Die sechs Suiten von J. S. Bach für Violoncello solo

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Die sechs Suiten von J. S. Bach
für Violoncello solo
Masterarbeit der Studienrichtung
Instrumentalstudium - Violoncello
Institut 3 Saiteninstrumente
an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz
Hea-Mee Kim BA
Betreuer : Ao.Univ.Prof. Mag.art. Mag.phil. Dr.phil. Klaus Hubmann
Institut 15 Alte Musik und Aufführungspraxis
Graz, Jänner 2017
a
Abstracts
J. S. Bach 6 Suiten für Violoncello solo
Die vorliegende Arbeit besteht aus drei Teilen, Im ersten Teil geht es um die
Geschichte des Violoncello als Solo-Instrument. Wie waren die Intrumente zu
dieser Zeit gebaut und wie wurden sie damals gespielt? Welcher Unterschied
gibt zwischen dem modernen Cello und dem Barockcello? Im zweiten Teil, folgt
eine analytische Betrachtung der sechs Suiten für Violoncello von J. S. Bach. Z.
B. wie man die Tanzsätze und Puls gut zur Geltung bringen kann. Im dritten Teil
ein Interpretationsvergleich, der natürlich subjektiv gefärbt ist, um vor allem um
durch historische und theoretische Erkenntnisse daraus eine Bereicherung für
die eigene musikalische Interpretation zu gewinnen und was man grundsätzlich
wissen muss, wenn man diese Suiten kennenlernen will, um sie besser zu
verstehen.
J. S. Bach 6 Suites for Violoncello solo
This work consists of three parts, the first part is about the history of the cello as
a solo instrument. How were the instruments built at this time and how were
they played at that time? What difference is between the modern cello and
baroque cello? In the second part, an analysis of the six suites for violoncello by
J. S. Bach follows. For example, how to bring the dance movements and pulse
to advantage. In the third part, a comparison of performances, of course, is
subjective coloring to especially to win by historical and theoretical insights from
an asset to their own musical interpretation and what we need to know principle,
if one wants to get to know these suites in order to understand it better .
b
Inhalt
Vorwort ………………………………………………………………….. 1
1. Einteilung: Von der Entstehung der 6 Suiten für Violoncello solo
bis zur Wiederentdeckung…………………………………………... 2
2. Erklärlung der barocken Instrumente, Bögen, Spieltechniken und
Interpretationen am Beispiel der Cellosuiten..…………………….. 9
2. 1. Die geschichte des Barockcellos.…………………………….. 9
2. 1. 1. – 17. Jahrhundert …………………….……………...... 13
2. 1. 2. - 18. Jahrhundert .…………………………...……....... 14
2. 2. Der Aufbau und das Klangideal des Barockcellos ...……….16
2. 3. Barockbogen…………………………..……….……………… 17
2. 4. Die Bogenhaltung.……………………………...………….…. 21
2. 5. Viola pomposa und Violoncello piccolo …….…………….... 23
2. 6. Spieltechnik und Spielpraxis in der Bach-Zeit ……………...26
3. Der Üerblick über die Suite ........................................................ 35
3. 1. Die Entwicklung der Suite .................................................. 35
3. 2. Charakter und Tempo verschiedener Tanzsätze................. 41
3. 2. 1. Die einzelnen Suiten (kurzer Überblick und
Besonderheiten) …….............................................. 56
4.
Ansätze zur Interpretation der 6 Suiten .................................. 83
5. Interpretationsvergleich ............................................................. 87
5. 1. Lebenslauf und Zugang der Interpreten zu den
Cellosuiten…………………………………………………....... 87
5. 1. 1. Pablo Casals (1878-1973)....................................... 87
5. 1. 2. Mstislav Rostropowitsch (1927-2007)...................... 90
5. 1. 3. Heinrich Schiff (1951-2016)..................................... 90
5. 2. Besonderheiten in der Interpretation einzelner Sätze der
ersten und sechsten Suite ................................................. 91
5. 2. 1. I.Suite: Prélude........................................................ 91
5. 2. 2. I. Suite: Gigue ......................................................... 93
5. 2. 3. VI. Suite: Prélude .................................................... 95
5. 2. 4. VI. Suite: Allemande …............................................ 97
5. 3. Kurzer Überblick über die Interpretation der Suiten von
Casals, Rostropowitsch und Schiff ..................................... 98
Quellenverzeichnis .…………………………………………………..102
c
3
Vorwort
Die Musik von Johann Sebastian Bach hat mich schon immer interessiert und
im besonderen die Suiten für Violoncello Solo. Ich bemühe mich immer um eine
Art „richtiger“ Interpretation, wenn ich daran arbeite. Dazu ist mir in einem
kurzen Überblick der geschichtliche Hintergrund wichtig und das wissen, wie
man in dieser Zeit (in diesem Fall der Barockzeit) gespielt hat. Deswegen wollte
ich selber wissen, wo und wie diese Solosuiten von J. S. Bach entstanden sind
und wie man in der Barockzeit gespielt hat und wie damals die Intrumente
waren. Daher ich habe dieses Thema gewählt und versuche zu schreiben, was
man grundsätzlich wissen muss, wenn man diese Suiten kennenlernen will, um
sie besser zu verstehen. Die vorliegende Arbeit besteht aus drei Teilen, Im
ersten Teil geht es um die Geschichte des Violoncello als Solo-Instrument. Wie
waren die Intrumente zu dieser Zeit gebaut und wie wurden sie damals gespielt?
Welcher Unterschied gibt zwischen dem modernen Cello und dem Barockcello?
Im zweiten Teil, folgt eine analytische Betrachtung der sechs Suiten für
Violoncello von J. S. Bach. Z. B. wie man die Tanzsätze und Puls gut zur
Geltung bringen kann. Im dritten Teil ein Interpretationsvergleich, der natürlich
subjektiv gefärbt ist, um vor allem um durch historische und theoretische
Erkenntnisse daraus eine Bereicherung für die eigene musikalische
Interpretation zu gewinnen.
Ich bedanke mich bei meinem wissenschaftlichen Betreuer, Prof. Klaus
Hubmann, für seine Begleitung, seine Bereitschaft und seine Unterstützung
bei dieser Arbeit, auch danke ich Prof. Florian Kitt für seine Unterstützung.
1
1. Einteilung: Von der Entstehung der 6 Suiten für Violoncello solo
bis zur Wiederentdeckung1
Wahrscheinlich sind sie in der Zeit von 1717-1723, als Bach in Köthen 2
Kapellmeister war entstanden; Einheitlichkeit und Kohärenz dieser Arbeiten legt
nahe, dass sie kurz nacheinander konzipiert wurden, vermutlich entweder
angeregt oder mit einem der Cellisten zu der Zeit in Köthen im Sinn. Diese
waren Christian Bernhard Linigke3 und Christian Ferdinand Abel4, viel besser
als Gambist bekannt. Es ist unmöglich, eine exakte und präzise Chronologie
der Suiten zu etablieren, gibt es keine verlässlichen Daten über die Reihenfolge,
in der sie entworfen wurden und / oder ob sie vor oder nach den Sonaten und
Partiten für Violine solo geschrieben wurden. In jedem Fall glaubt die
Wissenschaft, auf der Grundlage einer vergleichenden Analyse dieser Werke,
dass die Cellosuiten möglicherweise vor 1720 entstanden sind. Man datiert sie
vor 1720, da auf dem Cover der Kopie des Autographs von Johann Sebastian
Bach, das Jahr 1720 als Entstehungsdatum Sonaten und Partiten für Violine
1
vgl. Geck, Martin: Bach. Leben und Werk. Hamburg, 2001, S.660ff.
Werner-Jensen, Arnold: Reclams Musikführer, J.S. Bach, Instrumentalwerke Band I. Stuttgard,
1993, S.208ff.
Vorwort zur Wiener Urtext Ausgabe der 6 Suiten für Violoncello solo von J. S. Bach, München,
2000
2
Köthen (Anhalt) (1885–1927 amtlich Cöthen) ist die Kreisstadt des sachsen-anhaltischen
Landkreises Anhalt-Bitterfeld
3
Christian Bernhard Linigke , Geburts- und Sterbejahr unbekannt, kam 1718 nach Köthen
4
Christian Ferdinand Abel (1683-1737), um 1715 Anstellung als Geiger und Gambist am Hofe
des Fürsten Leopold von Anhalt Köthen
2
solo aufscheint und man annimmt, dass sie vor diesen entstand sind.
In der Barocken Affektenlehre werden in Stücken die Gefühle des Komponisten
sowie die des Interpreten dargestellt und dabei sind die Entstehungszeit und
ihre Umstände auf jeden Fall von Bedeutung. So könnte die in der fünften Suite
ausgedrückte Verzweiflung in Zusammenhang mit dem Tod seine erste Ehefrau
Maria Barbara Bach5 stehen, obwohl dies natürlich nicht nachweisbar ist. Ob
nun die Violin- oder Violoncellosuiten zuerst entstanden sind, ist bis heute
ungeklärt. Es wird allerdings vermutet, dass die Violinpartiten zuerst waren, da
sie im BWV zuerst aufscheinen (1001-1006). Der Titel der Violinpartiten, „Sei
solo e Violino senza Basso accompagnato. Libro Primo. da Johann Sebastian
Bach. ao. 1720.“, lässt darauf schliessen, dass es sich bei den Violoncellosuiten
um einen zweiten Band handelt. In der Abschrift seiner zweiten Ehefrau Anna
Magdalena Bachs6 finden sich Violoncello- und Violinpartiten in einem Einband,
mit dem Titel: „Pars 1. Violino Solo. Senza Basso. Composée par Sr. Joh. Seb.
Bach. Pars 2. Violoncello Solo. Senza Basso. composée par Sr. J. S. Bach.
Maitre de la Capelle et Directeur de la Musique a Leipsic.”
“6 Suites a Violoncello Solo senza Basso, compose Par Sr. J. S. Bach, Maître
de Chapelle” steht stolz und selbstbewußt über der Abschrift der 6 Violoncello-
5
Maria Barbara Bach, (1684 - 1720 in Köthen) war die Tochter von Johann Michael Bach, eine
Cousine zweiten Grades und die erste Ehefrau von Johann Sebastian Bach
6
Anna Magdalena Bach (1701-1760, zweite Ehefrau Johann Sebastian Bachs
3
Suiten, die – soviel ist sicher – in Köthen entstanden sind. Dieses kleine
Fürstentum engagierte den Virtuosen und Komponoisten 1717, obwohl er noch
nicht einmal der Dienst im weit größeren Weimar quittiert hatte. Dort ist auch
die Geburtsstätte ausser den 6 Sonaten und Partiten für Violine (BWV 10011006), die Geburtsstätte der Partita für Soloflöte in a-Moll (BWV 1013), die 6
Violin-, die 3 Gamben- und die 2 Flötensonaten, jeweils mit obligatem Cembalo
(BWV 1014-1019, 1027-1029, 1030 und 1032) und zumindest von 5 der 6
Brandenburgischen Konzerte. Alle anderen Werke, die der Zeit zugeschrieben
werden, sind nach wie vor nicht mit absoluter Sicherheit zu datieren.
Diese Suiten für Violoncello solo, Bachwerkeverzeichnis (BWV) 1007-1012, von
Johann Sebastian Bach (1685-1750) sind heute ein absolut fixer Bestandteil
des Repertoires für Violoncello.
Diese Arbeiten sind von besonderer Bedeutung in der Geschichte der
Streichinstrumente: Weil, in der Zeit der J. S. Bachs die Aufgaben des Bassund Tenor Register hauptsächlich von den Instrumenten der Gamben-Familie
ausgeführt wurden, in diesen Suiten, wie in Teilen der Brandenburgischen
Konzerte wird dieser Part vom Cello allein gespielt. Bach bevorzugte also in
diesen Werken das Cello und verdrängte damit die Viola da Gamba, obwohl
Prinz Leopold von Anhalt-Köthen7 ein begeisterter ein Gambist war und auch
7
Leopold von Anhalt-Köthen (1694-1728), war regierender Fürst von Anhalt-Köthen aus dem
Hause der Askanier. Er ist als Förderer und lebenslanger Freund Johann Sebastian Bachs
4
Werke von Bach gespielt hatte, und ihn diese Tatsache eigentlich zu Werken
für diese Instrument hätte motivieren sollen.
In Bachs Zeit in Köthen (1717-1723), in der er einen großen Teil seiner
weltlichen Werke komponierte, entstanden neben den Violoncello- und
Violinpartiten ohne Generalbassbegleitung auch mindestens fünf der sechs
Brandenburgischen Konzerte, die Partita für Soloflöte in a-moll, vier
Ouvertüren/Orchestersuiten, drei Violinkonzerte sowie drei Gamben- und zwei
Flötensonaten mit obligatem Cembalo. Weiters begann Johann Sebstian Bach
bereits mit der Arbeit an seiner Johannespassion.
Über die Aufführungspraktiken der Cellosuiten ist relativ wenig bekannt. Dies
liegt zum Teil in der Tatsache begründet, dass Bachs Autograph verloren
gegangen ist. Die Abschrift Anna Magdalena Bachs8, die zwischen 1727 und
1731 entstanden sein dürfte, zählt neben der des Bach-Schülers und Freundes
Johann Peter Kellner 9 (1726) zu den frühesten. Außerdem existieren heute
noch zwei anonmye Abschriften (Mitte des 18. Jahrhunderts) wobei die
letzteren
schon
Artikulations-
und
reichlich
mit
Verziehrungen,
Dynamikbezeichnungen
zusätzlichen
versehen
sind,
Akkorden,
die
jedoch
höchstwahrscheinlich nicht von Bach selbst stammen. Nicht zu vergessen ist
aber dabei, dass der damalige Interpret mit den Regeln der Ausführung der
8
heute in der Staatsbibliothek Berlin zu finden
9
Kellner, Johann Peter (1705-1772), Freund und Schüler Bachs
5
Barockmusik vertraut war. Tempo, Dynamik und Artikulation sind selten
angegeben. Nachdem die Bachsuiten ziemlich bald „wiederentdeckt“ worden
waren (erste Drucke 1825/26), wurden sie im 19. Jahrhundert als Kuriosität
behandelt und als Etüden „missbraucht“, wovon zeitgenössische Ausgaben wie
z. B. jene von Hugo Becker 10 auf Grund der Angaben über Tempo und
Fingersätze zeugen. Da für die Musiker im 19 Jahrhundert Werke für ein
Streichinstrument ohne Begleitung offenbar zu langweilig waren, haben einige
romantische Komponisten für diese Werke für Cello und auch Violine
Klavierbegleitungen verfasst, z. B. Robert Schumann 11 , Felix Mendelssohn
Bartholdy12,
Alfredo Piatti13.
Die meisten virtousen Cellisten ab dem Beginn des 20 Jahrhundert, darunter
auch
Julius Klengel14, Paul Tortelier15, Pablo Casals16, Enrico Mainardi17 und
10
Becker, Hugo (1864-1941), ein deutscher Cellist, Cellolehrer und Komponist
11
Schumann, Robert (1810-1856), ein deutscher Komponist, Musikkritiker und Dirigent
12
Felix Mendelssohn Bartholdy (Jakob Ludwig Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847)),
ein deutscherKomponist, Pianist und Organist
13
Piatti, Alfredo (1822-1901), ein italienischer Cellovirtuose und Komponist.
14
Klengel, Julius (1859-1933), deutscher Cellist Ausgabe: Johann Sebastian Bach: Sechs
Sonten (Suiten) für Violoncello solo. Für den praktischen Gebrauch gerichtet von Julius
Klengel, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1900
15
Tortelier, Paul (1914-1990), französischer Cellist Ausgabe: Bach. Six Suites Solo cello, Neu
herausgegeben mit einer analytischen Verrede von Paul Tortellier, Augener’s Edition
No.6629, London: Galliard Limited, New York: Galaxy Music Cooperation, 1966
16
Pablo Casals (1876-1973),aus Spanien, in katalanische Namensform “Pau Casals i Defilló”,
international auch in kastilischer Form als Pablo Casals bekannt, wurde vor allem als Cellist
weltberühmt, wirkte aber auch als Komponist und Dirigent
17
Mainardi, Enrico (1897-1976), ein italienischer Cellist, Komponist und Dirigent
6
Pierre Fournier18 gaben Ausgaben mit ihren Interpretationen heraus.
Der ertste, der die Artikulationszeichen in der Abschrift Anna Magdalena Bachs
im Bewusstsein der barocken Spieltechniken auslegte, war August Wenzinger19
Begründer der „Schola Cantorum“ 20 in Basel. Er vertrat vor allem folgende
Ideen:
- Bindungen stehen in engem Zusammenhang zur Bogeneinteilung (Abstrich
auf Betonungen)
- Bei wiederkehrenden Figuren wird die gleiche Artikulation verwendet.
- Sekunden werden legato gespielt, große Intervalle getrennt (tenuto bis
staccato).
- Meist wird der Détaché-Strich abgewandt, Bindungen sind Hervorhebungen
einzelner Teil der Melodie.
Dass die Bach’shen Cellosuiten sowohl im Violoncellorepetoire als auch in den
Werken Bachs eine besondere Stellung einnehmen, liegt einerseits sicher in
18
Fournier, Pierre (1906-1986), französischer Cellist Ausgabe: Bach, J.S.: Six Suites for Cello
solo (Pierre Fournier), New York City: International Music Company, 1927
19
Wenzinger, August (1905-1996), schweizer Dirigent, Cellist und Lehrer Ausgabe: Johann
Sebastian Bach: Sechs Suiten für Violoncello solo BWV 1007-1012, herausgegeben von
August Wenzinger, Kassel-Basel-Tours-London: Bärenreiter (Bärenreiter No.320), 1950
20
Die Schola cantorum (lateinisch für „Sängerschule“) war ein berufsmäßiger Chor am
päpstlichen Hof zur Zeit des Mittelalters
7
der Tatsache begründet, dass das Cello in der Barockzeit hauptsächlich als
Generalbassinstrument diente und daher eher vernachlässigt wurde. Hier bilden
Vivaldis21 18 Konzerte und acht Cellosonaten eine Ausnahme. Aber auch diese
weisen hauptsächlich niedrigen Schwierigkeitsgrad auf. Ein Werk, das solch
hohe technische Anforderungen an einen Cellisten stellt, ist in der Barockzeit
einzigartig.
Johann Joachim Quantz22 schreibt bezüglich des Violoncellos: „Das Solospiel
ist auf diesem Instrument eben nicht eine so gar leichte Sache. Wer sich
hierinne hervorthun will, der muss von der Natur mit solchen Fingern versehen,
die lang sind und starke Nerven haben um weit auseinander greifen zu
können. ...“23 (sic) Dies erklärt zum einen die am Cello noch fehlende Technik
(Überstreckung wegen fehlender Daumenaufsatz- oder Lagenwechseltechnik),
zum anderen, dass virtuoses Spiel der Geige vorbehalten war.
Cellisten versuchten, die Technik der Violine nachzunahmen, die sich sehr
rasch herausgebildet hatte. Aber auch der Einfluss der Viola da Gamba war
groß, da die ersten Cellisten meist auch dieses Instrument beherrschten.
Heute wird allgemein angenommen, dass die Cellosuiten für einen der beiden
21
Vivaldi, Antonio (1680-1743), italienischer Geiger und Komponist
22
Quantz, Johann Joachim (1697-1773), deutscher Komponist und Flötist
23
Fuchs, Ingrid : Die sechs Suiten für Violoncello solo (BWV 1007-1012) von J. S. Bach. Ein
Beitrag zur historischen Stellung, Aufführungspraxis und Editionsgeschichte. Diss. Wien 1980,
S.292: J. J. Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen
8
Hofcellisten in Köthen, Christian Bernhard Linigke oder Christian Friedrich Abel
(eigentlich Gambist), komponiert und auch von diesen uraufgeführt wurden.
Doch erst durch Pablo Casals erlangten die Suiten schließlich die Bedeutung,
die sie heute haben: Sie sind fixer Bestandteil des Cellorepetoires, werden
regelmäßig in Konzerten gespielt und bei Diplomprüfungen verlangt. Weiters
existieren
zahlreiche
Einspielungen,
teilweise
mit
Barockcelli
oder
nachgebauten Intrumenten, da gerade heute wieder Wert auf Authentizität
gelegt wird. Aber auch auf dem modernen Violoncello gehören sie zum
allegemeinen Repertoire. Der Tradition entsprechend werden, sie immer
auswendig vorgetragen.
2. Erklärlung der barocken Instrumente, Bögen, Spieltechniken und
Interpretationen am Beispiel der Cellosuiten
2. 1. Die geschichte des Barockcellos
Das Violoncello gehört zur Viola-da-Braccio-Familie, einer Gattung von
Streichinstrumenten, die sich im 15. und 16. Jahrhundert parallel zu den
Gamben entwickelt hat.
Die Viola da Gamba erschien am Ende des 15. Jahrhunderts in Italien als
9
Ensembleinstrument mit fünf bzw. sechs oder auch sieben Saiten. Dieses
Instrument zählte vom 16. bis etwa zur Mitte 18. Jahrhunderts zu den
beliebtesten und am meisten verbreitetsten Instrumenten. Das solistische
Gambenspiel war weitgehend durch Improvisation geprägt. Ein besonderes
Augenmerk erhielt das Diminutionsspiel (Vermerkung von Notenwerten bzw.
eine Art der Verziehung, die mit Verkleinerung des Zeitwerts der Noten
arbeitet) 24 . Unter den Interpreten auf der Viola da Gamba gab es echte
Virtousen, Hauptrepräsentant der solistischen französischen Gambenmusik war
Marin Marais25 (1656-1728).
In Abbildung 1 sind die Unterschiede zwischen Viola da Gamba und Cello zu
sehen.
Das Violoncello wurde in der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert entwickelt,
ungefähr zur gleichen Zeit wie die Violinen. Die Instrumente dieser Zeit tragen
noch nicht die Bezeichnung „Violoncello“.
24
Pfandner, Inge : Zur Aufführungspraxis der sechs Suiten für Violoncello von J. S. Bach,
Schriftliche Prüfungsarbeit, Graz, 1991, S.15
25
Marais, Marin (1656-1728), ein französischer Gambist und Komponist
10
Abbildung 1: Ähnlichkeit von Viola da Gamba und Violoncello
Um 1640 gab es verschiedene Bezeichnungen für das Cello bezeichnet:
„Violoncino“, „Violonzino“, „Violonzelo“ und „Violoncello“. Die früheste bekannte
Erwähnung des Namens „Violoncello“ findet sich bei Giulio Cesare Arresti für
seine Sonate (1665). Die letzte Form setzte sich bekanntlich durch und wurde
der Name, unter dem das Instrument heute bekannt ist. Die Kurzform
„Cello“ tritt schon 1765 auf.
Besonders in der älteren Literatur findet sich häufig die Annahme, dass das
Violoncello aus der Viola da Gamba hervorausgegangen sei. Tatsächlich
handelt es sich aber um zwei nebeneinander verlaufende und nicht zwei
einander folgende Entwicklungswege. Das Violoncello gehört eindeutig zur
Viola da Braccio-Familie und weist in bautechnischer Hinsicht keinerlei
Verwandtschaft mit der Viola da Gamba auf. Die Gambe entwickelte sich
anscheinend aus der Mekka-Laute.
11
Bekannte Geigenbauer des 16. Jahrhunderts, die bereits solche Instrumente
anfertigten, sind u. a. Andrea Amati 26 (ca.1505-1577), Gasparo da Salo 27
(1540-1609) und Giovanni Paolo Maggini28 (1580-1632). Im 17. Jahrhundert ist
Antonio Stradivari 29 (ca.1644-1737) hervorzuheben, der den Schallkörper
etwas verkleinerte und so die bis heute gültigen Maße festlegte, aber auch
beispielsweise Domenico Montagnana30 (1686-1750).
Schon vom 16. bis zum 18. Jahrhundert wurde das Violoncello von einigen
Musikern im Stehen gespielt. Im Boden von alten Instrumenten findet man
mitunter in der Nähe des Halses zwei kleine Löcher, durch die vermutlich eine
Schnur gezogen und dann mit einem Tragegurt um die Schulter verbunden
wurde. Dieses ermöglichte einigen Musikern, auch im Stehen und Gehen zu
spielen.31
Um 1700 sind auch fünfsaitige Violoncelli in der Stimmung „F“- „C“- „G“- „d“„a“ entstanden. Auch J. S. Bach komponierte seine Sechste Suite für
26
Andrea Amati (ca.1505-1577), der Stammvater des Geigenbaus in dieser norditalienischen
Stadt und der Begründer der Amati-Dynastie, in Cremona
27
Gasparo da Salo, auch Gasparo Bertolotti (1540-1542), ein italienischer Geigenbauer und
Kontrabassist
28
Giovanni Paolo Maggini (1580-1632), ein italienischer Geigenbauer, in Brescia
29
Antonio Stradivari (ca.1644-1737), ein italienischer Geigenbaumeister, in Cremona, Er wird
von vielen als der beste Geigenbauer der Geschichte angesehen
30
Domenico Montagnana (1686-1750), ein venezianischer Geigenbauer, in Venedig
31
Lustig, Monika: Geschichte, Bauweise und Spieltechnik der tiefen Streichinstrumenten,
Michaelsteiner Konferenzberichte, Stiftung Kloster Michaelstein, 2004
12
Violoncello solo in D-Dur (BWV 1012) für ein Violoncello mit einer fünften Saite,
auf „e“ gestimmt. Solche Instrumente werden heute Violoncello piccolo genannt,
ein Begriff, der historisch jedoch fragwürdig ist.
2.1.1. – 17. Jahrhundert32
Das Cello im 17. Jahrhundert wurde zwar weiterhin bei denselben Anlässen wie
schon im 16. Jahrhundert benutzt, nämlich in der Kirche und zum Tanz. In
Nordeuropa, ganz besonders in Frankreich, blieb jedoch die Gambe bis weit ins
18. Jahrhundert hinein das beliebteste Instrument. In der pariser Oper noch bis
weit ins 19. Jahrhundert. Am Ende des 17. Jahrhundert beschränkten sich dann
die Edelleute nicht mehr auf die Gambe, sondern machten das Cello zum
Mittelpunkt ihrer musikalischen Unterhaltungen.
Im
17.
Jahrhundert
nahm
das
Violoncello
die
wichtige
Rolle
des
„Generallbasses“ (zusammen mit Kotrabass, Laute, Cembalo und Orgel) ein.
Erste Solomusik für das Violoncello gibt es von Giovanni Battista Vitali33 (16321692) und Domenico Gabrielli34 (1651-1690). Domenico Gabrielli schrieb das
„Ricercar per Violoncello solo“, umfassend sieben Ricercare für unbegleitetes
32
Pleeth, William: „Das Cello“ Yehudi Menuhins Musikführer, Unterägeri (Zug), 1985, S. 276
33
Giovanni Battista Vitali (1632-1692), ein italienischer Komponist und Kapellmeister des
Barocks, in Bologna
34
Domenico Gabrielli (1651-1690), ein italienischer Cellist und Komponist des Barock
13
Violoncello.
Ricercar Nr.3:
Er verwendet in seinen Werken Doppelgriffe und gelegentlich auch drei- bis
vierstimmige Akkorde. Ricercar No.7:
2.1. 2 - 18. Jahrhundert
Das Cello ersetzte schließlich die Gambe sowohl im Ensemble- wie auch im
Solospiel. Im späten 17. und im ganzen 18. Jahrhundert bezeichnete der Begriff
„Solo“ gewöhnlich eine Komposition für ein Melodieinstrument mit Begleitung
eines Generalbasses, wie Cembalo, Fagott, Cello oder Gambe. Beginn des 18.
Jahrhundert nahmen das Cello und die Geige die führende Stellung als
Soloinstrumente ein35. Schon um 1680 hatten Komponisten die Möglichkeit des
Cello als Soloinstrument erkannt.
35
Pleeth, William: „Das Cello“ Yehudi Menuhins Musikführer, Unterägeri (Zug.), 1985, S.294
14
Die Kompositionen von Domenico Gabrielli, Giovanni Battista, Domenico Galli
und Guiseppe Colombi stellen bereits schöne Beispiele der Musik für
Violoncello solo dar. Auch wurden 27 Cellokonzerte und 8 Sonaten von Antonio
Vivaldi (1678-1741) und 40 Cellosonaten und 12 Cellokonzerte von Luigi
Boccherini (1743-1805) geschrieben.
Vivaldi, Sonata für Cello mit Continuo Nr.3
Aber das Vollendeteste, was für Cello solo je geschrieben wurde, sind die
15
sechs Solosuiten, die dem Cello von J. S. Bach (1685-1750) um 1720 gewidmet
wurden.
2. 2. Der Aufbau und das Klangideal des Barockcellos
Tatsächlich sind die technischen Unterschiede gering oder sogar vor dem Auge
des Betrachters verborgen: das Barockcello hat ein kürzeres und leichteres
Griffbrertt aus Weichholz, eine etwas geringere Halsneigung und ist mit
Darmsaiten anstelle der heute üblichen Stahlsaiten bezogen. Beim modernen
Cello wurde Halsneigung vergrößert und es erhielt einen höheren Steg. Damit
wurde erreicht, dass sich der Druck auf die Decke des Cellos erhöhte, die
Saitenspannung wurde vergrößert, wodurch die Schallabstrahlung intensiver
wurde. Im inneren befinden sich ein etwas schlankerer, kürzerer Bassbalken
sowie ein dünnerer Stimmstock.
Die Form und Wölbung des Steges unterscheidet sich im 17. und 18.
Jahrhundert sehr von der heutigen. Ein Barocksteg konnte recht flach sein um
die Akkordbrechungen dem Generalbassspieler zu erleichtern.
Gegen Ende des 18. Jh. änderte sich die Form des Steges um dem klassischen
Klangideal zu entsprechen. Dadurch bekam der Klang größere Klarheit.
Für das Barockcello verwendete der Cellist reine Darmsaiten. Die Stimmung im
Allgemeinen war tiefer als heute, das „a“ lag ca. bei 415 Hz gegenüber dem
16
heutigen „a“ = 440 Hz. Es gab keinen Stachel: Die Cellisten hielten ihr
Instrument mit den Beinen, oder wie man auf zeitgenössischen Abbildungen
sieht, stellten es auf eine Schemel . Es gab natürlich Ausnahmen, aber diese
Beispiele sind selten. Der Vorteil: Wenn das Cello senkrechter gehalten wird,
besitzt die linke Hand größere Freiheit und Beweglichkeit, was beim schnellen
Passagenwerk in der Musik des 18. Jahrhundert sehr vorteilhaft ist. Der Stachel
wurde im Orchester ab etwa 1820 zunehmend verwendet: Solisten spielten
jedoch häufig noch bis
gegen ende des Jahrhundert „Stachelfrei“. Die
Stimmung „C“, „G“, „d“, „a“ wurde erst ab ca. 1715 eingeführt.
2. 3. Barockbogen36
Der Klang eines barocken Streicherinstrumentes hängt natürlich eng mit dem
Barockbogen zusammen, der sich vom heutigen Bogen enorm unterscheidet.
Die Wölbung des Barockbogens entspricht der Wölbung des Barocksteges
wodurch der Bogen die Saiten auf ganz natürliche Weise berührt. Diese
Tendenz wird noch dadurch verstärkt, dass die Bogenhaare im Vergleich zum
modernen
Bogen
weniger
Spannung
besassen
und
diese
Spannung
ungleichmäßiger verteilt war. Will man eine Melodielinie gestalten, muss mit
relativ leichtem Strich die Resonanz im Instrument erweckt werden, also der
Ton aus dem Instrument herausgezogen werden. Nicht wie bei dem modernen
Cellobogen bei dem die Haare übereinen fix montierten Frosch gespannt
36
Pleeth, William: „Das Cello“ Yehudi Menuhins Musikführer, Unterägeri (Zug), 1985, S.306
17
werden. Oder beim „Steckfrosch“ (Abbildung 2) der wie ein Keil als eigener
unabhängiger Teil zwischen Bogenhaare und Bogenstange geschoben und an
der gewünschten Stelle an der Stange fixiert wurde. Die Bagenhaare werden
mit der rechten Hand nach Belieben fester oder lockerer gespannt. Die
Schraubmechanik am „Frosch“ kannte man im Barock noch nicht, sie wurde
erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts erfunden. In Abbildung 3 ist die Wandlung
vom nach außen gewölbten Barockbogen über die Übergangsbögen von etwa
1700 bis zum modernen Bogen gut erkennbar.
Abbildung 2: Steckfrosch
18
Abbildung 3: Die Wandlung des Bogens
Der Bogen, der in seiner heutigen Form erst ab etwa 1700 (Violinbögen)
existiert, wurde anders gehalten und hatte sicher eine beachtliche Auswirkung
auf das Spiel der Akkorde. Das wichtigste Merkmal des Bogens zur Bachszeit
war, dass dieser nicht wie heute eine konkave, sondern eine konvexe
Bogenstange besaß (unter Umständen schon eine gerade)37. Dies wirkt sich
37
http://www.bach-bogen.de/blog/thecelloupgrade/ 19.Nov.2016 (Datum des letzten zugriffs)
19
natürlich auf den Klang und Akkordspiel beträchtlich aus (Zitat Klaus MARX):
„Durch den Druck, den die Hand auf die Bogenstange ausübt, nähert sich diese
den auf der Saite liegenden Harren. Das geschieht so, daß sich die Stange
stärker in der schon begonnen Richtung krümmt, wodurch die Strecke zwischen
beiden Bogenenden verkürzt und so die Spannung der Bogenhaare geringer
wird. Die Haare können auf diese Weise in die Richtung der Stange
ausweichen, wobei sie an der Stelle, wo sie die Saite berühren, einen leichten
Knick bekommen.
[Beim heutigen konkaven Bogen] Auch hier nähert sich die Bogenstange durch
den Druck der Hand den Haaren, indem sie sich stärker in die schon
begonnene Richtung krümmt. Dadurch werden jedoch die Hebel an den
Stangenenden, die als Spitze und Frosch ausgebildet sind, nach außen
gedrückt, die Entfernung der beiden Bogenenden und also auch die Spannung
der Bogenhaare wird vergrößert.“ 38 Durch diesen Bogen war es einerseits
möglich, Akkorde weicher zu spielen und sie so besser in den Gesamtklang
einzufügen, andererseits war die dadurch hervorgerufene Klangfarbe mit
Sicherheit nicht so satt und laut, wie die eines modernen Cellos. Weiters war
mit diesen Bögen kein Staccto oder Spiccato im heutigen Sinne möglich.
38
Fuchs, Ingrid: Diss. Wien, 1980, S.313: Zitat K. MARX: Die Entwicklung des Violoncellos und
seiner Spieltechnik bis J. L. Duport (1520-1820) S.171: Unterschiede beim Bogen
20
2. 4. Die Bogenhaltung
Die Art der Bogenhaltung steht mit der Tonqualität in direktem Zusammenhang.
Die Bogenhaltung stand also zunächst in enger Abhängigkeit von der
Haltung
des Instruments. Bei waagrechter Saitenlange (Violinhaltung) ergibt sich durch
das Gewicht des rechten Armes, dass der Musiker den Bogen im Obergriffe hält.
In Italien und Deutschland wurde in der zweiten Hälfte des 17. Jh. das
Bassinstrument noch häufig mit Untergriff gespielt wie bei der Viola da Gamba.
Von der Bogenhaltung hängt die jeweilige Richtung des betonten und des
unbetonten Striches ab. Der betonte Strich verläuft bei Bogenhaltung im
Untergriff von der Spitze zum Frosch (Aufstrich) und ber der Bogenhaltung im
Obergriff von Frosch zur Spitze (Abstrich). Zu Beginn des 18. Jh. setze sich der
Obergriff überall durch, doch gab es noch Cellisten, die den Untergriff
bevorzugten. Der Bogen wurde demnach, außer beim Untergriff, nicht direkt am
Frosch gehalten, sondern mehr oder weniger weit davon mehr zur Mitte entfernt
(italienische Haltung). So war es rein technisch nicht möglich, die ganze
Bogenlänger zu verwenden. Erst ab der Mitte 18. Jh. wurde immer mehr der
ganze Bogen zum Streichen verwendet bei der französischen Bogenhaltung
wurde beim Spiel der Bogen direkt am Frosch gefasst, wobei der kleine Finger
ganz am Stangenende neben diese gesetzt wurde und mit dem Daumen von
unten ganz nahe dem Frosch gegen die Haare gedrückt werden konnte,
21
wodurch eine feinere Spannungsregulierung möglich war.39 Michel Corette40
deutet in seinen Anweisungen darauf hin, dass überhaupt nur mit dem Mittelteil
des Bogens gestrichen wurde. In seiner Celloschule beschreibt Corette drei
Arten der Bogenhaltung.
Abbildung 4: Bogenhaltung nach Corrette
1: 2.- 5. Finger auf dem Holz bei ABCD, Daumen unter dem 3. Finger bei E
2: 3. und 4. Finger auf dem Holz bei ABC, Daumen auf die Haare bei F, der
kleine Finger bei G an das Holz gelegt
3: 3. Und 4. Finger bei HIK an der Seite des Froschs, Daumen unter die Haare
bei L, der kleine Finger seitlich des Holzes bei M
Die Frage, mit welcher Bogenhaltung zur Zeit Bachs gespielt wurde, ist
schwierig zu beantworten, da es sich bezüglich Spieltechnik und Instrument um
eine Umstellungsperiode handelt, in der sowohl noch Untergriff als auch
39
Fuchs, Ingrid: Die sechs Suiten für Violoncello solo von J. S. Bach, Dissertation, Wien,
Oktober 1980, S.316
40
Corette, Michel: Methode, theorique et pratique. Pour Apprende en peu de tems le
Violoncelle dans sa perfection, Paris, 1741, S.8
22
Obergriff verwendet wurden.
Was das Akkordspiel ebenfalls stark beeinflusste, war der Steg, der vor allem
für das Generallbassspiel. Flacher konzipiert war und so Akkorde leichter und
weicher gespielt werden konnten.
Abbildung 5: Barocksteg und klassischer Steg
2. 5. Viola pomposa und Violoncello piccolo41
Viele Geheimnisse ranken sich um die Cellosuiten von J. S. Bach. Man weiß bis
heute nicht genau, wann sie komponiert wurden, aber wie ich schon
geschrieben hatte, vermutlich zwischen 1720 und 1723 in Köthen. Es existiert
auch keine Urschrift von Bach selbst. Über die Aufführungspraktiken der
Cellosuiten ist relativ wenig bekannt. Die Abschrift Anna Magdalena Bachs, die
zwischen 1727 und 1731 entstanden sein dürfte, zählt neben der des Bach-
41
Marx, Klaus: Die Entwicklung des Violoncells und seiner Spieltechnik bis J. L. Duport
(1520-1820), Gustav Bosse Verlag, Regensburg 1963, S. 52
23
Schülers und Freundes Johann Peter Kellner (1726) zu den frühsten.42
Die sechste Suite gibt noch ein weiteres Rätsel auf. Hier verlangt Bach nach
einem fünfsaitigen Instrument, das eine zusätzliche, eine Qunite über der ASaite liegende „e“ Saite besitzen soll.
Was genau das für ein Instrument war, hat endlose Debatten ausgelöst. Efrati43
glaubt, dass der Abschrift Anna Magdalena Bachs eine Fassung für ein
kleineres Instrument als das Violoncello als Vorlage diente. Er begründete seine
Meinung damit, dass in der Abschrift Anna Magdalena Bachs die Akkorde
fehlen und die Unterstimme stellenweise unterbrochen zu sein scheint. Eine
andere These vertreten Wasielewski44 und Philipp Spitta45. Sie meinen, dass
die letzte Solosuite für die Viola Pomposa gedacht war. Bach konstruierte sie
wärend seiner Zeit in Köthen. Sie hatten einen fünfsaitigen Bezug mit der
Stimmung „C“, „G“, „d“, „a“ und „e“. Es wird aber dabei außer Acht gelassen,
dass die meisten „Pomposen“ aus Bachs in Leipziger Zeit eine Zargenhöhe von
etwa 8 cm haben und deswegen die hohen Lagen der sechsten Suite auf einem
solchen Instrument unausführbar sind. Bach hat selbst niemals in seinen
42
http://www.elisabethragl.at/Aktivitaeten%20K.O.-L.L/2004%20-%20FBA%20BachCellosuiten%20von%Burghild%20Mayr.pdf
43
Efrati, Richard: Die Interpretation der Sonaten für Violine solo und der Suiten für Violoncello
solo. Atlantis Musikbuch, Zürich 1979, S. 7.
44
Wasielewski, Wilh. Jos. v.: Das Violoncello und seine Geschichte. zweite Auflage. Breitkopf
und Härtel, Leipzig 1911, S. 31.
45
Spitta, Julius August Philipp (1841-1894), ein Musikwissenschaftler und Bachbiograph.
24
Werken ein Instrument als Viola Pomposa bezeichnet. Dagegen wird in
Kantaten der gleicher Zeit in Leipzig ein Violoncello piccolo verlangt 46 . Der
Begriff Violoncello Piccolo findet sich erstmals ab 1724 in Abschriften von
sieben Kantaten von Johann Sebstian Bach als Soloinstrument jeweils einer
Arie der Kantate. Das Violoncello Piccolo hat eine kleinere Mensur und kürzere
Saiten, die vermutlich etwas weniger angespannt waren, wie die dünneren
moderenen Saiten. Marx 47 stellt folgendes gegenüber: Die sechs Solosuite
umfasst den Umfang von „C“ bis „G“. Das bedeutet, dass selbst auf einem
fünfsaitigen
Instrument
mit
der
höchsten
Saite
„e“
das Werk
ohne
Daumenaufsatz nicht gespielt werden kann. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür,
dass um 1720 in Deutschland der Daumenaufsatz bereits bekannt war 48 .
Abbildung 6: Gegenüberstellung von Barockcello und Violoncello piccolo
46
Pfandner, Inge: Zur Aufführungspraxis der sechs Suiten für Violoncello von J. S. Bach,
Schriftliche Prüfungsarbeit, Graz, 1991, S. 25
47
Marx, Klaus: Die Entwicklung des Violoncells und seiner Spieltechnik bis J. L. Duport (15201820), Gustav Bosse Verlag, Regensburg 1963, S. 53
48
Pfandner, Inge: Zur Aufführungspraxis der sechs Suiten für Violoncello von J. S. Bach,
Schriftliche Prüfungsarbeit, Graz, 1991
25
Abbildung 7: Vergleich von Viola Pomposa und Violoncello Piccolo
2. 6. Spieltechnik und Spielpraxis in der Bach-Zeit
Bei der Interpretation der Cellosuiten müssen neben barocken Regeln und
Aufführungspraktiken, die hier zumindestens ansatzweise Erwärnung finden
sollen, auch die Instrumente und der noch barocke Bogen berücksichtigt
werden. Das Violoncello entwickelt sich nicht, wie oftmals fälschlich
angenommen, aus der Viola da Gamba (Bein- bzw. Kniefidel), sondern aus der
Viola
da
braccio
(Armfidel),
die
sich
aus
den
mittelalterlichen
26
Streichinstrumenten Fidel und Rebec gebildet hat, während die Viola da gamba
von der Mekka-Laute abstammt. Ein Zusammenhang besteht aber insofern, als
dass die ersten Cellisten, Viola da Gamba- Spieler war.
Wichtig ist, nicht zu vergessen, dass nicht nur die Bauweise, sondern auch die
Klangfarbe barocker Instrumente eine ganz anders war. Dies lag nicht nur an
den Instrumenten an sich, sondern auch in der tieferen Stimmung (zu Bachs
Zeiten lag der Kammerton „a“ bei 415.3Hz, was im Vergleich zu unserer
heutigen Stimmung ca. einen Halbenton tiefer bedeutet) und im leichteren,
dünneren Bogen begründet, der einer gewissen Transparenz förderlich war.
Ausserdem verwendete man Darmsaiten. Somit war der Klang dunkler und
weicher mit weniger hervorstehenden leeren Saiten. Daraus lassen sich auch
einfache Fingersätze unter häufiger Verwendung der leeren Saiten erklären.
Weiters muss man bedenken, dass die Suiten nicht für den großen Konzertsaal
komponiert, sondern als Kammermusik verstanden wurden.
Was die Spieltechnik betrifft, ist zu ergänzen, dass diese wohl noch nicht
besonders ausgezeichnet war:
Dies bedeutet: kein Daumenaufsatz, viele leere Saiten (deren lägerer
Nachklang manchmal zur Andeutung der Polyphonie sogar erwünscht
gewessen sein dürfte), bei Lagerwechseln wurden mehrere kleine einem
27
großen vorgezogen.
Vibrato war in seiner heutigen Form nicht bekannt, zur Zeit Bachs unter
Bezeichnungen wie tremolo/tremblement bekannt und war somit mehr ein
Ausdrucks- und Verzierungsmittelist. Es wurde meist nur auf längere Noten und
in
Verbindung
mit
einer
Nuancierung
des
Bogenstrichs
angewendet.
Gelegentlich diente das „Wackeln“ (laut Leopold Mozart (1719-1818)) zur
Betonung bei längeren Noten. Noch im 18. Jh. zählte das Vibrato zu den
Verzierungen,
das
nur
an
bestimmten
Stellen
und
für
Ausdruckswirkungen eingesetzt wurde. Tartini schreibt dazu
besondere
49 ;
„Diese
Verzierung verleiht dem Schlusston einer musikalischen Phrase eine sehr gute
Wirkung, wenn dieser lang ist.“ So schreibt Mozart über Vibrato: „Weil nur der
Tremulo nicht rein in einem Tone, sondern schwebend klingelt, so würde man
eben darum fehlen, wenn man jede Note mit dem Tremolo abspielen wollte. Es
gibt schon solche Spieler, die bei jeder Note beständig zittern, als wenn sid das
immerwährende Fieber hätten. Man muss der Tremulo nur an solchen Orten
anbringen, wo ihn die Natur selbst hervor bringen würde.“
50
Interessant ist
natürlich auch die Frage nach dem richtigen Tempo das nur Vage durch die
49
Veilhan, Jean-Claude: Die Musik des Barock und ihre Regeln (17.-18. Jahrhundert), Paris
1977
50
Fuchs, Ingrid: Die sechs Suiten für Violoncello solo von J. S. Bach, Dissertation, Wien,
Oktober 1980, S. 627
28
Bezeichnung der Tanzsätze angegeben wird. Forkel51 schreibt dazu : „Bey der
Ausführung seiner eigenen Stücke nahm er gewöhnlich das Tempo sehr lebhaft,
wußte aber außer dieser Lebhaftigkeit noch so viele Mannigfaltigkeit in seinen
Vortrag zu bringen, daß jedes Stück unter seiner Hand gleichem wie eine Rede
sprach.“52 (sic.) In diesem Zitat wird klar, dass es kein Tempo gibt, das einzig
und allein richtig ist. Vielmehr steht das Tempo im Dienste des Ausdrucks, der
weder durch zu langsames Tempo (subjektives Spiel) noch durch zu schnelles
(Betonung der Virtousität) leiden darf. So schreibt z. B. Leopold Mozart in seiner
Violinschule53: „Der Schüler muss sich sonderbar befleißen, alles, was er spielt
in dem nähmlichen Tempo zu enden, in welchem er es angefangen hat “.
Quantz54 schreibt: „Bei der Wiederholung der beiden Teile der Tänze, sollte
besonders jene des zweiten Teiles eine Spur schneller genommen werden,
sodass ein lebhafteres und ein neues oder fremdes Ansehen, welches die
Zuhörer in eine neue Aufmerksamkeit versetzen, zustanden kommt“. In den
Suiten geben die Namen der Tanzsätze zwar eine ungefähre Vorstellung vom
Tempo, aber im Laufe der Zeit haben auch sie ihre Charakter und somit auch
die Geschwindigkeit der Ausführung geändert. Jeder Tanzsatz hat seine
51
Forkel, Johann Nikolaus (1749-1818), deutscher Musikdirektor in Göttingen, Begründer der
Biographie der Musik in Deutschland
52
in Erwin Grützbach: S. 40/41 Zitat J. N. Forkel wie Bach selbst spielte.
53
Fuchs, Ingrid: Die sechs Suiten für Violoncello solo von J. S. Bach, Dissertation, Wien,
Oktober 1980, S. 569
54
Johann Joachim Quantz (1697-1773 in Potsdam), ein deutscher Flötist, Flötenbauer,
Komponist und Flötenlehrer Friedrichs des Großen, Seine Zeitgenossen schrieben ihn auch
Quanz
29
spezifische Taktbewegung, die durch die Taktart und durch die Notengattungen
bestimmt wird. Der 3/2- und der 6/4- Takt haben schwerere und langsamere
Bewegungen, als 2/4-, 3/4- und 6/8- Takt; diese sind weniger lebhaft als der
3/8- und 6/16- Takt. So ist z. B. eine Loure im 3/2- Takt langsamer als ein
Menuett im 3/4- Takt. Und das Menuett ist wiederum langsamer als ein
Passepied im 3/8- Takt. Die Tanzstücke mit vielen Sechzentelnoten haben, eine
langsamere Taktbewegung als solche, die bei der nämlichen Taktart nur Achtel
haben. Quantz verwendet den Pulsschlag an der Hand eines Menschen um das
Zeitmaß konkreter festzulegen.
Für die Artikulation müssen die Violinpartiten als Vorbild herangezogen werden,
denn die Abschrift Anna Magdalena Bachs weist etliche Flüchtigkeitsfehler auf.
Auch ist ihre Bindebogensetzung nicht immer eindeutig. Davon abgesehen,
muss
noch
zwischen
dem
Phrasierungsbogen
und
dem
echten
Artikulationsbogen unterschieden werden. Erwähnenswert auch noch die häufig
angewandete Überpunktierung und inegal gespielte Noten, bekannte barocke
Praktiken. Diesbezüglich interessant ist auch die Lautenfassung der fünften
Suite in g-Moll55, die teilweise wertvolle Hinweise bezüglich Artikulation gibt.
Man gibt heute allerdings davon aus, dass die Cellofassung zuerst entstanden
ist.
55
Originaltitel : Suite pour la Luth à Monsieur Schouter par J. S. Bach
30
In der Barockmusik wurden die Noten im Allgemeinen weniger lang gehalten als
ihre Notierung es vorschreibt. Diese „Lufträume“ zwischen den Noten nennt
man Artikulationspausen 56 . „Es darf nicht scheinen, als dass die Noten
zusammen klebten“.(Quantz) Nach Grützbach bedeutet Artikulation 57 :„Die
Unterhscheidung von gebundenen Tönen (legato) und nicht gebundenen Tönen
(non legato) entsprechend einer deutlichen Aussprache.“
Wie am Beispiel Allemande von der 2 Suite:
Prelude aus der Suite 1
56
Veilhan, Jean-Claude: Die Musik des Barock und ihre Regeln (17.-18. Jahrhundert), Paris
1977
57
Grützbach, Erwin: Still und Spielprobleme bei der Interpretation der 6 Suiten für Violoncello
solo von J. S. Bach, Verlag der Musikalienhandlung Karl Dieter Wagner, Hamburg 1981,
S.23
31
Sehr typisch für Bach sind folgende Artikulationen:
- Prelude aus dem 3 Suite
Efrati 58 definiert Phrasierung folgendermaßen: „Richtig phrasieren heißt, die
Struktur der musikalischen Linie im Sinne der Konzeption des Komponisten
erfasse. Es verlangt vom Interpreten eine genaue Strukturanalyse, wobei die
Phrasierungszeichen nicht intuitiv gesetzt werden dürfte“.
„Die Note nach dem Punkte muss allezeit sehr kurz sein “ (Quantz). Dies ist die
Bezeichnung für eine besonders markante Form der Inegalite („ungleiche
Noten“), welche vor allem in der französischen Musik des 16.-18. Jahrhunderts
üblich war. Kurze Noten, die auf puntierte Noten folgen, sind beim Spiel immer
kürzer als es ihr Wert anzeitgt.
(Sarabande aus dem 4 Suite)
58
Efrati, Richard: Die Interpretation der Sonaten und Partiten für Violoncello solo, Atlantis
Musikbuch, zürich 1979, S. 108
32
Grützbach charaktersiert59: „Der Triller bezweckt in der virtousen Musik einen
Effekt, in der Musik des Barock aber Affekt.“ Der Effekt bekommt seine Wirkung
durch schnelles virtouses Trillern. Der Affekt verlangt, dass dem Triller ein
differenzierter Ausdruck gegeben wird. Bei Bach wird generell ein Triller mit der
oberen Sekunde begonnen. Man beginnt den Triller auf der Noten über der
Hauptnote (F. Couperin). Dies ist allgemeine Regel. Allerdings kann der Triller
auch, je nachdem welche Note ihm vorangeht, auf der Note unterhalb des
Trillers beginnen: Jeder Triller nimmt von dem vor seiner Note entweder von
oben oder von unten zu nehmenden Vorschlage seinen Anfang. (Quantz)60
Zu den längeren Trillern gehören:
1. der Triller von unten (wie er beispielsweise im Takt 60 des Es-Dur Preludes
vom 4. Suit in Frage kommt),
59
Grützbach, Erwin: Still und Spielprobleme bei der Interpretation der 6 Suiten für Violoncello
solo von J. S. Bach, Verlag der Musikalischenhandlung Karl Dieter Wagner, Hamburg 1981,
S. 47
60
Pfandner, Inge: Zur Aufführungspraxis der sechs Suiten für Violoncello von J. S. Bach,
Schriftliche Prüfungsarbeit, Graz, 1991, S. 47
33
2. der Triller von oben.
Um Bachs werke heute möglichst authentisch zu spielen, ist es vorteilhaft, die
in diesem Kapitel erwähnten Aspekte zu beachten. Doch letztlich sollen nicht
nur Regeln angewendet werden, sondern die Musik selbst steht im Vordergrund.
Ton Koopman61 bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Es ist unmöglich,
Bachs Musik so aufzuführen, wie er es selbst tat. Man kann zwar versuchen,
Bachs Ästhetik und Klangwelt zu rekonstruieren, indem man alle verfügbaren
Informationen auswertet und historische Instrumente oder Kopien davon
61
Koopman,Ton (1944*), Dirigent, Organist, Cembalist, Gründer der Musica Antiqua
Amsterdam, dem Amsterdam Baroque Orchester und dem Amsterdam Baroque Choir
34
verwendet. Man hat durchaus Aussicht, damit zu einem guten Ergebnis zu
kommen; ebenso kann man sich aber auch in einem Sammelsurium des
historischen Regelwerks verlieren.“ 62 Die sechs Suiten sind formal recht
einheitlich aufgebaut. Auf ein Prelude folgen die im deutschen Hochbarock
üblichen vier Sätze: Allemande, Courante, Sarabande und Gigue, wobei
zwischen Sarabande und Gigue unterschiedliche Tanzsätze eingebaut werden
– zwei Menuette in Suiten 1 und 2, zwei Bourées in Suiten 3 und 4 und zwei
Gavotten in Suiten 5 und 6. In der Musik des Hochbarock bestehen praktische
alle Tänze aus zwei Abschnitten, die für sich wiederholt werden häufig ist der
zweite Teil als der erste.
3. Der Üerblick über die Suite
3. 1. Die Entwicklung der Suite63
„Suite“ stammt vom französischen Wort für „Folge“. Gemeint ist eine Folge von
einzelnen Tänzen, später von stilisierten Tänzen. Die Gattung „Suite“ war
besonders in der Barockmusik (Blütezeit 1600-1750) beliebt und verbreitet,
findet sich aber noch später.
Heute unterscheidet man im wesentlichen:
62
in Franz Rueb: 48 Variationen über Bach 2 2000. S. 186, Zitat Koopman, Ton
63
vgl. Suite, in Ludwig Finscher (Hrsg.): MGG, Sachteil Band 8
35
- Solosuite von J. S. Bach für Violine- und Violoncello solo.
- Orchestersuite von Nikolaus Andrejewitsch Rimskij-Korsakov: Symphonische
Suite Scherade op.35
- Konzertsuite und Ballettsuite von Peter Iljitsch Tschikowsky: Schwanensee,
Dornröschen, Nussknacker
- Programmsuiten von Edward Grieg: Hochbergsuite, Peer Gynt Suite
Im Mittelalter war es bereits üblich, Kombinationen von Tänzen der gleichen
Tonart, nicht aber unbedingt von dem gleichen Komponisten, aufzuführen.
Praetorius64 erwähnt 1619 die Suite, aber noch nicht als eigene Gattung. Im 16.
Jahrhundert handelte es sich meist um kontrastierende Sätze wie Dantz –
Nachdantz (Deutschland)
Pavane – Galliarde (Frankreich)
Passomezzo – Gagliarda (Italien)
Bassadanza – Saltarello
Passamezzo – Saltarello
64
Praetorius Michael (1571-1621), deutscher Komponist und Musikschriftsteller
36
Allemande – Courante oder
Ballo – Balletto.
Auch Branles mit festem Ablauf (nach immer schneller werdenden Tempo
geordnet) waren gebräuchlich: Branles doubles – Branles simples – Branle gay
– Branle de Bourgone.
Generell handelt es sich bei Suiten um reine Instrumentalmusik, Ausnahmen
sind aber vorhanden. Nachdem die (inzwischen unmodern gewordenen) Tänze
immer weniger ihrem eigentlichen Zweck, dem Tanzen, dienten und sich mehr
und mehr stilisierten, sowie neue (teilweise freiere) Tanzsätze eingefügt wurden,
erkannte
man
auch
die
Suite
als
eine
eigenständige
Gattung
der
Instrumentalmusik an. Lange waren aber noch Bezeichnungen wie Sonate,
Sonata da camera, Prtita, Partite, Ordre oder Ouvertüre gleichbedeutend mit
dem Begriff der Suite.
Die Entwicklung der Suite verlief aber nicht in allen Ländern gleich:
In Deutschland war besonders die Solosuite, die mit Bach einen Höhepunkt
erlebte, beliebt.
Aber auch Orchestersuiten sind häufig anzutreffen. Weit verbreitet war das
Prinzip der Variationsuite, die vor allem durch das gleiche thematische Material
37
im allen Sätzen charaktersiert wird. Vorwiegend in Deutschland flossen oft
einfache Melodie aus Volks- und Tanzliedern in die Suite ein. Die für die
Barocksuite kennzeichende Satzfolge Allemande – Courante – Sarabande –
Gigue entwickelte sich in der Klaviersuiten und war ab etwa 1670 gebräulich.
Sie geht nicht – wie oftmals angenommen – auf Johann Jakob Froberger65,
Schüler Frescobaldis66, zurück, bei dem die Gigue oft noch an zweiter Stelle
stand. Es war aber Froberger, bei dem sich diese vier Sätze vor allem in seinen
Klavierwerken als Kern der Suite herauskristllisierten. Das den Suiten zumeist
vorangestellte Präludium entwickelte sich in Deutschland und England und
wurde auch Intrada genannt. Es wurde nicht immer notiert, sondern oft vom
Interpreten improvisiert. Bach allerdings schrieb es mit einer einzigen
Ausnahme, den Französischen Suiten, stets auf.
Als Komponisten im deutschsprachigen Raum – neben Bach – wären unter
anderem Fux 67 , Krieger 68 , Muffat 69 , Pachelbel 70 und natürlich Froberger zu
nennen.
Andere wichtige Suiten von Bach, neben denen für Violoncello und denen für
Violine solo, sind beispielsweise die vier Orchestersuiten, sowie die
65
Forberger, Johann Jakob (1616-1667), deutscher Komponist
66
Frescobaldi, Girolamo (1583-1643), italienischer Komponist, Cembalist und Organist
67
Fux, Johann Josef (1660-1741), österreicher Komponist
68
Krieger, Adam (1634-1666), deutscher Komponist
69
Muffat, Georg (um1645-1704), deutscher Komponist
70
Pachelbel, Johann (1653-1706), deutscher Komponist
38
französischen („Suites Pour le clavecin“) und englischen Suiten („Suites avec
Préludes“) für Klavier, beide übrigens ebenfalls um 1720 entstanden. Bei den
Solosuiten nehmen die Violoncello- und Violinsuiten sicher eine Sonderstellung
ein. Mit der Abwechslung zwischen mehrstimmigen und einstimmigen
(gesanglichen oder auch virtuosen) Passagen, der angedeuten und realen
Mehrstimmigkeit
herausragend.
sind
Diese
sie
in
Prinzipen
der
Sololiteratur
barocker
für
Streichinstrumente
Kompositionstechnik
werden
keineswegs von Bach alleine angewendet, erfahren aber durch die Suiten ihren
Höhepunkt.
In Frankreich gab es lange kein festes Schema der Satzabfolge. In den Ballett-,
Klavier-, Lauten- und Gambensuiten waren folgende Tänze gebräuchlich: Air,
Bourée, Gavotte, Rondeau, Rigadon, Ouvertüre, Passacaille. Die von Christian
Dieuparts71 in seinen „Six Suittes de clavessin“ verwendete Reihenfolge der
Tänze dürfte Bach beeinflusst haben. Bei den Suiten für Tsteninstrumente
traten zum, ersten Mal eingeschobene Sätze (Gavotte, Menuett, Bourée,
Chaconne, Passacaille) zwischen Sarabande und Gigue oder auch nach der
Gigue auf. Die französische Suite hat im Allgemeinen mehr Sätze, die nicht so
sehr auf Gegensätzlichkeit bedacht sind. Zu den bekanntesten französischen
Komponisten dieser Zeit zählen Couperin72, Lully73, und Rameau74.
71
Dieuparts, Christian, französischer Komponist, Lebensdaten nicht genauer bekannt
72
Couperin, François (1688-1733), französischer Komponist
39
In Italien hielt man sich stark an die Anordnung der Tänze in Paaren. Eine
dreiteilige Form findet sich erst bei Frescobaldi. Anklang fanden vor allem
Suiten für Tasteninstrumente (oft auch mit nicht tänzerischen Sätzen wie
Ricercar, Canzone, Toccata oder Partita) aber auch die Ensemblesuite, die
Sonata da camera. Auf eine Einleitung, Sinfonia, Capriccio, Introduzione oder
Preludio genannt, folgten zwei bis drei, später auch mehrere Tänze.
Gebräuchlich waren Balletto und Allmande, andere wurden nach Vorbild
Frankreichs hinzufügt. Auch das Variationsprinzip wurde angewanndt.
Wichtige Komponisten waren unter anderem Corelli75 und Torelli76.
In England entwickelte sich die Abfolge einer Suite nicht, sondern wurde aus
Frankreich übernommen: Allemande – Courante – Sarabande – Gigue). Statt
der Sarabande standen auch öfters Menuett oder Hornpiepe. Die wichtigsten
Komponisten in England waren Händel 77 und Purcell 78 . Nachdem Gattung
„Suite“ in der Klassik kaum Anwendung fand, wurde sie später wieder
aufgegriffen, allerdings mit anderen Inhalten. Bekannt wurden vor allem
73
Lully, Jean-Baptiste (1632-1687), französischer Komponist
74
Rameau, Jean Philippe (1683-1764), französischer Komponist
75
Corelli, Arcangelo (1653-1713), italienischer Komponist und Geiger
76
Torelli, Guiseppe (1658-1709), italienischer Komponist und Geiger
77
Händel, Georg Fredrich (1685-1759), deutscher Komponist, der einen Großteil seines
Lebens in England verbrachte
78
Purcell, Henry (1659-1695), englischer Komponist
40
Tschaikowskys 79 Ballettsuiten („Nussknacker“, „Schwannensee“), Griegs 80
„Holbergsuite“ und „Peer Gynt Suite“ oder auch Benjamin Britten81 „Suite on
Englisch Folk Tunes“ („A Time There Was“).
In Anlehnung an Bachs Cellosuiten entstanden Max Regers82 „Drei Suiten für
Violoncello Solo op.131 (1915)“ und Wolfgang Fortner83 „Suite für Violoncello
Solo (1932)“
3. 2. Charakter und Tempo verschiedener Tanzsätze
Bei Bach sind Suiten oft Schechsgruppen angelegt: sechs Klavierprtiten, drei
Violinpartiten und drei Violinsonaten und auch bei englischen und französischen
Suiten sind diese Gruppe vorhanden.
Von den sechs Violoncello Suiten sind vier in Dur und zwei in Moll:
1. Suite: G – Dur , 2. Suite: d - moll, 3. Suite: C - Dur, 4. Suite: Es - Dur, 5. Suite:
c - moll, 6. Suite: D – Dur
79
Pjotr Iljitsch Tschaikowski (1840-1893), ein russischer Komponist, Heute zählen sie zu den
bedeutendsten der Romantik
80
Edvard Hagerup Grieg (1843-1907), ein norwegischer Pianist und Komponist der Romantik
81
Edward Benjamin Britten (1913-1976), ein bedeutender englischer Komponist, Dirigent und
Pianist
82
Johann Baptist Joseph Maximilian Reger (1873-1916), ein deutscher Komponist, Organist,
Pianist und Dirigent
83
Wolfgang Fortner (1907-1987), ein deutscher Komponist, Kompositionslehrer und Dirigent
41
Die 6 Suiten ein zyklisches Werk. Sie entstanden unmittelbar hintereinander,
weisen aber ganz im Gegensatz zur üblichen Tonartensystematik, die bei
Bachs Arbeiten den Zusammenhang unterstreicht, eine eher lockere Symmetrie
auf, die lediglich durch die Position der beiden Moll-Suiten (der 2. und der 5.)
eine Art Ansatz findet. Symmentrisch ist jedenfalls die Einfügung der
Zwischensätze, von denen die Violoncello – Suiten Je ein Paar vor der
schnellen Gigue enthalten. Die Tanzsatzbezeichnungen sind bei Bach zwar in
ihrer Tradition identifizierbar, aber inhaltlich längst losgelöst von der
körperlichen Bewegung, also eher freie Assoziationen zu einem einmal
feststehenden traditionellen Ablauf.
Eine Symmetrie ist leicht erkanntbar: die Moll Suiten (2. und 5. Suiten) sind
jeweils in der Mitte zwischen zwei Dur- Suiten. Bezieht man die erste Suite nicht
mit ein, ergibt sich auch bezüglich der Tonart eine Symmetrie: d – C – Es – c –
D
Weiters gibt es Parallelen zwischen erster und vierter, zweiter und fünfter sowie
dritter und sechster Suite. Dies ist aber im Vergleich zu anderen Werken Bachs
eine eher lokere Symmetrie, die nicht zwingend auf ein zyklisches Werk
hinweist. Insgesamt ist eine Steigerung der Schwierigkeit erkennbar, was
natürlich teilweise in den Tonart oder den verwendeten Skordaturen begründet
liegt. Je höher die Nummer der Suite, desto stärker ausgeschmückt und länger
ist sie.
42
Alle
sechs
Suiten
Variationscharakter,
haben
meist
mehr
mit
oder
einem
weniger
Dreiklang
stark
als
ausgesprägten
Grundmotiv.
Ihr
Grundcharakter definiert sich über ihre Tonart.
Der Aufbau aller sechs Cellosuiten ist im Gegensatz zu den Violinpartiten gleich.
Sie folgen der Tradition mit der für die Barocksuite typischen Satzfolge
Allemande – Courante – Sarabande – Gigue. Die Satzfolge ist klassisch, wobei
den Tanzsätzen ein Prélude (Präludium) vorausgeht, das quasi eine Einleitung
ist, und bei dem ausnahmsweise nicht die metrischen Akzente wie sonst im
Vordergrund stehen, sondern die Höhepunkte der melodischen ausformulierten
Linie, die aber keinen Tanzcharakter haben. Zwischen Sarabande und Gigue,
vor die Gigue also setzt Bach in jeder der Suiten ein Tanzpaar, es wird jeweils
ein zweiteiliger Satz (Doubles) eingeschoben: das Menuett 1 und 2 (in den
ersten beiden Suiten,also Suite Nr.1 und 2), die Bourée 1 und 2 (in den 3. und 4.
Suiten), sowie Gavotte 1 und 2 (in den letzten beiden Suiten), was zeigt, dass
ihm der Zusammenhang, auch als solcher vom einfachen Hörer erkennbar,
durchaus wichtig war. Anders als sonst, bleibt die Satzanzahl in allen Suiten
gleich. Damit ist die Tempoabfolge klar: Einleitung, handfester Beginn,
schnelleres Tempo, ein langsames Tempo, zwei Zwischenstücke und ein
ziemlich schneller Schlußsatz. (Tempoabfolge der Stammsätze ist: Allemande:
ruhig – Courante: schnell – Sarabande: langsam – Gigue: sehr schnell)
43
-Prélude (Präludium)
Im 15. und 16. Jh. war das Präludium in erster Linie das Vorspiel auf einem
Tasteninstrument oder der Laute. Das Präludium ist ein Instrumentalwerk mit
eröffnendem oder hinführendem Charakter. Meist gibt das Präludium schon den
Grundcharakter der Suite vor. Oft sind weniger Akkorde als Läufe und
Arpeggios zu finden. Der Einteilungssatz kann geradtaktig oder ungeradtaktig,
motorische oder figuriete, langsam oder schnell und häufig auch fugiert sein.
Suite 2 in d – Moll
Suite 3 in C – Dur
Wie wichtig diese Einleitungen für das Verstehen sind, ist daraus abzulesen,
dass in ihnen eigentlich der zentrale Unterschied zwischen dem späteren
klassischen Thema und der Themenbehandlung des Barock zum Tragen
44
kommt. Während sich das klassische Thema aufspaltet oder variiert, zerlegt
sich das Thema der älteren Linienkunst, also keine dialektische Vorgangsweise
wie bei Beethoven, sondern lineare Rhetorik, die Matthesonsche „Klangrede“,
wie sie Nikolaus Harnoncourt 84 als Titel eines wichtigen Buches aufnahm.
Natürlich geht es immer auch um das technische Können des ausführenden
Musikers, aber es ist für die Komponisition – wie fast immer bei Bach –
sekundär. Es geht um die Einführung des Hörers in die spezifische Welt der
klanglichen
Darstellung
menschlichen
Denkens,
eingebettet
in
ihm
wohlvertraute und wohl formal überschaubare Formen, innerhalb deren
Sicherheit aber ihm vorgefürt werden sollte, wie diese Gerüste mit
verschiedenem Leben zu erfüllen sind und damit sich gänzlich verschiedene
Inhalte ergeben, nebenbei bemerkt ein Beweis für die These, dass Form nicht
Gegensatz von Inhalt ist, sondern intergraler Bestandteil, der aus der
Verarbeitung mit der Thematik erst den spezifischen Inhalt ergibt.85
Diese Präludien liefern auch so etwas wie den emotionalen Grundcharakter der
Suiten, also die Ankündigung für jene emotionale Stimmung, in die der Hörer
gebracht werden soll und wenn es ihm nur gelänge zuzuhören, wohl auch
gebracht würde. So könnte man die 1. Suite in G – Dur als attraktiv und einfach
bezeichnen, die 2. Suite in d – Moll als solche, die innerliche Konflikte austrägt,
84
Nikolaus Harnoncourt (1929-2016) , ein österreichischer Dirigent, Cellist,
Musikschriftsteller und einer der Pioniere der historischen Aufführungspraxis
85
http://www.uni-ak.ac.at/culture/wagner/articles/wag00-Cello.html (13.12.2016)
45
die 3. Suite in C - Dur als brillant, auf Außenwirkung berechnet, die 4. Suite in
Es – Dur in Feierlichkeit und Würde gebettet, die 5. Suite in c – Moll als düster,
in sich gekehrt, und die letzte Suite in D – Dur als virtuose, lebensbejahende
Abschlussvariante bezeichen. Dass dabei die Moll – Suiten in ihrer
Gegesätzlichkeit besonders beeindrucken, versteht sich von selbst.
-Allemande
Sie gehört zu dem ersten und ältesten der vier Stammtänze der Suite und ist
ein Deutscher Tanz, seit dem 16. Jahrhundert in Frankreich, aber auch in
Spanien und England ein bekannt als zweiteiliger Schreittanz. In ihrer
spätbarocken Variante bewegt sie sich gern in Sechzentel-Schritten. Die
Allemande gehört zu den geradtaktigen Tänzen im 4/4-Takt, manchmal auch
alla breve, und hat einen Auftakt. Im 17. Jh. ist das Tempo gemäßigt, nur in der
2. Hälfte des 18. Jh. wird sie häufig rascher und sogar sehr schnell gespielt. Ihr
Charakter ist trotz mit Sechzentel-Bewegung ernst.
Suite 3 in C – Dur
46
Suite 1 in G – Dur
Der erste Tanzsatz, die Allemande, steht immer im Viervierteltakt, war
ursprünglich weit schneller und hat sich dann im 17. Jahrhundert verlangsamt,
soweit, dass – wie Bach – Freunde und – Lexikograph Johann Gottfried
Walther86 1732 in seinem Lexikon schreibt: [Die Allemande] ist „in einer in
musicalischen Parthie (Suite) gleichsam die Proposition, woraus die übrigen
Suiten (die folgenden Sätze) fließen“, sie ist „ernsthafft und gravitätisch
gesetzet und muss auch auf die gleiche Art executiert werden“.87
-Courante
Diese ist ein mäßig schneller Gesellschaftstanz, der im 16. Jahrhundert aufkam
und französische und italienische Herkunft hat. Im 17. Jahrhundert fand eine
Differenzierung in französische Courante und italienische Corrente statt. Bis auf
die Courante in der fünften Suite stellen alle die italienische Art der Corrente dar.
In der zweiten Hälfte des 17. Jh. wandelte sich der heftige Charakter der
86
Johann Gottfried Walther (1684-1748), ein deutscher Organist, Kapellmeister, Komponist
und Musikwissenschaftler
87
http://www.uni-ak.ac.at/culture/wagner/articles/wag00-Cello.html (13.12.2016)
47
Courante zu höfischer Eleganz. Sie ist ungeradtaktig, die Notation im 3/2- oder
6/4- Takt, häufig mit kurzem Auftakt. Die italienische Corrente steht meist im
3/8- oder 3/4- Takt und ist schneller in einem fließenden Tempo, oft mit
anspruchsvoller Harmonik, Achtelbewegung und Puntierung in der ersten oder
zweiten Takthälfte.
Suite 3 in C – Dur
Suite 1 in G – Dur
Die Courante ist bei Bach stets etwas schneller als die Allemande, immer im
Dreiermaß geschrieben, wobei die italienische und französische Variante sich
nur im Tempo unterscheiden. Johann Mattheson88, ein anderer bedeutender
Musiktheoreitiker der Bach-Zeit, charaktersierte sie so: „Die Leidenschafft oder
88
Johann Mattheson (1681-1764), ein deutscher Opernsänger, Komponist, Musikschriftsteller
und Mäzen.
48
Gemüths- Bewegung, welche in einer Courante vorgetragen werden soll, ist die
süße Hoffnung. Denn es findet sich was hertzhafftes, was verlangendes und
auch was erfreuliches in dieser Melodie: lauter Stücke, daraus die Hoffnung
zusammengefüget wird.“89
-Sarabande
Dieser Tanz ist ursprünglich aus Spanien oder Mexiko. Nachdem die
Sarabande im 16. Jh. ein rascher Tanz war, wurde sie im 17. und 18. Jh. zu
einem der langsamen Sätze der Instrumentalsuite. Sie ist im 3/4- Takt und ohne
Auftakt. Merkmale: Ruhiger und verhaltener Charakter, typischer Rhythmus
Viertel + Halbe. In italienischer Ensemblemusik wurde sie auch in schnellem
Tempo gespielt.
Suite 2 in d – Moll
89
http://www.uni-ak.ac.at/culture/wagner/articles/wag00-Cello.html (13.12.2016)
49
Suite 3 in C – Dur
Die Sarabande, an sich ein wahrscheinlich aus Mexiko oder Spanien
stammender Tanz im Dreiermaß, wurde noch in der ersten Hälfte des 17.
Jahrhunderts in Frankreich und Spanien ausgelassen und wild getanzt – ein
Grund, möglicherweise warum sie dort von der Inquisition ausdrücklich als
unsittlich verboten wurde. Sie wurde dann aber durch Lully verlangsamt, bis sie
schließlich jenes gravitätische Maß erreichte, das zu Bachs Zeiten üblich war.
Mattheson: „Die Sarabande hat keine andere Leidenschafft auszuducken als
die Ehrfurcht.“90
Dann folgen, wie schon erwähnt, die beiden Tanzpaare vor der Gigue. Bach
verwendet alle drei populäre Formen (Minuette, Bourée und Gavotte), wobei
das Menuett im Dreimetrum steht, das mit der Zeit ebenso immer langsmer
wurde, die Gavotte im Vierermentrum mit einem Auftakt aus zwei Vireteln und
oft in Rondoform gegliedert, und die Bourée, ihr sehr ähnlich, aber ein wenig
schneller, sich aber besonders durch den Viertel-Auftakt von der Gavotte
unterscheidet.
90
http://www.uni-ak.ac.at/culture/wagner/articles/wag00-Cello.html (13.12.2016)
50
-Menuett
Das Menuett ist ein Stück von gemäßigtem Tempo, eventuell mit einem Viertel
Auftakt. Seine Herkunft ist französisch. Das Tempo ist mäßig, der Still ist
elegant und höfisch. Später wurde es in Sonaten und Symponien verwendet.
„Ein Menett spiele man hebend und makiere die Viertheile mit einem etwas
schweren, doch kurzen Bogenstrich“ (Quantz).
Suite 1 in G – Dur
-Bourée
Die ersten schriftlich überlieferten Bourées stammen aus dem 17. Jahrhundert
und sind in geradem Takt notiert. Im 18. Jh. verbreitete sich die Bourée in ganz
Europa und war sehr beliebt. Die höfische Bourée und ihr Grundschritt beginnt
51
im 17. und 18. Jh. mit einem forschen Auftakt und steht im sykopierten,
lebhaften 2/2- oder 4/4- Alla breve- Takt. Meistens folgen auf ein Viertel zwei
Achtel. Sie hat französische Herkunft, in schnellem Tempo und wurden
schwungvoll gespielt.
Suite 3 in C – Dur
-Gavotte
Sie besitzt meist ein rasches Tempo im lebhaften Alla Breve Rhythmus oder
4/4- Takt. Oft gibt es einen halbtaktigen Auftakt. Quantz schreibt: „ Die Gavotte
sei ähnlich einem Rigaudon, aber moderater im Tempo “. Die Gavotte ist
französischer Herkunft, steht im gemäßigten Tempo und hat eleganten und
manchmal humorvollen Charakter. In der Regel besteht sie mindestens aus
zwei Teilen, die ihrerseits aus mindestens zwei Phrasen besteht und wiederholt
wird.
52
Suite 5 in c – Moll
-Gigue
Sie hat englischer Herkunft und gelangt durch in England tätige französische
Lautenisten in der ersten Hälfte der 17. Jh. nach Frankreich und wurde dort,
sowie in Italien und Deutschland, auf spezifische Weise umgeformt und
weiterentwickelt. Die Gigue ist ein lebhafter Tanz, der mit dem zügigen Tempo
aus dem 17. und 18. Jh. im zusammengesetzten Zweiertakt steht, z. B. im 3/8oder 6/8-, selten 12/8- Takt; häufig mit kurzem Auftakt und fugiertem Beginn.
Bei
italienischen
Komponisten
wurde
sie
leicht
und
beschwingt;
bei
französischen und deutschen Komponisten gewichtig, oft in puntiertem
Rhythmus gespielt.
Suite 2 in d – Moll
53
Suite 1 in G – Dur
Die Gigue als Schlusssatz kommt ursprünglich aus England (Shakespeare
nennt sie in „Viel Lärm im Nichts“: „wild und gehetzt, bizarr“)91, sie ist wieder in
französische und italienische Arten differenziert, wobei wir bei erster die
hüpfende punktierte Rhythmik und bei der italienischen die virtous laufenden
Achtelnoten erwarten. Mattheson kennzeichnet sie: [Die Giguen] „haben zu
ihrem eigentlichen Abzeichen einen hitzigen und flüchtigen Eifer, einen Zorn,
der bald vergehet“.92
Damit ist die Tempoabfolge klar: Einleitung, handfester Beginn, schnelleres
Tempo, ein langsameres Tempo, zwei Zwischenstücke und ein ziemlich
schneller Schlusssatz.
Bach schreibt natürlich keine Tempoanweisungen, weil er denkt, dass jeder
Musiker das richtige Tempo kennt und der Zuhörer weiß, was ihn erwartet. Dies
ist nicht nur Konvention, sondern auch ein Verbeugung vor dem Interpreten,
dem, der meist wie der Werkschöpfer komponistisch ausgebildet ist, die
91
http://www.uni-ak.ac.at/culture/wagner/articles/wag00-Cello.html (13.12.2016)
92
http://www.uni-ak.ac.at/culture/wagner/articles/wag00-Cello.html (13.12.2016)
54
Entscheidung im Moment durchaus zugetraut werden kann. Dass heute in der
Aufführungspraxis sich wohl am ehesten die Präludium unterscheiden, ist
möglicherweise nicht nur Unsicherheit bei den kompositorisch oft schlecht
ausgebildeten Interpreten, sondern vielleicht auch ein Teil von Bachs Absichten.
Sie sind quasi als Overtüre die Präsentationen der Spielerpersönlichkeit in allen
Punkten und als solche seinem Können, seinen Fähigkeiten und wohl auch
seinen musikalischen Auffassungen überlassen.

Präludium – Einleitung, Vorspiel – beliebig – je nach Charakter der Sutie,
die es einleitet

Allemande – französisch für „Deutscher Tanz“ – ruhiger, deutscher
Schreittanz – gerade Takt 4/4 (2/2) – ruhig, gemessen, aber fließend

Courante
–
französisch
für
„laufender
Tanz“
–
französischer
Gesellschaftstanz – 3/4(oder 3/2)Takt – schneller als die Allemande

Sarabande - altspanischer Volkstanz, auch in Mexiko verbreitet – 3/4
Takt – ursprünglich ebenfalls schnell, ausgelassen, verlangsamte sich;
bei Bach langsam, majestätisch

Menuett – von französisch „menu“=klein, fein, oder „menu(pas)“=
zierlicher Schritt – ursprünglich ein Volkstanz, ab 1650 anmutiger
französischer Hoftanz (Ludwig XIV.) – 3/4Takt – tänzerisch, bewegt
55

Gavotte I/II – benannt nach ihrer Herkunft: Gavots (Bewohner der
Dauphiné) – alter Volkstanz der Gavots: seit dem 16. Jh. französischer,
heiterer Reigentanz, oft in Rondoform – im 2/2 Takt, zwei Viertel Auftakt
– schnell, lebendig

Bourée I/II – 2/2Takt ein Viertel Auftakt – ähnlich der Gavotte, jedoch
etwas schneller

Gigue – französisch für „Keule“, auch Spottname der Viola (12./13. Jh.) –
englischer Tanz(Jig), ab dem 17. Jahrhundert auf dem Kontinent ein
höfischer Tanz – 3/8, 6/8, 12/8 Takt – lebhaft, fröhlich, schnell
Häufige Gestaltungsmittel sind: - Fortspinnungstechnik, die einen eher linearen
Aufbau ergibt (im Unterschied zu periodisierter Gestaltung, die vor allem in den
Doubles Anwendung findet) – Sequenztechnik – Aufbau von Steigerung und
das anschließende Nachlassen der Spannung – Scheinstimmen zur Anleitung
der Polyphonie (Töne, die sich der Melodie herauslösen, obere/untere
Randstimmen, Ober-, Mittel-, und Unterstimme bei Arpeggien, Orgelpunkte,
Liegestimmen, Verschränkung zweier Stimmen zu einem Ganzen,...)
3. 2. 1. Die einzelnen Suiten (kurzer Überblick und Besonderheiten)
-Erster Suite in G – Dur , BWV 1007
56
Prélude 4/4Takt (42Taktzahl) in G-Dur
Allemande 2/2Takt (32Taktzahl) in G-Dur
Courante 3/4Takt (42Taktzahl) in G-Dur
Sarabande 3/4Takt (16Taktzahl) in G-Dur
Menuett1und2
3/4Takt (24-24-24Taktzahl) in G-g-G
Gigue 6/8Takt (34Taktzahl) in G-Dur
- Prélude: Der Anfangssatz ist vielleicht eines der bekanntesten Stücke des
Zyklus. Es ist eine harmonische Studie in gleichmäßigem Rhythmus und
beginnt mit Arpeggien im Bewegungsmuster etwa des kleinen Präludiums cMoll BWV.999 oder des bekannten Präludiums C-Dur BWV 846 aus dem ersten
Teil des Wohltemperierten Klaviers. Im Gegensatz zu diesen wird das
Grundmuster allerdings immer wieder verlassen zugunsten von Abwandlungen
und kontrastierenden Einschüben; tritt es wieder auf, wirkt es – obwohl nie
wörterlich zitiert – ritornellartig.
Harmonisch bleibt der Satz – Trotz reicher Verwendung von Septakkorden –
immer nah an der Ausgangstonart und den Akkorden der leeren Saiten des
Cellos; eine echte Modulation, also ein wie auch immer dramatisiertes
Erreichen der Zieltonart, findet eigentlich gar nicht statt. In seinem letzten
57
Viertel konzentriet sich der Satz zunehmend auf spieltechnische Finessen – ein
langer bariolageartiger Abschnitt mit einer chromatischen Tonleiter weit über
eine Oktave bildet den einzigartigen Höhepunkt. Die kaum unterbrochene
Sechzentelbewegung sorgt dabei für eine starke Einheitlichkeit, die auch
heterogenes Material zusammenhält.
Tanzsätze
- Allemande: Allemanden wurden zu Bachs Zeiten schon lange nicht mehr
getanzt und stellen bei ihm immer eine stark stilisierte, zweiteilige Form dar93.
Erkennbar sind sie eigentlich nur am kurzen Auftakt (meist einem Sechzehnltel)
und
anschließend
tendenziell
durchgängiger,
selten
unterbrochener
Sechzehntelbewegung im eher ruhigen Tempo. Die Allemande der G-Dur Suite
ist dafür ein gutes Beispiel: Ausgesprochen kunstvoll und einfallsreich –
entwickeln sich unter allen Läufen und aller Ornamentierung immer wieder
kleine melodische Gestalten, die oft auch einen oder zwei Takte später noch
einmal aufgegriffen werden, dann aber nicht mehr vorkommen und so nicht zu
einem thematischen, also formbildenden, Element gerinnen können. Trotz aller
Unregelmäßigkeiten deutet Bach den unterschwelligen Tanzcharakter an durch
eine strenge Form aus zweimal sechzehn Takten.
93
Dominik Sackmann: Bach und der Tanz. 2005, S.16
58
- Courante: Auch dieser Tanz wurde zur Bachzeit nicht mehr getanzt94, doch
betont Bach den Tanzcharakter durch eine deutlich ausgearbeitete Periodik:
Einer klar motivisch geprägten Viertaktgruppe folgt eine kontrastierende zweite,
deren schnelle Bewegungen durchweg ornamental aufzufassen sind
95
;
abgesehen von zwei eingeschobenen Takten ist der Satz deutlich aus
abgegrenzten achttaktigen Gruppen aufgebaut und hat so die – beim Hören
nachvollziehbare – Proportion von 10:24 Takten. Ein Charakteristikum von
Couranten, einen Hemiole im vorletzten Takt, deutet Bach allerdings nur sehr
subtil an.
- Sarabande: Auch die Sarabande zeigt eine klar hervorgehobene Periodik aus
Viertaktgruppen; die für den Tanz charakterische Betonung auf der zweiten
Zählzeit erreicht Bach oft sehr deutlich durch volle Akkorde. Von Ferne erinnert
das Thema an den Mittelsatz des Zweiten Brandenburgischen Konzert.
- Menuette: Für Meneuette kann der klare Aufbau aus Achttaktgruppen als
charakterisch gelten; beide Sätze der ersten Suite bestehen aus acht plus
sechzehn Takten. Das erste baut klar aus Viertaktgruppen auf, das zweite wirkt
kleingliedriger durch Betonung von Zweitaktgruppen; diesem Effekt steuert
Bach zu Beginn der zweiten Hälfte durch eine lange Quintfallsequenz entgegen.
Beide Minuette erreichen in der Mitte der zweiten Hälfte die jeweilige
94
Dominik Sackmann: Bach und der Tanz. 2005, S.36
95
Dominik Sackmann: Bach und der Tanz. 2005, S.41
59
Paralleltonart.
- Gigue: Der schnelle Schlussatz folgt dem italienischen „Giga“-Typ aus
einfachen Achteltriolen. Harmoniewechsel finden zweimal pro Takt statt, was
auf ein nicht allzu hohes Tempo hindeutet. Die drei Viertaktgruppen des ersten
Teil sind deutlich erkennbar; im letzten Drittel des zweiten Teils beginnt Bach
dann, diese ineinander zu schieben und vorübergehend das Material noch
einmal auf spannende Weise zu variieren.
- Allgemeiner Chrakteristik: „Form und Farbe“, G-Dur gibt einen hellen
Gesamtklang, Einfachheit, Schlichtheit und Fröhlichkeit der Musik stehen im
Mittelpunkt, keine kunstvollen oder virtuosen Effekte.96
- Zweite Suite in d-Moll, BWV 1008
Prélude 3/4Takt (63Taktzahl) d-Moll
Allemande 4/4Takt (24Taktzahl) d-Moll
Courante 3/4Takt (32Taktzahl) d-Moll
Sarabande 3/4Takt (28Taktzahl) d-Moll
Menuette1,2 3/4Takt (24-24-24Taktzahl) d-D-d
96
vgl. J.S. BACH: Cello Suiten, CD, Interpret: Mstislav Rostropowitsch, Beilageheft S.31-45
60
Gigue 3/8Takt (76Takt) d-Moll
- Prélude: Der Satz trägt deutliche Züge einer stilisierten Sarabande, mit
Betonung auf der ersten und einem Spannungsvollen Innehalten auf der
zweiten Zählzeit. Das rhythmisch charakterische Motiv des ersten Takts ist über
lange Strecken allgegenwärtig, doch werden seine Töne mehr und durch
Sechzehntel gefüllt, so dass es mehr unterschwellig eine gleichmäßige
Bewegung strukturiert. Zunehmend wird das Motiv verlassen und kann so in
Abständen immer wieder formbildend das Erreichen einer neuen harmonischen
Plattform kennzeichen. So markiert es nach zwölf Takten das Erreichen der
parallelen Durtonart, nach zwei Dritteln des Satzes die Dominante.
Die den Satz abschließenden dreistimmigen Akkorde hätte Bach beim eigenen
Spiel wahrscheinlich nach dem Muster der vorhergehenden Takte in
Sechzehntelbewegung aufgelöst oder auch durch Bezug auf das Anfangsmotiv
gestaltet; möglicherweise notierte er sie nur aus Platzgründen nicht aus.
Tanzsätze
- Allemande: Der Tanzsatz ist deutlich motivischer geprägt als das sprödere
mehr ornamentierte Gegenstück der ersten Suite; mit zweimal zwölf Takten hat
er einen ähnlichen Grundaufbau, aber nur drei Viertel von dessen Länge. Diese
scheinbar starre Grundform wird durch Motive höchst unterschiedlicher Länge
61
gefüllt – die deutschen Komponisten des Hochbarock assoziierten mit einer
„Allemande“ offensichtlich keine bestimmte Schrittfolge mehr. Der zweite Teil
entspricht rhythmisch über längere Zeit dem des ersten und entfernt sich erst
allmählich davon.
- Courante: Die beiden Hälften sind motivisch stark aufeinander bezogen und
durch eine selten unterbrochene Sechzehntelbewegung gekennzeichnet, die es
zu Beginn der Teile schwermacht, die Motive gegeneinander abzugrenzen;
regelmäßige Harmoniwechsel auf der ersten Zählzeit jedes Takts erleichtern
aber eine Orientierung (wenn der Spieler sie entsprechend verdeutlicht).
Schnell etabliert sich dann eine Periodik aus zwei- und viertaktigen Einheiten –
am auffälligsten vielleicht in den letzten vier Takten jedes Teils, die ihre
Spannung aus latenter Zweistimmigkeit beziehen, bei der die Unterstimme die
Harmonie wechselt und die Oberstimme in schneller ostinater Bewegung
motivisch liegenbleibt.
- Sarabande: Hier fällt auf, dass Bach die Betonung der zweiten Zählzeit immer
nur im ersten von zwei Takten vornimmt, den Tanz also gewissermaßen mehr
stilisiert als das Gegenstück aus der ersten Suite. Drei so entstehende
Viertaktgruppen bilden den ersten, vier den zweiten Teil, dessen Ende durch
deutliche Chromatik in der Unterstimme anzeigt wird.
- Menuette: Die beiden Menuette haben wieder gleiche Länge und gleiche
62
Struktur mit einem zweiten Teil doppelter Länge, dessen Mitte jeweils die
Paralleltonart streift, aber nicht durch eine deutliche Kadenz festigt. Das erste
Menuett sehr akkordisch, zeigt das zweite Menuett in seinem zweiten Teil die
zunehmend deutliche Tendenz, alle Motivik in eine durchgehende weiche
Achtelbewegung aufzulösen, so dass erst die Rückkehr des ersten Minuetts
den Tanzcharakter wieder etabliert. Der Satz ist auch als eine Art stilisierte
Continoustimme zu einer imaginären Melodiestimme gesehen worden97.
-
Gigue:
Ein
charakteristisches
eröffnendes
Viertaktmotiv,
das
gleich
anschließend in starker Verzierung abgewandelt wird und dann sofort die
Tonikaparallele streift, die anschließend ständig eine wichtige harmonische
Rolle spielt: Konsequent beginnt auch der zweite Teil mit dieser und nicht der
Dominante, mit der dich der erste Teil abgeschlossen hatte – der einzige
derartige Satz in den Cellosuiten. Die achttaktigen Phrasen werden zu Beginn
deutlich herausgestellt und erst im zweiten Fall durch Einschübe unterbrochen,
was zum Verhältnis 8:11 führt.
- Allegemeiner Charakteristik: „Tiefe der Empfingungen“, trauriger Mollcharakter,
dieser ergibt eine meist eher introvertierte Form der Interpretation98
- Dritte Suite in C-Dur, BWV 1009
97
Martin Geck: Bach – Leben und Werk. 2001, S.661
98
vgl. J.S. BACH: Cello Suiten, CD, Interpret: Mstislav Rostropowitsch, Beilageheft S.31-45
63
Prélude 3/4Takt (88Taktzahl) C-Dur
Allemande 4/4Takt (24Taktzahl) C-Dur
Courante 3/4(3)Takt (84Taktzahl) C-Dur
Sarabande 3/4Takt (24Taktzahl) C-Dur
Bourée1,2 2/2Takt (28-24-28) C-c-C
Gigue 3/8Takt (108Taktzahl) C-Dur
- Prélude: Der Satz beginnt mit einem Tonleitermotiv, das auch noch wenige
Male zu Strukturierung herangezogen wird, das sich in der Folge auch durch
die weiteren Satzanfänge der ganzen Suite zieht, aber mit der Form nicht viel
zu tun hat. Prägend für den Satz sind vielmehr die vielfältigen, immer wieder
abgewandelten und ausgetauschten Arpeggio-Muster, mit denen sich die weit
ausgreifende harmonische Entwicklung ausdrückt. Nach mehreren Zeilen
reinsten C-Durs wird über die Dominante die Paralleltonart a-Moll erreicht und
nach und nach gefestigt. Nun steuert Bach den Bereich der Subdominante und
ihrer Parallele an; längere Passagen über den Orgelpunkt der leeren G-Saite
unterbrechen dies aber und lassen das eigentliche Modulationsziel über weite
Strecken im Unklaren. Nach und nach setzt sich jedoch die Dominante G-Dur
durch, trotz hartnäckigen Auftretens subdominantischer Funktion. Nach allen
64
Akkordbrechungen greift Bach hier wieder hörbar auf Tonleitermaterial zurück,
das er in den ersten Zeilen entwickelt hatte und leitet damit deutlich das
Satzende ein. Anfangs- und Schlusstakt, die – bis auf den Schlussakkord –
einander entsprechen, finden überdies ihr motivisches Pendant in Bachs mit
Violoncello piccolo besetzter Arie „Mein gläubiges Herze“ aus der Kantate BWV
68 (1725), bzw. in deren weltlicher Vorlage BWV 208 aus dem Jahre 1713.99
Bei aller harmonischen Komplexität finden die Harmoniewechsel ausschließlich
auf der ersten Zählzeit jedes Takts statt, was auf ein hohes Tempo schließen
lässt. Letzteres legt auch die nur in Kellners Abschrift zu findende
Spielanweisung „presto“ nahe.
Tanzsätze
- Allemande: der beiden Teile bis ins Detail rhythmisch ähnlich oder gar gleich,
was auch wieder zu einer strengen Form aus zwei gleich langen Teilen führt.
Dieser hochentwickelten motivischen Arbeit steht eine auffällig sparsame
Harmonik gegenüber, die im ersten Teil gerade einmal die Dominante einführt
und festigt und im zweiten Teil nach kurzem Berühren des Mollparallelen- und
Subdominantbereichs wieder zur Tonika führt.
Der Satz ist recht deutlich motivisch geprägt durch das Spiel mit in die
99
Kantate Nr. 208 Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd, hier die nur vom Continuo
begleitete Arie Weil die wollenreichen Herden
65
Sechzehntelbewegung eingefügten Zweiunddreißigstelwerten; der Satz hat
einen bei Bach nicht häufigen Auftakt aus drei Sechzehnteln. Bach erfindet hier
immer neue Motive, die auch alle im zweiten Teil wieder aufgegriffen werden –
streckenweise sind die sich entsprechenden Abschnitte identisch in ihrer
rhythmischen Struktur.
- Courante: Das Notenbild gibt sich sehr unauffällig – scheinbar nur
Achtelketten, die selten anhalten, um dann gleich mit einem schnellen Auftakt
wieder loszulaufen. Bach entwickelt melodische Bögen von vier und oft acht
Takten, die in beiden – wieder fast gleich langen – Formteilen durch das
Andeuten einer zweiten und dritten Stimme zunehmend zur Mehrstimmigkeit
führen.
- Sarabande: Der Satz führt wieder ausgeprägte Betonungen auf der ersten und
zweiten Zählzeit ein. Der zweite, doppelt lange, Teil wendet sich schnell zur
Dominante der II. Stufe und erreicht diese über eine geheimnisvolle Figur, die
ihren Reiz aus der harmonischen Molltonleiter bezieht, vor allem aber aus einer
spannungsgeladenen Synkope, die die erwartete zweite Zählzeit ausspart. Die
letzten Takte führen in die Tonika zurück, nutzen auf diesem Weg aber
mehrfach Zwischendominanten, so dass sich in der Unterstimme nebenbei
auch ein b-a-c-h-Motiv bildet.
- Bourée: Die Rhythmik des kurzen, deutlich tanzgeprägten ersten Teils der
66
ersten Bourree wird im zweiten Abschnitt zunächst wiederholt und moduliert
dabei zur Tonikaparallele. Beim dritten Durchgang löst sich alles in Achtelketten
auf, die sich so weit vom Original entfernen, dass Bach unauffällig weiteres
Material einschieben kann, ehe ein deutlicher Rückgriff auf die zweite
Viertaktgruppe des Beginns den Satz zur Grundtonart zurückführt.
Die zweite Bourrée löst die deutliche Rhythmik der ersten von Beginn an in eine
weiche Achtelbewegung auf, die Bach mit vielen Legatobögen versieht und die
die Gesamtausgabe nicht ohne Grund mit piano bezeichnet. Ziel ist hier aber
ganz offenbar nicht eine Verschleierung der Periodik, sondern nur ein
Gegensatz im Charakter – anders als in vielen anderen von Bach komponierten
Bourréen (etwa in der E-Dur-Partita für Violine solo) sind diese Sätze in den
Cellosuiten III und IV auffallend klar gegliedert.100
- Gigue: Ein sehr wirkungsvoller Abschlusssatz mit einer unerwarteten Fülle
melodischen Materials – latente und echte Zweistimmigkeit, verschobene
Akzenten und – in den zweiten Hälften beider Formteile – ausgeprägte
Dudelsackeffekte. Der Satz beginnt mit einer unscheinbaren Variante des
„Giga“-Typ, wie er in der ersten und vor allem der vierten Suite am reinsten und
deutlichsten ausgeführt ist, mit einer Umkehrung des Tonleitermotivs vom
Beginn der Suite. Immer mehr bestimmen dann aber Sechzehntel das
100
Dominik Sackmann: Bach und der Tanz. 2005, S.19
67
Notenbild; zuletzt führt der erste Abschnitt noch ein kleines anapästartiges
Motiv ein, das erst im anschließenden zweiten Teil eine wichtige Rolle spielen
wird. Doch anders als in allen anderen Tanzsätzen der Sammlung greift dieser
zweite Teil nicht auf den Satzbeginn zurück, sondern führt zunächst noch
einmal ganz neues Material ein. Erst dann greift er die verschiedenen anderen
Elemente der Reihe nach auf und bringt die Suite überzeugend zu Ende.
- Allgemeiner Charakteristik: „Brillanz“, strahlendes C-Dur, ungetrübte Freude,
allmählich Steigerung der technischen Ansprüche erkennbar (auch für den
Zuhörer), nicht mehr so schlicht wie die erste Suite101
- Vierte Suite in Es – Dur, BWV 1010
Prélude 2/2Takt (91Taktzahl) Es-Dur
Allemande 2/2Takt (40Taktzahl) Es-Dur
Courante 3/4Takt (64Taktzahl) Es-Dur
Sarabande 3/4Takt (32Taktzahl) Es-Dur
Bourée1,2 2/2-4/4-2/2Takt (48-12-48Taktzahl) Es-Dur
Gigue 12/8Takt (42Taktzahl) Es-Dur
101
vgl. J.S. BACH: Cello Suiten, CD, Interpret: Mstislav Rostropowitsch, Beilageheft S.31-45
68
- Prélude: Dieser Satz bildet eine harmonisch weit ausgreifende Akkordstudie,
und erinnert deutlich an ähnliche Sätze für Laute und entfernt an das Prélude
der ersten Suite. Gleich vom Beginn ab bilden zwei Takte eine harmonische
Einheit, was auf ein hohes Tempo schließen lässt. Subtile Änderungen des
Musters unterstützen diese Zweitaktigkeit und führen schließlich nebenbei
sogar aufsteigende Arpeggien ein, so dass durch den Rückgriff auf die
Anfangsmuster das Erreichen der Mollparallele verdeutlicht werden kann.
Unvorhersehbar bricht die Bewegung auf der siebten Stufe der Dominante
dieser zweiten Stufe ab; erst eine aus einer langen Sechzehntelkette
bestehende Kadenz setzt sie wieder in Bewegung.
Ab hier unterbrechen immer wieder schnelle Läufe oder Tonumspielungen das
Grundmuster und gewinnen soviel Bedeutung, dass der Satz auch nicht mit der
Wiederholung der Anfangstakte endet, sondern ebenfalls erst mit einem
Sechzehntellauf zum Tonikaakkord. Wegen der Tonart ist der Satz angesichts
seiner mehrstimmigen Akkorde für heutige Cellotechnik alles andere als einfach
zu spielen; daher ist bereits vermutet worden, dass Bach in dieser Suite ähnlich
wie in der fünften die a-Saite herunterstimmte – nach g oder as.
Tanzsätze
- Allemande: Abgesehen von der wohl erst später entstandenen sechsten
Cellosuite ist dies die einzige Allemande aus den Cellosuiten und Englischen
69
Suiten, bei der der zweite Teil länger als der erste ist. Sie ist von der
Ornamentik und in der Verwendung von Akkorden deutlich einfacher konzipiert
als die Allemanden aller anderen Suiten. Der erste Teil etabliert zwei
sechstaktige Gruppen, die auf zwei Takte Tonleitergänge mit einer motivische
Viertaktgruppe antworten; eine Viertaktgruppe schließt diesen Formteil ab. Der
zweite Teil beginnt wieder mit einer sechstaktigen Einheit und überlagert
anschließend Vier- und Sechstakter; ein Reprisenbeginn oder auch nur das
Wiedererreichen der Tonika wird nicht deutlich herausgearbeitet.
- Courante: Der Satz ist grundsätzlich auf einer Achtelbewegung aufgebaut, mit
langen Auftakten aus Sechzehntelketten. Dem stellt Bach immer wieder eine
Triolenbewegung entgegen, so dass die Rhythmik ungewöhnlich reichhaltig ist;
damit schwankt der Satz zwischen dem Typ der französischen Courante und
der italienischen „Corrente“ 102 . Möglicherweise liegen hier auch bereits
Einflüsse des galanten Stils vor, die in Zukunft zu genauerer Datierung
herangezogen werden könnten.
- Sarabande: Bach verzichtet fast völlig auf Akkorde oder auch nur deutliche
Dissonanzen auf der zweiten Zählzeit, so dass der Tanz sehr stark stilisiert
wirkt. Die Melodiestimme zeichnet sich durch häufige Punktierungen aus und
durch synkopische Überbindungen auf die erste Zählzeit, die nur durch den
102
Schwemer, Bettina, Woodfull-Harris, Douglas: J. S. Bach – 6 Suites a Violoncello senza
Basso – Textband. Kassel 2000, S. 13.
70
über weite Strecken obligat durchgehenden Bass markiert werden.
- Bourée: Als größtmöglichen Gegensatz zum vorhergehenden Satz zeichnet
die erste Bourrée den zugrundeliegenden Tanzcharakter sehr deutlich; so
bestehen die Periodiken klar aus – nirgendwo in Frage gestellten –
Zweitaktgruppen, die sich im ersten Teil und weiten Teilen des zweiten zu
Viertaktgruppen verbinden. Der zweite Teil besteht aus drei etwa gleich langen
Abschnitten; beim mittleren (in der Mollparallele) und dem abschließenden
Tonika-Abschnitt verschleiert Bach die Themeneinsätze. Charakteristisch für
den Satz – und in einer Bourrée eher selten – ist der schnelle Auftakt aus vier
Sechzehnteln, den Bach sofort für motivisches Spiel nutzt.
Dieser deutlich virtuosen ersten Bourrée folgt der größtmögliche Gegensatz:
Ein lakonisch kurzes, fast gänzlich aus Vierteln aufgebautes Bourrée 2 in
deutlicher Zweistimmigkeit.
- Gigue: Der italienische Giga-Typ ist hier besonders deutlich ausgeprägt; das
Fehlen
jeder
schnelleren
Bewegung
und
der
betont
langsame
Harmoniewechsel lassen auf ein besonders hohes Tempo schließen. Auch hier
verbinden sich zweitaktige Phrasen über weite Strecken zu Vier- und
Achttaktgruppen, doch wird die Periodik immer wieder durch zweitaktige
Einschübe subtil gestört, so dass schon der erste Teil aus zehn Takten besteht.
Der zweite Teil besteht aus zwei Abschnitten und moduliert in der Mitte von der
71
Dominante über deren Parallele zur Tonikaparallele; der Schlussteil beginnt wie
eine tongetreue Reprise, erweitert diese aber auf sechzehn Takte.
- Allgemeiner Charakteristik: „Majestät“, königliches Es-Dur, hebt sich von den
anderen Suiten durch natürliche Eleganz hervor.103
- Fünfte Suite in c-Moll BWV 1011
Prélude 2/2+3/8Takt (223Taktzahl) c-Moll
Allemande 2/2Takt (36Taktzahl) c-Moll
Courante 3/2Takt (24Taktzahl) c-Moll
Sarabande 3/4Takt (20Taktzahl) c-Moll
Gavotte1,2 4/4Takt (36-22-36Taktzahl) c-Moll
Gigue 3/8Takt (72Taktzahl) c-Moll
- Prélude: Den ersten Satz bildet eine zweiteilige Französische Ouvertüre aus
einer Einleitung mit den typischen punktierten Rhythmen und einem
darauffolgenden Fugato. Der erste Teil bleibt allein neun Takte auf der Tonika
beziehungsweise ihrem Orgelpunkt, ehe er sich endlich zur Dominante öffnet.
103
vgl. J.S. BACH: Cello Suiten, CD, Interpret: Mstislav Rostropowitsch, Beilageheft S.31-45
72
Auch diese bleibt volle fünf Takte bestehen, dann erst kommt Bewegung in die
Harmonik, die nach sechs Takten die Subdominante erreicht und diese
ebenfalls in sechs Takten festigt. Anders als in allen anderen derartigen
Instrumentalsätzen Bachs wird der einleitende Abschnitt nicht wiederholt,
sondern führt unmittelbar in das Fugato.
Diese setzt das Thema fast ausschließlich auf Tonika und Moll(!)-Dominante ein;
erst der letzte Einsatz findet auf der Tonikaparallele statt. Auch dies lässt eine
frühe Entstehung vermuten. Der Satz zeigt immer wieder die deutliche
Abgrenzung von Formteilen, die klar als Zwischenspiele auftreten; der
Wiedereintritt des Thema wird dann meist verschleiert durch spielerisches
Verstecken des Themenkopfs unter Figuration.
Über vier Fünftel der Fuge fassen deutlich je zwei Dreiachteltakte zu zusammen,
erst im letzten Teil treten mehr und mehr Hemiolen auf, die diese
Zweitaktgruppen unterbrechen und verändern. Am Schluss wird – anders als
sonst immer in Bachs Instrumentalwerk – der punktierte Teil nicht mehr wieder
aufgenommen.
Tanzsätze
- Allemande: Der Satz erinnert deutlich an die punktierten Rhythmen der
Französischen Ouverture; dies könnte ein Grund sein, warum Bach die
Ouverture ohne Rückgriff darauf beendet hat. Wieder haben wir zwei gleich
73
lange Formteile vor uns. Harmoniewechsel finden meist nur auf vollen Takten
statt, oft durch vierstimmige Akkorde markiert. Die Harmonik bleibt immer nah
an der Grundtonart.
- Courante: Als einziger innerhalb der Cellosuiten entspricht der Satz dem
französischen Typus Courante, nicht der italienischen Corrente. Eine taktweise
aufsteigende Tonleiter der Unterstimme in den ersten Takten, die in die Tonika
zurückfällt, dramatisiert das Erreichen der Dominante im sechsten Takt, womit
Bach zunächst eine Fünftaktigkeit etabliert hat. Es folgt eine lange Kette von
Hemiolen, also geradtaktigen Motiven, die das Grundmaß von 3/2 völlig
überlagern und dem Hörer die Orientierung nehmen. Der zweite Satzteil scheint
sich noch weiter von der Grundtaktart zu entfernen, ehe der vorletzte Takt mit
seiner Kadenz im 3/2-Takt wieder zum Tonikaakkord zurückführt.
- Sarabande: Dieser Satz ist besonders interessant, weil der für den Charakter
dieses Tanzes wichtige Tanzrhythmus mit der (meist dissonanten) Betonung
auf der zweiten Zählzeit hier durch eine rein einstimmige Achtelkette
angedeutet wird. Ausdruck und Dissonanzbehandlung sind mit der Arie Seufzer,
Thränen, Kummer, Noth aus Kantate 21 verglichen worden104 und sind auch in
der
104
ausschliesslichen
Einstimmigkeit
eindeutig
jenseits
der
üblichen
Uri Toeplitz: Zur Sarabande aus dem Solo für die Flöte (BWV 1013) In: Bach-Jahrbuch
2001, S. 85
74
Verwendung des Instruments – In der Cellotradition des 20. Jahrhunderts,
wesentlich beeinflusst durch Casals, wird der Satz als extrem langsames
Lamento dargestellt, ohne jeden Bezug zum Charakter des zugrundeliegenden
Tanzes.
- Gavotte: Überraschend deutlich wird der Tanzcharakter durch vollgriffige
Akkorde betont. Der zweite Teil hat die doppelte Länge des ersten, in der Mitte
moduliert er zur Durparallele und am Schluss zurück zur Tonika. Auffällig
innerhalb dieser klaren Tanzperiodik ist der Versuch, hier eine hochentwickelte
Polyphonie darzustellen.
105
Die zweite Gavotte löst den fast derben
Tanzcharakter der ersten in weiche Triolenbewegung auf; sie steht in der
gleichen Tonart und gibt sich zu Beginn ebenfalls dreiteilig – nach dem
wiederholten ersten Abschnitt führt ein zweiter gleich langer zur Dominante, der
dritte dann zurück zur Tonika, wo er dann aber ganz unerwartet weiterführt, so
dass diese zweite Gavotte einen überproportional langen zweiten Teil
entwickelt – möglicherweise hat ja Bach diesen Satz bei der Übernahme in den
Zyklus hier erweitert.
- Gigue: Nach den vielen stark durch Doppelgriffe geprägten Sätzen dieser
Suite fällt die Schlichtheit der Gigue auf, die – wie auch in der vierten Suite –
rein einstimmig bleibt. Dadurch tendiert der Satz stellenweise zu leichter
105
Dominik Sackmann: Bach und der Tanz. 2005, S. 23
75
harmonischer Mehrdeutigkeit; schon bei den ersten beiden Takten bleibt die
Frage offen, ob sie wirklich die Tonika oder etwa ihre Parallele markieren.
Der Satz besteht aus klaren Achttaktgruppen, ohne jede Störung oder
Verunklarung der Periodik – der erste Teil hat drei thematisch abgegrenzte
Achttaktgruppen, der zweite sechs. Im Gegensatz zu allen anderen Giguen des
Zyklus’ basiert der Satz auf punktierter Rhythmik und stellt diese auch deutlich
heraus, folgt also dem Modell der französischen Gigue.106
Diese Suite ist auch in g-Moll in einer Fassung für Laute (BWV 995) überliefert.
Beide Versionen enthalten sowohl kleinere satztechnische Verbesserungen als
auch Schreibfehler gegenüber der anderen Fassung; daraus ist zu schließen,
dass sie unabhängig auf eine gemeinsame Urfassung zurückgehen.
Für Cello ist das Werk in Skordatur notiert; das heißt, die a-Saite wird um einen
Ganzton nach g heruntergestimmt, was maßgeblich zu einem gedeckteren
Gesamtklang beiträgt. Eine derartige Cellostimmung war in Bologna üblich107,
doch ist nicht zu beweisen, dass sich Bach auf diese Tradition bezogen hätte
oder sie auch nur gekannt hätte; dies ist eher unwahrscheinlich, denn ein
anderes Werk Bachs in einer solchen Stimmung ist nicht bekannt.
Näher liegt die Annahme einer Urfassung für Laute oder auch Gambe, deren
106
Dominik Sackmann: Bach und der Tanz. 2005, S. 44
107
Clemens Fanselau, Suiten für Violoncello Solo BWV 1007-1012 in: Siegbert Rampe,
Dominik Sackmann (Her.), Bachs Orchester- und Kammermusik – das Handbuch, 2013,
S.290
76
Mehrstimmigkeit Bach so besser aus der originalen Quartenstimmung auf das
Cello übertragen konnte. Am Weimarer Hof hatte 1693 bis 1695 August Kühnel
gewirkt; ein Exemplar seiner gedruckten 14 Sonate ô Partite für eine oder zwei
Gamben mit Continuo könnte dort bei Bachs Ankunft durchaus in der Bibliothek
vorhanden gewesen sein – einige Stellen daraus ähneln entsprechenden
Wendungen in Bachs fünfter Cellosuite.
108
Diese Parallelen lassen die
Annahme einer Erstfassung für Gambe zumindest denkbar erscheinen.
Klanglich weniger befriedigende Doppelgriffe in tiefer Lage könnten auf eine
spätere Transposition des Werks nach unten hinweisen, und einige gehaltene
Töne in Prélude und Gigue, während denen offenbar eine andere aktive
Stimme vorzustellen ist, legen ebenfalls nahe, dass das Werk ursprünglich nicht
für Violoncello geschrieben war.
Auf eine frühe Entstehung vor den anderen Cellosuiten weisen harmonische
Eigenarten,
unregelmäßiger
Periodenbau
und
die
Verwendung
älterer
Mollcharakter
durch
Tanzformen hin.
-
Allgemeiner
Charakteristik:
„Verinnerlichung“,
Herabstimmen der a-Saite verstärkt, Verdeutlichung und stärkere Ausprägung
der Charakteristik der zweiten Suite, Verzweiflung, die nicht laut ausgedrückt
108
Clemens Fanselau, Suiten für Violoncello Solo BWV 1007-1012 in: Siegbert Rampe,
Dominik Sackmann (Her.), Bachs Orchester- und Kammermusik – das Handbuch, 2013,
S.268
77
wird, sondern im Inneren ausgetragen wird (introvertiert).109
- Sechste Suite in D-Dur BWV 1012
Prélude 12/8Takt (104Taktzahl) D-Dur
Allemande 4/4Takt (20Taktzahl) D-Dur
Courante 3/4Takt (72Taktzahl) D-Dur
Sarabande 3/2Takt (32Taktzahl) D-Dur
Gavotte1,2 2/2Takt (28-24-28Taktzahl) D-Dur
Gigue 6/8Takt (68Taktzahl) D-Dur
- Prélude: Das Prélude spielt deutlich an einen Konzertsatz an – es etabliert
zunächst eine ausgeprägte ritornellartige Struktur, die nach und nach auf allen
vier möglichen Stufen auftreten wird und den Satz somit deutlich in sechs –
zunehmend längere – Abschnitte gliedern wird. Dieses „Ritornell“ setzt immer
recht überraschend ein und hat zwar einen hohen Wiedererkennungswert durch
seine
ersten
Takte
mit
bariolageartiger
Technik,
bildet
aber
keine
abschließende Kadenz, sondern geht nahtlos fortspinnend in die jeweils
folgenden Episoden über, wobei zu erwähnen ist, dass in diesem Satz sich die
einzigen Angaben über Dynamik aller Suiten finden, nämlich die Bezeichnung
für eine Echowirkung nach dem ersten Takt forte/piano, die in der Folge immer
109
vgl. J.S. BACH: Cello Suiten, CD, Interpret: Mstislav Rostropowitsch, Beilageheft S.31-45
78
wieder kommt.
Während dieser Ritornellkopf harmonisch statisch ist, ändert sich im übrigen
Satz der Rhythmus der Harmoniewechsel immer wieder und wird bei anhaltend
gleichbleibenden Triolenachteln sogar Mittel zur Gestaltung. Die ersten elf
Takte modulieren allmählich zur Dominante, wo sie exakt wiederholt werden
und so zur zweiten Stufe führen, deren Mollcharakter nun Änderungen erfordert
und zu längeren Modulationspassagen ausgenutzt wird. Nachdem in der
Satzmitte mit erneutem Auftreten des Ritornells die Subdominante G-Dur
markiert wurde, beginnt Bach allmählich, immer höhere Register zu nutzen und
schließlich die bis dahin nie verlassene unablässige Triolenbewegung mehrfach
kurz zu stauen, bis sie sich in kaskadenartige Läufe und Akkordbrechungen
auflöst.
Auch diese werden wieder unvorbereitet durch ein kurzes Ritornellzitat auf
Dominante und Tonika abgelöst; dann leitet Bach deutlich hörbar die
Rückmodulation in die Ausgangstonart ein. Der Satz schließt mit einigen
Akkordschlägen und einer kurzen Coda.
Tanzsätze
Bei näherer Betrachtung zeigen sich deutliche Gegensätze zwischen den
ersten beiden Tanzsätzen und den drei folgenden: Während Allemande und
Courante ihre periodische Struktur eher verwischen, bestehen Sarabande,
Gavotten und Gigue geradezu überdeutlich aus Vier- und Achttaktgruppen ohne
jeden Ansatz, diese Periodik zu stören. Diese drei Sätze scheinen auch die C79
Saite auffällig wenig zu verwenden; möglicherweise könnte das auf eine
Entstehung zunächst für ein viersaitiges Instrument schließen lassen. Auch ein
harmonisches Detail fällt bei Allemande und Courante auf: Sie erreichen gegen
Ende ihrer Formteile die Zieltonart jeweils sehr früh und festigen sie dann auf
liegender Harmonie, was sonst in den Cellosuiten in dieser Ausprägung nicht
vorkommt. Diese und andere Eigenschaften könnten in Zukunft einmal zur
genaueren Datierung herangezogen werden und lassen eine Überarbeitung
einer Frühfassung als denkbar erscheinen.
- Allemande: Nach dem Konzertsatz des Préludes folgt hier der dazugehörige
langsame Satz: Virtuose, scheinbar endlose Kantilenen eines Soloinstruments,
nur leicht gestützt durch wenige Akkorde und Basstöne, zwischen denen
stellenweise noch eine angedeutete Mittelstimme hervortritt.
- Courante: Mit einer einzigen charakteristischen Figur und wenigen Varianten
gestaltet Bach den ganzen Satz. Die Figur ist ein langer Auftakt aus einem
gebrochenen Akkord. Nach und nach erweitert Bach ihn in beiden Satzteilen
durch immer längere Sechzehntelketten, die ebenfalls auftaktig wirken und die
Spannung ständig steigen lassen.
- Sarabande: Der Satz bildet mit seinen ausgedehnten drei- und vierstimmigen
Akkorden wohl den Höhepunkt an echter Mehrstimmigkeit in allen sechs
80
Cellosuiten. Grundsätzlich auf einer Variante des Foliarhythmus basierend,
führt er gleich zu Beginn die Zweiteilung der ersten Zählzeit ein (zwei Viertelstatt einer halben Note). Nach und nach werden auch die anderen Zeiten
unterteilt, so dass lange Ketten von Doppelgriffen entstehen, zunächst als
Akkordbrechungen,
dann
immer
mehr
als
extensive,
ausdrucksvolle
Vorhaltsketten.
- Gavotte: Die Gavotten etablieren ihren charakteristischen Rhythmus sehr
deutlich; die erste bringt in der zweiten Hälfte des Mittelteils eine deutliche
Reprise; die zweite führt dieses Prinzip noch weiter, indem sie – man denkt an
die Gavotte an Rondeau der 3. Violinpartita und das Rondeau der h-Moll-Suite
BWV 1067 – ein echtes Rondo darstellt, mit drei Refrains und einem vier- und
einem achttaktigen Couplet, die beide anschließend noch einmal wiederholt
werden.
- Gigue: Der Satz ruft einen deutlichen pastoralen Charakter hervor durch
Hornquinten gleich zu Beginn und die Verwendung von Orgelpunkten, die
motivisch auf den Eingangssatz anspielen. So hat er keinen virtuosen, sondern
einen eher behäbigen Charakter, vergleichbar mit dem Schlusssatz des
Sechsten Brandenburgischen Konzerts.
Diese Suite ist für ein fünfsaitiges Instrument mit zusätzlicher hoher e-Saite
81
komponiert. Der Tonumfang ist gegenüber den anderen Suiten vergrößert – um
wesentlich mehr als die Quint, die die zusätzliche Saite von sich aus bietet. Die
Doppelgrifftechnik stellt deutlich höhere Anforderungen, und auch die größere
Länge aller Sätze lässt auf eine spätere Entstehung schließen. Auch sonst sind
die durchschnittlichen spieltechnischen Anforderungen deutlich höher als den
fünf anderen Suiten; daher „kann die sechste Suite nicht Bachs ersten Versuch
einer Komposition für ein ungewohntes Instrument dargestellt haben.“110
Wer die Entstehung für ein am Arm gespieltes Instrument bei den anderen
Suiten bezweifelt, wird dennoch angesichts der hohen technischen und
musikalischen Schwierigkeiten, die sich auch einem Cellisten mit heutiger
Technik in der sechsten Suite entgegenstellen, akzeptieren, dass diese Suite
ursprünglich nicht für das heutige, am Bein gespielte Instrument geschrieben
wurde.
Wenn die sechste Suite tatsächlich erst um 1724 in Leipzig entstand, ist Bachs
Bereitschaft erstaunlich, die zu diesem Zeitpunkt für ihn kompositorisch bereits
überholten Formen der anderen Suiten aufzunehmen. Die drei Partiten für
Violine solo zeigen in dieser Hinsicht ein wesentlich inhomogeneres Bild, und
auch die mehrfach überarbeitete sechste Sonate für Violine und Clavier BWV
1019 fügt sich nicht gerade unauffällig in die Serie ein. Dies könnte auf ein
110
Marc M. Smith: Joh. Seb. Bachs Violoncello piccolo – neue Aspekte, offene Fragen. In:
Bach Jahrbuch. 1998, S. 74.
82
schon höher entwickeltes Interesse Bachs an einem durchgeformten Zyklus
schließen lassen.
- Allgemeiner Charakteristik: „Ein Sonnenstrahl“, sonnige, triumphale Tonart,
bildet Abschluss des Zyklus, unterscheidet sich aber gleichzeitig stärker von
den anderen fünf (mehr Betonung auf Harmonien, Höhe durch e-Saite, bzw.
heute Daumenaufsatz.111
4. Ansätze zur Interpretation der 6 Suiten
Die Qualität der Interpretation steht und fällt also primär mit der Phrasirung. Und
ich gestehte, dass ich dies auch für das Hauptproblem der vergleichenden
Interpretation der Bach-Solosuiten halte. Meiner Meinung nach ist die
Hauptsache, und dies halte ich für ein musikalisches Gesetz, klarzustellen,
dass das Prinzip der Bachschen Phrasierung auf eine ideale Bogenführung
zurückgeht, dass Bach kein schematisches System kennt, sondern Note für
Note, Gruppe für Gruppe, Satz für Satz, Suite für Suite und der ganze Zyklus
genau im Detail studiert werden müssen.
Die dynamische Nuancierung zieht – schon allein aus der Spieltechnik –
111
vgl. J.S. BACH: Cello Suiten, CD, Interpret: MstislavRostropowitsch, Beilageheft S.31-45
83
Folgerungen aus der Phrasierung, die bei richtiger Anwendung ohnedies jedem
Interpreten klar sein müssen. Das ändert aber nicht daran, dass dennoch nach
wie vor große Auffassungsunterschiede bestehen: - ob der Schwellcharakter
zulässig sei, ob nur Lautstärke forte, mezzoforte, mezzopiano, piano und
pianissimo , die auch Bach sonst notiert, vorzuführen seinen, oder nicht andere mehr Gebildete Interpreten haben damit in der Regel keine Probleme,
weil sie sich nach dem melodischen Verlauf richten und damit die energetische
Spannung auch auf die Lautstärke umlegen. Dass Bach in das Manuskript
dreimal piano und zweimal forte eingetragen hat, zeigt wie immer den Wunsch
nach Besonderem, konkret dem Echoeffekt wie im Präludium der 6. Suite.
Die einstimmige Polyphonie ist ein Schlüsselbegriff, der ohne das spezifische
Vertändnis von Phrasierung und Dynamik nicht zu verstehen wäre. Auch wenn
es wie eine contradiktio in se klingt, ist der Begriff richtig, denn er zeigt, dass so
die Mehrdeutigkeit der einen Stimme sich aus sich selbst aufschließt und wir
auch gar nicht anders können, als sie zu hören. Dieser einstimmige (lineare)
Kontrapunkt würde nicht funktionieren, wenn nicht in unserem Unterbewußtsein
oder
in
dem
des
Klangkonstruktionen
in
musikgebildeten
verschiedene
Hörers
Richtungen
die
Wirksamkeit
vorgeformt
wäre.
der
Es
unterscheidet zwischen sichtbaren Stimmen und solchen, die sich darunter
verbergen, die auf Grund der Artikulation länger halten oder länger prägend
sind, die vor allem in der Bezeichnung zum Sekund-Nachbarnton eine
84
bestimmte Vorstellung erzeugen. Bach selbst gibt mit seinen Umarbeitungen
einstimmiger Solowerke für vielstimmige Instrumente die Bestätigung für diese
Annahme.
Die Kernsätze daraus, dass die energetische Grundkraft die Prägung eines
Satzes
ausmacht
und
als
solcher
für
die
Suiten
der
Kontrapunkt
herausgearbeitet wird, dass der Ursprung des Kontrapunktsatzes nicht im
Akkord, sondern in der Linie läge und dass sich zwei oder mehrere Linien
gleichzeitig in möglichst unbehinderter melodischer Entwicklung entfalten
können, und zwar trotz der Zusammenklänge, ist die Konsequenz aus dieser
Betrachtungsweise.
Tatsächlich ist bereit vielen Autoren aufgefallen, dass Bach in den Cellosuiten
relativ stark auf harmonische Bildungen als Zusammenklänge, Parallel- oder
Sexten – Terzen usw. verzichtet, auch dort, wo es technisch ganz einfach
gewesen wäre. Damit ist aber auch klar, dass, wenn wir von unserm klassischromantischen Harmoniebewußtsein nicht abstrahieren, wir die Besonderheit der
einstimmigen Polyphonie nur schwer hören können. Und dass das nicht nur uns
so geht, ist auch aus einigen Ausgaben ersichtlich, wo im Sinn der
harmonischen Stimmigkeit Bachs Autograph- wir können sagen: falsch
verändert wird.
Dieser einstimmige Kontrapunkt ist eine selbständige Kunstform mit spezifisch
85
eigenen Möglichkeiten, die kurzen Motivfragmente mit kühnen Effekten und
nachezu tollkühnen Wendungen korreliert. G. Hulshoff hat 1936 generaliter in
einer
Studie
veranschaulicht.
das
112
Besondere
an
Bachs
einstimmigem
Kontrapunkt
Er nahm dabei Zuflucht zur bildenden Kunst und
entwickelte eine dreidimensionale Figur. Auf ihr läuft die Stimme als sichtbare
Linie, die sich aber mit anderen Linien aus dem gleichen Stimmenmaterial
kreuzt, und sich teilweise harmonische Felder ergeben, jedenfalls aber ein
architektonisches Gebäude liefern, wo nicht nur die Außenhaut, sondern auch
die
Innenstruktur
sichtbar
wird,
wodurch
die
Gleichzeitigkeit
von
Verschiedenheit zumindest ansatzweise akzentuiert werden kann.
Abgesehen von der konstruktiven Schönheit und klaren Analogie wird damit mit
einem Blick sichtbar, welche unendliche Leistung diese einstimmige Polyphonie
letztlich war, welche Bedeutung die Fortspinnung und das Auftreten von
Sequenzen in immer neuen Zusammenhängen haben, wie aus einem
thematischen Gebilde sich Ähnlichkeitszüge herauslösen, immer dynamisch
motiviert und immer von unsichtbaren Alternativen umgeben.
Letztlich entsteht aus dieser einstimmigen Polyphonie der harmonischakkordische Zusammenhang, den wir zu hören gewohnt sind, am einfachsten
wohl in der Dreiklangsdurchschreitung, ebenso aber auch in den diachronen
112
http://www.uni-ak.ac.at/culture/wagner/articles/wag00-Cello.html (13.12.2016)
86
Terzen- und Sextenfolgen, der Konstruktion von Vorhaltstönen, der Auflösung
von Leittönen (wenn auch in anderen Tonhöhe), den distanzierten melodischen
Linien meistens in den tiefsten Stimmen, die weitab vom musikalischen
Geschehen liegen, soweit, dass Kurth von einer „Spaltung der Stimme“ spricht,
oder jenen Verdeutlichungen, wo der gleiche Ton auf zwei verschiedenen
Saiten als Träger zwei verschiedener Stimmentwürfe benutzt wird.
Sequenzen können ebenso akkordische Zwischentonvorstellungen bewirken
wie jene nachhaltigen Harmoniebässe, die auf Grund ihrer Tiefe im Wortsinn
Basiswirkung
zeigen
und
ihre
Verdichtung
in
der
Andeutung
von
Orgelpunktstimmen finden.
Dass Bach für diese Orgelpunktmodelle bewußt leere Saiten einsetzt oder
einfachste Griffe, zeigt, wie sehr er sich der Haltephase bewußt war.
5. Interpretationsvergleich
5. 1. Lebenslauf und Zugang der Interpreten zu den Cellosuiten113
5. 1. 1. Pablo Casals (1878-1973)
Pablo Casals war der 1878 in einem katalanischen Dorf südlich von Barcelona
113
vgl. PÂRIS, Alain: Lexikon der Interpreten klassischer Musik im 20. Jahrhundert. Kassel,
1992
87
geboren, lernte zuerst bei seinem Vater Klavier und Orgel und sah erst im Alter
von elf Jahren ein richtiges Cello. Zuvor konnte und spielte er nur die von
Wandermusikern verwendeten Instrumente. Auf sein Drängen hin erlaubten ihm
die Eltern in die Stadt zu ziehen, wo er, sich seinen Lebensunterhalt selbst
verdienend, bei Verwandten untergebracht, in der städtischen Musikschule
Unterricht erhielt. In einem Antiquariat fand er durch Zufall die Bach’schen
Cellosuiten. Die Erinnerung an den unerwarteten Fund ist in seiner Biographie
„Licht und Schat-ten auf einem langen Weg“ nachzulesen: „Nie hatte ich von
der Existenz dieser Suiten etwas gehört; niemand – auch meine Lehrer nicht –
hatte sie vor mir auch nur erwähnt. (...) Ich jagte nach Hause; presste dabei die
Noten an mich, als ob es Kronjuwelen wären, und in meinem Zimmer angelangt,
stürzte ich mich kopfüber in diese Musik, las sie, studierte sie wieder und
wieder. Ich war damals dreizehn Jahre alt, aber die folgenden achtzig Jahre hat
sich mein Staunen über diese Entdeckung nur noch vergrößert. Diese Sui-ten
eröffneten mir eine ganz neue Welt. Ich begann sie mit unglaublicher Erregung
anzuspie-len; sie wurden meine Lieblingsstücke. Ich studierte sie und arbeitete
an ihnen die nächsten zwölf Jahre Tag für Tag. Jawohl, zwölf Jahre sollten
vergehen, ehe ich mit fünfundzwanzig den Mut aufbrachte, eine jener Suiten
öffentlich im Konzert vorzutragen. Bis dahin hatte kein Geiger, kein Cellist
jemals eine der Bachsuiten ungekürzt gespielt. Man spielte einzelne Sät-ze –
eine Sarabande, eine Gavotte, ein Menuett. Aber ich spielte die Suiten ganz –
vom Prä-ludium an durch alle fünf Tanzsätze mit sämtlichen Wiederholungen,
88
die jedem der Stücke seine wundervolle Einheitlichkeit, seinen Duktus, seine
Struktur, seine architektonische und künstlerische Fülle verleihen. Man hatte
diese Suiten für akademisches Zeug gehalten, für mechanischen Etüdenkram
ohne musikalische Wärme. Man muß sich das einmal vorstellen. Wie konnte ein
Mensch sie kalt finden – sie, die Poesie, Wärme und Raumgefühl förmlich
ausstrahlen! Sie sind die Quintessenz von Bachs Schaffen, und Bach selbst ist
die Quintessenz aller Musik.“114
Die erste öffentliche Aufführung durch Casals muss demnach kurz nach 1900
stattgefunden haben. Seine Bedeutung liegt in der „Entdeckung“ der Suiten als
Gesamtwerke für Konzerte und so kann auch über seine damals moderne,
subjektive Richtung seiner Interpretation hinweggesehen werden. Weiters zählt
seine
Aufnahme
der
Cellosuiten
auch
heute
noch
zu
den
Besten.
Rostropowitsch sagt über Casals’ Spiel: „Es war eine recht rhapsodische
Interpretation ...Und als Casals für mich spielte, schien es mir, man könne Bach
gar nicht anders interpre-tieren. Darin kam seine ganze künstlerische
Persönlichkeit zum Ausdruck, und sein ganzes Engagement in seinem
Musizieren.“115
114
Casals, Pablo: Licht und Schatten auf einem langen Weg. Erinnerungen aufgezeichnet von
A.E. Kahn. 1970, S.32
115
Johann Sebastian Bach: Cello Suiten, CD, Interpret: Mstislav Rostropowitsch, S.29/30 des
Begleithefts
89
5. 1. 2. Mstislav Rostropowitsch (1927-2007)
Der russischer Cellist und Dirigent Mstislav Leopoldowitsch Rostropowitsch
begann sein Studium mit 16 Jahren am Moskauer Konservatorium bei
Professor Kosolupow. Mitte der 70er Jahre setzte er sich von der Sowjetunion
ab.
Viele
bedeutenden
Komponisten
(darunter
Britten
und
Dimitri
Schostakowitsch116) schrieben Werke für ihn. Über die Cellosuiten von J.S.
Bach sagt er: „Diese Werke lassen mich jeden Tag, jede Stunde etwas Neues
entdecken.“117 Er zögerte lange mit der Aufnahme aller sechs Suiten, denn er
sagt: „Das schwierige in der Bachschen Interpre-tation ist die Balance zwischen
dem menschlichen Gefühl, dem Herzen – das Bach zweifellos besaß – und der
un-entbehrlichen Strenge, dem Ernst und der Tiefe der Inter-pretation.“118
5. 1. 3. Heinrich Schiff (1951-2016)
Der am 18.11.1952 in Gmunden geborene Cellist und Dirigent Heinrich Schiff
stammte
aus
einem
musikalischen
Elternhaus.
Beide
Eltern
waren
Komponisten. mit zehn Jahren begann er, an der Musikschule Linz bei Roland
Rois Violoncello zu lernen. Dann er studierte an der Wiener Hochschule für
116
Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch (1906-1975) in Moskau), ein russischer Komponist,
Pianist und Pädagoge.
117
Johann Sebastian Bach: Cello Suiten, CD, Interpret: Mstislav Rostropowitsch, S.28 des
Begleithefts
118
Johann Sebastian Bach: Cello Suiten, CD, Interpret Mstislav Rostropowitsch, S.30 des
Begleithefts
90
Musik und hatte zusätzlich Unterricht, unter anderem bei Tobias Kühne und
André Navarra an der Hochschule für Musik Detmold. 1972 gab er sein Debüt.
Viele Einladungen zu Festspielen (Salzburg, Berlin, Edinburgh) folgten. Viele
Komponisten schrieben Werke für Schiff, die er weltweit zur Uraufführungen
brauchte. Unterrichtete er als Hochschullehrer, zuerst an der Hochschule für
Musik und Tanz Köln, dann an der Universität Basel, später am Mozarteum in
Salzburg und an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und
wandte sich später mehr und mehr dem Dirigieren zu.
5. 2. Besonderheiten in der Interpretation einzelner Sätze der ersten
und sechsten Suite
5. 2. 1. I.Suite: Prélude
-Pablo Casals wählt ein vergleichsweise eher langsames Tempo für den
Einleitungssatz der Suite. Doch das Tempo läuft nicht durch das ganze Stück,
denn Casals geht relativ freizügig mit Ritardandi, Accelerandi (zum Höhepunkt
einer Phrase hin) und Verzögerungen um. Wenn er es für notwendig hält, dehnt
er (meist für die Harmonik wichtige) Töne, wie zum Beispiel Basstöne. Aber er
artikuliert nicht in allen Takten gleich und spielt gelegentlich ohne Verzögerung
oder übermäßige Betonung über den ersten Schlag hinweg.
91
Zu seiner Artikulation ist allgemein zu bemerken, dass er häufig Bindungen
verwendet, auch dort, wo diese von Bach nicht notiert sind. Non legato-Spiel
über längere Strecken kommt nicht vor. Die Bindungen geben seinem Spiel
etwas Weiches und dämpfen die Betonungen ein wenig ab. Aber sie haben
auch eine sehr flüssige Interpretation zur Folge.
Dynamische Kontraste sind wohl vorhanden, aber nicht so ausgeprägt wie bei
Rostropowitsch. Sie wirken eher spontan und natürlich wie zum Beispiel
Crescendi bei Aufbau von Spannung und das darauffolgende Abphrasieren.
- Rostropowitsch wählt ein deutlich schnelleres Tempo. Dadurch bedingt sind
Dehnungen nicht so übermäßig stark ausgeprägt wie bei Casals, der ganze
Satz wirkt leichter. Die Akkordzerlegungen und Tonleiterbewegungen laufen vor
sich hin, ihr Ablauf ist logisch und selbstverständlich. Die großen Phrasen sind
ihm wichtiger als die einzelnen Takte, so wirkt sein Spiel vielleicht auch
abgerundeter. Er erlaubt sich keine agogischen Freiheiten.
Rostropowitsch verwendet keine überflüssigen, nicht notierten Bindungen und
wenig Akzente.
Dynamisch sind vor allem die wunderschönen Piano- und PianissimoKlangfarben hervorzuheben. Starke dynamische Kontraste machen seine
Interpretation spannend und abwechslungsreich. Nach einem taktelangen
92
Crescendo und der Steigerung bis ins Fortissimo kann ein zartes Pianissimo
folgen. Während Casals sein Spiel vor allem durch Verzögerungen interessant
gestaltet, verwendet Rostropowitsch diese Dehnungen in kleinerem Ausmaß.
Kontraste setzt er aber durch die Dynamik.
- Heinrich Schiff verwendet im Prélude das schnellsten Tempo der zwei
Interpreten, was zwar einerseits dem Vorwärtsdrängen des Satzes entspricht,
doch fast schon gehetzt klingt. Aufgehalten wird er lediglich durch seine oft
harten Akzente und Dehnungen (entsprechen fast weichen Akzenten) auf dem
ersten und dritten Viertelschlag im Takt und eine Art „Stillstand“ in der
Bewegung
in
einzelnen
Takten.
Seine
Idee,
die
Basstöne
und
Taktschwerpunkte hervorzuheben, ist gut ausgeführt, anders als bei den
großen Phrasen Rostropowitschs. Der Wechsel von harten und weichen
Akzenten bringt andere Klangfarben und Neues für den Hörer.
Auch die Dynamik, die oft hilft größere Phrasen zu verdeutlichen, geht, teils
wegen des schnellen Tempos, teils wegen Akzenten unter, obwohl sie sich
meist zwischen Mezzopiano und Fortissimo bewegt. Schiff lässt leise
Klangfarben kaum deutlich hervorkommen.
5. 2. 2. I. Suite: Gigue
- Geradezu berühmt ist Casals für seine Interpretation der Gigue in der ersten
93
Suite: nach starker Betonung der ersten und vierten Achtel (im 6/8 Takt), von
denen er sich richtiggehend „abstößt“, holt er Schwung für die nächsten beiden
Achtelnoten, die er dann im Staccato spielt. Sein fast überbundenes Spiel der
dritten und vierten Achtel besonders in T.5/6 gibt seiner sehr lebendigen
Interpretation einen seltsamen Rhythmus. Ab T.9 ändert sich der Charakter
vollständig. Er geht vom Gesprungenen in eine weichere Artikulation über. Die
letzte Viertel des ersten Teils fast nur halb so lange spielend geht er sofort in
den zweiten über. Hier erreicht er mit einem subito Piano den Kontrast zum
ersten Teil, wodurch sein Spiel nun auch sanfter und weicher klingt. Beim
ersten Mal setzt er auf die Schlussnote ei-nen Akzent, bei der Wiederholung
verwendet Casals ein kleines Ritardando im letzten Takt.
Caslas wählt übrigens das langsamste Tempo der drei Interpreten für den
Schlusssatz der Suite, was aber durch seinen Schwung nicht weiters auffällt.
- Bei der Gigue steht bei Rostropowitsch mehr die fortlaufende Linie im
Vordergrund.
Dadurch
bedingt
macht
er
auch
weniger
Betonungen,
Verzögerungen und Akzente. In T.9 ist der Kontrast weniger stark. Die Dynamik
ist aber, wie in den meisten Sätzen, gut durchdacht: Der zweite Teil nach einem
kräftigen Anfang im Piano gehalten, das bei T.21 sogar ins Pianissimo übergeht.
Die letzen acht Takte sind dann wieder in einem satten Mezzoforte gehalten.
Rostropowitschs Interpretation ist insgesamt „neutraler“, was durchaus nicht
94
negativ zu werten ist. Er fällt nicht von einem Extrem ins andere, was das
Tempo betrifft. Die dynamische Gestaltung ist ein wichtiger Bestandteil seiner
von der Artikulation sehr genau dem Notentext entsprechenden Interpretation.
- In der Gigue kommt bei Schiff auch das Tänzerische-Wilde durch, wenn auch
in gedämpfter Form verglichen mit Casals.
Schiff beginnt, ganz entgegen seiner Gewohnheit eher harte Akzente zu setzen,
weich. Daraus ergibt sich auch kein Kontrast in T.9, wo er sogar noch das
Tempo etwas vorantreibt. Schiff spielt sehr kurz artikulierte Auftakte, die den
tänzerischen Charakter unterstreichen. Stark abgesetzt und auch mit Akzenten
auf die zweite Achtel versehen spielt er dann T.28-31. Die Schlussnote erhält
durch einen kleinen Praller nach einem Ritardando an Gewicht und beschließt
die erste Suite endgültig.
5. 2. 3. VI. Suite: Prélude
- Bei Casals findet der Echoeffekt, für den die VI. Suite bekannt ist, öfters
Anwendung als notiert. Es lässt sich darüber streiten, ob dieser von Bach bei
weiteren, ähnlichen Stellen durch Flüchtigkeit weggelassen wurde, oder von
Bach absichtlich nur an bestimmten Stellen eingesetzt wurde. Agogische
Freiheiten wie etwa Dehnungen, welche die Ausdruckskraft der Melodie
verstärken, werden durch die Dynamik (z.B. Crescendi) vorbereitet.
95
Die letzten Takte (nach dem Akkord in T.100) lassen das Prélude in
langsameren Tempo nach nochmaligem Ritardando ausklingen.
- Rostropowitsch schöpft im Prélude der letzten Suite alle Klangfarben und
dynamischen Nuancierungen voll aus. Sattes Forte wechselt mit einem aus der
Ferne erklingenden Piano bzw. Pianissimo. Der Echoeffekt geht über eine
bloße dynamische Abstufung hinaus. Auch die Artikulation ist im Piano meist
etwas kürzer. Im Forte erlaubt auch Rostropowitsch sich kleine agogische
Freiheiten, im Piano fallen diese jedoch fast gänzlich weg. Akzente sind kaum
zu finden.
In höheren Lagen kommt die Melodie in einer singenden Klangfarbe durch. Die
helle Klangfarbe, die er in hohen Lagen erreicht, kommt der leeren e’-Saite des
Violoncello piccolo119 sehr nahe.
- Schiff wagt sich in einem sehr schnellen Tempo an das Prélude der letzten
Suite heran. Sein Spiel, das durch die Bogenführung hüpfend, bewegt klingt, ist
sicher das virtuoseste der drei Interpreten. Akzente und Betonungen setzt Schiff
auf die für die Harmonik wichtigen Basstöne und verdeutlicht so die
Scheinpolyphonie (Basslinie – Melodielinie). Dynamische und agogische
Gestaltung ist zwar vorhanden, aufgrund des Tempos aber nicht sehr stark
differenziert.
119
s. Kapitel 2.5. S.23
96
5. 2. 4. VI. Suite: Allemande
- In der Allemande, die Tempi sind sehr unterschiedlich der drei Interpreten,
spielt Casals ein gemäßigtes Tempo, um schnelle Notenwerte noch gut
ausspielen zu können. Auch in diesem Satz wird seine Interpretation durch
zahlreiche agogische Freiheiten und zusätzliche Ornamente (vor allem Triller
oder Praller) ergänzt. An manchen Stellen scheint Casals die Bindebögen frei
nach interpretatorischem Gutdünken zu setzen, wodurch ein voller Klang
entstehen kann.
Besonders hervorheben möchte ich den zweiten Teil der Allemande, in dem
hohe und tiefe Passagen einander abwechseln. Casals bringt diesen
„Dialog“ eindrucksvoll zur Geltung. Die Dynamik passt sich dem Melodieverlauf
an und verstärkt diesen durch Crescendi und Diminuendi.
Insgesamt gesehen gelingt Casals eine – vom Tempo und Verzierungen
unabhängig – ruhige Interpretation, wodurch trotz des nicht allzu langsamen
Tempos der Gegensatz zur folgenden Courante gegeben ist.
- Rostropowitsch hat um einiges langsamere Tempo ausgewählt. Dadurch
ändert sich auch der Charakter der Allemande: Obwohl sich in diesem Satz
sogar Rostropowitsch einige zusätzliche Verzierungen erlaubt, dominiert die
gesangliche Melodieführung. Auch in diesem Tanzsatz behält er den hellen,
97
strahlenden Klang in hohen Lagen bei, ohne in tieferen Passagen den vollen,
satten Celloklang einzubüßen.
- Schiff setzt das schnelle Tempo des Préludes auch in der Allemande fort,
ohne dabei den Eindruck eines gehetzten Spiels zu vermitteln. Dies gelingt vor
allem dadurch, dass er die Melodie zu Ornamenten macht, wohingegen
Rostropowitsch diese auskostet. So vermittelt Schiff auch in der Allemande
eher einen virtuosen Gesamteindruck. Dieser wird aber durch eine ausgeprägte
dynamische Gestaltung, zusätzliche Triller und Dehnungen in den Hintergrund
gerückt, da dem Hörer ein in sich ruhendes Klangbild vermittelt wird.
5. 3. Kurzer Überblick über die Interpretation der Suiten von Casals,
Rostropowitsch und Schiff120

Tempo
- Pablo Casals’s Tempi sind meistens ein mäßiges Tempo. Er spielt bei
120
Bach, Johann Sebastian: 6 Suiten für Violoncello, CD; Interpret: Pablo CASALS,1997, EMI
Records Ltd. Suite I: aufgenommen 2.VI.1938, Paris, Suite II: aufgenommen 25.XI.1936,
Abbey Road, London, Suite III: aufgenommen 23.XI.1936, Abbey Road, London, Suite IV:
aufgenommen 13-16.VI.1939, Paris, Suite V: aufgenommen 14.-15.VI.1939, Paris, Suite VI:
aufgenommen 3.VI.1938, Paris
Bach, Johann Sebastian: Cello Suiten, CD; Interpret: Mstislav ROSTROPOWITSCH,1995,
EMI Records Ltd. Aufgenommen: III.1991, Basilique Sainte-Madeleine, Vézelay, Yonne,
Franc von Radio France
Bach, Johann Sebastian: Cellosuiten, CD; Interpret: Heinrich SCHIFF, 1985/2000, EMI
Records Ltd. Aufgenommen: III., V., IX., & XI.1984, Evangelische Kirche Seon
98
Sarabanden nicht zu langsam und geht freizügig mit Dehnungen und
Verzögerungen um.
- Mstislav Rostropowitsch macht wenig Temposchwankungen (Dehnungen,
usw.). Er spielt insgesamt mittleres Tempo. (mäßig bis schnelles Tempo in
Couranten, langsames Tempo in Sarabanden, auch bei Allemanden)
- Heinrich Schiff wählt oft schnelles Tempo, er macht wenige Dehnungen, Zeit
wird bei starken Akzenten verbraucht. Dies stellt ihn nicht vor technische
Schwierigkeiten,
aber
er
läuft
Gefahr
über
musikalische
Details
hinwegzuspielen ohne den Zuhörer an ihnen teilhaben zu lassen (zumal dieser
mit dem Werk meist nicht so vertraut ist).

Dynamik121
- Casals spielt nur abschnittsweise stark differenziert122. Er ergibt sich aus
dem natürlichen Fluss der Melodie und Aufbau von Phrasen mithilfe der
Dynamik (Crescendo, Decrescendo).
- Rostropowitsch macht feine dynamische Unterschiede, besonders im
121
Die Dynamik fließt deshalb so stark in den Interpretationsvergleich mit ein, da von Bach
keine Aufzeichnungen darüber existieren und die dynamische Gestaltung deshalb den
Interpreten obliegt. Sie folgt selbstverständlich dem Zeitgeist, dennoch besitzt jeder Spieler
sein eigenes Konzept.
122
wobei man nicht genau feststellen kann, wie viel an Dynamik durch die alte Aufnahme
(es handelt sich zudem um einen Mitschnitt) verloren gegangen ist)
99
Pianobereich. Die musikalische Gestalt und Struktur verdeutlicht durch Dynamik.
- Schiff, seine dynamische Nuancierungen geraten (auch tempobedingt) ins
Hintertreffen, wenige Stellen reizen Piano-Klangfarben aus. Piano wird auch
durch die vielen Effekte (Akzente, betonte Triller) verhindert.

Artikulation
- Casals, seine Artikulation gibt teilweise hinzugefügte Bindungen, Triller,
Akkorde und sonstige Verzierungen und klingt natürlich und spontan.
- Rostropowitsch artikulierte Melodie, oft tenuto oder portato mit Betonung auf
Einfachheit und Schlichtheit.
- Schiff spielt meist kurze Artikulation mit vielen Akzenten (hart/weich) und oft
leichte, tänzerische Bogenführung. Man hört viele Kontraste.

Sonstiges
- Casals spiet sehr schwungvoll, energisch, lebendig und eher subjektiv betonte
Interpretation, was zu seiner Zeit „modern“ war, Obwohl er mit viel Gefühl spielt,
stellt er sich selbst nicht in den Mittelpunkt. Vibrato in kleinem Ausmaß.
-
Rostropowitsch
macht
urtextorientierte
Interpretation
(Bindungen,
Verzierungen, etc.). Er spielt fast kein Vibrato und gerade Töne, und lässt die
100
Musik für sich selbst sprechen, fügt ihr nichts hinzu.
- Schiff macht sehr objektiv, tänzerisch und gesprungen, bringt sich selbst nicht
in die Interpretation ein. Die Betonung von Verzierungen, selten hinzufügen
derselben und er spielt wenig Vibrato, betont aber die Spannung im sich
entwickelnden Ton nicht so stark wie Rostropowitsch.
101
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Bach, Johann Sebastian: 6 Suiten für Violoncello, CD; Interpret: Pablo Casals
Suite I: aufgenommen 2.VI.1938, Paris, Suite II: aufgenommen 25.XI.1936,
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Bach, Johann Sebastian: Cello Suiten, CD; Interpret: Mstislav Rostropowitsch
Aufgenommen: III.1991, Basilique Sainte-Madeleine, Vézelay, Yonne, France
von Radio France 1995, EMI Records Ltd.
Bach,
Johann
Sebastian:
Cellosuiten,
CD;
Interpret:
Heinrich
Schiff
Aufgenommen: III., V., IX., & XI.1984, Evangelische Kirche Seon 1985/2000,
EMI Records Ltd.
106
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