ende der Oper
seine Geliebte erstochen hatte, am Boden
lag und die letzten verzweifelten Töne ge­
sungen hatte, war klar, dass er Oper nicht als
Aneinanderreihung
von Arien begreift,
sondern als epische
Erzählung, in der
ein Charakter auf­
gebaut, zum Höhepunkt (und so wie im Falle
von Don José) schließlich wieder zum Men­
schen demontiert wird.
„Ich finde diesen Gedanken auch auf ArienCDs wichtig“, sagt der Tenor selbst, „man
kann ein Stück nicht aus dem Zusammenhang
Kann eine Stimme klug sein?
Und ob! Die von Jonas Kaufmann
ist auch noch schön dazu
reißen, nur weil es so schön ist. In meinen
Aufnahmen versuche ich in jeder Arie klar
zu machen, woher ein Charakter kommt und
wohin er geht. Und all das, wenn möglich, in
wenigen Minuten.“
In der Pause der „Carmen“-Aufführung sitzt
Daniel Barenboim im Dirigentenzimmer der
Mailänder Scala. „Wissen Sie“, sagt er, „ich
habe eine ganz eigene Theorie über Kauf­
manns Stimme.“ Dann setzt er zu einem
Vergleich mit einem anderen Weltklasse-Te­
nor an: „Rolando Villazón ist ein dionysischer
Sänger, der vor Kraft und Lebenslust nur so
strotzt, der ohne Rücksicht auf Verluste auf
der Bühne stirbt und dessen Markenzeichen
die Leidenschaft
ist.“ Barenboim
macht eine
Pause. „Bei
Daniel Barenboim
Jonas Kaufmann
ist das genau anders. Er verkörpert für mich
den apollinischen Sänger, eine Stimme, die
alles analysiert, die zu Gebieten vordringt, die
unter der Oberfläche schlummern, der Ge­
schichten als Analyse einer Entwicklung der
Charaktere erzählt.“ Tatsächlich lassen sich
die beiden größten Tenor-Stimmen unserer
Zeit wahrscheinlich genau so erklären: als
Dionysos und Apollo.
Jonas Kaufmann schenkt der Klassik, was
sie lange Zeit verloren hat: Tiefe. Um so
amüsanter ist es, dass auch in diesem Fall
bei ihm, das „sowohl als auch“-Prinzip greift.
Während er der Klugheit auf der Bühne eine
Stimme gibt, ist er jenseits der Theater zu
einem der größten Hochglanz-Stars der Klas­
sik geworden. Er sieht gut aus und zeigt das
auch. In Berlin werden Großformatposter von
ihm aufgehängt, die Klatschpresse reißt sich
um den Tenor, er ist der schillerndste Opern­
star nach Netrebko und Villazón. Aber er ist
und bleibt dabei immer: Jonas Kaufmann. Ein
Sänger, der die Oberfläche der schönen neuen
Opernwelt nutzt, um ein noch größeres Publi­
kum für seine eigentliche Botschaft zu gewin­
nen, die Klugheit, die Tiefe und die Schönheit
der Musik.
„Jonas Kaufmann ist ein Apollon der Oper: klug, erzählerisch und nachdenklich.“
änger des Jahres: Jonas Kaufmann.
S
Sehnsucht (Decca/ Universal Music).
Ensemble/Orchester des Jahres
Symphonieorchester des Bayerischen
Rundfunks / Mariss Jansons
Anton Bruckner: Sinfonie 7
BR-Klassik
Ensemble/Orchester des Jahres
Lautten Compagney / Wolfgang Katschner
Timeless – Music by Merula and Glass
Ensemble/Orchester des Jahres
Norddeutscher Figuralchor / Jörg Straube
Francis Poulenc: Weltliche Chorwerke
DHM/Sony Music
MDG — Musikproduktion Dabringhaus und Grimm
Würdigung des Lebenswerkes
Kurt Masur
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Frau DiDonato, wie geht es Ihnen?
Wunderbar!
Würden Sie denn zugeben, wenn es Ihnen schlecht ginge?
Aber natürlich! Warum denn nicht?
Weil Sie perfekt darin sind, die Zähne zusammenzubeißen. Sie
haben sich immerhin schon einmal ein Bein während der Aufführung gebrochen und trotzdem weitergesungen.
Ah, das ist natürlich etwas Anders. Aber vielleicht haben Sie
Recht. Nun, wo Sie es sagen, fällt mir ein, dass ich ein echtes
Kind des mittleren Westens der USA bin. Ich bin ein Yankee.
Und wir Yankees haben eigene Regeln: 1. Vermeide Konflikte.
2. Lächle immer und verbirg dein Leiden. 3. Sei nicht anders als
die Anderen. Aber ich glaube, dass mich das Theater inzwischen
etwas offener und transparenter gemacht hat.
Weil die Bühne das Extrem der Gefühle erwartet?
Es könnte etwas damit zu tun haben. Auf der Bühne geht es
ja darum, jene Grenzen einzureißen, die eine Gesellschaft vor
lauter Konventionen aufbaut. Auf der Bühne geht es immer um
ken. Geht es in der Oper nicht meistens um die ganz alltäglichen
Gefühle? Um Liebe und Hass, Eifersucht und Rache? So gesehen
ist die Oper vielleicht gar nicht so opernhaft wie wir tun. Und
wenn ich mein Leben mit all seinen Höhen und Tiefen betrachte,
meinen Liebeskummer, meinen Mittleren-Westen-Alltag, dann
denke ich, dass der Yankee-Teil von mir wahrscheinlich opern­
tauglicher ist.
Es ist erstaunlich, wie nahe Sie auf der Bühne an der Psyche
ihrer Charaktere kratzen…
Vielen Dank für dieses Kompliment. Wenn das wirklich so ist,
habe ich erreicht, was ich will! Denn nur darum geht es. Wir
Sänger müssen durch Töne in die Seelen der Menschen tauchen.
Dort findet meist keine Party mit Diamanten und Champagner
statt. Wir schauen in Abgründe, in Seelentiefen, in menschliche
und kreatürliche Gefühlswelten. Und diese raue Nacktheit ist
für mich das eigentliche Wunder der Oper. Sie rechtfertigt über­
haupt erst, dass wir singen. Es macht nur Sinn zu singen, wenn
es um Gefühle geht, die Worte allein nicht ausdrücken können.
Mezzos sind die
spannenderen Frauen
das Ganze: um die Freude, das Leid, das Leben und den Tod. Und
alles steht im Scheinwerferlicht. Eben ganz anders als im mitt­
leren Westen.
Haben Sie diese Offenheit der Gefühle auch für Ihr Leben übernommen?
Auf jeden Fall gebe ich nicht mehr so viel vor wie sonst. Ich bin
freier und ehrlicher geworden und habe in der Oper gelernt, dass
offene Gefühle auch offene Ohren finden.
Sie führen einen Internetblog unter dem Pseudonym YankeeDiva. Wie passen diese beiden Worte zusammen?
In mir schlummern beide Seelen. Auf der einen Seite die harte
Arbeit meiner Heimat. Die Regel, dass niemand etwas Beson­
deres ist, dass alles im Team erledigt wird. Meine Mutter hat
in einem Interview geantwortet, als sie gefragt wurde, ob sie
keine Angst hätte, dass ich abheben würde: „Ach, die kriegen
wir schon wieder auf den Boden.“ Das ist die Yankee-Mentalität!
Und die Hochglanzoper habe ich erst in Europa kennen gelernt.
Plötzlich stiegen der Druck und die Erwartungen. Ich habe an­
gefangen, eine Diva zu sein und diese Rolle zu genießen. Heute
liebe ich es, Diva und Yankee gleichzeitig zu sein. Es dauerte ein
bisschen, bis man die Balance findet. Aber inzwischen bin ich
ganz zufrieden damit.
Welches Leben ist denn opernhafter? Das der Diva oder das des
Yankee-Girls?
Das der Diva natürlich! Obwohl: lassen Sie mich mal nachden­
Dafür stehen wir auf der Bühne.
Mit anderen Worten: die Oper ist eine Kunst des Scheins, die
wahrer ist als die oberflächliche Wirklichkeit?
Das klingt etwas philosophisch, aber ich denke, dass es genau
so ist. Erst wenn wir die Masken abnehmen und die natürlichen
Grenzen, die wir als Mensch haben als Sänger überschreiten,
machen wir wirklich Kunst. Natürlich gibt es viele Leute, die
immer noch in die Oper kommen, um sich an der Schönheit zu
berauschen. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, Türen zu
öffnen. Unsere eigenen und die der Zuschauer. Und es ist eine
Erfüllung, wenn Leute, die sich unterhalten wollten nachdenk­
lich aus der Vorstellung kommen.
Kommt es Ihnen dabei entgegen, dass Sie Mezzosopran sind?
Immerhin müssen Sie nicht nur die sterbenden, lieben Frauen
singen, sondern sind die dreckigen, verführerischen, aufmüpfigen Weiber.
Und ob! Ich möchte um keinen Preis der Welt in ein anderes Fach
wechseln. Mezzos sind tatsächlich die interessanten Charaktere:
Ariodante sowieso und selbst La Cenerentola ist anders als die
Soprane. Ich versuche stets, die Wahrhaftigkeit in den Charakte­
ren zu finden. Denn ich glaube, dass gerade Mezzos die wahren
und echten Menschen in der Oper sind.
Woran liegt das?
Tenöre und Soprane tendieren dazu, übernatürlich schöne Ari­
en singen zu müssen. Sie müssen in künstliche Höhen steigen
und zeigen, was sie können. Das macht sie zu
Supermännern und Superfrauen. Ungreifbar.
Unantastbar. Bei uns ist das anders: wir haben
die Stimmhöhe der normalen Menschen. Mez­
zos singen in einem geerdeten, meist unhyste­
rischen Ton. Vielleicht macht sie das so irdisch.
… und ein bisschen dreckig?
Ich wünsche mir immer ein bisschen Dreck! Übrigens
auch in der Stimme. Die Gebrochenheit und das Unfer­
tige sind ja Stilmittel, um Echtheit in der falschen Kunst
zu erzeugen. Ich kann Ihnen verraten, dass der mensch­
liche Dreck meist schwieriger zu erzeugen ist als der
schillernde Hochglanz. Weil man sich einlassen muss.
Weil man sich schmutzig machen muss. In Ariodante
gibt es viele Arien, die von vielen Menschen abfällig ein­
geschätzt werden. Aber für mich liegt in der Einfachheit
die Kunst. Nur hier habe ich mit der eigenen Stimme die
Möglichkeit, dem Charakter eine Farbe zu geben. Das
Das behauptet jedenfalls Joyce DiDonato.
Und die Yankee-Sängerin ist selbst
der beste Beweis für diese These.
ist ein echter Luxus, den Soprane
in ihren halsbrecherischen Arien
kaum haben. Und vergessen Sie
nicht: Wir Mezzos singen auch
viele Hosenrollen! Es ist un­
glaublich, was für eine Kraft
man da verstrahlen kann. Wir
Frauen haben ja sonst nicht
die Möglichkeit dazu.
ängerin des jahres:
s
joyce didonato. colbran,
the muse (virgin classics/emi
music)
Nachwuchs-Künstlerin des Jahres
Christiane Karg
Verwandlung – Lieder eines Jahres
Nachwuchs-Künstlerin des Jahres
Alice Sara Ott
Frédéric Chopin: Sämtliche Walzer
Nachwuchs-Künstlerin des Jahres
Olga Scheps
Frédéric Chopin: Klavierwerke
Nachwuchs-Künstler des Jahres
Meta4
Joseph Haydn: Streichquartette op.55, 1-3
Berlin Classics
Deutsche Grammophon/Universal Music
RCA Red Seal/Sony Music
hänssler CLASSIC
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E CHO KLA S S IK M AG A Z IN
Zuhören!
„wir sind
geschichtenerzähler“
Nikolaus Harnoncourt hat die historische Aufführungspraxis mitbegründet — hier zieht er Bilanz
Schönheit
und Schmerz
So klingt
das Heute
Purer Wahnsinn
Das Minguet Quartett hat zum
­ersten Mal alle Streichquartette
von Peter Ruzicka eingespielt
Gautier Capuçon wirbelt durch die
russische Seele
F
ür viele ist Klassik die ewige Neu­
deutung des Alten. Beim Minguet
Quartett liegt die Sache etwas anders.
Klassik ist für die vier Musiker immer auch der
Klang unserer Gegenwart. Kaum ein anderes
Ensemble kümmert sich so intensiv und be­
geistert um die Kompositionen unserer Zeit.
„Gute Musik ist einfach da, und deshalb spie­
len wir sie“, ist die einfache Begründung des
Ensembles für die Wahl seines Repertoires.
Nachdem eine Uraufführung stattgefunden
hat, ist die Partitur von Neuer Musik meist
ein Stapel mit stummem Papier. Das Minguet
Quartett hat es sich zur Aufgabe gemacht,
sie nachhaltig Klingen zu lassen. Es hat einen
Großteil der Werke Wolfgang Rihms aufge­
nommen und nun auch eine weitere Lücke
geschlossen. Gemeinsam mit der Sopranistin
Mojca Erdmann hat es sämtliche Werke für
Streichquartette von Peter Ruzicka aufge­
nommen — als Sprecher sind der Komponist
selbst und Christoph Banzer zu hören.
Das Minguet Quartett stellt Ruzickas Mu­
sik als traditionsbewussten Klang unserer
Zeit vor: zuweilen leichtfüßig schwelgend,
manchmal atemberaubend still, aber auch
psychologisch zerrissen. Die Musiker legen
damit den Grundstein aller weiteren RuzickaDeutungen.
W
Kammermusik-Einspielung des Jahres
(20./21. Jahrhundert: Minguet Quartett.
Peter Ruzicka: Sämtliche Werke für
Streichquartett (Neos Music)
enn Sie zwei Wahnsinnige er­
leben wollen, hören wollen, wie
das Herz der Musik schlägt und
wenn Sie in die Seele Russlands hinabtau­
chen möchten, müssen Sie Valéry Gergiev
und Gautier Capuçon hören! Der Dirigent und
der Cellist sind Heiligabend in St.Petersburg
aufeinander gestoßen. Vor ihnen lag die Par­
titur von Tschaikowskis Rokoko-Variationen,
eines der berühmtesten konzertanten Cello­
werke! Der Dirigent, der die russische Seele
mit Löffeln gefressen hat und der Cellist,
der selbst den bekanntesten Werken des
Repertoires frischen Wind einhaucht, wurden
zu Hochspannungsmusikern. Es ist selten in
der klassischen Musik, dass an einem Abend
so viel Energie freigesetzt wird wie in dieser
Aufführung, die live mitgeschnitten und
auf CD veröffentlicht wurde. Tschaikowskys
Komposition, die sich mit dem Stil Mozarts
auseinandersetzt, gerät zum Ausbruch purer
Emotionen. Nicht minder radikal geht es auf
diesem russischen Album bei Prokofievs
„Sinfonia concertante“ zu, in der ebenfalls
mit unterschiedlichen Stilen und Zeitebenen
gespielt wird. So wie zuvor auf seiner CD,
in der Gautier Capuçon Antonín Dvorák und
Victor Herbert gegenüberstellt hat, gelingt
es auch jetzt wieder, das Bekannte mit dem
Unbekannten zu paaren.
Konzerteinspielung des Jahres
(10./21. Jahrhundert): Gautier Capuçon.
Tschaikowsky/ Prokofiev: RokokoVariationen, Sinfonia Concertante
(Virgin/EMI)
Die Passion Christi hat viele Musiker bewegt. Christina Pluhar
holt die Erlösung ins Heute
S
ie ist so etwas wie die Mutter
der Alten Musik. Wenn Christina
Pluhar ruft, sagt niemand „Nein“.
Für Star-Countertenor Philippe Jaroussky
ist sie eine „Meisterin der Musik“. Und
es war keine Frage, dass er alles dafür
tun wird, um an ihrem bislang span­
nendsten Projekt teilzunehmen. Selbst
auf den leidvollen Kreuzweg ist er seiner
Lieblingsdirigentin gefolgt. Herausge­
kommen ist ein innerliches Album rund
um die Schönheit und den Schmerz. Auf
der CD „Via Crucis“ werden die einzelnen
Stationen der biblischen Geschichte er­
zählt. Spannend wird all das, weil Pluhar,
eine der engagiertesten Musikforsche­
rinnen der Alten Musik, unterschiedliche
Komponisten ausgegraben hat, die diese
Themen behandelt haben: Tarquinio Me­
rula, Giovanni Legrenzi und viele andere
südeuropäische Barockmeister.
Aber selbst das ist natürlich nicht genug,
wenn Pluhar ein neues Werk plant. Ihre
Art der Interpretation ist so freigeistig,
so offen und gerade deshalb so modern,
dass es uns vorkommt, als würden wir im
Heute durch die Geschichte des Leides
und der Erlösung wandeln. Wenn Pluhar
ihr Ensemble „L’Arpeggiata“ dirigiert,
hört sich die Alte Musik so frisch an, als
würde sie bei MTV spielen. All das macht
vor allen Dingen Spaß!
Klassik ohne Grenzen: Christina
Pluhar. L’Arpeggiata: „Via Crucis“ (EMI)
Sie haben dieHistorische Aufführungspraxis mitbegründet.
Hat sie sich gewandelt?
Ich glaube, wir waren sehr offen, was das Musizieren betraf. Ich
habe allerdings festgestellt, dass schon die zweite Generation
dogmatischer wurde. Plötzlich wurden aus den Erkenntnissen der
Forschung Regeln aufgestellt, die alle Musiker zu erfüllen hatten.
Dabei ist es in der Musik wie überall anders auch: die zweite Gene­
ration liest schon nicht mehr so viele Quellen wie die erste. Es ist
ein ganz normaler Vorgang, dass
sie sich eher darauf konzentriert,
die Erkenntnisse neu zu interpre­
tieren. Dabei wäre es gar nicht
wichtig, die Regeln dogmatisch
zu erfüllen, sondern zu verstehen,
was sie bedeuten. Die alleinige
Erfüllung der Regeln kann näm­
lich auch dazu führen, dass man
eigentlich alles falsch macht. Was
ist denn eine „historische Wahrheit“ überhaupt? Ich glaube, dass
ein guter Historiker immer auch ein guter Geschichtenerzähler sein
muss. Und dieses Wissen habe ich von Egon Fridell, dessen Ver­
ständnis von Geschichte ich absolut teile. In diesem Sinne wäre die
„historische Aufführungspraxis“ als Terminus auch nur unter der
Voraussetzung denkbar, dass das „historische“ als offener Begriff
verstanden wird. Da kommt auch wieder meine Ureigenschaft des
Zweifels zum Tragen. Ich glaube nicht, dass man reale Geschichte
erfahren kann. Man erfährt nur, was man darin sieht.
Es gibt Kollegen von Ihnen, die noch immer mit dem gebetsmühlenhaften Spruch „Kein Vibrato! Kein Vibrato!“ herumziehen.
Das ist doch absoluter Quatsch! Das Vibrato ist so alt wie die
Geige — ja, wie die Musik selbst. Es gibt sogar Gedichte über das
Vibrato aus dem Beginn des 16. Jahrhunderts. Und bei jeder Orgel
gibt es ein Register „Vox Humana“, das ein Vibrato von vier Bewe­
gungen pro Sekunde hat. Jede Instrumentenbeschreibung besagt
die größtmögliche Annäherung an die menschliche Stimme, und in
der ist ein Virbrato natürlich angelegt. Die Frage des Dauervibratos
wird immer aktuell bleiben, aber dass man bestimmte Teile auch
früher schon mit Vibrato gespielt hat, davon bin ich überzeugt.
Auch wenn man weder das eine noch das andere beweisen kann.
Grundsätzlich glaube ich, dass man alle Ausdrucksmöglichkeiten
nutzen muss — und da spielt es nur eine sekundäre Rolle, ob das
früher auch so war oder nicht.
Chorwerk-Einspielung des Jahres (18./ 19.Jahrhundert) Nikolaus
Harnoncourt / Arnold Schönberg Chor /Concentus Musicus.
Joseph Haydn: Die Jahreszeiten (DHM/ Sony Music)
Isabelle Faust und Alexander Melnikov
stellen Beethoven auf den Kopf
E
s gibt nur wenige Musikstücke, in denen die Geige eine so
große und farbenprächtige Bühne bekommt wie in den
Sonaten Beethovens. Doch was mag sich Ludwig van
Beethoven gedacht haben, als er seine Geigensonaten
nicht wie üblich „Sonaten für Violine“ sondern „Sonaten
für Klavier und Violine“ nannte?
Erstaunlich, dass bislang kaum ein Geiger auf die Idee gekommen ist,
den Komponisten beim Wort zu nehmen und sich zu fragen, warum er
das Klavier in seiner Titelangabe vor die Geige gestellt hat. Vielleicht
hat das etwas mit musikalischer Eitelkeit der Geiger zu tun. Doch
Eitelkeit liegt der klugen Isabelle Faust zum Glück fern. Und so ist ihr
Beethoven kein Bravourkomponist, durch den sie sich profilieren will,
sondern ein Meister der Zwischentöne. Sie nimmt ihn ernst – und das
bedeutet, dass sie selbst sich zurücknimmt. En passant stellt sie dabei
die Aufnahmegeschichte der Violinsonaten auf den Kopf, in der nor­
malerweise die Geige im Rampenlicht steht und das Klavier zur Beglei­
tung in der zweiten Reihe sitzt.
Wir hören Beethovens bekannten Sonaten wie die Früh­
lingssonate und die Kreuzersonate plötzlich
mit ganz neuen Ohren. Auf einmal rückt das
Dialogische in den Vordergrund. Plötzlich
hören wir, dass Beethoven mehr Fragen als
Antworten komponiert hat. Zum Beispiel,
ob die Instrumente einander auch immer
folgen werden. Denn beide haben einen
eigenen, sehr dicken Kopf. Wenn Faust
das bekannte Frühlingssonaten-Thema
anstimmt, hört sich das zögerlicher an als
sonst, abwartend, ob der Mann am Klavier
ihr bei diesen Läufen auch wirklich folgen
wird. Und Alexander Mlenikov
lässt seine Mitspielerin tat­
sächlich warten. An seinem
Steinway spielt er mit den
vielen Überraschungen,
die Beethoven in seine
Sonaten eingebaut
hat und macht klar,
dass Stimmungen von
einem Takt zum näch­
sten wechseln können,
dass Geige und Klavier
zwei gleichberechtigte In­
dividuen sind und nur gemeinsam
ins Ziel kommen können.
Kammermusik-Einspielung des Jahres (19. Jahrhundert)
Isabelle Faust / Alexander Melnikov. Beethoven:
Sonaten für Klavier und Violine (harmonia mundi)
Nachwuchs-Künstler des Jahres
Yannick Nézet-Séguin
Rotterdam Philharmonic Orchestra: Maurice Ravel
Klassik ohne Grenzen
Fauré Quartett
Popsongs
Klassik ohne Grenzen
Christina Pluhar / L’Arpeggiata
Via Crucis
Klassik ohne Grenzen
Selmer Saxharmonic / Milan Turković
Flying Saxophone Circus
EMI Classics
Deutsche Grammophon/Universal Music
Virgin Classics/EMI Music
MDG – Musikproduktion Dabringhaus und Grimm
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Sinfonische Einspielung des Jahres
Cappella Coloniensis / Bruno Weil
Joseph Haydn: Londoner Sinfonien 93, 95, 96
Ars Produktion
Sinfonische Einspielung des Jahres
Anima Eterna Brugge / Jos van Immerseel
Hector Berlioz: Symphonie Fantastique
Zig-Zag Territoires
Sinfonische Einspielung des Jahres
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin /
Rundfunkchor Berlin / Marek Janowski
Hans Werner Henze: Sinfonie Nr. 9
WERGO
Siegbert Rampe
Konzerteinspielung des Jahres
Christian Zacharias
W.A. Mozart: Klavierkonzerte Vol. 5
MDG — Musikproduktion Dabringhaus und Grimm
milan turkoViĆ
Im Weinberg
der Klassik
Dabringhaus . Tatsächlich sind viele Klassik-Karrieren heute größer aber auch kürzer als früher. Zum
Teil behandeln Manager ihre Stars wie Hedgefonds: möglichst große Rendite in möglichst kurzer
Zeit. „Das haben wir nie so gehalten“, sagt Dabringhaus, „und das werden wir auch in Zukunft
nicht tun. Denn Klassik bedeutet immer auch Kontinuität. Die Entwicklung eines Künstlers, die
Ausgrabung eines alten Stückes oder die Arbeit an einem möglichst perfekten Klang, braucht Zeit.“
Und davon gibt’s in Detmold genug!
MDGs Geheimnis ist, dass es sich mit seinen Künstlern entwickelt. Es gibt viele Klavierspieler
auf dem Klassikmarkt, aber nur einen Hardy Rittner. Er ist ein Freak, einer der sich mit
historischen Instrumenten auseinandersetzt, der Handschriften studiert und geschichtliche Details
erforscht, bevor er ein Werk aufnimmt. Letztes Jahr hat er für MDG den ECHO als
Nachwuchskünstler gewonnen, dieses Jahr sorgte seine Einspielung von Schönbergs
Klavierwerken für Furore. Eine Trouvaille für jeden Musikwissenschaftler und
eine Referenzaufnahme für jeden Hochglanzpianisten, dem Chopin auf
Dauer zu langweilig ist.
So ernsthaft in Detmold an der Klassik gearbeitet wird, so gern reißt man
hier auch Grenzen ein. Denn auch in Detmold darf Musik Spaß machen. Es
hat neun Monate gedauert, bis die 12 genialen Saxophonisten von Selmer
Saxharmonic Zeit hatten, um gemeinsam mit Milan Turkovi ć
Werke von Dvorak, Milhaud und anderen Komponisten aufzunehmen — belohnt werden sie mit dem
ECHO für „Klassik ohne Grenzen“. CDs wie diese könnten mit einigem Werbeaufwand locker in die
Klassikcharts kommen, und wenn Cecilia Bartoli dafür gelobt wird, dass sie vergessene Komponisten
ausgräbt, können die Leute von MDG nur lächeln — jede ihrer CDs ist eine Entdeckung!
„Es ist wichtig für uns, dass wir unbekannte Komponisten oder bekannte Werke nicht einfach
nur so auf den Markt bringen“, sagt Dabringhaus, „es gehört zu unserer Philosophie, gerade bei
außerordentlichem Repertoire auch außerordentliche Künstler zu finden. Denn wenn man einen
vergessenen Komponisten vorstellt, muss man die bestmögliche Interpretation seiner Werke
zeigen. Sonst versinkt er noch tiefer in der Vergessenheit.“
Und so wird das Klassiklabor Detmold inzwischen auch für die großen Stars interessant.
Christian Zacharias ist ohne Frage einer der brillantesten und klügsten Pianisten unserer
Zeit. Ihm geht es weniger um den Starkult, als um die Qualität seiner Aufnahmen. Das hat er letztes
Jahr mit seiner Surround-Einspielung des Jahres unter Beweis gestellt und das zeigt er dieses Jahr
mit seinen Mozart-Klavierkonzerten, die so transparent, so spielfreudig und gleichzeitig so ernsthaft
daherkommen wie bei keinem anderen Gegenwartsmusiker.
In Detmold fehlt das Geld, um all die Produktionen breit zu bewerben. Man steckt es lieber in die
Arbeit an der Musik. „Uns ist es Recht, dass unsere CDs Geheimtipps sind“, sagt Dabringhaus, „es
kam schon vor, dass wir so erfolgreich mit unserem Programm waren, dass große Firmen unser
Repertoire übernommen und anschließend verpfuscht haben. Da machen wir unsere Sache lieber
selbst und wissen, was wir haben.“ Tatsächlich lohnt es sich, beim nächsten CD-Kauf, einmal
neben dem Aufsteller mit den Klassik-Hits zu suchen. In einer CD aus Detmold steckt häufig mehr
Musik als in den Top-Sellern. Auf jeden Fall verspricht sie neue Einblicke in das Fundament unserer
Musikkultur.
peter hörr
etmold. Der Ort ist, nun ja, mittelmäßig schillernd. Detmold ist nicht Berlin
… auch nicht Köln und schon gar nicht München. Detmold, das ist Ruhe
statt Hektik, Ernsthaftigkeit statt Glamour. Und trotzdem ist ausgerechnet
Detmold die heimliche Hochburg der Klassik. Zugegeben, der Musik-JetSet verkehrt hier nur selten. Und trotzdem wären Anna Netrebko, Lang
Lang und David Garret ohne Detmold Klassik-Könige ohne Land. Denn in
Detmold wird die Grundlage des Klassikmarktes gelegt. Hier werden junge
Musiker, unbekannte Komponisten und neue Interpretationen gefördert.
Hier wird am Ideal der Interpretation und des Klanges getüftelt. Hier hat
MDG, eines der großen unabhängigen Klassiklabels, seinen Sitz. Jährlich
veröffentlicht MDG rund 60 CDs, mehr als manche der sogenannten „Major
Labels“. Ohne Detmold und MDG würde die Klassikwelt bald nur aus „Traviatas“ und
„Carmens“, aus Beethovens großen Sinfonien, aus Hochglanzdiven und Piano-Pandas bestehen.
Ohne Detmold wäre die Klassik längst Pop — und hätte wahrscheinlich einen großen Teil ihres
Herzens verloren.
MDG steht für „Musikproduktion Dabringhaus und Grimm“. Es ist kein Zufall, dass Werner
Dabringhaus und Reimund Grimm sich ausgerechnet in Ostwestfalen niedergelassen haben. Sie
haben hier das Tonmeisterhandwerk studiert, wurden zu Musikkennern ausgebildet und haben sich
irgendwann gedacht, dass die Klassik eine Nische braucht, in der Qualität Primat ist. Einen Raum
für utopische Projekte, spannende Ausgrabungen, idealen Klang und
Stars, die nicht nur glänzen, sondern auch strahlen wollen. Deshalb
kommen aus Detmold CDs, die Abenteuer versprechen: Kammermusik
von Rossini mit dem Ma’alot Quintett,
sämtliche Klavierwerke von Schönberg auf
Originalinstrumenten mit Hardy Rittner,
die Weltersteinspielung der Cellokonzerte von Jean-Louis Duport durch Peter Hörr, Haydn
mit dem Wiener Klaviertrio, Cembalo-Stücke von Wilhelm Friedemann Bach mit
Siegbert Rampe oder Chorwerke von Francis Poulenc mit dem Norddeutschen
Figuralchor. Jede Aufnahme ist ein Abenteuer. Für Musik-Profis sowieso, aber durch die
umfangreichen Booklets auch für Klassik-Laien. Sie versprechen Entdeckungen und sind Wagnisse,
die unabhängig von Klassik-Moden eingegangen werden.
Das Schönste an der Detmolder Klassikwerkstatt ist, dass sie seit Jahrzehnten funktioniert, dass sie
(auch wenn sie kaum in der „Bunten“, in „BILD“ und „Focus“ vorkommt, sondern in „Fono-Forum“,
„Crescendo“, in „Le Monde de la Musique“ oder „Zeit“) längst zum Fundament des Klassikmarktes
geworden ist, dass Labels wie MDG die Vielfalt und das Abenteuer der Musik in einer Zeit aufrecht
halten, in der sich der Markt auf immer weniger Künstler und Komponisten reduziert.
In Detmold wohnen die ehrlichen Arbeiter im Weinberg der Klassik. Das merken auch die Künstler,
die hier etwas finden, das bei einigen großen Labels kaum noch existiert: künstlerischen Dialog,
Debatten über Qualität und eine Auseinandersetzung mit neuem Repertoire. „Es ist inzwischen
ja so, dass viele Musiker verstehen, dass ihre Kunst ohne Gespräche sinnlos ist“, sagt Werner
hardy rittner
Die größten Entdeckungen der Musik werden
kaum beworben. Man muss sie selber finden.
Das Label MDG ist ein Garant für Ohren­abenteuer.
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Das Wir in ihr
Ganz schön klug
S
1986 saß eine junge Russin in einem Konzertsaal in Moskau und lauschte dem Konzert des Kla­
vier-Genies Vladimir Horowitz. Er spielte eine Polonaise von Chopin. Die Frau war begeistert und
hochschwanger. Inzwischen sitzt ihre Tochter auf den Konzertpodien der Welt und spielt jene
Polonaise, die sie bereits in Utero gehört hat. Ihr Name: Olga Scheps.
Die junge Pianistin wurde in Russland geboren, ist in Deutschland aufgewachsen und studierte
bis vor Kurzem noch an der Musikhochschule in Köln. „Bis heute liebe ich das russische Essen und
die russische Kultur“, sagt sie, „aber zu Hause fühle ich mich in Deutschland.“
Der Flügel stand im Zentrum von Olgas Kindheit. Sie hat Klavier gelernt wie das Sprechen und das
Laufen. „Aber meine Eltern haben die Musik nie mit Zwang verbunden, und dafür bin ich ihnen
sehr dankbar. Denn nur so kann die Kunst sich wirklich entfalten.“ Mit acht Jahren stand Olga
zum ersten Mal auf der Bühne, dann gewann sie den Wettbewerb „Jugend musiziert“ und bekam
sofort erste Konzerteinladungen. Seither konzertiert sie in der ganzen Welt.
Olga Scheps ist eine Pianistin ihrer Zeit: ohne Scheuklappen, offen und klug. In ihrer Freizeit sam­
melt sie rohe Edelsteine, hört R&B und Hip-Hop, geht gern ins Kino, gesteht aber auch: „Ohne
Klassik kann ich nicht leben.“ Selten ist ein junger Klassik-Star so durchdacht und so schön wie
sie. Letzteres handhabt sie allerdings eher lässig: „Es macht Spaß, wenn wir schöne Bilder für die
Cover machen, aber sobald ich am Klavier sitze, kann ich nicht mehr gut aussehen. Dann geht es
plötzlich um die Innerlichkeit und nicht um den Schein.“
Angelika Kirchschlager ist eine Meisterin der
Selbstverständlichkeit. Keine singt so normal
wie sie, wenn sie Kunst macht
o hört sich Sinnlichkeit an! ,So klingen Kunstlieder,
wenn sie mitten aus dem Leben kommen, aus dem
Bauch und nicht aus dem Kopf. So menschlich wie
bei Angelika Kirschlager, so natürlich, unverstellt und
offenherzig liegt die Seele in der Klassik selten blank.
Diese Frau ist ein Phänomen: Operette klingt bei ihr existenziell,
Oper lebendig und das Lied unverschämt selbstverständlich. Diese
Frau zelebriert nicht, sie hebt nichts auf den Olymp, sondern sucht
bei Lehár, Mahler und Schumann so lange, bis sie zum Menschen
vorgestoßen ist, zu jenen Gefühlen, die alle kennen — und die jeder
für sich als zutiefst intim empfindet. Kirchschlager findet in der
Kunst das Allgemeingültige, das wir normalerweise für individuell
halten. Liebe, Sehnsucht, Freude und selbst der Tod klingen bei ihr
nicht nach Opernbühne, sondern nach Frühstückstisch, so alltäglich
und normal wie ein Nutellabrot.
Wenn sich all das nun so anhört, als würde die Mezzo-Sopranistin
keine Kunst machen, ist das natürlich ein Irrglaube. Im Gegenteil:
die Normalität ist eine der höchsten Künste. Wie viel Mühe muss
es machen, das Intellektuelle, das Hochgeistige, das Verdrehte und
Verquere, das Schwere und Komplizierte so selbstverständlich klin­
gen zu lassen? Welche Schwerstarbeit muss es sein, Schumanns
„Frauenliebe“, seine „Widmung“ oder sein „Erstes Grün“ derart tief
in sich aufzunehmen, zu verarbeiten und auszusingen, dass sich
jeder berührt fühlt? Angelika Kirschlager scheint ein Mensch zu
sein, der gar nicht anders kann als die Dinge sinnlich zu erleben und
sie ebenso sinnlich auszudrücken, wenn sie singt. Jedes ihrer Lieder
lässt das Wir in ihr erklingen.
Vielleicht hat diese fast einmalige Kunst etwas damit zu tun, dass
ihre wahre Heimat die Opernbühne ist, dass sie jedes Kunstlied
zu einer Mini-Oper verwandelt, zu einem dramatischen Werk, in
dem sie sich in jede Perspektive der Erzählung hineindenkt, um so
ein möglichst großes Spektrum von Farben zu benutzen. In ihren
Liedern entsteht ein sanftes Panoptikum, in dem selten Schuld,
immer aber Vergebung und Liebe mitschwingen. Vielleicht aber hat
ihre Interpretation auch etwas damit zu tun, dass Angelika Kirch­
schlager einfach nur ein Mensch ist und, anders als viele Sänge­
rinnen, gar keine Künstlerin sein will, dass Musik für sie an sich eine
Selbstverständlichkeit des Ausdruckes ist und ihre samtene Stim­
me ein Geschenk Gottes, um die Sinnlichkeit in die Welt zu singen.
Ihre Schumann-Lieder, diese hochgeistigen Auseinandersetzungen
mit der menschlichen Sehnsucht, zeigen einmal mehr, dass Kunst
zwar auch von Können kommt, dass ihre wahre Grundlage aber
das Allgemeingültige ist, die Feier des zutiefst Menschlichen. Und
genau davon erzählt Angelika Kirchschlager, wenn sie den Mund
aufmacht: von der profanen Kunst zu leben.
Liedeinspielung des Jahres. Angelika Kirchschlager.
Robert Schumann: Lieder (Sony Classical)
Konzerteinspielung des Jahres
Nils Mönkemeyer / Dresdner Kapellsolisten /
Helmut Branny
Weichet nur, betrübte Schatten
Sony Classical
Konzerteinspielung des Jahres
Peter Hörr
Jean-Louis Duport: Cellokonzerte 4 – 6
MDG — Musikproduktion Dabringhaus und Grimm
Olga Scheps ist der Shooting-Star der Klassik.
Am Klavier will sie nicht gut aussehen, sondern gut klingen
achwuchs-Künstler des Jahres (Klavier) Olga Scheps.
N
Frédéric Chopin: Klavierwerke (RCS Red Seal/ Sony Music)
Hier erklärt Olga Scheps, warum Chopin so tief und sanft ist
In der klassischen Musik kom­
men alle Gefühle vor, die ein
Mensch haben kann, Trauer,
Leidenschaft und Freude.
Jeder Mensch, der Gefühle
hat, wird diese Musik verste­
hen! Und Chopin berührt uns
ganz besonders. Er hat sehr
menschlich komponiert, so,
dass man seine Stücke auch
singen könnte. Seine Werke
atmen, holen Luft und sind
sehr körperlich. Sie vibrieren
und beben. Wahrscheinlich
hat all das mit seiner Begeis­
terung für die Oper zu tun. Sie
klingt auch in seinen Kla­
vierstücken mit. Manchmal
kommt es mir vor, als könnte
man die Menschen mit seinen
Kompositionen wirklich „an­
sprechen“.
Es wäre allerdings ein Irrtum,
zu glauben, dass Chopin we­
niger streng war als Mozart
oder Beethoven. Man darf
sich nicht von seinen schönen
Melodien mitreißen lassen
und ihn nicht als formlosen
Komponisten missverstehen,
nur weil er ein Romantiker
war. Die Gefahr ist, dass man
bei ihm ein bisschen weg­
rutscht, aber wenn man sich
etwas mit seinen Werken be­
schäftigt, lernt man ihn und
seine Musik schnell kennen.
Chopin hatte ein schwieriges
Leben und viele unglückliche
Leibesgeschichten. Aber er
hat die Tiefs so unglaublich
offen und intim verarbeitet.
Ich kann mir vorstellen, dass
diese traurigen Teile, die zum
Mein Chopin
Leben eines jeden Menschen
gehören, uns heute anspre­
chen.
Mir gefällt, dass Chopin,
trotz seiner vielen Probleme
ein Ästhet war — sowohl in
seinem Auftreten als auch in
seinen Kompositionen. Er war
ein durch und durch schön­
geistiger Mensch. Aber seine
wahre Schönheit ist nicht
äußerlich, sondern zutiefst
innerlich. Mir gefällt beson­
ders seinen leiser Ton, seine
Harmonien sind so genial
komponiert, dass sie auch
ohne Kraftanstrengung dem
Zuhörer auf dem letzten Sitz
unter die Haut gehen. Man
braucht, glaube ich, weiche,
zarte Hände, um seine Musik
zum Schwingen zu bringen.
Konzerteinspielung des Jahres
Arabella Steinbacher
A. Dvorak/K. Szymanowski: Violinkonzert Op.53/
Romanze/Violinkonzert Op.35
Konzerteinspielung des Jahres
Gautier Capuçon
Tschaikowsky/Prokofiev: Rokoko-Variationen, Sinfonia
Concertante
PentaTone Classics
Virgin Classics/EMI Music
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Geigen ist zickig
Max Bach und
Johann Reger
Tabea Zimmermann verschachtelt
die Musikgeschichte — mit grandiosem Erfolg
D
ie Ohren sind verblüfft. Der Stimmungsumschwung
von einer Suite zur nächsten, die Kraft und Energie auf
der einen Seite, die innere Erregung und dann, ganz
plötzlich, eine nahezu altersweise Gelassenheit, das
Vertrauen in die Form, das Zurücklehnen ins reine Denken. Die Vi­
olinistin Tabea Zimmermann experimentiert gern. In ihrem neuen
Experiment hat sie kurzerhand die Epochen der Musikgeschichte
ineinander verschachtelt. Dafür hat sie sich Max Regers 1915, kurz
vor seinem Tod komponierten Suiten vorgenommen und die CelloSuiten von Johann Sebastian Bach. Zimmermann spielt die Werke
nicht nacheinander, sondern wechselt nach den einzelnen Suiten
die Zeit, die Stimmung und das Genre.
Plötzlich öffnen sich unsere Ohren.
Im Vordergrund steht das Instrument von Tabea Zimmermann,
der sonore, tiefe Klang der Bratsche. Während Regers Suiten
original für die Viola komponiert wurden (und zu jeder Aufnahme­
prüfung von Bratschern gehören), hat Bach seine Suiten für Cello
komponiert. Zimmermann spielt beide Stücke mit der gleichen
Selbstverständlichkeit und nutzt sie als Beweis der Klangvielfalt
ihres Instrumentes. Während sie bei Reger bewusst „schrammelt“,
kratzt und ächtzt, scheinen die Bach-Stücke an die Tradition der
musikalischen Form zu erinnern. Es wird sofort klar, dass die mo­
derne Musik Regers nicht ohne die Strukturen des Barocks möglich
waren.
Der Trick dieses außergewöhnlichen Albums besteht darin, dass
Zimmermann die Zeit in ihrer Interpretation offensichtlich aus­
hebelt, zunächst keinen Unterschied zwischen Reger und Bach
macht. Erst so bilden sie eine gemeinsame Form, die sich über die
Musikgeschichte legt und die zwei Stücke als ein Werk unserer
Gegenwart im Raum stehen lässt.
Es gibt Instrumente, die im Schatten spielen. Nils Mönkemeyer
hat seines ins Rampenlicht gestellt: die Bratsche. Über den großen
Bruder der Geige gab es bislang nur Witze. Mönkemeyer hat der
Viola den Ernst zurückgegeben. In seinem Album „Weichet nur,
betrübte Schatten“, das mit dem ECHO ausgezeichnet wird, hat er
Bratschenmusik vom Barock bis zur Klassik ausgegraben: Johann
Sebastian Bach, die Weltersteinspielung eines Konzertes des böh­
mischen Komponisten Antonio Rosetti und eines Werkes von Anton
Hoffmeister.
Wulf Schmiese vom ZDF-Morgenmagazin
fragt Nils Mönkemeyer
Herr Mönkemeyer, die Bratsche ist ja die klobige Schwester der
Geige — was ist das Schöne an der Bratsche?
Na ja, alles, allein wie sie aussieht. Man hat ja gern was in der Hand.
Aber im Vordergrund steht der Klang, er ist erdig, warm und einfach
wunderschön. Ich persönlich finde die Geige zickig.
Sagt man eigentlich Bratschist oder Bratscher?
Die Frage werde ich nie beantworten könne. Ich persönlich sage
Bratschist. Man könnte auch Violist sagen — aber das finde ich ein
bisschen aufgesetzt.
Hören Sie privat eigentlich auch nur Klassik?
Ehrlich gesagt: weniger. Wenn ich den ganzen Tag unterwegs bin,
freue ich mich, wenn ich am Ende
eines Tages ein bisschen Pop hören
kann und hopse in meiner Wohnung
zu Madonna rum.
Konzerteinspielung des Jahres
(Musik bis 18.Jahrhundert)
Nils Mönkemeyer/ Dresdener
Kapellsolisten/ Helmut Branny.
Weichet nur, betrübte Schatten
(Sony Classical)
Instrumentalistin des Jahres (Viola) Tabea Zimmermann.
M.Reger / J.S. Bach: Suiten für Viola (Myrios Classics)
klassisch
„Klassische Musik ist schon immer
die Basis für alles was ich tue“,
sagt David Garrett
D
rockig
virtuos
er Mann ist ein Wunder! Kein Musiker ist so erfolgreich wie
er. Keiner hat so viele Kritiker. Und keiner ignoriert sie so
charmant. Keiner verbindet Generationen wie er. David Garrett ist der Superstar der Klassik.
Wer über den Erfolg des Virtuosen rätselt, sollte wissen,
dass Garrett schon ein Wunderkind war. Sein Mentor und
Lehrer Itzhak Perlman hat ihn in die Tiefen der Klassik geführt. Garrett kennt
sich aus in der Welt der Musik und fordert sie heraus. Mozart und Bach sind ihm
heilig - aber sie sind nicht unantastbar. Deshalb arrangiert er die Meisterwerke
der Klassik neu, bricht mit Konventionen und spannt den Bogen zwischen Pop
und Klassik. Garrett schafft es wie kein anderer sowohl die größten Hallen mit
seinen Crossover-Programmen als auch bedeutende Kulturhäuser mit klassischem Repertoire zu füllen.
David Garrett wirbt für seine Musik und für seine Kunst. Er taucht im US-Magazin „Rolling Stone“ ebenso auf wie in den großen deutschen Fernsehshows.
Er ist der Star unter den Geigern.
Bei seinem ausverkauften Konzert in der Berliner Kindl-Bühne Wuhlheide bringt
er die Perfektion seines Schaffens zur Vollendung und verbindet große Melodien
der Klassik mit Klassikern der Rockmusik. Das komplette Open-Air-Konzert inklusive bisher unveröffentlichtem Bonusmaterial ist gerade auf der DVD „David
Garrett — Rock Symphonies — Open Air Live“ erschienen.
„Die Paganinis, Liszts und
Chopins des 19. Jahrhunderts
waren in meinen Augen die
ersten Rockstars der Welt.“
„Ich habe den Anspruch,
dass die Crossover-Stücke,
die ich arrangiere, auf einem
mindestens ebenso hohen
Niveau sind wie die klassischen Werke.“
„Die Klassik ist meine Herzensangelegenheit und ich bin sehr
glücklich, dass meine Botschaft
von den Menschen verstanden
wird.“
Bestseller des Jahres: David Garrett,
Classic Romance (DEAG Classics)
Konzerteinspielung des Jahres
Janine Jansen
Beethoven & Britten: Violin Concertos
Konzerteinspielung des Jahres
Evgeny Kissin
Sergej Prokofiev: Klavierkonzerte 2 & 3
Operneinspielung des Jahres
Juan-Diego Flórez
Christoph Willibald Gluck: Orphée et Eurydice
Operneinspielung des Jahres
Philharmonie Festiva / Gerd Schaller
Carl Goldmark: Merlin
Decca/Universal Music
EMI Classics
Decca/Universal Music
Profil Edition Günter Hänssler
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN
Sie feiert die Schönheit der KastratenStimmen und zeigt das Grauen der Oper.
Mal wieder behauptet sich Cecilia Bartoli
als Grenzgängerin
Frau Bartoli, welchen Preis sind wir bereit, für Schönheit
zu zahlen?
Der Mensch ist ein grausames Monster, wenn es um
Schönheit geht. Wir opfern unsere Moral, unsere Körper
und unsere Seelen. Wir flirten mit der Hölle, um dem
Himmel ein bisschen näher zu sein. Nehmen Sie das 18.
Jahrhundert: Jedes Jahr wurden über 4000 Jungen aus den
Armenvierteln in Süditalien kastriert. Ein schmerzhafter
Prozess. Die Hoden werden entfernt, die Männlichkeit
geraubt, oft mit fatalen Folgen: geringes Wachstum des
Kehlkopfes, Muskelschwäche, Impotenz und mangelndes
sexuelles Verlangen. Und wofür? Nur, um am Ende zwei
gottgleiche Sänger zu haben: die Kastraten Farinelli und
Caffarelli, die mit ihren Stimmen die Welt in Trance ver­
setzt haben. Auch die Klassik kann grauenhaft sein.
Für uns klingt das heute sehr bestialisch.
Und was war mit Michael Jackson? Hat
er seinen Körper nicht ebenfalls für
die Kunst geopfert? Seine Nase,
sein Kinn, seine Hautfarbe, seine
Stimme. Alles! Machen wir uns
doch nichts vor. Die Menschen
lieben das Monster. Und
wir überschreiten noch
immer die Grenzen des
Menschlichen für die
Kunst. Wir spielen
Jekyll und Hyde.
Auch im Fall
von Michael
Jackson ist ein einmaliger Künstler herausgekommen,
der seine Mitmenschen fasziniert hat. Ein Zwitter, bei
dem man nicht mehr zwischen schwarz oder weiß und
Mann oder Frau unterscheiden konnte. Für mich war er
die Fortführung des Kastratentums im 21. Jahrhundert.
Wir Menschen haben uns seit der Antike nicht wesentlich
verändert: Wir sind süchtig nach dem schönen Schauder,
der Übermenschlichkeit. Und wir sind bereit, dafür unend­
liche Opfer zu bringen.
Was treibt uns zu diesen Opfern? Warum verstümmeln
wir uns? Für die Kunst?
Früher war es die Armut. Die Eltern hofften, dass ihre
Jungen eine 12- oder 13-köpfige Familien ernähren kön­
nen. Es ging nicht um die Kunst, sondern um das pure
Überleben. Und vielleicht um die Hoffnung, aufzustei­
gen. Übrigens ist das ebenfalls eine Parallele zu Michael
Jackson. Hat sein Vater ihn nicht auf heißen Herdplatten
tanzen lassen? Wollte der Jackson-Clan nicht ebenfalls
aufsteigen — mit allen Mitteln? Und denken Sie an all die
Models, die ihren Körper freiwillig für den Laufsteg abma­
gern. Es gibt keine Grenze, wenn es um Schönheit geht.
Das ist bestialisch. Auf der anderen Seite würde uns ohne
Kastraten die wunderschöne Musik fehlen, ohne Michael
Jackson der Moonwalk…
Aber ist ihre Kunst diese Opfer wert?
Mit Moral kommen wir nicht weiter. Was in der Kunst
passiert, ist unglaublich unmoralisch. Sie kennt keine
Grenzen. Und das ist umso schlimmer, weil die Ergebnisse
perverserweise unendlich schön sind!
Müssen wir Angst vor uns selbst haben?
Natürlich — täglich. Immer wieder werden uns die Fragen
nach den Grenzen gestellt: In der Gentechnik, in der For­
schung, in der Politik — und natürlich auch in der Kunst.
Und wir sind bereit, die Grenzen ständig zu erweitern.
Beruhigend ist, dass wir letztlich nur Teil eines Kreislaufes
sind. Irgendwann werden wir alle sterben. Umso wichtiger
ist es für mich, dass wir über diese Themen sprechen und
nicht nur sagen: „Tolle Musik!“, sondern auch den Preis se­
hen, den so viele Kinder dafür bezahlt haben. Es gibt viele
Countertenöre, die Kastraten-Arien singen und sagen: „Ist
das nicht schön?“ Ja, das ist es! Aber es ist wichtig, das
nicht so stehen zu lassen.
Und dafür brauchen wir ausgerechnet eine Sängerin?
Eine Frau?
Vielleicht. Wer sonst sollte diese Männerstimmen in Frage
stellen als eine Frau mit — verzeihen Sie den Ausdruck —
Eiern?
Unsere Preise sind ihre Erfolge.
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MUSIKALISCHES ARRANGEMENT DAVID COLEMAN
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Operneinspielung des Jahres (Opernarien)
Cecilia Bartoli. Sacrificium (DECCA/ Universal Music)
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Operneinspielung des Jahres
Münchener Rundfunkorchester / Ulf Schirmer
Karl Amadeus Hartmann:
Des Simplicius Simplicissimus Jugend
BR-Klassik
Operneinspielung des Jahres
Cecilia Bartoli
Sacrificium
Decca/Universal Music
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Besser als Radio
Ein neuer Hut aus
alter Zeit
Paavo Järvi ist einer der spannendsten Dirigenten unserer Zeit — mit der Kammerphilharmonie Bremen hat
er einen Beethoven für die Ewigkeit aufgenommen
B
Das Ohr an der
Nase führen
Das Huelgas Ensemble und Paul van Nevel suchen in
den Archiven der Musik nach neuen Klängen
a
ngefangen hat das Huelgas Ensemble, das Paul van Ne­
vel in der Schola Cantorum Basiliensis gegründet hat, mit
Neuer Musik. Stets ging es um die Frage, welche Formen
und Klänge das Ohr irritieren können. Doch schnell ent­
deckte der Chor, dass auch ein Großteil der Musik des Mittelalters und
der Renaissance „Uraufführungen“ sein können, verschollene, bislang
ungehörte Werke, die von einem Ensemble in unserer Zeit zum ersten
Mal belebt werden. Und so begannen die Musiker, das Neue im Alten
zu suchen. Die Fragestellung war: Wo wurden Formen gesprengt, wo
wurde unser Ohr an der Nase herumgeführt?
Nun ist das Huelagas-Ensemble auf Michelangelo Rossi gestoßen,
den italienischen Madrigalenkomponisten (1601-1656). Er ist nicht
so bekannt wie seine Vorgänger Gesualdo oder Sigismondo. Dabei ist
er weitaus revolutionärer gewesen. In seinen Madrigalen wechseln
hypnotisch langsame Passagen regelmäßig mit schnelleren Teilen
ab, die noch im kontrapunktischen Stil geschrieben sind. Mehr noch
als Gesualdo greift Rossi zu überraschenden, unerklärlichen Melodie­
wendungen und Akkordverbindungen, die in der damaligen Zeit völlig
unüblich waren. Auch in der Wahl der Tonarten und der Akkordfolgen
beschreitet er extreme Wege. Aber weder die Chromatik noch die über­
raschenden Melodiefolgen und abrupten Tempowechsel dienen einer
puren Effekthascherei, sondern alleine dem musikalischen Ausdruck
der zugrunde liegenden Texte.
Man hört dem Huelgas-Ensemble und seinem Dirigenten Paul van
Nevel an, dass diese Trouvaille nicht ausgegraben wurde, um die Hörer
beiläufig zu unterhalten. Ganz im Sinne Rossis legen sie es in ihrer
Interpretation darauf an zu schockieren, zu irritieren, zu berühren.
Selten war Renaissance- Musik so modern wie auf der CD „La Poesia
Cromatica“, die ein Beweis dafür ist, dass es schon im 17.Jahrhundert
eine emotionale Moderne gab, die unserer in nichts nachstand.
eethoven ist ein alter Hut! Jeder hat seine Sinfonien diri­
giert: Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan und Sir
Simon Rattle. Was soll da noch kommen? Die Kammerphil­
harmonie Bremen und ihr Dirigent Paavo Järvi! Man muss
sich das einmal vorstellen: dieses selbstverwaltete Orchester probt in
den Räumen einer Bremer Problemschule. Die Musiker geben nebenbei
Musikkurse, kümmern sich um Integration und halten Anteile an ihrem
eigenen Ensemble. Vielleicht sind das die besten Voraussetzungen,
dem alten Meister noch einmal ganz anders zu begegnen. Denn das,
was Beethoven wirklich klassisch macht, ist, dass er jeder Zeit etwas
Neues zu sagen hat. Beetho­
ven war nach den Kompo­
nisten der Wiener Klassik der
erste, der die Konventionen
der Musik gesprengt hat,
der größer, länger, unhar­
monischer komponiert hat
als Haydn und Mozart es
wagten. Man könnte auch
sagen: Beethoven war ein
Revolutionär, der die Denk­
muster seiner Zeit gesprengt
hat.
Und genau das tut Paavo
Järvi nun auch mit seiner
Kammerphilharmonie. Sel­
ten hat man die Sinfonien
mit einer derartigen Wucht
gehört, mit einer so außerordentlichen Kraft — und gleichzeitig scheint
es den Musikern zu gelingen, das Ausufernde der Kompositionen in
einen gedanklichen Rahmen zu bringen. Denn letztlich ist das die
größte Schwierigkeit, die Musiker mit diesem Komponisten haben:
den klanglichen Ideenreichtum, die scheppernde Naturgewalt und
das ausufernde, weltumspannende Menschenbild unter einen Hut zu
bekommen. Der Hut der Kammerphilharmonie ist zutiefst modern.
Järvis Beethoven ist eine Mahnung an den Humanismus, der aus der
Vergangenheit in unsere Gegenwart schwappt. Ein Klangkosmos, der
unser Heute repräsentiert und gerade deshalb ein Dokument über
unsere Zeit für die Zukunft ist, wie die Beethoven-Einspielungen von
Furtwängler und Karajan über ihre Ära.
Chorwerk-Einspielung des Jahres. Huelgas-Ensemble/ Paul van Nevel.
Michelangelo Rossi: La Poesia Cromatica (DHM/ Sony Music)
Endlich kann man die historischen Aufnahmen des Bayerischen Rundfunks nachhören –
und gemeinsam mit dem Symphonieorchester in die Zukunft gehen
D
as Radio hat einen Geburtsfehler: alles versendet lich wird deutlich, dass der Klang eines Ensembles sich nicht
sich. Man schaltet es ein, im Auto, beim Bügeln,
nur in seiner Geschichte entwickelt, sondern auch durch sein
oder zufällig im Ohrensessel, hört zu und hat kei­
aktuelles Repertoire.
ne Chance zum Nachhören. Dieser Geburtsfehler
BR-Klassik hat gerade erst angefangen, einen eigenen Ka­
ist um so bedauerlicher, wenn ein Radiosender sich exquisite
talog aufzubauen. Es wird spannend sein, nachzuhorchen,
Klangkörper leistet, deren Einspielungen seit Jahrzehnten den woher das Orchester kommt und wohin es geht, Aufnahmen
Soundtrack unseres Landes widerspiegeln. Der Bayerische
aus der Vergangenheit mit Einspielungen unserer Zeit zu ver­
Rundfunk ist so ein Sender. In den letzten 60 Jahren wurde
gleichen. Durch das neue Label wird der Weg des Orchesters
sein Symphonieorchester von Meistern wie Eugen Jochum,
zu einem akustischen Abenteuer, das jeder für sich immer
Rafael Kubelik, Kyrill Kondraschin, Sir Collin Davis, Lorin
dann aufschlagen kann, wenn er gerade Zeit hat. Auch, wenn
Maazel und Mariss Jansons geleitet. Sie haben zahlreiche
das Radio mal keine Klassik sendet.
Konzerte gegeben, von denen die meisten übertragen wur­
den – und dann im Archiv des Senders verschwanden. Damit
ist nun Schluss: Mit BR-Klassik ist ein Label entstanden,
das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Schätze der
Vergangenheit zu heben und die Entwicklung des
Orchesters zu begleiten. Musik zum Nach- statt
zum Mithören!
Plötzlich wird Musik zu einem Abenteuer der
Historie. In ihrer Jubiläumsbox hat BR-Klassik
alle Dirigenten auf den Markt gebracht und
Romantische
unter Beweis gestellt, dass das Sympho­
Wucht
Oper modern
nieorchester des Bayerischen Rundfunks
Klassik-Geschichte geschrieben hat. Der
Mariss Jansons
Ulf Schirmer entdeckt
Blick ins Archiv und die Neuentdeckung
dirigiert Bruckner
Hartmann
des Alten ist aber nur ein Teil. Ebenso
Wenn man über den Deutschen Klang
Die Handlung der Oper „Simplicissi­
spannend ist es, zu hören, was heute aus
redet, muss man nach dieser CD auch
mus“ von Karl Amadeus Hartmann
der Tradition des Klangkörpers gewor­
über das Symphonieorchester des
erzählt das Schicksal eines Menschen,
den ist. Wenn Mariss Jansons Mahlers
Bayerischen Rund­
der sich selbst und die
7. Sinfonie dirigiert, ist zu hören, dass
funks reden! Der Ein­
Welt in den Strudeln
er sich dem Klang seines Orchesters
spielung der siebten
des Dreißigjährigen
verpflichtet fühlt, ihn aber gleichzeitig
Bruckner-Sinfonie ist
Kriegs zu verlieren
behutsam in die Gegenwart führt. Und
anzuhören, dass das
droht. Brisant: die
wenn man diese Aufnahme mit seinem
Orchester den Komponisten im Blut
Urfassung entstand 1934-1936 auf An­
Bruckner oder seinem Haydn vergleicht,
hat, den erdigen, schwelgerischen,
regung Hermann Scherchens, der seit
weiß man, dass Radiosymphonieor­
romantischen Klang. Erstaunlich auch,
1933 im Schweizer Exil lebte. Dirigent
chester die vielleicht vielseitigsten
wie viel modernes Licht und Energie
Ulf Schirmer belebt dieses moderne
Klangkörper überhaupt sind. Plötz­
Mariss Jansons dieser Sinfonie nun
Bild der alten Zeit nun mit fulminanter
noch aufsetzt. Hier verschmelzen die
Verve und großartigen Sängern wie
Wahrung der Tradition und der Schritt
Christian Gerhaher.
Operneinspielung des Jahres
in unsere Zeit.
Ensemble des Jahres (Neue Musik):
Symphonieorchester des Bayerischen
Rundfunks / Mariss Jansons. Anton
Bruckner: Sinfonie 7 (BR-Klassik)
(10./21. Jahrhundert) Münchener
Rundfunkorchester / Ulf Schirmer.
Karl Amadeus Hartmann: Des
Simplicius Simplicissimus Jugend
(BR-Klassik)
Dirigent des Jahres. Paavo Järvi. L.V.Beethoven:
Sinfonien 2&6 „Pastorale“ (Sony Classical)
Operneinspielung des Jahres
Vivica Genaux
Antonio Vivaldi: Opera Arias – Pyrotechnics
Operneinspielung des Jahres
Bryn Terfel
Bad Boys
Chorwerk-Einspielung des Jahres
Huelgas Ensemble / Paul van Nevel
Michelangelo Rossi: La Poesia Cromatica
Chorwerk-Einspielung des Jahres
Amarcord
Rastlose Liebe
Virgin Classics/EMI Music
Deutsche Grammophon/Universal Music
DHM/Sony Music
Raumklang
32 | 33
Alle Musiker sind Botschafter
Miriam Weichselbaum fragt Lang Lang
Ein Künstler
in vielen Dimensionen
Lang Lang gibt’s inzwischen auch in 3D —
aber seine eigentliche Heimat ist die Musik
E
inen modernen Musiker gibt es mehr als ein­
mal. Lang Lang ist so ein moderner Musiker.
Ihn gibt es — natürlich — live in Konzerten, ihn
gibt es — natürlich — auf CD. Aber Lang Lang
existiert auch im Internet, in hunderten von You TubeVideos, auf denen ihn Fans sogar beim Fußballspielen
filmen. Lang Lang gibt es in der virtuellen Welt auf Twitter
und amazon. Und neuerdings gibt es den Klavierspieler so­
gar in 3D! Sein Album „Live in Vienna“ ist nicht nur als CD,
als DVD, in einer Deluxe Edition, auf Blue Ray, auf altem
Vinyl, sondern auch als dreidimensionales Video erschie­
nen. Was Lang Lang auch macht, er macht es richtig!
Der Klavierspieler aus China war einer der ersten KlassikStars, die mit den Konventionen aufgeräumt haben.
Musikalisch, indem er die Leidenschaft bei Beethoven,
Rachmaninov und Co. wieder in den Vordergrund gestellt
hat, indem er mit zahllosen Interpretations-Traditionen
gebrochen und die alten Meister auch für ein junges Publi­
kum gespielt hat. Er hat den Menschen erklärt, dass er mit
„Tom und Jerry“ aufgewachsen ist und dass der Sound­
track von Stravinsky kommt. Er hat der Klassik Emotionen
gegeben, Wildheit, eine Aufgeregtheit und ein unbändiges
Temperament. All das konnte er sich leisten, weil er tech­
nisch außerhalb jeder Kritik stand.
Gleichzeitig hat er auch gemerkt, dass Klassik, wenn man
sie richtig begreift, ein modernes Medium sein kann. Dass
die Musik eine Botschaft ist, die Menschen weltweit er­
reicht, die Europäer und Chinesen, Amerikaner und Aus­
tralier, Amerikaner und Europäer miteinander verbindet.
Lang Lang hat die neuen Bühnen einer globalisierten Zeit
Chorwerk-Einspielung des Jahres
Nikolaus Harnoncourt / Arnold Schoenberg Chor /
Concentus Musicus Wien
Joseph Haydn: Die Jahreszeiten
DHM/Sony Music
genutzt, um diese Kernbotschaft der Klassik zu verbrei­
ten. Er hat begriffen, dass ein Klassik-Star heute nicht nur
in einer Dimension spielen muss, sondern in vielen Dimen­
sionen unterschiedliche Rollen einnehmen kann.
Natürlich weiß er auch, dass in jeder neuen Dimension
andere Regeln gelten, dass die Musik aber auf jeder Ebene
die Basis ist. Er weiß, dass er seinen Ruhm Beethoven,
Chopin und Rachmaninov zu verdanken hat. Er weiß, dass
sie die Grundlage seines Erfolges sind. Denn letztlich ist
das Leben wie ein Computerspiel (und Lang Lang liebt
Computerspiele!): erst wenn man das Ende eines Levels
erreicht hat, kann man zum nächsten vordringen. Den
Level des international anerkannten Musikers hat Lang
Lang erreicht. Scheinbar problemlos ist er durch den näch­
sten Schwierigkeitsgrad geschritten und wurde zu einer
Medienikone. Er ist Botschafter für den Musiknachwuchs,
hat eine eigene Stiftung gegründet, setzt sich für den
Dialog der Kulturen ein und ist rastlos unterwegs, um die
Botschaft der Musik unter die Leute zu bringen.
Das Schönste aber an der multiplen Persönlichkeit Lang
Lang ist, dass er den ECHO nicht für seine multimedialen
Aktivitäten bekommt, sondern für den Ursprung seines
Daseins: für die Interpretation von Musik. Sein Tschai­
kowsky und sein Rachmaninov klingen so ungestüm wie
eh und je, und auch auf seiner neuen CD „Live from Vien­
na“ zeigt er, wo seine eigentliche Heimat ist: in der Musik.
Hier ist der echte Lang Lang zu Hause, auf Vinyl ebenso
wie in 3D. Der Rest ist die Kunst, andere Menschen für
seine Kunst zu begeistern.
Chorwerk-Einspielung des Jahres
Osvaldo Golijov
Osvaldo Golijov: Die Markus-Passion
Deutsche Grammophon/Universal Music
Lang Lang, wie ist das, wenn Sie ein neues Album
herausbringen?
Es ist immer eine sehr aufregende Sache. Man hat lange
daran gearbeitet, und irgendwann ist es zu Ende — und
man ist gespannt auf die Reaktionen der Fans. Das ist
immer eine sehr aufregende Erfahrung.
Wie wählen sie ihr Repertoire aus?
Ich habe schon viele CDs aufgenommen, und meistens
haben sich die Themen ergeben. Ich habe Beethoven und
Rachmaninov gespielt, weil sie mich angesprochen haben.
Es war auch toll ein chinesisches Album herauszubringen,
weil ich mit dieser Musik aufgewachsen bin und mein
Vater chinesische Instrumente spielt. Es geht darum,
dass man mit der Musik etwas anfangen kann.
Fühlen sie sich auch als Botschafter Chinas?
Jeder Musiker ist ein Botschafter. Und ich freue mich,
dass ich ein Botschafter in zwei Richtungen sein kann: Ich
bringe Musik meiner Heimat in den Westen und Musik aus
dem Westen in meine Heimat.
Es fällt auf, dass sie besonders viele junge Fans haben.
Ich bin sehr stolz darauf. Eigentlich ist die Klassik ja ein
schweres Geschäft. Man schleppt eine große Tradition mit
sich herum. Wenn man dann merkt, wie leidenschaftlich
diese Musik sein kann, wie emotional sie ist, dann finde
ich es toll, dass so viele junge Menschen sich für die Klas­
sik interessieren.
Sie selbst haben mit drei Jahren angefangen, Klavier zu
spielen — ist das Üben nicht manchmal anstrengend?
Ich habe eigentlich immer gern geübt — bis heute. Und
wenn das nicht der Fall ist, belohne ich mich anschließend
selbst mit ein paar Süßigkeiten oder Obst.
Haben Sie eigentlich Zeit, auch noch normale Dinge
zu tun?
Ich liebe Fußball, ich liebe das Kino — und es hat mich
besonders stolz gemacht, dass ich für große Filme die
Musik einspielen konnte. Also keine Angst, ich habe viele
Hobbys.
Instrumentalist des Jahres (Klavier) Lang Lang.
Tschaikowsky/ Rachmaninov: Klaviertrios (Deutsche
Grammophon/ Universal Music)
Chorwerk-Einspielung des Jahres
Mädchenchor Hannover / Camerata Vocale Hannover / Knabenchor Hannover / Kammerchor Hannover / Norddeutscher
Figuralchor / Bachchor Hannover / Brahmschor Hannover / Junges Vokalensemble Hannover / Capella St. Crucis
Glaubenslieder – Neue Kantaten zum Kirchenjahr
Rondeau Production
34 | 35
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN
Jubilieren
für eine neue Zeit
Neun Chöre aus Hannover beweisen, dass der Gesang der einfachste
Weg zu Gott ist und führen die Kirchenmusik in die Zukunft
B
ach, Telemann und Buxtehude — klar, diese
Meister der Kirchenmusik kennt man. Bei
Kampe, Koerppen, Plate und Strohbach
kommt man dagegen leicht ins Stutzen. Seit
Jahrhunderten werden in den deutschen Kirchen die
gleichen Glaubenslieder der ewig gleichen alten Meister
gesungen. Zu Recht, schließlich ist die Kirche eine der
letzten Institutionen, die ihre Tradition pflegt. Doch
zur Geschichte der Glaubenslieder gehört auch, dass
es früher — zur Zeit Bachs — fast jeden Sonntag eine
Urauffühung in den Kirchen gab. Dass die Gläubigen
die Botschaft Gottes in Musik ihrer Zeit vernommen
haben. Tempi passati — bis jetzt.
Die Kirche in Hannover knüpft endlich wieder an die
Tradition an, Gott und die Botschaft der Bibel mit
neuen Tönen zu feiern. Sie hat alte Kantatentexte
zur Hand genommen und neue Komponisten für sie
gesucht. Eben: Kampe, Koerppen, Plate, Trohbach und
26 andere Gegenwarts-Tonsetzer. Ihre Aufgabe war es,
das Kirchenjahr vom Advent über Karfreitag bis zum
24. Sonntag nach Trinitatis mit Musik unserer Zeit neu
zu beleben. Wenn möglich so, dass auch die Gemeinde
an ihren Werken teilhaben und andere Chöre sie nach­
singen können.
Ein Experiment, das zeigt, wie lebendig der Glaube
auch noch sein kann. En passant stellt es unter Beweis,
dass die Musik und die Musiker seit jeher die vielleicht
besten Boten für die Botschaft Gottes sind. Laienwie Profichöre beleben die Musik der Kirche.
Gleich neun Ensembles aus Hannover haben die neuen
Werke aufgenommen: der volltönend jubilierende
Mädchenchor und der Knabenchor Hannover, die klug
gestaltende Camerata Vocale, der altehrenwerte Nord­
deutsche Figuralchor, der Bachchor, der mit dem Geist
des alten Meisters in die Moderne singt, der Brahm­
schor, das Junge Vokalensemble Hannover und die
Capella St. Crucis. Sie alle interpretieren Glaubenslieder,
die sich in ihren Stilen grundlegend unterscheiden, die
Vielfalt der Moderne abbilden und sich dennoch in ihrer
Kernbotschaft gleichen: Musik und das Gebet sind die
einfachsten Wege zu Gott.
Die Ensembles auf der CD bilden nur die Vorhut der
grundlegenden Erneuerung der Kirchenmusik. ,Denn
die Noten aller Glaubenslieder sind auch für andere
Gesangsgruppen erhältlich. Die Kirche in Hannover hat
mit ihrem Projekt einen Grundstein gelegt, die Traditi­
on der Kirchenmusik neu zu beleben und zu beweisen,
wie lebendig der Glaube ist, wenn die alte Botschaft in
neuen Tönen erschallt.
horwerkeinspielung
C
des Jahres (20./21. Jahr­
hundert) Mädchenchor
Hannover, Camerata
Vocale, Knabenchor
Hannover, Kammerchor
Hannover, Norddeutscher
Figuralchor, Bachchor,
Brahmschor, Junges Vokal­
ensemble, Capella St. Crucis.
Glaubenslieder — Neue
Kantaten zum Kirchenjahr
(Rondeau Production)
Kammermusik-Einspielung des Jahres
Casal Quartett
Birth of the String Quartet
Kammermusik-Einspielung des Jahres
Wiener Klaviertrio
Joseph Haydn: Klaviertrios
Solo Musica
MDG — Musikproduktion Dabringhaus und Grimm
Bass-Bariton Bryn Terfel zeigt
sich als Bösewicht der Oper –
und glaubt, dass die Kunst ohne
Tod langweilig wäre
Herr Terfel, warum sind die Bass-Baritone so böse?
Ist das nicht herrlich? Ohne sie wäre die Oper vollkommen
ungefährlich — nur Liebe, aber keine Intrige, kein Tod, keine
Spannung. Die Baritone und Bässe treiben die Handlung
voran, sie sind für das Drama verantwortlich, sie öffnen
die Höllentore. Dauernd reden sie über den Tod oder planen
ihn. Das Böse hat eine dunkle Stimme! Und das scheint eine
Konstante in der gesamten Operngeschichte zu sein, von
Dulcamara im „Liebestrank“ bis zu Mackie Messer in der
„Dreigroschenoper“.
Nun haben sie alle Bad Boys auf einer CD zusammengetragen. Ich würde sagen: Mindestens 10 Mal lebenslänglich mit
Sicherheitsverwahrung!
Mindestens! Aber für mich war ausschlaggebend, dass auch
das Böse unterschiedliche Facetten hat. Ein Scarpia aus
„Tosca“ ist anders böse als ein Sweeney Todd, der übrigens
einer meiner Lieblingsbösewichter ist. Ich habe mir Boitos
und Gounods Méphistophélès, Webers Kaspar, Verdis Jago,
den Drogenhändler Sportin’ Life aus „Porgy and Bess“ vorge­
nommen, und eben auch Stephen Sondheims Sweeney Todd.
Das Schöne an dieser CD war, dass ich Rollen singen konnte,
die ich in einer Bühneninszenierung eher nicht machen würde.
Scarpia haben Sie auf der Bühne gesungen — was ist das für
ein Mensch?
Kammermusik-Einspielung des Jahres
Ma’alot Quintet
Gioacchino Rossini: La Cenerentola/Tancredi
arr. für Bläserquintett
MDG — Musikproduktion Dabringhaus und Grimm
Er hat das letzte Wort. Schon im ersten Akt, wenn er sein
Bösewicht-Credo zum Te Deum mitten in der Kirche singt.
Das ist ein gewaltiges, bombastisches, dunkles Stück Musik.
Und für mich klingt in diesem Stück auch die Gewalt der Kir­
che mit, wenn sie ihre guten Vorsätze aus den Augen verliert
und zu einem menschenverachtenden System wird. Für
Scarpia wird die Religion zu einer Droge auf dem Weg, seine
Geliebte Tosca zu erobern.
Gibt es auch einen Urschurken der Oper?
Für mich ist das eindeutig Don Giovanni, auch einer dieser
eher schizophrenen Bösewichter. Macht er nicht das, was wir
alle am liebsten tun würden? Rücksichtslos leben, nur für die
eigene Lust. Mozart hat ihm diesen grausamen, höllenhaften
d-Moll-Akkord komponiert. Damit hat er eine Grundlage für
alle anderen Komponisten gelegt. Auch bei Beethoven oder
Weber hören wir später d-Moll, wenn’s richtig böse wird. Es
ist die Tonart der Halunken!
Was ist das Besondere an Don Giovanni?
Ich liebe die Dramatik des Finales. Da stehen drei Charaktere
auf der Bühne: Don Giovanni, Leporello und der Komtur. Und
jeder hat andere Interessen. Das Thema ist für alle das glei­
che: der Tod. Das Schönste an dieser Szene ist, dass sie trotz
der Schwere am Ende beste Unterhaltung ist.
Operneinspielung des Jahres (Opernarien und Duette) Bryn
Terfel. Bad Boys (Deutsche Grammophon/ Universal Music)
Kammermusik-Einspielung des Jahres
Isabelle Faust / Alexander Melnikov
L. v. Beethoven: Sonaten für Violine & Klavier
harmonia mundi
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Erwachsene
Thomanerknaben
Beim a-Cappella-Ensemble
­Amarcord macht die Musik Spaß
Der Magath
der Dirigenten
Marek Janowski lässt die Zeitlosigkeit
bei Hans Werner Henze erklingen
Vom Urschleim
ins Jetzt
Das Casal Quartett erweitert die Kampfzone
der Kammermusik
W
er glaubt, dass ein Quartett aus vier Menschen
besteht, die dauernd irgendwo Mozart, Schubert
und Beethoven spielen, irrt. Das Casal Quartett
begreift Musik nicht als pure Aneinanderreihung
von Aufführungen. Für die vier Musiker ist das Quartettspiel eine dau­
ernde Auseinandersetzung mit musikalischen Formen und der Frage,
was die Kammermusik mit unserem Leben zu tun hat. Die vier leiten
eigene Festivals, in Arosa, Bosvil und Kaiserstuhl. Dort und in ihren
Programmen erweitern sie die Kampfzone der Kammermusik, ver­
kuppeln sie mit Tanz, Literatur und Musik aus anderen Bereichen, vom
Jazz bis zum Tango. Und plötzlich stehen auch Mozart, Schubert und
Beethoven in einem ganz anderen Licht. Das Casal Quartett schafft es,
die Klassiker modern klingen zu lassen. Bei ihnen hören sie sich an wie
Zeitgenossen: aufrüttelnd, entschlossen, gegenwärtig.
Sie selbst sagen: „Als Musiker, die sich dem Streichquartett mit all
seinen Konsequenzen verschrieben haben, leugnen wir nicht, dass
das Gewicht seiner Tradition auch eine Belastung ist. Zu lange und
reichhaltig ist die Geschichte seiner Komponisten und Interpreten, als
dass ein unbedarftes Herangehen an dieses grosse, wunderbare und
lebendige Erbe unserer Kultur möglich wäre. Vor allem aber ist sie eine
Herausforderung, die auszufüllen ein ganzes Leben nie genügen kann.“
Um so spannender war es, als sich die vier nun zu den Anfängen ihrer
Kunst vorgetastet haben und frühe Werke der Quartettliteratur ent­
deckten: Scarlatti, Sammartini, Mozart, Boccherini und Haydn. Das
Quartett hat sich zum Urschleim der Kammermusik vorgetastet und
die alten Werke auf alten Instrumenten mit unglaublicher Dynamik
und Kraft zum Leben erweckt. Man hört dieser Interpretation an, dass
sie aus dem Jetzt kommt, dass die Musiker vom Casal Quartett das
Streichquartett längst geöffnet haben und den Schlüssel in der Hand
halten, um die alten Meister in unserer Zeit zu befreien.
”
Wie Felix Magath Fußballmeister macht, so kann Marek Ja­
nowski Philharmonie-Riesen wecken. Oder neu erschaffen.“
Das hat der „Spiegel“ über den inzwischen 71jähringen Mei­
sterdirigenten geschrieben, der sich nie um einen Platz in der KlassikÖffentlichkeit beworben hat, sondern seine Interpretationen lieber für
sich sprechen lässt. Der Vergleich zwischen Fußballtrainer und Maes­
tro ist gar nicht so abwegig, denn dass die Musiker Janowski aus den
genialen Händen fressen, liegt daran, dass er technisch perfekt ist, ein
Gespür für Dynamik und Taktik hat. Außerdem ist er unprätentiös und
stellt immer nur die Musik und die Komponisten in den Vordergrund.
Janowski hat einen der schönsten „Wagner-Ringe“ dirigiert, ist einer
der größten Bruckner- und Beethoven-Dirigenten und — was nur weni­
ge wissen — zeitlebens ein Förderer der Gegenwartsmusik. Sein Ge­
schick liegt darin, auch in der Neuen Musik das Emotionale und Erzäh­
lerische zu suchen und zu finden. Für ihn sind Kompositionen aus dem
Jetzt mindestens so zeitlos wie Mozart und Beethoven, weil er in ihnen
nie die Moden entdeckt, sondern die Momente der Ewigkeit.
Hans Werner Henzes neunte Sinfonie orientiert sich an Anna Seghers
Erzählung „Das siebte Kreuz“. Es ist eines dieser Werke, die ewig mah­
nend sind. Ein Stück, das in latenter Spannung vibriert, von Angst und
Hoffnung, Überleben und Tod berichtet. Ein klingendes Mahnmal der
Menschlichkeit. Also genau die Musik, für die ein Dirigent wie Marek
Janowski steht. Er inspiriert das fast schon spukhaft aufspielende
Rundfunksinfonieorchester Berlin und den opulenten Rundfunkchor
Berlin zu einer tiefgründigen Reise auf der Suche nach der mensch­
lichen Seele.
Gejazzt
Jeder der fünf Amarcords soll eine
Strophe zur Musik improvisieren.
Hier die spontanen Sätze:
Ich finde die Musik so toll, weil
sie sich immer abwechselt.
Die Vielfarbigkeit in der a Cappella
Musik, die uns Möglichkeiten gibt, die
wir uns nicht zu erträumen wagten.
Wir können mit der Musik viel
Geld verdienen und die Herzen der
Frauen erwärmen.
Ohne Musik wäre die Welt
ein Irrtum.
Dem kann man nichts hinzufügen.
Alle: Aaaaaaahmeeeen!
Fußball — der ist wichtig, um bei Amarcord
aufgenommen zu werden. Schließlich haben
die fünf Jungen aus der a-Cappella-Gruppe
schon als Kinder miteinander gekickt. In den
Probepausen zur Matthäus-Passion oder an­
deren geistlichen Chorwerken. Die Amarcords
sind ein echter Männerbund: lustig, freigeistig
und ohne Eitelkeiten. Gelernt haben sie all das
beim Thomanerchor in Leipzig. Hier haben sie
auch ihr gemeinsames Kunstideal entwickelt:
Der Einzelne ist nichts, gemeinsam sind wir
stark. So sind sie die fünf Musketiere des
Gesangs geworden.
Allmählich haben sie eine einheitliche Kunstund Gesangssprache gefunden. „Es ist
wichtig, dass wir in der gleichen Artikulation
singen, dass unsere Stimmen sich zwar unter­
scheiden, aber trotzdem einheitlich sind, dass
wir viele Farben, aber eine Botschaft haben“,
sagen sie selbst. All das lassen sie auf ihren
CDs und in ihren Konzerten auch hören. Egal,
ob das Ensemble Amar­
cord Meisterwerke des
Barocks oder der Klassik
singt, ob es eine Sause
mit Volksliedern
Sinfonische Einspielung des Jahres (10./21. Jahrhundert) RunfunkSinfonieorchester Berlin/ Rundfunkchor Berlin/ Marek Janowski.
Hans Werner Henze: Sinfonie Nr.9 (WERGO)
Kammermusik-Einspielung des Jahres (17./18. Jahrhundert)
Casal Quartett. Birth of the String Quartet (Solo Musica)
oder Populärmusik anstimmt — in allen Fällen
steht die musikalische Professionalität, der
Ernst der Sache und der Spaß an der Musik im
Vordergrund.
Wenn man sich mit den Sängern unterhält,
merkt man schnell, dass ihre Sozialisation die
Grundlage ihres Erfolges ist. „In den Zeiten
der DDR war der Thomanerchor nicht nur eine
Institution mit einer langen Geschichte, die
1212 begann, sondern auch eine Insel der
Glückseligen“, sagen sie.
An ihre eigene Internatszeit erinnern sie sich
wie Lausbuben. „Fasching und Weihnachten
waren Ausnahmezustände — die älteren
Chormitglieder mussten eigene Stücke kom­
ponieren, die Säle schmücken und für das
Programm sorgen.“ Und natürlich blieb auch
Zeit für jugendlichen Schabernack. Die Strafe
folgte allerdings auf den Fuß: Bei besonders
schweren Ausrutschern hatte man die ge­
samten 300 Seiten der Matthäus-Passion
auszuradieren und die Bleistift-Eintragungen
der Sänger zu entfernen.
Die fünf Männer vom Ensemble Amarcord
haben sich den Spaß nie verderben lassen.
Das hört man auch auf all ihren CDs. In der
Klassik wie im Crossover steht bei
ihnen die Lebenslust der Musik,
das Funkeln der musikalischen
Ideen und die Freude, sich
im Klang auszudrücken
im Vordergrund: egal,
ob in der MatthäusPassion oder auf dem
ECHO-Album „Rastlose
Liebe“ oder bei Stücken
wie „Die Lotusblume“,
„An den Mond“, Wasser­
fahrt“ oder „Im Süden“.
chorwerk-einspielung des jahres
(18./19. jahrhundert) amarcord.
„rastlose liebe“ (raumklang)
Kammermusik-Einspielung des Jahres
Belcea Quartet
Franz Schubert: Streichquintett/Streichquartette
Kammermusik-Einspielung des Jahres
Minguet Quartett
Peter Ruzicka: Sämtliche Werke für Streichquartett
Solistische Einspielung des Jahres
Murray Perahia
J. S. Bach: Partitas 1, 5 & 6
EMI Classics
Neos Music
Sony Classical
Solistische Einspielung des Jahres
Mihaela Ursuleasa
Beethoven/Brahms/Ravel/Ginastera/
Constantinescu: Klavierwerke
Berlin Classics
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Papa Haydns
Weltsprache
Der Meister und
sein Instrument
Der AntiKarajan
Bruno Weil beweist: man
muss nicht Englisch können,
um verstanden zu werden
Martin Schmeding bringt die
Silbermann-Orgel in Dresden
zum Klingen
Das Ensemble Anima Eterna
über seinen Dirigenten
Jos van Immerseel
Joseph Haydns Orchester wurde gerade
abgeschafft und er mit einer lebenslangen
Pension abgespeist — er war ein reicher, freier
Mann. Da bekam der Komponist Besuch vom
Geiger und Konzertunternehmer Johann Peter
Salomon. Der traf Haydn in Wien und sagte:
„Ich bin Salomon aus London und komme, Sie
abzuholen; morgen werden wir einen Akkord
schließen.“ Salomon bot Haydn 5.000 Gul­
den an, um mehrere Werke zu komponieren,
unter anderen sechs neue Sinfonien. Haydn
war begeistert und schlug ein. Nur sein junger
Freund Mozart warnte ihn: „Papa, Sie haben
keine Erziehung für die große Welt gehabt
Manchmal macht die Geschichte eines Instru­
mentes den Klang aus. Die Silbermann-Orgel
in der Dresdener Hofkirche ist so ein Instru­
ment. 1750 bekam einer der bekanntesten
Orgelbauer den Vertrag des Sächsischen
Hofes, eine Orgel mit 47 klingenden Stim­
men, verteilt auf drei Manuale und Pedal
für die neue Kirche zu bauen. Dafür sollte er
mit 20.000 Talern bezahlt werden. Gottfried
Silbermann verlegte einen Großteil seiner
Werkstatt nach Dresden, doch bevor das
Instrument 1755 eingeweiht wurde, verstarb
der Orgelbauer an einer Bleivergiftung — sein
Schüler Zacharias Hildebrandt vollendete das
Beginnen wir mit ein bisschen Humor. Als ein
Musiker den Türöffner im Himmel fragte, wie
Gott so sei, antwortete der: „Gott ist schon
in Ordnung, nur manchmal denkt er, er wäre
Herbert von Karajan.“ Tatsächlich ist es so,
dass wir uns einen Dirigenten heute gern als
Puppenspieler vorstellen, der die Kontrolle
über eine Sinfonie und das Orchester hat,
indem er nur einen Finger hebt. Das hat zu
einem Ungleichgewicht zwischen Orchester
und Musikern geführt und: das Wichtigste
gerät aus dem Blick: der Komponist.
Jos van Immerseel besteht auf die originalen
Tempoangaben und nimmt sich dadurch
und reden zu wenige Sprachen.“ Haydn ent­
gegnete trocken: „Meine Sprache verstehet
man durch die ganze Welt“.
Was er damit meinte, zeigen die Capella Colo­
niensis und der Dirigent Bruno Weil auf ihrer
CD mit den Londoner Sinfonien. Sie beweisen,
dass Haydns musikalischer Witz, dass seine
ernsthafte Durchdringung des menschlichen
Geistes, dass seine Spielereien und sein
Tüfteln an der Form tatsächlich eine Mensch­
heitssprache ist: universell, allgemeingültig
und zeitlos. Bruno Weil ist ein leiser, arbeit­
samer Dirigent, der vollkommen in der Musik
aufgeht. Mit seinem Haydn-Projekt zeigt er,
dass man nicht Englisch sprechen muss, um
im Ausland verstanden zu werden.
Meisterwerk. Es gab drei Silbermann-Orgeln
in Dresden, nur eine überlebte den Krieg, weil
sie 1944 ausgelagert wurde. 2002 wurde die
Orgel restauriert und wieder eingeweiht.
Was für einen großen Klang sie hat, hört man
nun, wenn einer der besten Organisten diese
Orgel spielt. Der Freiburger Orgelprofessor
Martin Schmeding zeigt mit seiner Einspie­
lung der Goldberg-Variationen von Johann
Sebastian Bach, wie vielfältig und klangstark
das Orgelwerk ist. Selten hört man die Or­
gelfassung dieses barocken Klassikers so
aufgefächert, so durchhörbar und episch wie
bei ihm.
Instrumentalist des Jahres (Orgel) Martin
Schmeding. J.S. Bach: Goldberg-Variationen
(Cybele Records)
Sinfonische Einspielung des Jahres
(bis 18. Jahrhundert) Capella Coloniensis /
Bruno Weil. Joseph Haydn: Londoner
Sinfonien (Ars Production)
schon einmal zurück. Er glaubt daran, dass die
größte Aufgabe des Dirigenten darin besteht,
vor den Proben in die Archive zu steigen und
sich zu informieren. Vor der Probe schickt
er dann einen Brief an alle, in dem er seine
Ergebnisse vorstellt, so arbeiten alle gemein­
sam an einem Ziel. Während des Konzertes
steht er vollkommen im Dienst des Kompo­
nisten, und es ist immer wieder ein Spaß,
wenn er bei den Zugaben vom Pult steigt und
dem mündigen Orchester die Sache überlässt.
Was bleibt am Ende übrig vom Dirigenten?
Die Musik natürlich. Sie steht für Jos van
Immerseel stets im Mittelpunkt allen Schaf­
fens. Ebenso wie die Überzeugung, dass die
Gegenwart nicht immer besser sein muss als
die Vergangenheit.
Treffen wir uns im Traum?
Hélène Grimaud und Claudio Abbado spielen Rachmaninov –
und bauen dabei eine Welt aus Geist auf
E
s gibt außergewöhnliche Momente im Konzert­
leben. Abende, die eine eigene Aura entwickeln,
an denen die Künstler auf der Bühne miteinan­
der in Musik kommunizieren und das Publikum
elektrisieren. Momente, die uns beweisen, dass Musik
größer und freier sein kann als das Leben — und an deren
Ende wir hoffen, ein bisschen dieser Inspiration und Frei­
heit mitnehmen zu können in unseren Alltag. DVDs sorgen
dafür, dass wir einmalige Momente wenigstens in unseren
Wohnzimmern wiederholen können.
Dass ein Konzert mit Hélène Grimaud und Claudio Ab­
bado ein unvergessliches Ereignis werden könnte, war
abzusehen. Immerhin trafen hier zwei Geistesmenschen
aufeinander. Der Dirigent, der vom Proben wenig hält, der
das Können seiner Musiker voraus­
setzt, weil die Musik nur so zur
Sache der Empathie, der Ein­
fühlung, werden kann - und
die Philosophin am Klavier,
die versucht ihre Gedanken
über das Menschsein und
die Mechanismen der Psyche
in Klängen auszudrücken.
Als diese zwei Geistes­
menschen in Luzern aufeinander­
trafen, durfte man gespannt sein,
welche Musik zwischen ihnen ent­
stehen würde. Auf dem Programm
stand — natürlich — ein Traum­
stück. Sergei Rachmaninov hat
sein zweites Klavierkonzert un­
ter Hypnose ersonnen, in einem
außerweltlichen Stadium. Der
Neurologe Dahl hatte
ihn in den Halbschlaf versetzt. Später erinnerte sich der
Komponist an diesen Moment wie folgt: „’Du wirst dein
Konzert schreiben… du wirst mit großer Leichtigkeit ar­
beiten… Das Konzert wird von exzellenter Qualität sein…’
Es waren immer dieselben Worte, ohne Unterbrechung.
Auch wenn es unglaublich erscheint, diese Therapie half
mir wirklich. Im Sommer begann ich zu komponieren. Das
Material wuchs und neue musikalische Ideen begannen
sich in mir zu regen.“
Tatsächlich gelang Rachmaninov ein Werk voller lied­
hafter, romantischer Größe. Abbado und Grimaud begeg­
nen ihm wie in einem Traum. Sie verzichten auf roman­
tische Schwelgerei, dringen gleich zum Kern des Mensch­
seins vor. Sie benutzen das Pathos der Musik nicht als
schillernde Oberfläche, sondern als Kruste, hinter der sie
auf die Suche nach dem Feinsinnigen und Feingeistigen
gehen. Bereits nach den ersten acht Glocken-Akkorden der
Pianistin hört man, dass Abbado ihre Seele sucht, um sie
mit seinem Orchester auf eine Abenteuerreise zu be­
gleiten. Was bleibt, wenn die Musik verklungen ist, ist
diese Aufnahme, die so phantastisch daherkommt,
als würden sich zwei Menschen im Traum verabre­
den — und dort gemeinsam eine Welt beleben, die
allein ihrem Geist entsprungen ist.
usik-DVD-Produktion des Jahres
M
(Konzerteinspielung) Hélène Grimaud.
A Russian Night (Deutsche Grammophon/
Universal)
Sinfonische Einspielung des Jahres (19.
Jahrhundert) Anima Eterna Brugge / Jos van
Immerseel. Berlioz: Symphonie Fantastique
(Zig-Zag Territoires)
Solistische Einspielung des Jahres
Hardy Rittner
Arnold Schönberg: Sämtliche Klavierwerke
Liedeinspielung des Jahres
Angelika Kirchschlager
Robert Schumann: Lieder
MDG – Musikproduktion Dabringhaus und Grimm
Sony Classical
Editorische Leistung des Jahres
Mussorgsky: Pictures Reframed
(Buch-Edition)
Leif Ove Andsnes
Welt-Ersteinspielung des Jahres
Bohuslav Martinu, Drei Fragmente und Suite
aus der Oper „Juliette“ Czech Philharmonic
Orchestra / Sir Charles Mackerras
EMI Classics
Supraphon
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Viva Vivaldi
Schluss mit Vergessen!
Sie hat den Komponisten neu
entdeckt, nun entfacht Vivica
Genaux ein Feuerwerk
Von innen
Nirgends kann man Karl Amadeus Hartmann besser kennenlernen
als in seinen Streichquartetten
Wer bei Vivaldi noch immer an die „Vier
Jahreszeiten“ denkt, hat den Trend der Zeit
verpennt. Der „Rote Priester“ aus Venedig
ist inzwischen von vielen Künstlern neu
entdeckt worden: als einer der feurigsten
Koloraturkomponisten, als komplexer
Musikdramatiker, als Meister der Stimme.
Vivica Genaux hatte einen großen Anteil an
der Vivaldi-Renaissance, als sie 2006 die
Oper „Bajazet“ gemeinsam mit dem italie­
nischen Dirigenten und Barockgeiger Fabio
Biondi ausgegraben hat. Plötzlich wurde
klar, wie unbekannt einer der bekanntesten
Komponisten überhaupt war.
Nun hat die Sopranistin, die eine Schweizer
Mutter hat und in Alaska aufgewachsen ist,
nachgelegt: Mit „Pyrotechnics“ hat sie eine
Vivaldi-Platte vorgelegt, die aufhorchen
lässt. Dass ihr der Komponist so nahe steht,
könnte daran liegen, dass Genaux inzwi­
schen in der Nähe seiner Heimat, Venedig,
lebt. Aber ihre Stimme scheint für Vivaldis
ausufernden Arien auch wie geschaffen zu
sein: beweglich, explodierend — eben: ein
vokales Feuerwerk. Bei aller Verspieltheit
ihrer Stimme ist auch ihre Klugheit zwi­
schen den Tönen zu hören: „Was ich an der
Barockmusik so liebe“, sagt Genaux, „ist die
Spannung zwischen Solostimme und Or­
chester. Man muss sehr eng mit den Instru­
mentalisten zusammenarbeiten, denn sie
begeleiten nicht einfach die Solistin, son­
dern sie unterstreichen und kommentieren
das, was sie zu sagen hat.“
Op erneinspielung des Jahres: Vivica
Genaux. Antonio Vivaldi: Opera Arias —
Pyrotechnics (Virgin/ EMI)
Karl Amadeus Hartmann wird gerade erst richtig entdeckt, er ist einer der zu Unrecht verges­
senen Tonkünstler unseres Jahrhunderts. Vielleicht auch, weil er 1933, mit der Machtergreifung
Hitlers, sein öffentliches Schaffen weitgehend aufgeben musste, und es ihm bis zu seinem Tod
1963 schwer fiel, nach der Nazi-Ära künstlerisch Fuß zu fassen. Wie großartig, lichtdurchflutet
und systematisch ausgetüftelt seine Werke sind, lässt das
Label Cybele nun hören, wenn es die beiden Streichquar­
tette (1933 und 1945/48), das Kleine Konzert für Streich­
quartett und Schlagzeug (1931/32) und das Kammerkon­
zert für Klarinette, Streichquartett und Streichorchester
(1930/35) in Surround-Klang vorstellt.
Doch das ist noch nicht alles. Neben der Musik kommt der
Komponist auch selbst zu Wort. Die farbreichen Werke,
die zum Teil an Belá Bartok erinnern, werden so nicht nur
klanglich vieldimensional erfahrbar, sondern auch in ihre
und unsere Zeit eingeordnet. Wenn eine Edition sich eines
Künstlers so umfassend annimmt wie diese es tut, ist es
nicht ausgeschlossen, dass die gerade begonnene Hartmann-Renaissance nur der Anfang ist,
um einen zu Unrecht vergessenen Musiker wieder ins Zentrum der Klassik-Rezeption zu rü­
cken. Hartmanns Kompositionen haben das ebenso verdient wie sein Lebensweg.
Surround-Einspielung des Jahres.
Karl Amadeus Hartmann und das Streichquartett (Cybele Records)
Neue Farbe braucht der Klang
Der Dirigent Yannick Nézet-Séguin ist ein junger Wilder.
Er hat Ravel in schillerndes Aquarell gegossen
Der Generationswechsel am Dirigentenpult hat einen Namen: Yannick Nézet-Séguin. Er hat
Valéry Gergiev als Chef des Rotterdam Philharmonic Orchestras abgelöst. Der junge Feu­
erkopf aus Kanada folgt damit dem Draufgänger aus Russland. Und er hat schon jetzt eine
kleine revolutionäre Klanggeschichte geschrieben. Egal,
ob Nézet-Séguin der „Carmen“ in der MET einheizt oder
ob er in Salzburg „Roméo et Juliet“ dirigiert — es scheint
keine Oper zu geben, die dem 25-Jährigen zu groß ist.
Und kein Orchester, das ihm nicht aus der Hand frisst. Er
ist Principal Guest Conductor des London Philharmonic
Orchestras und hat fast jedem Ensemble seinen Geist
der Gegensätze eingehaucht.
Die neue Dirigentengeneration hat zwar Respekt vor den
alten Meistern, aber sie scheut sich nicht vor Neudeu­
tungen. Genau das ist Nézet-Séguin mit seiner RavelEinspielung gelungen. Dass der französische Komponist
Musik in Farben komponiert hat, ist bekannt, wie groß die Palette ist, hat der junge Dirigent
erst jetzt mit Daphnis et Chloé, La Valse und Ma mère l’oye ausgelotet. Sein Ravel ist einige
Takte lang nur eine hingehauchte Schwarz-Weiß-Skizze, dann wieder ein schillerndes Aqua­
rell und irgendwann auch mal ein monumentales Ölbild mit voller Naturgewalt.
Nachwuchskünstler des Jahres: Yannick Nézet-Séguin,
Rotterdam Philharmonic Orchestra. Maurice Ravel (EMI)
Klassik für Kinder
Prinzessin Graues Mäuschen
Ute Kleeberg / Uwe Stoffel
Edition SEE-IGEL
Sonderpreis der Jury für
Nachwuchsförderung
im Bereich der Klassik
Podium junger Musiker e.V.
Claudio Abbado hat ihr einen wichtigen Rat gegeben: sie solle sich
vom Konzertpodium zurückziehen, sich auf die schulische, musi­
kalische und pianistische Ausbildung besinnen. Sie solle sich nicht
aufreiben im Konzertbetrieb, sondern in sich kehren. Die Rumänin
Mihaela Ursuleasa hat auf den Rat des Mentors gehört und kehrte
einige Jahre später aus sich heraus zurück in die Konzertwelt.
Seither besticht sie durch die Souveränität ihres Spieles, durch
eine seltene Innerlichkeit, durch lyrische Präzision und expressive
Ausbrüche. Man hört ihren Interpretationen die Ausgeruhtheit
und das Bei-Sich-Sein an. Heute ist Mihaela Ursuleassa eine der
gefragtesten Pianistinnen, gerade weil sie den größten Werken
der Klassik mit innerer Ruhe begegnet.
Solistische Einspielung des Jahres (19.Jahrhundert) Mihaela
Ursuleasa. Beethoven/Brahms/Ravel u.a. (Berlin Classics)
Genial Minimal
Barock trifft Minimal Music — die Lautten Compagney
und Wolfgang Katschner verbinden Glass und Mérula
D
ie Zeit ist eine der sonderbarsten Größen der Musik. Zeit
sind die Sekunden, die vom Anfang bis zum Ende eines
Stückes verstreichen. Zeit ist aber auch relativ: Dirigenten
haben die Freiheit, vom Metronom abzuweichen. Einige
Stellen kommen uns als Zuhörer gedehnt, andere rasend vor. Zeit ver­
streicht in der Musik auf eigenwillige Weise. Musiker können die Zeit
mühelos überbrücken. Besonders gern und genial tun das die Experten
des Barocks. Sie entdecken jede Ausgrabung aus verstaubten Archiven
als Uraufführung und lassen sie in unserer Zeit möglichst neu erklin­
gen. Kein Wunder also, dass ausgerechnet die Alte Musik immer wie­
der Schnittmengen mit der Gegenwartsmusik sucht und findet.
Der Dirigent Wolfgang Katschner und seine Lautten Compagney
haben sich eine besonders spannende Aufgabe gestellt. Sie ha­
ben die Minimal-Music von Philipp Glass auf den historischen
Prüfstand gestellt und einen Anknüpfungspunkt beim itali­
enischen Barockkomponisten Tarquinio Mérula gefunden —
einem Zeitgenossen Monteverdis. Mérula war ein Tüftler der
neuen Klangformen. Eines seiner beliebtesten Stilmittel war
die Wiederholung kleiner Motiveinheiten. Es lag also nicht
fern, dass die Lautten Compagney auf ihrer CD „Timeless“ ver­
sucht hat, die Zeit zwischen Mérula und Glass zu überbrücken.
Herausgekommen ist eine Aufnahme, in der das Barock
erschreckend modern klingt und die Minimal-Music er­
staunlich traditionsbewusst. Das liegt natürlich auch
an den Musikern selbst, denen es ohrenscheinlich
Spaß macht, sich in die Neue Musik zu beamen und
dem eher emotionslosen Philipp Glass Gefühle einzu­
hauchen. Gleichzeitig nehmen sie aus seiner Musik
Klangideen für das Barock mit. Die Zeit, sie ist in der
Klassik eben ein sonderbar Ding!
Vitrinen der Gefühle
Christiane Karg zeigt die Stimmungen der Jahreszeiten
Die Jahreszeiten sind mehr als das Wetter — sie verkörpern
Zustände, Gefühle und Stimmungen. Die Sopranistin
Christiane Karg hat sich den Lauf der Zeit für ihre erste
Lied-CD vorgenommen und Lieder ausgesucht, die
Jahreszeiten illustrieren. Stücke von Schubert, Schu­
mann, Mahler, Wolff und Pfitzner. Eine wundervolle
Idee, zumal es Karg gelingt, den Stimmungen Stimme
zu geben: mal luftig, sommerlich leicht, dann wieder
fast kratzig, rau und eiskalt. Die Jahreszeiten-Lieder
sind auch ein Museum der Gefühle, in dem Karg
jede einzelne Natur-Vitrine mit anderer
Stimmlage ausstattet und so ihre
Vielseitigkeit unter Beweis stellt. Für
alle Lieder aber gilt eines: Gesang ist
immer auch eine Erzählung, in der die
Stimme für die Stimmung sorgt. Kargs
Interpretation ist so abwechslungs­
reich wie das Jahr mit seinem Schnee­
gestöber und seinen Hitzewellen.
Ensemble des Jahres (Alte Musik) Lautten Compagney
/ Wolfgang Katschner. Timeless — Music by Mérula and
Glass (DHM/Sony Music)
Sonderpreis der Jury für Nachwuchsförderung im Bereich der Klassik
Kultur- und Bildungsunternehmen
der Hofer Symphoniker
Nachwuchs-Künstler des
Jahres (Gesang) Christiane Karg
Verwandlung – Lieder eines Jahres
(Berlin Classics)
Surround-Einspielung des Jahres
Karl Amadeus Hartmann
und das Streichquartett
Cybele Records
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Kluge Karriere
Er war der erste moderne Startenor
und geht seither seinen Weg.
Das Geheimnis des Juan-Diego Flórez
Manchmal vergisst man, wie schnelllebig die Opernwelt ist.
Als noch kein Mensch von Rolando Villazón oder von Jonas
Kaufmann gesprochen hat, begann die Karriere von Juan-Diego
Flórez. Der Tenor aus Peru wurde als junger Rossini-Tenor bei
den Festspielen im italienischen Pesaro entdeckt. Nach Lucia­
no Pavarotti hat keiner die Spitzentöne der Partituren so leicht,
so luftig und so selbstverständlich gesungen wie er. Selbst die
atemberaubenden Aneinanderreihungen von hohen Cs hat er
nicht als Hochleistungssport begriffen, sondern jeder einzelnen
Note Bedeutung gegeben. Die DECCA hat ihn verpflichtet — und
als ersten modernen Startenor nach den drei Tenören aufge­
baut.
Wenn man Flórez damals getroffen hat, schien die große schil­
lernde Opernwelt für ihn noch aufregend und neu. Kein Wun­
der, denn er hat in Peru an einem Konservatorium studiert, das
baufällig war, schon mal einen Anzug zum Bewerbungssingen
vergessen und seine ersten Klassik-Arien mit der Gitarre am
Strand geträllert. Vielleicht macht er seine Karriere heute auch
deshalb jenseits des Hochglanzes. Juan-Diego Flórez ist ein
Tenor, der sich die Leidenschaft bewahrt hat.
Auch seiner Stimme hört man die Unbedingtheit an. Mit ihm
steht kein Tenor auf der Bühne, der kommt, um schön zu sin­
gen. Wenn Flórez auftritt, geht es meist ums Ganze. Die tenor­
große Liebe wird ebenso ernst genommen wie die Verzweiflung
und der Tod in der Oper. Seine Stimme singt keine Töne, son­
dern erzählt Geschichten.
Auf seiner letzten CD hat er die Kampfzone seiner Stimme
weiter ausgebaut. Mit Glucks „Orphée et Euridice“ hat er eine
Rolle in Angriff genommen, die jedem Tenor gefallen muss: den
Sänger, der in die Unterwelt steigt, um seine Geliebte zu befrei­
en, was ihm mit Amors Hilfe auch gelingt. Oft wird die Titelrolle
mit einem Countertenor besetzt, aber Flórez hat sich auf die
Tradition der 70er und 80er Jahre besonnen und singt sich mit
der echten Männerstimme eines haute-contre durch die Par­
titur. Dabei entlockt er der Rolle durchaus neue Facetten: das
Heldische des mythenumwobenen Sängers kommt endlich zur
Geltung, und Flórez ist gleichzeitig ein Meister der leisen und
zerbrechlichen Zwischentöne.
Obwohl Flórez nach seinem Einstieg mit Rossini nichts gesun­
gen hat, was seine Stimme zerstören könnte, hat er sich nicht
auf ein Repertoire festlegen lassen. Gemeinsam mit seiner
Plattenfirma hat er seine Karriere behutsam aufgebaut: Ros­
sini, Donizetti, das französische Repertoire und nun den „Or­
phée“ — man darf gespannt sein, was folgen wird.
Der Tenor
mit der Klampfe
Bevor Juan-Diego Flórez ein Klassik-Star war, hat er für seine Freunde am Strand
mit einer Gitarre gesungen. Eine Leidenschaft, die er bis heute bewahrt hat
Herr Flórez, stimmt es, dass Sie sich für den Gesang
interessieren, seit Sie am Strand in ihrer Heimat Peru gemerkt haben, dass Frauen ihrer Stimme zu Füßen liegen?
Also, das stimmt nur halb. Es ist richtig, dass ich als Ju­
gendlicher gern mit der Gitarre gespielt und dazu gesun­
gen habe. Es stimmt auch, dass ich oft am Strand saß, um
zu singen. Falsch ist, dass ich das getan habe, weil mir die
Frauen zu Füßen lagen. Vielleicht sollte ich es heute noch
einmal probieren.
Also waren Sie sich über die Erotik ihrer Stimme noch gar
nicht bewusst?
Ich glaube nicht. Das war ja noch, bevor ich ans Konserva­
torium gegangen bin. Da habe ich meine Gitarre genom­
men und geübt. Ich erinnere mich daran, dass ich Lieder
wie „Granada“ gesungen habe - so wie sich ein junger
Mensch einen Tenor vorstellt: aus voller Kehle und mit
unglaublicher Leidenschaft! Aber warten Sie, da fällt mir
ein, dass ich tatsächlich einmal in der Nacht am Strand
war, gemeinsam mit einem Freund und dessen Freundin.
Die beiden haben sich näher kennengelernt — und ich habe
für die Stimmung gesorgt.
Spielen Sie heute auch noch manchmal Gitarre?
Ja, sehr gern. Mit der Gitarre kann man sich selbst be­
gleiten, und selbst die ernstesten Arien klingen mit ihr
äußerst unschuldig. Manchmal nehme ich sie auch mit auf
die Bühne. Neulich habe ich ein Konzert in Miami gege­
ben — als Zugabe habe ich ein peruanisches Volkslied mit
meiner Gitarre gesungen.
Sie haben in Wien geheiratet, touren durch die ganze
Welt. Welches Verhältnis haben Sie zu ihrer Heimat
Peru?
Dieses Land ist mein zu Hause. Selbst wenn ich auf Reisen
bin, trage ich es in mir. Peru ist für mich ein Lebensgefühl.
Übrigens spielt auch die Klassik hier eine ganz andere
Rolle. So wie in ganz Südamerika. Für uns ist die Oper oder
das Konzert keine Kunst der schönen Oberfläche — sie
erzählt von Leidenschaft, von Existenz, Liebe und Hass.
Wir nehmen sie sehr ernst, und ich versuche, mir diese
Einstellung bei jedem meiner Auftritte zu bewahren
Operneinspielung des Jahres (17./18. Jahrhundert)
Juan-Diego Flórez. Christoph Willibald Gluck:
Orphée et Euridice (DECCA/Universal Music)
Musik-DVD-Produktion des Jahres
Orquestra de la Comunitat Valenciana / Zubin Mehta
Richard Wagner: Das Rheingold
Musik-DVD-Produktion des Jahres
Hélène Grimaud
A Russian Night
Bestseller des Jahres
David Garrett
Classic Romance
C Major
Deutsche Grammophon/Universal
DEAG Classics
Sonderpreis der Jury
Red Bull Flying Bach
Christoph Hagel & Flying Steps
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Wie der Geist in die Offenheit dringt
Christian Zacharias ist einer der
ausgeruhtesten Pianisten unserer
Zeit. Die beste Voraussetzung für
eine zeitlose Mozart-Interpretation
Mozart ist einer der beliebtesten Kompo­
nisten der Klassik. Und einer der Schwie­
rigsten. Das Problem besteht darin, dass
die eigentliche Musik nicht nur in den Noten
spielt, sondern auch zwischen ihnen. Mozart
verlangt von seinen Interpreten das Mitden­
ken, das Lückenfüllen, die Belebung der Parti­
turen durch den eigenen Geist. Gleichzeitig ist
jeder Musiker verraten und verkauft, bei dem
das Denken zu offensichtlich mitschwingt.
Die Kunst der Mozart-Interpretation ist die
wissende Naivität, die Übersetzung der Klug­
heit in Klang. Nur, wer seine Musik glaubhaft
durchlebt und durchdringt, klingt authen­
tisch. Ein Grund, warum es so wenige geniale
Mozartinterpreten gibt — sowohl unter den
Dirigenten als auch unter den Pianisten.
Christian Zacharias ist ein Klavierspieler, der
sich nicht vom Klassikbetrieb hetzen lässt. Er
ist einer der wenigen Freigeister, und mit MDG
hat er ein Label gefunden, das ihm die nötige
Muße erlaubt, um die Zwischentöne der Parti­
turen zu erkundschaften. Das Erstaunliche an
seinen Mozart-Konzerten ist, dass sie unver­
schämt selbstverständlich klingen.
Natürlich weiß Zacharias um die Ernsthaf­
tigkeit in den musikalischen Spielen, na­
türlich lässt er das Existenzielle im Lachen
durchscheinen, die Dunkelheit im Licht, und
natürlich zeigt er uns Mozarts Genie durch
seine eigene, geniale Technik. Aber Zacharias
schafft noch mehr: er füllt Mozarts Klangkos­
mos mit musikalischer Humanität.
Als Dirigent am Klavier steckt er mit seiner
durchdachten Spielfreude das Kammeror­
chester Lausanne an. Selten hört man die
Konzerte so dialogisch wie hier. Zacharias
beweist, dass er einer der klügsten und dabei
spielerischsten Mozartdeuter unserer Zeit ist.
Konzerteinspielung des Jahres
(Musik bis 18.Jahrhundert)
Christian Zacharias. Mozart:
Klavierkonzerte Vol.5 (MDG)
Die Ironie der Dinge
Das Quartett Meta4 besticht durch ein Augenzwinkern beim Spielen
Wer sagt eigentlich, dass die Finnen melancholisch
sind? Allein der Name des Quartettes Meta4 zeigt,
dass es in Finnland inzwischen viele junge Men­
schen gibt, die das Klischee aushebeln und eher das
Ironische und das Augenzwinkernde suchen. Das
Besondere an Meta4 ist der unverfälschte, reine, gern
auch spielerisch leichte Klang. Ein Ton, den man von
einem Quartett, das sich intensiv um skandinavische
Komponisten wie Sibelius und Grieg kümmert, das
aber auch die Moderne attackiert, wenn es Stücke von
Esa-Pekka Salonen oder Sallinen interpretiert, nicht
unbedingt erwartet. Dann hat Meta4 Haydn aufge­
nommen.
Dass der Wiener Klassiker humorvoll ist, war bekannt.
Wie lieblich, luftig und leicht seine Kompositionen
klingen können, ohne dabei schmierig zu wirken, wie
ausgelassen, ironisch und doppeldeutig, das hört man
nun in der Interpretation von Meta4. Antti Tikkanen,
Minna Pensola, Atte Kilpeläinen und Tomas Djupsjö­
backa stehen für ein neues Lebensgefühl der Klassik.
Sie bereichern die alten Meister um moderne
Abgründe, sehen dem Tod in der Musik
angstlos ins Auge und vergessen dabei
nie zu schmunzeln. So viel ernsthafte
Leichtigkeit hatte die Klassik
selten.
Nachwuchskünstler des
Jahres (Streicher) Meta4.
Joseph Haydn:
Streichquartette op.55, 1-3
(hänssler CLASSIC)
Warum spielen Sie
Geige, Frau Jansen?
Janine Jansen ist eher zufällig zu ihrem Instrument
gekommen. Hier gibt sie eine Lehrstunde auf der Violine
Mir wird
es gut gehen
Oswaldo Golijov hat mit seiner Markus-Passion
einen der einfachsten Glaubenssätze in Musik
gegossen
Es ist selten, dass ein Gegenwartskomponist sich einer Pas­
sion widmet. Osvaldo Golijov ist jung – und begeistert. In
seiner Markus-Passion feiert er mit großem Chor und großem
Orchester das, was er für die Kernbotschaft des Christentums
hält: die Hoffnung auf Erlösung. Inspiriert wurde der Musiker
dabei von einem Bild, das seine Urgroßmutter bei sich
trug. Hier schreibt er über die Entstehung seiner
Passionsmusik und seinen ganz pragmatischen
Zugang zur Religion:
„Ich wollte so etwas Ähnliches schaffen wie
Rembrandt, als er seine Juden auf die Lein­
wand gebracht hat. Nur, dass ich Christen
in Klang malen wollte. Nicht mehr und nicht
weniger. Zu dieser Komposition bin ich von
einem Bild inspiriert worden, das meine Ur­
großmutter immer bei sich hatte: „Jerimea
betrauert den Fall Jerusalems”. Der Maler war,
natürlich, Rembrandt! Für mich ist dieses
eines der schönsten jüdischen Bilder,
die ich kenne. Und das, obwohl
Rembrandt gar kein Jude war. Ich
weiß, dass ich mich nicht mit einem
Genie wie Rembrandt vergleichen
kann. Aber bei ihm sehe ich einen
Kern in der Kunst, der in seiner Pas­
sion auch in den jüdischen Themen
deutlich wird. Einen Kern, der auch für
das Christentum gilt. All seine Bilder
sagen: „Mir wird es gut gehen.“ Das ist
der Kern des Glaubens. Und das ist auch
genug.“
(Chorwerk-Einspielung des Jahres
(20./ 21. Jahrhundert) Oswaldo Golijov.
Die Markus Passion (Deutsche Grammophon/
Universal Music)
Sonderpreis der Jury
ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius
für die CD-Reihe „Musica Sacra Hamburgensis“.
Frau Jansen, es gibt so viele Geigerinnen – warum mussten Sie ausgerechnet
dieses Instrument wählen?
Das wollte ich ja eigentlich gar nicht! Ich wollte Cello spielen, weil mein Bruder
Cello gespielt hat und ich ihn bewundert habe. Diese Bewunderung ging auch auf
sein Instrument über. Aber meine Eltern wollten ein bisschen mehr Abwechslung
innerhalb der Familie. Also stehe ich nun hier mit meiner Geige.
Ich habe nach 10 Jahren aufgehört zu geigen, weil meine Lehrerin so langweilig
war. Was macht eine gute Lehrerin aus?
Ich hatte schon am Anfang eine tolle Lehrerin. Sie hat mich zwischen sechs
und zehn Jahren unterrichtet und wollte von Beginn an, dass ich Kammermusik
mache. Sie war der Meinung, dass es besonders bei einem Instrument wie der
Geige wichtig ist, kein Einzelkämpfer zu sein. Das hat meine Ohren geöffnet,
mein Spiel flexibler gemacht – und vor allen Dingen: es war ein Mordsspaß! Kam­
mermusik ist dialogisch, und das hilft mir heute noch, wenn ich mit Orchestern
spiele. Auch da geht es um das miteinander „Spielen“ im wahrsten
Sinne des Wortes.
Gut, dann unterrichten Sie mich
doch mal. Darf ich Ihnen mal was
vorspielen?
Auf meiner Geige?
Klar!
Aber vorsichtig.
Gut. (spielt Alle meine Entchen). Auf was
muss ich nun achten?
Oh Gott, jetzt bin ich Lehrerin! Das habe ich
noch nie gemacht. Aber das muss ich wohl
auch lernen. Sie müssen in der Hand flexibel
sein, das Gelenk muss mit dem Strich mit­
gehen, sonst sehen Sie nicht nur steif aus,
sondern es klingt auch steif.
Okay, der Bogenstrich. Verstanden. Und
dann?
Selbst ein Babylied wie „Alle meine Ent­
chen“ kann man gestalten. Spielen Sie
gebunden? Stakkato? Laut? Leise? Vari­
ieren Sie?
Sie meinen, ein Kinderlied ist so komplex wie Beethoven oder Britten?
Natürlich nicht so komplex, aber bei den
beiden muss ich mir die gleichen Fragen
stellen. Wenn ich nur die Noten spielen
würde, wäre es keine Musik.
Konzerteinspielung des Jahres (20./ 21. Jahr­
hundert) Janine Jansen. Beethoven & Britten:
Violin Concertos (DECCA/ Universal Music)
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Der Besessene
König Artus expressiv
Mit Goldmarks „Merlin“ hat Gerd Schaller
eine Oper ausgegraben, die man öfter hören will
Carl Goldmark brauchte Mut, um seine Leidenschaft zum Beruf
zu machen. Zunächst studierte er an der Technischen Universität,
wurde dann Geiger und beschloss, auch diesen Job an den Nagel zu
hängen, um sich ganz dem Komponieren zu widmen. Seine Vor­
bilder waren Beethoven und Schumann. Er selbst schrieb im Span­
nungsfeld von Wagner und Mendelssohn. Und so hört sich auch die
bekannteste seiner sechs Opern an. „Merlin“ trägt tiefromantische
und hoch expressive Züge. Die Oper war damals so erfolgreich, dass
sie von der Wiener Staatsoper nach Prag, Dresden, Budapest, Ham­
burg und New York wanderte. Goldmark war mit Brahms befreun­
det und Lehrer des Komponisten Jean Sibelius. In der Geschichte
um den Druiden, Seher und Berater von König Artus findet er Klän­
ge für das Unheimliche und Unerklärbare.
Unerklärbar ist es auch, dass diese Oper so lange vergessen wurde.
Das haben der Dirigent Gerd Schaller und die Philharmonie Festiva
nun geändert und sich des Werkes angenommen. Und wie! Ein rau­
schendes Klangfest, in dem Schaller das Orchester auch schon mal
von den Zügeln lässt, um Goldmarks Expressionismus zu frönen,
dann nimmt er es für träumerische Gedanken wieder an die Kan­
dare und spannt ein märchenhaftes Panoptikum der Gegensätze.
Schaller macht seinem Ruf als Meisterdirigent und Entdecker des
Repertoires auf dieser Aufnahme alle Ehre.
Operneinspielung des Jahres Philharmonie Festiva / Gerd Schaller.
Carl Goldmark: Merlin (Profil Edition Günter Hänssler)
Für Oboe gibt es nicht viele Stücke. Kein Problem für Albrecht Mayer. Er schnitzt sie einfach selbst
Als Albrecht Mayer zum ersten Mal eine Oboe gesehen hat, war er sofort verliebt. Sie lag bei ihm zu Hause auf
dem Tisch, in einem Kasten – und da hat Albrecht Mayer beschlossen: das ist mein Instrument. Egal, was seine
Mitschüler sagten, egal wie viel er üben musste. Er wurde zum Besessenen, spielte so oft und so lange auf der
Oboe, bis er alle Kniffe des Instruments heraus hatte. Er hat sich die Schilfrohre für sein Instrument selbst ge­
schnitzt und an der komplizierten Atemtechnik gefeilt. Damals war er ein Sonderling. Heute ist er nicht nur So­
looboist der Berliner Philharmoniker, sondern als Solokünstler auch einer der erfolgreichsten deutschen Musiker.
Bei ihm hört man stets die Leidenschaft, mit der er musiziert. Das Instrument ist für Mayer kein Fremdkörper,
kein Gegenstand, aus dem Töne kommen, sondern ein selbstverständlicher Teil seiner Ausdrucksfähigkeit. Bei
Albrecht Mayer atmet die Oboe. Was er auch zu sagen hat ,am besten kann er es in Musik ausdrücken. Und
wenn es gerade keine passende Musik für seinen Seelenzustand oder sein Instrument gibt, dann findet er eine.
Mayer hat die wichtigsten Werke der größten Komponisten für die Oboe adoptiert, liebt es, Barockarien um­
zuschreiben und auf dem Instrument zu „singen“. Überhaupt scheint der organische Gesang, das Vibrieren der
Stimme, der menschliche Ausdruck, das zu sein, was er mit seiner Oboe sucht und findet. Selten geht ein Solo­
instrument mehr unter die Haut wie die Oboe, die Albrecht Mayer spielt.
Nachdem er sich mit seiner letzten CD dem
strengen Meister Bach gewidmet hat, macht
er sich in seinem aktuellen Album auf die Su­
Hier schreibt Albrecht Mayer über seinen
che nach dem leichten Leben in Frankreich.
Lieblingskomponisten und dessen Fragen
Mayer hat in Paris nach neuer Literatur ge­
sucht., in jener Stadt, in der er sich zum ersten an die Menschlichkeit
Mal als Jugendlicher verliebte, als er beim
Die Musik Bachs spricht nahezu jeden Menschen an, egal wel­
französischen Oboenpapst Maurice Bourgue
cher Herkunft. Und mich als gläubigen Menschen bewegt der
studierte. Weil aber auch das französische
religiöse Aspekt dieser Musik zusätzlich sehr. Leitmotiv (oder
Oboenrepertoire sehr übersichtlich ist,
Programm) von Bachs Kantaten ist immer „Soli Deo Gloria“,
hat Mayer für seine Frankreich-Hommage
„Zum Ruhme und zur Ehre Gottes“. Daher beginnt und endet
berühmte Melodien bearbeiten lassen.
meine neue Bach-CD mit dem Choral „Was Gott tut, das ist
Sanfte Poesie und traumschöne Delikatesse
wohlgetan“. Dieser Titel beinhaltet für mich sowohl eine zen­
entlockt er arrangierten Klavierstücken wie
trale Aussage als auch eine zentrale Frage, an der die Menschen
Saties „Gymnopédies“ und Debussys „Clair de
sich immer reiben werden: Ist, was Gott tut, immer wohlgetan?
lune“. Wundersam atmet bei ihm die „Pavane“
Müssen wir, wenn wir an einen ordnenden Schöpfer hinter dem
von Gabriel Fauré. Und die Ode „À Chloris“ des
Kosmos glauben, unser Schicksal annehmen, was auch immer
Proust-Freundes Reynaldo Hahn verwandelt
Mayer in ein magisch sehnsuchtsvolles Chanson es uns auferlegt? Macht uns das zu gläubigen Menschen oder
zu Fatalisten? Faszinierende Fragen, die wohl in der abendlän­
ohne Worte. Wieder einmal stellt er unter Be­
dischen Kunst nirgends ergreifender zum Ausdruck gebracht
weis, dass die Musik nicht nur intime Gedanken
wurden als in der Musik Johann Sebastian Bachs.
zum Klingen bringt, sondern das Lebensgefühl
einer ganzen Stadt.
Mein Gott, mein Bach
Offene Fragen
Das Belcea Quartett spielt „Der Tod und das
Mädchen“. Hier erklärt Geigerin Corina BelceaFischer Schuberts Geheimnis
Es handelt sich bei „Der Tod und das Mädchen“ um ein Meisterwerk —
ein Stück, das wir unbedingt spielen wollten, weil es so viele Fragen
stellt. Es führt uns aus dem Licht in die Dunkelheit und zurück. Dabei
entwickelt es Melodien wie ein endloser Strom und bringt uns immer
näher zu uns selbst — und zum Leben Schuberts. Es ist eine Beson­
derheit, dass derart intime und private Musik uns alle berührt. Aber
Schubert schafft genau das: er hat seine Leiden, seine Hoffnungen,
seine privatesten Empfindungen so lange bearbeitet, bis sie als ge­
meingültige Musik erklingen. In einem Ensemble wie unserem geht es
darum, sich gemeinsam ein Bild von der Musik zu machen und während
der Proben zu sehen, welche intimen Gefühle jeder einzelne mit die­
sen Klängen verbindet, um sie miteinander zu verschmelzen und zum
Klingen zu bringen.
Eines der wichtigsten Dinge bei Schubert ist die Unbegreiflichkeit
seiner Musik, die Mystik, die ihr innewohnt, die Unerklärbarkeit. Er hat
Musik in so schnellen Prozessen aufgeschrieben und alles aufs Papier
gebracht. Und heute stehen wir an vielen Stellen vor offenen Fragen.
Es ist vielleicht gar nicht möglich, sie mit Worten zu beantworten.
Unsere Musik versucht, Antworten in all ihrer Offenheit zu geben.
Sicher ist nur, dass kaum ein anderes Stück uns sowohl geistig als
auch körperlich so bewegt wie dieses.
Instrumentalist des Jahres (Oboe): Albrecht Mayer. Bach-Werke
für Oboe, Orchester und Chor (DECCA/ Universal Music)
Kammermusik-Einspielung des Jahres (19.Jahrhundert)
Belcea Quartett. Franz Schubert: Streichquartette (EMI)
Wir bedanken uns bei unseren Partnern:
K R U G E R M E D I A
48 | 49
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN
Mit Geige, Cello
und Marimbaphon
Die Edition SEE-IGEL erzählt ein phantas­
tisches Grimm-Märchen mit kluger Musik
Oper als Multimedium
Fura dels Baus heizt dem „Rheingold“ ein
Wenn Richard Wagner das geahnt hätte — er wäre aus dem Häuschen gewe­
sen! Er wollte, dass die Kunst die Menschen bewegt. In seinen Skizzen zum
„Ring“ hat er sich gewünscht, das gesamte Opernhaus nach der „Götterdäm­
merung“ abzufackeln. Die Oper sollte Wirklichkeit werden. Eine Idee, die den
spanischen Künstlern von Fura dels Baus gefallen hätte. Für sie kommt die
Kunst vom „Spectaculum“, vom Spektakel. Doch die große Show ist für sie
keine hohle Effektmacherei, sondern der Versuch, der Oper neue Dimensionen
zu geben: Pyrotechnik, Videoinstallationen und akrobatische Bewegungen.
Bei ihnen wird die Bühne zum Multimedium und Richard Wagner endgültig in
unsere Zeit gebeamt. Natürlich auch dank der musikalischen Kraft von Zubin
Mehta. Ebenso ambitioniert wie die Aufführung ist der Videomitschnitt aus
Valencia. Man braucht keinen 3D-Bildschirm, damit diese Oper ins Wohn­
zimmer kommt -und Wagners Werk unter die Haut kriecht. Fura dels Baus
beweist, dass eine Oper spektakulärer sein kann als so mancher Film made in
Hollywood. Die spanischen Künstler heizen der guten alten Oper ein, ohne sie
zu verraten. Sie zeigen ihre eigentliche Daseinsberchtigung: Oper steht mitten
in unserer Zeit und will nichts anderes als sie bewegen.
M usik-DVD-Produktion des Jahres (Operneinspielung)
Richard Wagner: Das Rheingold.
Orchestra de la Comunitat Valencia / Zubin Mehta (C Major)
Wie lieb kann man einen Menschen haben? So lieb wie ein
ganzes Königreich. So lieb wie alle Edelsteine der Welt.
Oder so lieb wie das Salz! Die Gebrüder Grimm haben sich
diese Frage in ihrem Märchen „Die Gänsehirtin am Brun­
nen“ gestellt – und kommen zu verblüffenden Ergebnis­
sen. Die Edition SEE-IGEL hat sich dieses zu Unrecht ver­
gessenen Märchens angenommen und es unter dem Titel
„Prinzessin graues Mäuschen“ aufgenommen. Dabei ist
das Wort „aufgenommen“, wie immer bei SEE-IGEL, weit
untertrieben. Auch diese CD ist keine normale Hör-CD. Sie
ist eine liebevolle Collage aus modern erzähltem Märchen
und assoziativer, klassischer Musik.
So wird die Prinzessin, die ihren Vater so sehr liebt wie das
Salz, zwar nicht mit Pauken und Trompeten, wohl aber mit
Geige, Bratsche, Cello und Marimbaphon aus dem Schloss
gejagt, um irgendwann wieder triumphal zurückzukehren.
Ihr märchenhafter Weg wird dabei mit klug bearbeiteten
Werken von Dvorák, Sibelius und anderen Komponisten
gepflastert.
Über allem schwebt die charaktervolle Stimme der be­
rühmten Schauspielerin Eva Mattes. Sie macht diese CD
zu einem dreidimensionalen Hörerlebnis, in dem man
durch Wälder und Paläste aus Musik wandelt. Wieder ein­
mal ist es den SEE-IGELN Ute Kleeberg und Uwe Stoffel
gelungen, eine uralte Geschichte mit klassischen Mitteln
nicht nur liebevoll, sondern auch spannend und modern
zu erzählen. Diese Art der Kinderklassik ist beim Label
SEE-IGEL inzwischen schon zum Programm geworden.
Das Tolle an diesem Konzept: die klassische Musik wird
en passant aufgenommen und ist grundlegender Teil der
Märchenhandlung.
lassik für Kinder Prinzessin Graues Mäuschen.
K
Ute Kleeberg/ Uwe Stoffel (Edition SEE-IGEL)
Stooooop!
Das Fauré Quartett ist eines der spannendsten Kammermusik-Ensembles. Den ECHO
hat es für die Interpretation von Popsongs bekommen. Ganz zeitgemäß hat der Pianist
Dirk Mommertz sich im Facebook-Chat den unseren Fragen gestellt
16:12 ich
16:22 dirk
16:44 ich
Ist Facebook für dich auch PR-Plattform
oder nur für Freunde?
Kann ich machen. Zum Glück hört man
das im Chat nicht.
16:13 dirk
16:23 ich
Weil ihr wissen wollt, ob auch musikunge­bildete Menschen eure Musiksprache
„verstehen“?
Beides, wobei: eher PR Plattform.
Privat bin ich da eher nachlässig.
Beethoven war ja eh taub!!!! lol
16:47 dirk
16:23 dirk
16:13 ich
Ich sehe mich insofern als modernen Musiker, als ich, um mir eine Existenz als Musiker
zu sichern, so viele außermusikalische Dinge
tue (tun muss, gern tue, tun will, was auch
immer), z.B. Interviews führen oder alles
was mit der Vermarktung dessen, wofür ich
als Musiker stehe, zu tun hat. Wenn man so
will, nenne ich es modern, sich auf die neuen
Gesetze der Vermarktung einzulassen. So
gesehen bin ich fast gleichzeitig eine Art
Unternehmer, Gesellschafter (im FQ).
„Musikungebildet“ halte ich für einen heiklen Begriff. Musik hat in erster Linie nichts
mit Bildung zu tun. Einer meiner persönlich
ehrlichsten, wirksamsten und „richtigsten“
Kritiker ist ein Ingenieur. Es geht um das
Gespür für Musik. Das bedeutet nicht, dass
man sich nicht „fachmännischen“ Rat ein­
holen soll. Dafür studierte ich 10 Jahre und
tue es weiter (auch ohne Immatrikulation)
Und funktioniert das?
16:13 dirk
Je nach Anspruch. Immerhin wächst
die „Fangemeinde“ bei meinem
Kammermusikensemble stetig :-)
16:14 ich
:-) Wo steckst du?
16:15 dirk
Sitze erschöpft von moderner Musik
(aber sehr schöner) in der Berliner UDK und
ruhe mich im Interview mit dir aus.
16:15 ich
... wart’s nur ab, wird schon noch
anstrengender! Könnte ja mal eine
gemeine Frage stellen.
16:16 dirk
Wenn ich gemein antworten darf.
16:16 ich
Zum Beispiel diese: Bist Du ein
moderner Musiker?
16:17 dirk
Oh, das ist ja eine ganz gewiefte Frage.
Zielt die Gemeinheit auf den Begriff
oder das, was dahinter steht?
16:19 ich
Weiß ich nicht. Ist so ganz ohne
Hintergedanken :-)
16:20 dirk
Ist ganz schön schwer, solch eine Frage nicht
mit Floskeln wie „Beethovensche Musik ist
doch zeitlos“ oder „ich kann gerade DURCH
die Beschäftigung mit moderner Musik so
viel über Bach lernen“ zu beantworten. Du
merkst, ich schinde Zeit :-)
16:51 ich
Was weiß der Ingenieur, was du nicht weißt?
16:53 dirk
Wenn ein Musiker z.B. in der Lage ist, die
Form eines Stückes richtig darzustellen,
wenn er einen Bogen richtig spannt, wenn
16:34 dirk
er die „Energie“ (wichtiges Kriterium in der
Gerade geht’s :-)
Musik) erkennt und transportiert, dann
16:34 ich
versteht es auch der musikalische Laie.
Danke! Wann nerven sie?
­Vorausgesetzt, ihn interessiert es. Der Inge16:37 dirk
nieur lenkt meinen Blick auf das, wovon ich
Als Kammermusiker steht man nicht so im
oft durch mein Handwerk abgelenkt werde.
„Rampenlicht“ und wird auch von AnstürWir Musiker haben es schwer, überhaupt
men verschont. Also nervt es nicht. Amüsant noch Musik frei zu hören, vor allem die
allerdings sind Interviews, bei denen man
Musik, die wir kennen und die, die wir selbst
im Laufe des Gesprächs Fragen beantworgespielt haben. Ich unterrichte lieber Werke,
ten muss, wie „wie viele sind sie im Fauré
die ich nicht selbst gespielt habe.
Quartett“ (das hatte ich vor kurzem). Oder
17:16 ich
ich wurde gefragt, nachdem eine Journalistin
Letzte Frage: Wie heißt die Überschrift
einen Bericht über unseren Echo schreiben
zu diesem Interview! (habe doch gesagt,
wollte , welches Instrument ICH denn in der
dass es gemein wird) :-)
Gruppe spiele. Dann bin ich aber nicht Diva
genug zu sagen: „Bereiten Sie sich gefälligst 17:16 dirk
Hm…
auf Ihr Gespräch vor, das ist Ihr Job!“
16:33 ich
Nerven Dich Journalisten manchmal?
16:40 ich
17:16 ich
Sollte man vielleicht machen! Gab es
Kritiker oder Kritiken, die dich zum
ernsthaften Nachdenken über deine
Musik gebracht haben?
Die ist gut!
16:21 ich
16:43 dirk
Stooooopppp ist gekauft!
Ich finde das schon lustig: wir schreiben hier
im Chat, wenn man sich mal Beethoven,
Mozart oder Co. anschaut. Die haben ganz
anders kommuniziert — Musik ist doch auch
Kommunikation!
Kommt drauf an. Man ist leicht versucht,
sich von guten „offiziellen“ Kritiken“ geschmeichelt und von schlechten verletzt zu
fühlen, ohne zu wissen, wer das überhaupt
geschrieben hat. Ich muss aber ganz uneitel
sagen, dass wir bisher weitgehend gut behandelt werden, glücklicherweise. Allerdings
suchen wir bis heute „Kritiker“, die wir um
Rat fragen. Das sind meist Musiker, Freunde,
teilweise unabhängig davon, wie viel sie von
Musik verstehen.
17:17 dirk
16:22 dirk
Sollen wir uns was vorsingen?
16:22 ich
Wenn du anfängst!
17:17 dirk
STOOOOOOOPPPP
17:17 ich
„Der Bauch des Architekten“
Ist ’n Film von Greenaway.
17:22 dirk
Wünsch dir was, Harry Hirsch!
17:22 ich
Dir auch, Klimper-Klamper! Mach’s gut.
Klassik ohne Grenzen: Fauré
Quartett. Popsongs (Deutsche
Grammophon/ Universal Music)
E CHO KLA S S IK S P EC IA L GU E ST
Sting, was
ist klassisch?
Sting, Sie suchen Inspiration für den Pop in der Klassik und
haben ein Album in der Tradition von Schuberts „Winterreise“ aufgenommen. Ist Klassik die Mutter
aller Musik?
Das habe ich auch einmal gedacht. Inzwischen glaube ich
aber, dass die Wurzel der Musik im Folk liegt. Folk und Pop
gehören zur gleichen Familie, die Klassik hat vielleicht diesel­
be DNA – aber sie funktioniert anders. Klassik bedeutet für
mich in erster Linie: da stehen Noten. Ich sehe ein C, die Län­
ge des Cs und kann es singen. Klassik flößt mir Ehrfurcht ein.
Ich kann sie nicht interpretieren wie ein klassischer Sänger,
aber ich bin fasziniert von diesen Noten und liebe es, meine
eigene Interpretation zu finden.
Geht es auch um eine Authentizität?
Sting: Ich glaube, dass es in unserer postmodernen Welt ein
grundsätzliches Problem jeder Kunst ist, authentisch zu sein.
Was ist schon wahr? Nichts mehr! Alles hat einen doppelten
Boden. Und ich gelange allmählich zu der Überzeugung, dass
nichts mehr authentisch ist – auch nicht die Musik.
Sie meinen den kalkulierten Bruch der Form? Für die Klassik
scheint der Klang immer eine Form zu gebrauchen, wohingegen der Rock daran arbeitet, bestehende Formen zu
sprengen …
ECHO K l a ssi k M ag a zi n
IMPRESSUM
Erscheinungsdatum September 2010
© Bundesverband Musikindustrie e. V.
Nachdruck und Vervielfältigung, auch
auszugsweise, nur mit schriftlicher
Genehmigung des Herausgebers
Herausgeber:
Bundesverband Musikindustrie e.V.
Reinhardtstraße 29
10117 Berlin
Tel.: 030 – 59 00 38 -0
Fax.: 030 – 59 00 38 -38
www.echoklassik.de
Redaktion:
Daniel Sebastian Knöll (V.i.S.d.P.),
Chefredakteur: Axel Brüggemann
(operatext)
Redaktion: Claudia Elsässer
Projektleitung:
Daniel Sebastian Knöll
Der Rock trägt doch nur noch die Kostümierung der Rebellion.
In Wahrheit ist er zutiefst konservativ - fast schon reak­
tionär. Es ist unmöglich, den Rock zu verändern – ich habe
das selbst ja immer wieder versucht. Ein klassischer Musiker
wie Stravinsky ist sicherlich revolutionärer gewesen als der
Rock’n Roll oder der ebenfalls festgefahrene Heavy Metall.
Vielleicht ist es ein Problem des Rocks, dass die
Revolution in ihm eine Normalität ist.
Die Frage ist, wo geht es hin? Ich weiß es nicht! Unsere Ge­
schichte ist an einem Punkt der unendlichen Erneuerung
angekommen. Wir leben in einer Zeit, in der niemand vorher­
sagen kann, wie wir in fünf Jahren leben. Schauen Sie, wie
schnell sich allein die Computer verändern. Diese dauernde
Entwicklung kann nur in der Aufwertung des Einzigartigen
münden. Aber ich habe keine Idee, was dieses Einzigartige
sein könnte.
Sind Sie ein Klassiker, Sting?
Ich frage mich gerade, ob Bach sich je überlegt hat, ob er 2009
klassisch sein wird, oder ob es eher sein Problem war, jeden
Sonntag eine verdammte Messe fertig zu komponieren. Ich
schaue mir jeden Morgen eines seiner Stücke an, spiele eine
Partita und komme mir vor, als würde ich mit dem Meister
persönlich dasitzen. Er war ein Klassiker. Das ist sicher.
Art Direktion:
Dominik Schech (schech.net)
Bildredaktion und Schlussredaktion:
Claudia Elsässer (operatext)
Layout und Satz:
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