Vom Auseinanderdriften der europäischen Gesellschaften

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Tagung : Zwischen Leitkultur und Laissez-faire: Der Beitrag der Kulturpolitik zur Demokratie
angesichts weltweiter Migration St. Villigst 4 - 6 März 2016
Vom Auseinanderdriften der europäischen Gesellschaften und den kulturpolitischen
Konsequenzen
Michael Wimmer/April 2016
Die schieren Zahlen können keine deutlichere Sprache sprechen. Im Februar 2016 gab die globale
Nothilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam bekannt, dass die Kluft zwischen Arm und Reich
weiter gewachsen ist: 2015 hätten weltweit nur 62 Menschen über ebenso viel Vermögen verfügt
wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung – also 3,5 Milliarden Menschen. Ein Jahr zuvor
sei das Verhältnis noch bei 80 zu 3,5 Milliarden gelegen.1 Die Tendenz des sozialen
Auseinanderdriftens zeigt offensichtlich auch in Deutschland ihre Wirkung, wenn der Präsident des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Marcel Fratzscher zum Schluss kommt, dass sich
Deutschland zu einem der ungleichsten Länder in der industrialisierten Welt entwickelt habe.2
Im globalen Zusammenhang zitierte der deutsche Kabarettist Georg Schramm bereits 2014 den USamerikanischen Großinvestor Warren Buffett,3 der in einem Interview mit der New York Times
gefragt worden sei, was er für den zentralen Konflikt seiner Zeit halte. Buffett habe darauf
geantwortet, es sei der Krieg zwischen Reich und Arm; seine Klasse, die Klasse der Reichen habe
diesen Krieg begonnen und würde diesen auch gewinnen.
Die ungleiche Geldmittelverteilung ist aber nur ein Aspekt sozialer Ungleichheit. Ein anderer ist der
ungleiche Zugang zum Arbeitsmarkt. So hatte die europäische Wirtschafts- und Finanzkrise der
letzten Jahre verheerende Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Negativ betroffen sind vor allem die
südlichen Länder, wenn die Jugendarbeitslosigkeit 2015 in Spanien bei 53,5 %, in Griechenland bei
49,8 % und in Italien bei 43,9 % lag. Auch in Frankreich zählte mit 25,4 % ein ganzes Viertel der
jungen Menschen dazu.4
Vom wachsenden Auseinanderdriften der Gesellschaft
Dazu kommen eklatant unterschiedliche Bildungschancen. Erst in diesen Tagen wurde für Österreich
bekannt gegeben, dass rund 40% der AbgängerInnen von Volksschulen nicht sinnerfassend lesen
können5 und SchulleiterInnen davon ausgehen, dass rund einem Drittel ihrer AbsolventInnen auf
Grund mangelnder Kompetenzen der Zugang zum Arbeitsmarkt dauerhaft versperrt bleiben werde;
ihre lebenslange Perspektivlosigkeit scheint vorgezeichnet zu sein.
1
Siehe dazu: http://www.zeit.de/wirtschaft/2016-01/soziale-ungleichheit-reichtum-welt-oxfam (letzter Zugriff:
26.04.2016)
2
http://www.sueddeutsche.de/politik/wirtschaft-selektive-wahrnehmung-1.2932294 (letzter Zugriff:
26.04.2016)
3
Georg Schramm über den Krieg zwischen Reich und Arm https://www.youtube.com/watch?v=-ZwsmVthQUs
(letzter Zugriff: 26.04.2016)
4
http://www.zeit.de/2015/20/jugendarbeitslosigkeit-europa-ausbildung-finanzkrise (letzter Zugriff:
26.04.2016)
5
http://derstandard.at/2000033966724/Leseschwaeche-bei-Viertklaesslern-beunruhigt-Ministerin-kaum
(letzter Zugriff: 26.04.2016)
Ich stelle diese Indizien wachsender sozialer Ungleichheit an den Beginn meiner Überlegungen, um
mein Erkenntnisinteresse zu präzisieren, das vorrangig in der Beantwortung der Frage besteht, ob
und wenn ja in welcher Weise soziale Desintegration kulturpolitische Entscheidungsfindung
beeinflusst bzw. beeinflussen sollte. Die Antwort versteht sich nicht von selbst: Wir sind alle durch
eine mittlerweile mehr als 40 Jahre währende Schule einer „Kultur für alle“6 gegangen und werden
jetzt zunehmend unsanft auf den Umstand gestoßen, dass es diese möglicher Weise gar nicht „für
alle“ gibt. Stattdessen sind zunehmend viele, unvermittelt nebeneinander stehende Individuen und
Gruppen gefordert, ihren Platz in einer ungleich verfassten Gesellschaft zu finden.
Konnte der legendäre Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann noch von normativen
Vorstellungen ausgehen, Kultur ließe sich zur Überwindung sozialer Differenzen nutzen, so erzählen
die aktuellen Entwicklungen von einem wachsenden Auseinanderbrechen des sozialen
Zusammenhalts. Gesellschaft scheint heute in viele, in ihren Eigenarten schnell variierende und kaum
mehr klar fassbare Gruppen aufgespalten zu sein. Sie haben jeweils ganz unterschiedliche kulturelle
Vorlieben, die unter keinen gemeinsamen Nenner mehr zu bringen sind.7
Diesen Entwicklungen entsprechen auch international akkordierte Dokumente wie die „Allgemeine
Erklärung zur kulturellen Vielfalt“8, die vor allem angesichts des Vormarsches einer globalen und
jedwede kulturelle Unterschiede nivellierenden Kulturindustrie als Instrumente zur Stärkung des
lokalen oder regionalen kulturellen Eigensinns gedacht waren und doch überkommene Vorstellungen
von Kultur auf der Grundlage einer integrativen Kulturpolitik radikal in Frage stellen.
Lernen aus der Geschichte
Um dies besser zu begründen, möchte ich die LeserInnen zu einem kurzen historischen Rückblick
einladen. Es spricht vieles für die Annahme, dass der Beginn dessen, was wir heute als
Kulturbetrieblichkeit bezeichnen, an eine privilegierte soziale Klasse gebunden war, die sich die
Beschäftigung mit Kultur zu leisten vermochte. Selbst befreit von den Mühen der Erwerbsarbeit
verfügte sie über die dafür notwendigen Ressourcen, Zeit und Muße, ihr Leben zu verfeinern und –
um ein uns verloren gegangenes Wort zu verwenden – zu veredeln. Ein zunehmend an die politische
Macht drängendes Bürgertum versuchte, einen Gutteil dieser Lebensqualitäten in das eigene
Selbstverständnis zu integrieren, auch wenn sie die damit verbundenen (kulturellen) Aktivitäten in
dem Maße in den Bereich der Freizeit verschieben musste, wie es auf Erwerbsarbeit angewiesen war.
Eine besondere Qualität kultureller Aktivitäten bestand in der Darstellung eines Distinktionsgewinns,
der die Privilegierung des eigenen sozialen Status gegenüber allen anderen, als „kulturlos“
apostrophierten Teilen der Gesellschaft bestätigen sollte.
In dieser Interpretation ist der Kampf des Proletariats zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts um
Mitwirkung an der politischen Entscheidungsfindung auch als ein Kulturfindungsprozess zu
verstehen, der der arbeitenden Bevölkerung ein eigenes, ihnen entsprechendes kulturelles
Ausdrucksrepertoire im Gegensatz zum bourgeoisen Kulturbetrieb zusprechen wollte. Nach dem
6
Hoffmann, Hilmar (1981): Kultur für alle. Perspektiven und Modelle Frankfurt
Davon berichten nicht nur KulturwissenschafterInnen, sondern auch BildungsexpertInnen, die vor allem im
städtischen Kontext auf eine weitgehende Aufsplitterung der Schulstandorte je nach sozialer Zugehörigkeit des
jeweiligen Einzugsgebietes hinweisen. Dies würde wiederum zu einer Verschärfung sozialer Trennungen und
damit verbundenen Brüchen im kulturellen Verhalten führen.
88
http://www.unesco.at/kultur/basisdokumente/deklaration_kulturelle_vielfalt.pdf (letzter Zugriff:
26.04.2016)
7
Zweiten Weltkrieg wurde – jedenfalls in der österreichischen kulturpolitischen Schwerpunktsetzung –
dieser Anspruch auf kulturellen Eigensinn der arbeitenden Bevölkerung zunehmend aufgegeben.
Stattdessen war Kulturpolitik von der Hoffnung getragen, die Klasse der Lohnabhängigen würde in
ein – weitgehend bürgerlich geprägtes – Mittelstandsmilieu aufgehen, um bei der Gelegenheit auch
gleich deren kulturelle Vorlieben zu übernehmen. Dieses Motiv mag auch noch Hilmar Hoffmann
angetrieben haben, der – als Insider des bourgeoisen Kulturbetriebs – in seinen kulturpolitischen
Überlegungen von der Hoffnung geprägt war, früher oder später würden sich alle Menschen an der
Wertschätzung des bürgerlichen Kulturbetriebs beteiligen und dafür als Mitglieder eines neuen
Mittelstandes nobilitiert werden.
Der Traum zur Vermittelständigung blieb unerfüllt
Es sollte anders kommen. Zum einen fühlten sich Frauen strukturell unterrepräsentiert und mahnten
im Zuge feministischer Bewegungen einen gleichberechtigten Zugang ein.9 Zum anderen gab es
spätestens seit den 1970er Jahren alldiejenigen, die sich mit der Hegemonie eines bourgeoisen
Kulturbetriebs nicht zufrieden geben wollten und stattdessen alternative kulturelle Ausdrucksformen
forderten, die den jeweiligen sozialen Status besser repräsentieren würden.
In Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität der Nachkriegszeit folgte staatliche Kulturpolitik diesen
Ansprüchen durch eine beträchtliche Ausdifferenzierung der Förderpraxis bei fortgesetzter
Priorisierung einer traditionell gewachsenen kulturellen Infrastruktur, deren Existenz sich dem
Repräsentationsbedürfnis einer vordemokratisch legitimierten Elite verdankt. Auch wenn heute
Schlachtrufe aus 1968 wie jener von Pierre Boulez „Schlachtet die heiligen Kühe!“ zur Zerstörung des
bourgeoisen Kulturbetriebs anachronistisch anmuten, so läuteten sie doch eine Phase der
kulturpolitischen Auseinandersetzung ein, die darauf abzielte, in demokratisch verfassten
Gesellschaften das Verhältnis von sozialer Stellung und kulturellem Verhalten neu zu bestimmen.
In dem Maße, in dem die anhaltende wirtschaftliche Prosperität eine tendenzielle Vergrößerung des
Mittelstandes als Träger des Kulturbetriebs (samt Ausweitung des staatlichen Kulturbudgets)
versprach, meinte Kulturpolitik, sich in ihrer Förderpraxis über den Umstand unterschiedlicher
sozialer Voraussetzungen weitgehend hinwegsetzen zu können. Ihr Hauptbemühen bestand in der
Aufrechterhaltung einer Kulturbetrieblichkeit, dessen Angebot – aus welchen Motiven immer – von
möglichst vielen Menschen ungeachtet ihres sozialen Status wahrgenommen werden sollte.
Als die eigentliche Gewinnerin dieser kulturpolitischen Zurückhaltung sollte sich eine kommerziell
ausgerichtete Kulturindustrie erweisen. Zum Unterschied zur staatlichen Kulturpolitik, die die längste
Zeit in einer strikten Angebotslogik verharrte, verwandten private Kulturunternehmen viel Mühe
darauf, die kulturellen Vorlieben ihrer Klientel zu analysieren und in verkaufbare Produkte zu fassen.
Damit erwies sich die Kulturwirtschaft als wesentlich erfolgreicher im Bemühen um die Emanzipation
des kulturellen Verhaltens breiter Bevölkerungsschichten als ihr politisches Gegenüber. Im Vergleich
dazu folgte staatliche Kulturpolitik erst spät und halbherzig mit der Ermutigung öffentlich geförderter
9
Ein diesbezüglicher Anspruch scheint im Bereich der Konsumption heute weitgehend eingelöst:
http://www.zeit.de/2007/42/Kulturverhalten (letzter Zugriff: 26.04.2016). Im Bereich der Produktion hingegen
lassen sich bis heute strukturelle Ungleichgewichte zwischen Mann und Frau festmachen (siehe dazu z.B. die
Studien des Deutschen Kulturrates zur Stellung von Frauen in Kunst und Kultur). Besonders eklatant wird diese
Form der Ungleichheit im Bereich der kulturellen Bildung bzw. der Kulturvermittlung, allesamt Tätigkeiten, die
mehrheitlich von Frauen ausgeführt werden. Mit diesem Genderbias geben sie eindrücklich über den
(niedrigen) sozialen Status der erbrachten Leistungen Auskunft.
Kultureinrichtungen, sich verstärkt um neue Zielgruppen zu bemühen und Programme nicht nur für
ihre Stammklientel, sondern auch für sozial Benachteiligte zu entwickeln. Sie traf dabei ihre
soziologisch weitgehend unbedarften RepräsentantInnen unvorbereitet.10
Es sind – jedenfalls meines Erachtens – zwei Entwicklungen, die es Kulturpolitik heute
verunmöglichen, Vergangenheitsszenarien in gewohnter Weise fortzuschreiben. Da ist zum einen der
sinkende Glaube daran, dass sich Gesellschaft noch einmal rund um einen ökonomisch erfolgreichen,
dazu bildungs- und wohlstandsbasierten Mittelstand samt einem ihn als gemeinsames
Anspruchsdenken repräsentierenden Kulturbetrieb organisieren ließe.11 Die oben angeführten Zahlen
zur wachsenden ökonomischen Ungleichverteilung sprechen für sich. Man muss nicht den
kulturpessimistischen Gedankengängen Hans Sedlmayers zum „Verlust der Mitte“12 aus dem Jahr
1948 folgen, um zu konstatieren, dass spätestens mit der seit 2008 anhaltenden europäischen
Wirtschafts- und Finanzkrise eine beträchtliche Verunsicherung des Mittelstandes eingesetzt hat.13
Dazu passen auch die Forschungsergebnisse des Eliteforschers Michael Hartmann, demzufolge die
Wirtschaftselite Deutschlands drauf und dran ist, ihre traditionelle Affinität zum Kulturbetrieb
aufzugeben und sich stattdessen anderen Formen der sozialen Distinktion zuzuwenden.14 Darüber
hinaus haben die von der Krise Betroffenen schlicht andere Sorgen, wenn es darum geht, ihren
privilegierten sozialen Status aufrecht zu erhalten.
Der aktuelle Flüchtlingszuzug nicht ist nicht Ursache, sondern Verstärker sozialer Desintegration
Zu konstatieren ist also eine – durch die aktuellen Zuwanderungswellen zusätzlich geförderte –
Ausdifferenzierung der sozialen Milieus, die die europäischen Gesellschaften in ihren
mittelständischen Grundfesten erschüttern. Mit ihnen zeigen sich vielfältige ethnische, religiöse und
damit auch kulturelle Unterschiede, die ganz im Gegensatz zu den traditionell gewachsenen
kulturpolitischen Prioritätensetzungen ganz neue kulturelle Tatsachen schaffen. Waren bisherige
Formen des Zuzugs Ausgangspunkt einer vielfältigen kulturpolitischen Debatte um Multikulturalität,
Interkulturalität und Transkulturalität mit dem Ziel, den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufrecht zu
erhalten so zeigen sich mit dem Zuzug der aktuellen Flüchtlingsbewegungen vorrangig aus dem
Nahen und Mittleren Osten die Grenzen einer solchen kulturpolitischen Strategie.
Aus spezifisch österreichischer Sicht stellte die Zuwanderung von jeweils mehreren Hunderttausend
Menschen aus Ungarn (1056), aus der Türkei und Jugoslawien (1970er Jahre), aus Polen (zu Beginn
der 1980er Jahre) oder aus Bosnien (Mitte der 1990er Jahre) keine große gesellschaftliche und damit
10
Persönliche Gespräche des Autors mit österreichischen MuseumsdirektorInnen ließen eine weitgehende
Unkenntnis der kulturpolitisch verordneten neuen Zielgruppen erkennen: „Wie soll ich sie denn erkennen?“
war eine der häufigsten Fragen, die in der Folge pragmatisch durch Zuordnung von BesucherInnen-Gruppen je
nach geographischer Herkunft (Stadtzentrum oder Peripherie) beantwortet wurde
11
Siehe dazu https://www.youtube.com/watch?v=kKgFgOcQTLs (letzter Zugriff: 26.04.2016): Aufzeichnung
eines Gesprächs zwischen Richard David Precht und Heinz Bude mit dem Titel „Unsere ungerechte
Gesellschaft“ im April 2016. Darin spricht Bude von einem gesellschaftlichen Experiment, das auf eine
Zerstörung der traditionellen Mittelschichten hinauslaufen würde. Auf diese Weise würde eine kleine Gruppe
von „Erfolgreichen“ eine Vielzahl von Verlierern gegenüberstehen, die kraft ihrer Leistung nicht mehr in der
Lage wären, ihre sozialen Grenzen zu überschreiten in:
12
https://de.wikipedia.org/wiki/Verlust_der_Mitte (letzter Zugriff: 26.04.2016)
13
http://www.bpb.de/apuz/196707/gefuehlte-verunsicherung-in-der-mitte-der-gesellschaft?p=all
(letzter Zugriff: 26.04.2016)
14
Hartmann, Michael (2012): Wodurch gehört man „dazu“? Beobachtungen zur Kultur der Deutschen
Wirtschaftselite. In: Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel (2012): Kultur für alle oder
Produktion der „feinen Unterschiede“ Wolfenbüttel
auch kulturelle Herausforderungen dar. An den Ausläufern einer prosperierenden
Nachkriegsgesellschaft gelang es – mit wenigen Ausnahmen – diese ZuwanderInnen mit ihrem
unterschiedlichen sozialen, religiösen oder kulturellen Hintergrund in ein gemeinsames nationales
kulturelles Selbstverständnis zu integrieren.
Der aktuelle Zuzug von Flüchtlingen, vorrangig aus den Kriegsgebieten des Nahen und Mittleren
Ostens trifft hingegen auf eine mittlerweile tief verunsicherte Aufnahmegesellschaft, in denen sich
die Lebensverhältnisse in den letzten Jahren für eine wachsende Zahl von BürgerInnen nachhaltig
verschlechtert haben. Als solche war nur ein kleiner Teil bereit, der ersten Euphorie einer von einer b
reiten zivilgesellschaftlichen Bewegung getragenen Willkommenskultur zu folgen; stattdessen
machten sich viele nur zu gerne rechtspopulistische Interpretationsversuche zu eigen, die darauf
hinauslaufen, die Angst vor einer weiteren Verschärfung am Arbeitsmarkt bzw. vor einer weiteren
Niederlage im Kampf um knappe Sozialleistungen zu schüren und diese in eine kulturelle Rhetorik zu
kleiden. Ins Treffen geführt wird die Gefahr einer unkontrollierten Massenzuwanderung, der es gälte
um den Preis der eigenen Abschottung Einhalt zu gebieten, aus Angst die autochthone Bevölkerung
könnte um ihre kulturelle Identität gebracht werden.15
Die kollektive Zuschreibung des Fremden erspart die Arbeit am Eigenen
Mit dem Wiedererstarken einer rechtspopulistischen Rhetorik zur Verteidigung des Anspruchs auf
kulturelle Identität bleibt weitgehend ausgeklammert, dass es sich bei denjenigen, die zur Zeit in
Europa Schutz vor existentiellen Bedrohungen suchen, um keine homogene Gruppe handelt, die
deshalb auch nicht VertreterInnen einer anderen, fremden Kultur verhandelt werden können. Sie
selbst kommen in ihrer großen Zahl aus ganz unterschiedlichen sozialen Kontexten und sind geprägt
von kulturellen (Fremd-)Bestimmungen. Nicht zuletzt befinden sich unter ihnen eine Reihe von
KünstlerInnen und Kulturschaffenden, die sich gegen eindeutige kulturelle Zuschreibungen wehren
und sich mit ihren Qualifikationen stattdessen Zugang zum internationalen Kulturbetrieb erhoffen.
Der politische Vorteil einer kollektiven Zuschreibung der Flüchtlinge als VertreterInnen einer
„anderen Kultur“ liegt freilich darin, dass eine inhaltliche Präzisierung dessen, was als kulturelle
Identität im eigenen Land noch einmal hochzustilisieren versucht wird, erst gar nicht mehr versucht
werden muss; es genügt, sich negativ gegen das politische Konstrukt des Fremden abzugrenzen, um
noch einmal ein kulturelles Wir-Gefühl zu erzeugen.
Der Realität möglicher Weise näher kommt der Befund, dass der aktuelle Zuzug von Menschen nach
Europa eine Entwicklung radikalisiert, die ihre primären Ursachen in den oben angedeuteten sozialen
Veränderungen hat und bereits lange vor dem jüngsten Zuzug von Flüchtlingen gemeinsam
verbindliche Kulturvorstellungen an ihr Ende haben kommen lassen. Dies betrifft vor allem kulturelle
Selbstverständnisse, die auf ein statisches Set kultureller Ausdrucksformen setzen, das sich als ein
verbindlicher Haltegriff in einer ansonsten sich dynamischen Gesellschaft bewähren soll. Zu Ende
15
Aus dem Wahlprogramm der AfD Sachsen-Anhalt 2016: „Deshalb wollen wir jenseits der heutigen
Denkverbote die Stärkung und Pflege unserer regionalen und nationalen Identität sowie die Erziehung zu
sozialer Verantwortung zur Aufgabe der Politik machen: an den Schulen, in den Kulturreinrichtungen, vor allem
auf lokaler Ebene. Zur Bewahrung und Förderung unserer vielfältigen National- und Regionalkultur gehört auch,
dass wir die ungezügelte Masseneinwanderung sofort stoppen und von den hier bereits ansässigen
Einwanderern konsequent einfordern, dass sie unsere kulturellen Standards respektieren, die
gesellschaftlichen Regeln befolgen und sich aktiv in unser historisch gewachsenes Gemeinwesen einfügen“.
Siehe dazu: http://www.sachsen-anhalt-waehlt.de/wahlprogramme/afd.html (letzter Zugriff: 26.04.2016)
gedacht deutet diese vielfältige kulturelle Dynamik auf ein Obsoletwerden traditioneller
Kulturvorstellungen hinaus, die als selbst museal gewordene Begrifflichkeiten scheinbar immer
weniger in der Lage sind, das, was gesellschaftlich der Fall ist, hinlänglich zu beschreiben oder gar zu
beeinflussen.
Im Gegensatz dazu erscheint es heute als eine zentrale kulturpolitische Aufgabe, das, was in
perspektivischer Weise als Kultur verhandelt werden möchte, für gemeinsame
Zukunftsentwicklungen mit Menschen sehr unterschiedlicher Lebenserfahrungen produktiv zu
machen. Dies kann nicht nur in Bezug auf Traditionen, Sprache oder Religion passieren, sondern gilt
auch für ihre Fluchterfahrungen, in die wir uns als Kinder eines 70 Jahre währenden Friedens nicht
einmal andeutungsweise hinein zu denken vermögen, noch einmal produktiv zu machen.
Eine bessere Unterscheidung zwischen Zivilisation und Kultur ist notwendig
Zu diesen Überlegungen gehört auch eine überfällige Ausdifferenzierung dessen, was wir unter
Kultur und was wir unter Zivilisation meinen. Nicht unzufällig wurde Samuel Huntingtons Klassiker
Clash of Civilizations16 unter dem Titel Kampf der Kulturen17 ins Deutsche übersetzt, um so zu einer
beträchtlichen Begriffsverwirrung beizutragen, die gerade angesichts des aktuellen Flüchtlingszuzugs
für zusätzliche Verwirrung sorgt. Die aus der Spätphase vordemokratischer Herrschaftsformen
stammende, typisch mitteleuropäische Vorstellung, in der Kultur wären die zivilisatorischen
Errungenschaften wie die unantastbare Würde des Menschen und somit der Menschenrechte,
darüber hinaus der Trennung von Kirche und Staat oder der Gleichwertigkeit von Mann und Frau
besser aufgeboben als in der Politik, führt bis heute zu einer Überhöhung kultureller Ansprüche, die
freilich kulturpolitisch immer weniger glaubhaft eingelöst werden kann.
Eine Erkenntnis daraus könnte darin bestehen, zivilisatorische Errungenschaften gerade nicht auf wie
immer geartete kulturelle Besonderheiten zu beziehen. In ihrem Anspruch auf globale Durchsetzung
liegt ihre besondere Qualität gerade darin, dass sie vor keinen nationalen oder sonstigen Grenzen
Halt machen und so ihre Durchsetzung nicht von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen
oder anders definierten Gruppe abhängig gemacht werden kann. Als Ausdruck universeller,
unteilbarer Werte sind sie prinzipiell allen Mitgliedern einer Gesellschaft aufzuerlegen, ganz egal ob
sich diese als autochthon oder neu zugewandert erweisen.
In einem solchen Selbstverständnis wäre Kultur nicht synonym zu verwenden, sondern mit kategorial
anderen, zum Teil entgegengesetzten Qualitäten ausgestattet, geht es im kulturellen Kontext doch in
erster Linie darum, mit vorrangig ästhetischen Mitteln symbolische Formen des Ein- bzw. des
Ausschlusses und damit der Zugehörigkeit bzw. der Nichtzugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe
zu inszenieren.18
16
Huntington, Samuel (1996): The Clash of Civilizations and the Remaking of World. Order New York
Huntington, Samuel (1996): Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert.
Europa München
18
In der immer wieder erneuerten Hoffnungsproduktion um eine „integrative Kultur“ wird gerne außer Acht
gelassen, dass die Begriffsgeschichte zu „Kultur“ entscheidend geprägt ist vom Gegensatzpaar der
Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit. Dies betrifft ethnische, klassen- oder genderspezifische
Trennungsversuche, die sich allesamt um das Gegensatzpaar das „Eigene“ und das „Fremde“ ranken. „Dass
diejenige fremde Kultur, deren Verstehen dem Menschen von Stund an am drängendsten erscheint, die eigene
ist“, bleibt in dieser Diskussion gerne ausgeklammert. Siehe dazu u.a.: Srubar, Iljia u.a. (2005): Kulturen
vergleichen Wiesbaden
17
Die wesentliche emanzipatorische kulturpolitische Leistung für eine auf Vielfalt basierende
Gesellschaft bestünde darin, dass die BürgerInnen diese Formen der kulturellen Zuschreibung nicht
in ihrer Natur begründet und damit schicksalhaft erleiden müssen (wie ihnen konservative
VertreterInnen überkommener kultureller Identitätsvorstellungen glauben machen wollen), sondern
mitentscheiden können, in welcher Form sie sich selbst kulturell verstehen und artikulieren wollen.
Immer wieder neu: Gegen die Gleichsetzung von Kunst und Kultur
Neben dem Klärungsbedarf im Spannungsverhältnis Zivilisation und Kultur tut sich noch eine weitere
Begriffsverwirrung auf, die das aktuelle kulturpolitische Gerede gleichermaßen verunklart Es handelt
sich dabei um die weithin unreflektierte Gleichsetzung von Kunst und Kultur19. Der Philosoph Rudolf
Burger vermutete bereits 1983 in seinem Beitrag „Kultur ist keine Kunst“ 20, dass diese Form des
wahllosen Gebrauchs grassierende Entideologisierungstendenzen einer politisch dekretierten
alternativlosen spätkapitalistischen Gesellschaft repräsentieren würden. Damals meinte er, dass eine
beliebige Vertauschung von Kunst und Kultur zur Produktion eines ideologischen Scheins führen
würde, der darauf hinauslaufe, Gesellschaftstheorie durch kulturphilosophisches Geschwafel zu
ersetzen: „Die Versöhnung von Kunst und Kultur ist die Ideologie einer Gesellschaft, die sich selbst in
ihren Eigentums- und Machtverhältnissen kein Thema ist und die deshalb die Defizite der
Sozialpolitik der Kulturpolitik zur symbolischen Verarbeitung überlässt“.
Burger konnte bei seiner Inaugurationsrede als Rektor der Universität für Angewandte Kunst noch
nichts von einer tendenziell mehrheitsfähigen Kulturideologie rechtspopulistischer Kräfte vor dem
Hintergrund einer anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrise gepaart mit bislang unvorstellbarer
Brutalisierung an den europäischen Rändern wissen. Und doch verwies er schon damals auf die
Fragwürdigkeit kulturpolitischer Maßnahmen zur Lösung sozialpolitischer Probleme (was
Rechtspopulisten auf der Suche nach einer für alle verbindlichen kulturellen Identität weniger denn
je davon abhält, die wachsende Benachteiligung der – oben angesprochenen – verunsicherten
Mittelschichten in kulturelle Superioritätsansprüche umzudefinieren, ohne dass diese ein Theater,
Konzert- oder Opernhaus betreten würden).
Burger beklagte den mit der Ineinssetzung von Kunst und Kultur verbundenen Verlust eines kulturkritischen Potentials, das Kunst wie kein anderes Medium auszuzeichnen vermag. Darauf nimmt
auch die Theaterregisseurin Shermin Langhoff in ihrem Beitrag für die Artikelreihe „Was ist deutsch?“
der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel „Was du in deinem Kopf und in deinem Herzen hast, kann dir
keiner nehmen“21 Bezug, wenn sie für eine klare Trennung der Begrifflichkeiten von Kunst und Kultur
plädiert. Sie schreibt der Kunst vorrangig einen desintegrativen und damit einen, den grassierenden
vereinnahmenden bzw. gesellschaftliche Widersprüche harmonisierenden und Kulturvorstellungen
entgegenwirkenden Charakter zu: „Kunst im Sinn von Kritik-Kultur war desintegrativ, in dem sie sich
nicht vereinnahmen lassen wollte, sie schoss oft am Ziel vorbei, und das war gut so“.
Geht es nach Langhoff, so droht heute der Kunst, die lange Zeit von Vorstellungen einer besseren –
weil überkommende nationale Homogenitätsvorstellungen überwindende – Kultur getragen war,
dass ihr als gefälliges Betriebsmittel des Markts der Wille zur Gegenwehr abhanden komme. Zu ihrer
Wiederverlebendigung sei sie heute mehr denn je auf Einflüsse von außen angewiesen. Und dazu
19
Siehe dazu u.a.: http://educult.at/blog/blogartikel-2/ (letzter Zugriff: 26.04.2016)
Burger, Rudolf (1996): Kultur ist keine Kunst. Inaugurationsrede Wien
21
http://www.sueddeutsche.de/kultur/serie-was-ist-deutsch-kultur-ist-kein-integrationskurs-1.2814539-2
(letzter Zugriff: 26.04.2016)
20
könnten ZuwanderInnen mit ihren ganz unterschiedlichen formalen ebenso wie inhaltlichen Bezügen
in besonderer Weise beitragen (sofern man sie lässt).
Nach ihrer Interpretation war es noch nie so wichtig, Kunst und Kultur hinlänglich voneinander zu
unterscheiden. So sehr das, was im Mainstream unter „Kultur“ firmiert, heute von den ReNationalisten aller Länder erfolgreich für sich beansprucht wird, so wirkungsverdächtig erscheint es
ihr, „Kunst“ noch einmal als kulturelles Desintegrationsmittel in Stellung zu bringen. Als solche kann
sie den aktuellen Trend der Rekonstruktion hermetischer Kulturvorstellungen, die sich vorrangig
gegen ZuwanderInnen richten, auf eine Weise stören, die eine differenzierte Auseinandersetzung
um kulturelle Andersartigkeit überhaupt erst ermöglicht.
Das wird dem vielfach diagnostizierten Trend der wachsenden Bedrohung zivilisatorischer
Errungenschaften22 nicht Einhalt gebieten, vielleicht aber auf eine Weise kenntlich machen, dass
dahinter weitere Alternativen diskutierbar werden, die über das Angebot der Rechtspopulisten
hinausweisen. Die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, obliegt – entgegen allen euphorischen
Selbstüberschätzungen – nicht dem Kunstinteressierten, sondern dem/der BürgerIn (citizen/citoyen),
der/die bereit und fähig ist, seine/ihre Interessen gegen herrschende Widerstände nicht nur
individuell, sondern auch politisch zu vertreten.
Der Kunst- und Kulturbetrieb als Spiegel gesellschaftlicher Ungleichheit
Die Analyse der jüngsten Wahlergebnisse auf der Suche nach einem neuen Bundespräsidenten in
Österreich hat die Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung Cathrin Kahlweit zur Charakterisierung
„Land ohne Mitte“23 finden lassen. Sie bestätigt darin einen internationalen Trend, der darauf
hinausläuft, dass in den nationalen Gesellschaften die politische Vertretung von
Mittelstandsinteressen vorerst an ihr Ende gekommen zu sein scheint und folglich zunehmend eine
kleine Anzahl an reichen und privilegierten Menschen einer überwiegende Mehrheit an Armen und
Benachteiligten unvermittelt gegenübersteht. In dem Maße, in dem das wachsende gesellschaftliche
Auseinanderdriften als Ergebnis einer zentral gelenkten Globalisierungsstrategie interpretiert wird,
vermehren sich Renationalisierungskräfte, die versprechen, die desintegrative Wirkungen eines
freien Personen-, Güter- und Dienstleistungsaustausches noch einmal an den wieder zu errichtenden
Grenzen aufhalten zu können. Verschärft werden diesbezügliche politische Ambitionen durch ein
bislang unbekanntes Ausmaß an Mobilität, die sich im Fall des aktuellen Flüchtlingszuzugs allenfalls
behindern, aber nicht verhindern lässt. Im Ergebnis werden die europäischen Gesellschaften auf eine
dynamische Weise heterogener, ungleicher, zugleich vielfältiger und so auch kulturell immer weniger
eindeutig fassbar.
Die englische Kulturwissenschafterin Kate Oakley hat in ihren Untersuchungen zur Kunstproduktion
und -rezeption herausgefunden, dass das Ausmaß der sozialen Ungleichheit seinen Niederschlag
auch im Kunstbetrieb findet, da oder dort sogar weit über diesen hinausweist.24 Auch in diesem
Sektor steht eine sehr kleine Anzahl an GroßverdienerInnen einer Mehrheit an KünstlerInnen und
22
In diesem Zusammenhang wird von autochthonen KulturpessimistInnen gerne mit pejorativen
Begrifflichkeiten wie „Islamisierung Europas“ ins Treffen geführt, dass die geflüchteten ZuwanderInnen den
europäischen Wertehaushalt gefährden würden.
23
Kahlweit, Cathrin: Land ohne Mitte. Analyse des Ausgangs der Bundespräsidentenwahl in Österreich. In:
Süddeutsche Zeitung, 26.4. 2016 (http://www.sueddeutsche.de/politik/wahl-in-oesterreich-land-ohne-mitte1.2965990?reduced=true; letzter Zugriff: 26.04.2016)
24
http://www.cusp.ac.uk/news/oakley-obrien-inequality-in-cultural-production/ (letzter Zugriff: 26.04.2016)
Kulturschaffenden gegenüber, die unter prekären Bedingungen tätig sind. Die bereits seit den 1980er
Jahren zu konstatierende Tendenz zur wachsenden Ökonomisierung und Eventisierung hat
wesentlich zu dieser Form der sozialen Verungleichung beigetragen, ohne dass Kulturpolitik in der
Lage gewesen wäre, dieser Entwicklung entgegen zu wirken.
Alle diese Bestimmungsstücke verweisen auf eine grundsätzliche Infragestellung einer auf die
traditionellen Mittelschichten bezogenen Kulturpolitik. Alle noch so gut gemeinten Maßnahmen zum
Einbezug bislang vernachlässigter, in der Regel sozial benachteiligter Gruppen haben an der
bestehenden sozialen Hierarchie der NutzerInnenschaft vor allem des Angebots des öffentlichen
Kulturbetriebs nichts oder nur wenig zu verändern vermocht. Die Folge ist, dass Kulturpolitik im
Rahmen des aktuellen sozialen Wandels ungebrochen auf eine im Verschwinden begriffene soziale
Gruppe setzt, während alle anderen auf den wachsenden Markt kommerzieller Kulturgüter
verwiesen werden. Kein Wunder also, dass der kulturpolitische Diskurs mittlerweile als erschöpft
erscheint und bestenfalls in devianter Form als Kulturwirtschaftspolitik aufrechterhalten wird.
Zur Änderung der inhaltlichen Ausrichtung des Kulturbegriffs
Heute, immerhin hundert Jahre nach der Durchsetzung demokratischer Verfassungen scheint ein
hegemoniales Kulturverständnis, das sich vorrangig auf eine privilegierte soziale Gruppe zu beziehen
zu können vermeinte, an sein Ende gekommen zu sein. Seine heiligen Hallen scheinen weitgehend
entzaubert. Es ist höchste Zeit für eine kulturpolitische Wiederbelebung entlang einer weitgehenden
Neuinterpretation dessen, was künftig unter Kultur verstanden werden will – und was nicht.
Für die wachsende rechtspopulistische Anhängerschaft scheint die Sache klar: Sie setzen mehr denn
je auf den Popanz einer homogenen Kultur, von der zwar niemand sagen kann, was sie genau
beinhaltet, die es aber um jeden Preis gegen jedwede fremde Einwirkungen zu verteidigen gilt. In
ihrem totalisierenden Anspruch machen sie nochmals klar, dass Kultur immer schon als Kampfmittel
zur Durchsetzung von Interessen ganz bestimmter sozialer Gruppen eingesetzt und offenbar bis
heute als Waffe nicht stumpf geworden ist. (In ihrem erneuerten hegemonialen Anspruch, diesmal
nicht in Bezug auf traditionelle Mittelstandsinteressen, sondern zur Anbiederung an die wachsende
soziale Gruppe der KrisenverliererInnen wird deutlich, dass Vorstellungen einer allen Menschen
gleichermaßen verfügbaren globalen Kultur ideologiekritisch gelesen werden müssen.)
Als weit ambitionierter erweisen sich alle Versuche im Rahmen des Kampfes um die
Aufrechterhaltung, einer liberalen Demokratie ein vordergründig interesseloses Neben- und
Übereinander unterschiedlicher kultureller Ausdrucksformen, die alle für sich ein Existenzrecht
beanspruchen ohne zur Deckung zu gelangen, zur Grundlage eines runderneuerten kulturpolitischen
Konzeptes zu machen. Immerhin zeigt sich bei genauerem Hinsehen der Fortbestand oft nur
unzureichend verschleierter Hierarchien im kulturellen Verhalten, die freilich nicht mehr entlang
eindeutig identifizierbarer sozialer Gruppen oder Klassen, sondern weitgehend diffus, dazu temporär
verlaufen und doch die Lebensverhältnisse der Menschen wesentlich mitbestimmen.
Ähnlich wie im Bildungsbereich zeigen sich enorme Beharrungskräfte eines kulturbetrieblichen
Institutionsgefüges, das sich mit aller Vehemenz der Antizipation der geänderten sozialen
Verhältnisse verweigert. Darin ändern auch alle Bemühungen zur Implementierung neuer Bildungsund Vermittlungsinitiativen, in der Hoffnung, damit neue, bislang vernachlässigte Zielgruppen
ansprechen zu können, nur sehr wenig.25 Dies zeigt sich paradigmatisch in der nachhaltigen
Weigerung weiter Teile des Kulturbetriebs, die geänderten demographischen Veränderungen in die
Weiterentwicklung der je eigenen strategischen Ausrichtung zu integrieren. Jüngste
Forschungsprojekte wie „Brokering Migrants‘ Cultural Participation“26 haben deutlich gemacht, wie
schwer sich die meisten Kunst- und Kultureinrichtungen nach wie vor im Umgang mit MigrantInnen
tun und welche beträchtlichen institutionellen Stolpersteine dafür aus dem Weg geräumt werden
müssen.
Der aktuelle Zuzug von Flüchtlingen hat ebenso Einfluss auf die institutionellen Verhältnisse des
Kulturbetriebs. Als ein bislang staatlich hoch privilegiertes Gefüge steht dieser vor der Entscheidung,
im Zuge der aktuellen ökonomischen Liberalisierungstendenzen entweder verstärkt auf eine
Refeudalisierung des Kulturkonsums zu setzen und damit auf eine Klientel, die es sich auf Grund ihres
Erfolgs leisten kann, die immer teureren (und damit prestigeträchtigeren) Angebote wahrzunehmen,
oder seine Gesamtstrategie (und nicht nur das Programmangebot im engeren Sinn) auf die
geänderten sozialen Verhältnisse zu beziehen. Nur so kann es gelingen, die Relevanz seiner
institutionellen Basis (und damit seine kulturpolitische Privilegierung) auch in Zukunft glaubhaft zu
machen. EDUCULT hat in diesem Zusammenhang eine Recherche für die Deutsche Beauftragte der
Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) im Hinblick auf Maßnahmen zur kulturellen
Integration von geflüchteten Menschen27 durchgeführt und war dabei mit einer Reihe von
Rückmeldungen zu einer fundamentalen Neuausrichtung des Kulturbetriebs konfrontiert.
Besonders wichtig erschien den meisten InterviewpartnerInnen die Notwendigkeit, der wachsenden
Vielfalt künstlerisch-kultureller Ausdrucksformen auch kulturpolitisch Rechnung zu tragen. Dies
könnte u.a. zu einem heftigen Umverteilungskampf führen, der bisherige pragmatisierte
Subventionsempfänger in Frage stellt und stattdessen das Potential der Gegenwartskunst nutzt für
die Ausgestaltung neuer, offener, ungesicherter, diskursiver und kreativer Räume nutzt, in denen auf
ebenso spielerische wie ernsthafte Weise mit künstlerischen Mitteln BürgerInnen ungeachtet ihrer
jeweiligen sozialen Herkunft gemeinsame Zukunftsentwürfe verhandeln können.
Vieles spricht dafür, dass den zivilgesellschaftlichen AkteurInnen aus ganz unterschiedlichen sozialen
Zusammenhängen zunehmend Bedeutung zukommen wird. Das gilt vor allem dort, wo eine
Kulturpolitik von oben der wachsenden Komplexität der Kulturlandschaft immer weniger gewachsen
und zu ihrer Ausgestaltung auf vielfältiges bürgerschaftliches Engagement angewiesen erscheint.
Dies betrifft auch und gerade die bestmögliche Einbeziehung migranter Gruppen in die
kulturpolitische Entscheidungsfindung.
Diese aus diesen neuen Formen der Zusammenarbeit entstandenen Realisierungsformen könnten
sich als reicher und vielfältiger erweisen als es uns gegenwärtig eine auf desintegrative Kulturpolitik
25
Es liegt in diesem Zusammenhang nahe, auf die klassisch gewordene bildungstheoretische Schrift Siegried
Bernfelds „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ hinzuweise. Bernstein zufolge würden sich die
institutionellen Rahmenbedingungen von Schule im Versuch der Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit als
wesentlich mächtiger erweisen als die inhaltlich-pädagogischen Versuche, diese zumindest zu relativieren.
26
http://educult.at/forschung/brokering-migrants-cultural-participation/ (letzter Zugriff: 26.04.2016)
27
Bei den Recherchen zur Erstellung eines von der BKM beauftragen Empfehlungskatalogs im Hinblick auf
Maßnahmen zur kulturellen Integration von Flüchtlingen wurde deutlich, dass der traditionell gewachsene
Kulturbetrieb für die gegenwärtigen Herausforderungen nur sehr unzureichend gerüstet ist und folglich
beträchtlich an gesellschaftlicher Bedeutung verliert. Siehe dazu; EDUCULT (2016): Empfehlungen an die BKM
im Hinblick auf Maßnahmen zur kulturellen Integration von geflüchteten Menschen. Wien, unveröffentlichter
Bericht.
zu suggerieren versucht, die auf von den kulturellen und jeweiligen sozialen Wirklichkeiten der
Menschen abgehobene Bestandsinteressen fixiert bleibt.
Der Rest ist Sozialpolitik.
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