Gutachten zu der Frage der Vereinbarkeit einer auf Ebene einer

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Gutachten
zu der Frage der Vereinbarkeit einer auf Ebene einer
Landesverfassung eingeführten wahlrechtlichen
Sperrklausel für Kommunalwahlen mit dem
Grundgesetz
Angefertigt von Dr. Sebastian Roßner M.A.,
Düsseldorf
A. Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................................................... 3
B. Rechtliche Maßstäbe für die Einführung einer kommunalwahlrechtlichen Sperrklausel
auf Ebene einer Landesverfassung......................................................................................... 5
I. Art 21 I GG................................................................................................................... 5
1. Inhalte ....................................................................................................................... 5
2. Maßstäblichkeit für Verfassungsänderung ............................................................... 7
II. Identitätswahrende „Ewigkeitsklausel“........................................................................ 7
III. Art. 28 I GG als objektiv-rechtlicher Maßstab für die Landesverfassungen............... 9
1. Homogenitätsgebot aus Art. 28 I 1 GG .................................................................. 10
2. Spezielles Identitätsgebot aus Art. 28 I 1 GG......................................................... 11
IV. Rechtfertigungsbedürftigkeit verfassungsunmittelbarer Sperrklauseln .................... 11
C. Wirkungen von Sperrklauseln und Rechtfertigungsanforderungen................................ 16
I. Einschränkende Wirkungen von Sperrklauseln........................................................... 16
1. Mechanische Wirkung ............................................................................................ 16
a) Fehlender Einfluss „verlorener Stimmen“ auf Zusammensetzung der
Volksvertretung .................................................................................................... 17
b) Verzerrung der Gleichheit des passiven Wahlrechts und der Chancengleichheit
der Parteien........................................................................................................... 17
2. Psychologische Wirkung ........................................................................................ 18
3. Wirkung auf die mediale Berichterstattung über politische Parteien...................... 19
4. Faktische Dimension der Auswirkungen ................................................................ 19
II. Rechtfertigungsanforderungen ................................................................................... 21
1. Einschränkung aus zwingendem Grunde................................................................ 22
2. Verhältnismäßige Verfolgung des Grundes............................................................ 22
3. Funktionsstörungen der Volksvertretung einziger Rechtfertigungsgrund für
wahlrechtliche Sperrklauseln....................................................................................... 23
a) Nur punktuelle Funktionsstörungen unzureichend ............................................. 24
b) Überprüfung der gesetzgeberischen Prognose ................................................... 24
c) Funktionsstörung anhand rechtlicher Funktionsanforderungen zu beurteilen .... 26
4. Funktionen von Kommunalparlamenten................................................................. 26
a) Repräsentationsfunktion ..................................................................................... 26
b) Weitere Funktionen nach der Gemeindeordnung und der Kreisordnung ........... 27
c) Sicherungen gegen mögliche Funktionsstörungen ............................................. 29
i. Beschlussfähigkeit ...................................................................................... 29
ii. Mehrheit.................................................................................................... 30
iii. Haushalt................................................................................................... 30
iv. Vom Volk gewählter Hauptverwaltungsbeamter .................................... 31
v. Staatliche Aufsicht.................................................................................... 31
vi. Bei Funktionsausfall Möglichkeit gesetzgeberischen Eingreifens.......... 31
5. Maßstab für eine Rechtfertigung ............................................................................ 32
A. Zusammenfassung der Ergebnisse
Die Konkurrenz zwischen den politischen Parteien ist, auch und gerade, soweit sie
durch wahlrechtliche Regelungen bestimmt wird, normativ als Wettbewerbsrecht
strukturiert.1 Dies ergibt sich aus der Sache: Die Entscheidung über das Wahlrecht stellt
auch eine Entscheidung über das Kräfteverhältnis zwischen den politischen Parteien
dar, denn angesichts der festen, jedenfalls aber begrenzten Zahl zu verteilender Mandate
stellt sich der Vorteil der einen als Nachteil der anderen Bewerber dar.
Die Einführung einer kommunalwahlrechtlichen Sperrklausel greift in den politischen
Wettbewerb ein, denn die Nichtberücksichtigung derjenigen Stimmen, die für eine
Partei abgegeben wurden, welche den vorgesehenen Stimmenanteil nicht erringen
konnte, führt zu einer Bevorzugung der in Konkurrenz stehenden erfolgreichen und
parlamentarische Mandate erringenden Parteien, indem die den unberücksichtigten
Stimmen entsprechende Zahl der Sitze an die in der Volksvertretung vertretenen
Parteien verteilt wird. Zudem prägen Sperrklauseln auch die Einschätzung der Wähler
von den Chancen kleinerer Parteien, in das zu wählende Parlament einzuziehen, und
führen zur Sorge, die abgegebene Stimme „zu verlieren“. Sperrklauseln üben so eine
wesentliche Vorwirkung auf das Wahlverhalten aus.
Dieser Eingriff wird durch Akteure dieses Wettbewerbs vorgenommen und inhaltlich
bestimmt. Weil es sich tendenziell um eine „Gesetzgebung zu Lasten Dritter“, nämlich
der kleinen, nicht im Parlament vertretenen Parteien, handelt, fehlt es im
Gesetzgebungsprozess am korrigierenden Element gegenläufiger politischer Interessen.
Wahlrechtliche Sperrklauseln müssen daher verfassungsgerichtlich streng kontrolliert
werden, um Missbrauch der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit auszuschließen und
so die Chancengleichheit des politischen Wettbewerbs aufrechtzuerhalten.2
Das
Grundgesetz
enthält
zwei
Normen,
die
als
Maßstäbe
für
eine
kommunalwahlrechtliche Sperrklausel dienen, die durch ein Land eingeführt wird, sei
es auf der Ebene des einfachen Rechts, sei es auf der Ebene der jeweiligen
Landesverfassung. Dies sind Art. 21 I GG und Art. 28 I 1 und 2 GG. Denn die
Verfahren der Sitzzuteilung, insbesondere die Einführung von Sperrklauseln,
M. Morlok, Parteienrecht als Wettbewerbsrecht, in: Festschrift für D. Th. Tsatsos 2003, S. 408 (434
f.).
1
BVerfGE 135, 259 (289); 130, 212 (229), 129, 300 (322 f.); 120, 82 (105); ausdrücklich auch
bezogen auf eine gesteigerte Kontrollintensität bei verfassungsändernden Gesetzen HbgVerfG,
Urteil vom 08. Dezember 2015 – 2/15, HVerfG 2/15, juris Rn. 88; S. Roßner, Sperrklauseln –
Wahlrechtliche Marktzugangsbeschränkungen auf dem Prüfstand, in: KommPWahlen 2012, S. 10
(12); H. Meyer, in: J. Wieland (Hrsg.), Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache, 2011, S. 48
f.
2
3
unterliegen den Maßstäben der Wahlrechtsgrundsätze3 sowie der Chancengleichheit der
politischen Parteien. Die mit der Einführung von Sperrklauseln verbundene
Ungleichbehandlung im Wahlrecht beeinträchtigt sowohl das subjektive Wahlrecht des
einzelnen Wählers wie auch die Chancengleichheit der Parteien und auch das passive
Wahlrecht der Kandidaten der Parteien.
Die Anforderungen für die Rechtfertigung einer auf Ebene der Landesverfassung
geregelten Sperrklausel für Kommunalwahlen unterscheiden sich nicht von denjenigen,
die für eine einfachgesetzlich geregelte Sperrklausel gelten, soweit sie an Artt. 21 I und
28 I GG als höherrangigem Recht zu messen sind. Eine kommunalwahlrechtliche
Sperrklausel kann nur durch eine bereits eingetretene und festgestellte oder jedenfalls
mit hinreichender Sicherheit für die Zukunft prognostizierbare, gravierende
Funktionsstörung gerechtfertigt werden, die nicht nur punktuell, sondern in einer
erheblichen Anzahl von Kommunen auftritt. In rechtlicher Hinsicht muss anhand der für
die
jeweiligen
Kommunalparlamente
einschlägigen
kommunal-
und
landesverfassungsrechtlichen Normen sowie anhand des Grundgesetzes ermittelt
werden, welches die Funktionsanforderungen sind, denen nicht Genüge getan wird oder
von denen dies mit einiger Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden kann. An diese
rechtliche Analyse muss sich eine eingehende tatsächliche Analyse anschließen, die
landesweit die Arbeitsbedingungen der Kommunalparlamente ins Auge fasst. Diese
Prognose hat der Gesetzgeber nicht nur einmal, bei Erlass der Sperrklausel, sondern
immer wieder vorzunehmen, um zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für eine
Sperrklausel nach wie vor gegeben sind. Es handelt sich um eine gesetzgeberische
Pflicht zur permanenten Überwachung der Sperrklausel.
Selbst dann, wenn eine erhebliche und weitflächige Funktionsstörung mit hinreichender
Sicherheit festgestellt oder prognostiziert wird, ist weiterhin zu prüfen, ob durch andere
Mittel Abhilfe geschaffen werden kann, wie etwa durch Änderungen der
Geschäftsordnungen der Kommunalparlamente, bevor zum scharfen Mittel einer
wahlrechtlichen Sperrklausel gegriffen wird.
Vgl. U. Sacksofsky, § 6 – Wahlrecht und Wahlsystem in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz
Parlamentsrecht, 2016, Rn. 59; N. Achterberg/M. Schulte, in; v. Mangoldt/Klein/Starck GGK, Bd. II,
6. Aufl. 2010, Art. 38 Rn. 129.
3
4
B. Rechtliche Maßstäbe für die Einführung einer
kommunalwahlrechtlichen Sperrklausel auf Ebene einer
Landesverfassung
Da die Verfassungsräume von Ländern und Bund grundsätzlich getrennt sind, stellt sich die
Frage ob, und falls ja, welche Bestimmungen des Grundgesetzes als rechtlicher Maßstab für
Normen
in
einer
Landesverfassung
herangezogen
werden
können,
die
eine
kommunalwahlrechtliche Sperrklausel statuieren.
Für die Beantwortung dieser Frage ist von Bedeutung, dass die Auslegung einer
Landesverfassung nicht nur die geschriebene Landesverfassung, sondern das gesamte in
dem Land geltende Verfassungsrecht berücksichtigen muss. Dazu gehören auch die aus
dem
Gesamtinhalt
der
Landesverfassung
abzuleitenden
Grundsätze
und
Grundentscheidungen und die Verfassungssätze des Grundgesetzes, die in die
Landesverfassung hineinwirken.4
Inhaltlich kommen vor allem Artt. 21 I und 28 I 2 GG als Normen des Grundgesetzes in
Betracht, die in den Bereich des Landesverfassungsrechts hineinwirken und maßstäblich für
kommunalwahlrechtliche Sperrklauseln sind.
I. Art21 I GG
Art. 21 I GG gewährleistet - neben anderem - auch das Recht der politischen Parteien
auf Chancengleichheit bei Wahlen. Anerkannt ist dabei, dass wahlrechtliche
Sperrklauseln die Gleichheit der Parteien betreffen, obwohl bei der Herleitung des
wahlrechtlichen Aspekts der Chancengleichheit von Parteien eine gewisse Unklarheit
herrscht.5
Das Gewicht dieses Rechts ergibt sich aus der Bedeutung, die der Freiheit der
Parteiengründung und dem Mehrparteienprinzip für die freiheitliche Demokratie
zukommt, und aus dem vom Grundgesetz gewollten freien und offenen Prozess der
Meinungs- und Willensbildung des Volkes.6
1. Inhalte
Inhaltlich verlangt der Grundsatz der Chancengleichheit generell für alle Parteien
gleiche Bedingungen, unter denen sie politisch tätig werden. Politische Parteien - wie
4
BVerfGE 1, 208 (LS 3, 232).
Tlw. als ungeschriebener Rechtssatz angesehen, BVerfGE 60, 162 (167); unmittelbar aus der
demokratischen Grundordnung hergeleitet, BVerfGE 1, 208 (242); aus Art. 21 Abs. 1 GG, BVerfGE
3, 19 (26); aus einer Kombination von Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 GG, BVerfGE 82, 322
(337); vgl. U. Volkmann, in: Friauf/Höfling (Hg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, (4.
Erg.-Lfg. 2002) Art. 21 Rn. 50 m.w.N.
5
Vgl. BVerfGE 85, 264 (297); ferner VerfGH NW, Urteil vom 16. Dezember 2008 – 12/08, juris
Rn. 43.
6
5
§ 2 I 1 PartG auch zum Ausdruck bringt - unterscheiden sich rechtlich von anderen auf
Beeinflussung staatlicher Politik ausgerichteten Organisationen dadurch, dass sie mit
eigenen Kandidaten zu staatlichen Wahlen antreten,7 was auch durch die
politikwissenschaftliche Theorie bestätigt wird.8
Aus dieser zentralen Rolle der Wahlteilnahme für die Parteien ergibt sich auch der
Dreh- und Angelpunkt des Grundsatzes der Chancengleichheit, nämlich, dass jeder
Partei und ihren Wahlkandidaten grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten
Wahlverfahren und damit auch die gleichen Chancen bei der Verteilung der Sitze
eingeräumt werden.9
Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit hängt erkennbar eng mit den
Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen. Deshalb ist –
ebenso wie bei der durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl
verbürgten gleichen Behandlung der Wähler – Gleichheit in einem strikten und
formalen Sinn geboten.10
Die Strenge und Formalität des Gleichheitssatzes schlägt sich auch nieder in den
Rechtfertigungsanforderungen für eine Abweichung: Wenn die öffentliche Gewalt in
den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen
Parteien gerade im Hinblick auf einen Wahlerfolg verändern kann, sind dem
Gestaltungsspielraum dabei besonders enge Grenzen gezogen. Auch dem Gesetzgeber
verbleibt für Differenzierungen nur ein eng bemessener Spielraum. Zur Rechtfertigung
bedarf es stets eines besonderen, sachlich legitimierten, „zwingenden“ Grundes.11
Sehr pointiert formuliert BVerfGE 8, 51 (63) daher, Parteien seien „vor allem Wahlvorbereitungsorganisationen“. BVerfGE 77, 96 (100 f.) führt implizit aus, dass es um die Wahlteilnahme mit dem
Ziel der Entsendung eigener Kandidaten in die Parlamente gehe, andere mit der Wahlteilnahme
verbundene Ziele für sich genommen reichten dagegen für die Parteieigenschaft nicht aus. Etwas
überspitzt zur Wahlteilnahme D. Grimm, Nochmals: Die Parteien im Rechtsstaat, DÖV 1983 (538541) S. 540: „[...] das entscheidende Kriterium, neben dem alle weiteren Begriffsmerkmale nur
Hilfsfunktion besitzen können.“
7
Klassisch A. Downs, An Economic Theory of Democracy (1957) S. 28, der die politische
Ausrichtung von Parteien durch das Bestreben nach der Gewinnung von möglichst vielen
Wählerstimmen gesteuert ansieht. Ein differenzierteres Modell bietet K. Strom, A Behavioral Theory
of Competitive Political Parties, AJPS 1990 (565-598). Ziel der Parteitätigkeit bleibt aber auch nach
Strom die Gewinnung politischer Macht.
8
Vgl. auch BVerfGE 120, 82 (104 f.) sowie VerfGH NW, Urteil vom 16. Dezember 2008 – 12/08,
juris Rn. 43.
9
BVerfGE 104, 14 (20); 85, 264 (279); 20, 56 (116); 14, 121 (133), st. Rspr.; VerfGH NW, Urteil
vom 16. Dezember 2008 – 12/08, juris Rn. 48.
10
BVerfGE 135, 259 (285); 129, 300 (319); 120, 82 (105); VerfGH NW, Urteil vom 16. Dezember
2008 – 12/08, juris Rn. 48; VerfGH NW, Urteil vom 06. Juli 1999 – 14/98, 15/98, juris Rn. 58;
VerfGH NW, Urteil vom 21. November 1995 – 21/94, juris Rn. 47.
11
6
2. MaßstäblichkeitfürVerfassungsänderung
Die geschriebene Landesverfassung und die in sie hineinwirkenden Bestimmungen des
(höherrangigen) Grundgesetzes als weitere Bestandteile machen erst die Verfassung des
Gliedstaates aus.12
In diesem Sinne gelten die Grundsätze des Art. 21 GG, der die politischen Parteien als
verfassungsrechtlich notwendige Instrumente für die politische Willensbildung des
Volkes anerkennt und ihnen einen verfassungsrechtlichen Status zuerkennt, nicht nur
für den Bereich des Bundes, sondern unmittelbar auch für die Länder.13
Art. 21 I GG kann deshalb von den Verfassungsgerichten der Länder herangezogen und
selbständig überprüft werden. Art. 21 GG ist aber zugleich als höherrangiges
Bundesverfassungsrecht bindend, und zwar auch für den verfassungsändernden
Landesgesetzgeber.
Politische Parteien sind damit auch befugt, ihre Rechte aus Art. 21 I GG in einem
Organstreitverfahren nicht nur vor dem Bundesverfassungsgericht, sondern auch vor
den Verfassungsgerichten der Länder zu verteidigen.
II. Identitätswahrende „Ewigkeitsklausel“
Die Aufnahme einer kommunalwahlrechtlichen Sperrklausel in eine Landesverfassung
kann auch an identitätswahrenden sogenannten „Ewigkeitsklauseln“ innerhalb der
Landesverfassungen gemessen werden, die - ähnlich wie Art. 79 III GG für das
Grundgesetz - inhaltliche Maßstäbe für Verfassungsänderungen aufstellen. Diese
Bestimmungen enthalten zumeist eine unabänderliche Verpflichtung auf die
Demokratie als Herrschaftsform.14
Vgl. BVerfGE 1, 208 (232); Siehe M. Nierhaus, in: Sachs GGK, 7. Aufl. 2014, Art. 28 Rn. 4; bei
grundsätzlicher dogmatischer Ablehnung der Theorie der „Bestandteilsnormen“ dennoch für eine
Einordnung des Grundsatzes der Chancengleichheit politischer Parteien unter das Demokratieprinzip
nach Art. 28 I GG; A. Dittmann, in: HdBStR VI, 3. Aufl. 2008, § 127 Rn. 19, 24 ff; siehe weiter H.
Klein, in: Herzog/Herdegen/Klein (Hg.), Maunz/Dürig GG, (78. Lfg. 2016), Art. 21 Rn. 147 ff; H.
Sodan/ J. Ziekow, in: Sodan/Ziekow Öffentliches Recht, 7. Aufl. 2016, § 6 Rn. 69.
12
Ständige Rspr. des Bundesverfassungsgerichts und der Landesverfassungsgerichte, vgl. nur
BVerfGE 120, 82 (104) m.w.N.; 66, 107 (113 ff.); 60, 53 (62); 6, 367 (375); 1, 208 (227); VerfGH
NW, Urteil vom 16. Dezember 2008 – 12/08, juris Rn. 43; VerfGH NW, Beschluss vom 23. Juli
2002 – 2/01, juris Rn. 30; VerfGH NW, Urteil vom 06. Juli 1999 – 14/98, 15/98, juris Rn. 53;
VerfGH NW, Urteil vom 21. November 1995 – 21/94, juris Rn. 33; VerfGH NW, Urteil vom 19.
Mai 1992 – 5/91, juris Rn. 49; VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15. Dezember 2014 – O 22/14,
juris Rn. 68; VerfGH Schleswig-Holstein, Urteil vom 13. September 2013 – 7/12, juris Rn. 89;
differenzierend VerfGH Berlin, Urteil vom 13. Mai 2013, juris Rn. 27.
13
Art. 101 I, II Verf Saarland; Art. 74 I Verf Sachsen i.V.m. Artt. 1; 3 I Verf Sachsen; Art. 75 I 2
Verf Bayern; Art. 46 Verf Niedersachsen i.V.m. Artt. 1 II; 2 I Verf Niedersachsen; Art. 64 I 2 Verf
Baden-Württemberg; Art. 78 III Sachsen-Anhalt i.V.m. Art. 2, I, II Verf Sachsen-Anhalt; Art. 129 II
Verf Rheinland-Pfalz i.V.m. Art. 74 I Verf Rheinland-Pfalz; Art. 69 I 2 Verf NW.
14
7
Für die Auslegung dessen, was „Demokratie“ bedeutet, kann auf die sogenannte
Homogenitätsklausel aus Art. 28 I 1 GG zurückgegriffen werden.15 Ausgehend von den
Gewährleistungsgehalten des Art. 28 I 1 GG ist ein Mindestmaß an Homogenität der
Landesverfassung
mit
den
Grundsätzen
der
in
der
Norm
genannten
Staatsstrukturprinzipien, insbesondere mit dem Demokratieprinzip gefordert. Dabei
bezieht sich Art. 28 I 1 GG insbesondere auf die Grundentscheidung in Art. 20 I und II
GG für Demokratie und Volkssouveränität sowie die daraus abzuleitenden Grundsätze
der demokratischen Organisation und Legitimation der Staatsgewalt.16 Insbesondere die
demokratische Gleichheit ist wesentlicher Bestandteil des Demokratieprinzips:17 Jeder
Staatsbürger hat im gleichen Umfang an der Ausübung von Staatsgewalt teil.18
Art. 20 II GG konkretisiert die demokratischen Grundgehalte der Verfassung
dahingehend, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgehen muss. In erster Linie übt das
Volk seine Staatsgewalt durch die Wahl von Volksvertretungen aus, insbesondere auch
auf der in diesem Gutachten behandelten kommunalen Ebene. Als Konkretisierungen
des Prinzips der Volkssouveränität zählen die Wahlrechtsgrundsätze – jedenfalls dem
Grunde nach – zum unabänderlichen Kern demokratischer Grundsätze, denn sie
verwirklichen nicht lediglich einen, sondern in ihrem Kern den Modus demokratischer
Wahl.19 Nach problematischer landesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung soll zwar
nur die Zählwertgleichheit der Stimmen von der Verpflichtung auf demokratische
Grundsätze aus Art. 28 I 1 GG streng geschützt, nicht aber die von einer
wahlrechtlichen Sperrklausel betroffene Erfolgswertgleichheit.20 Diese Differenzierung
vermag aber nicht zu überzeugen, da die demokratische Gleichheit sich eben auf die
Möglichkeiten der Bürger bezieht, staatliche Entscheidungen zu beeinflussen. Innerhalb
Vgl. HbgVerfG, Urteil vom 20. Oktober 2015 – 4/15, HVerfG 4/15, juris Rn. 71. Zu Art. 69 I 2
Verf NW siehe M. Sachs, Die Änderung der Landesverfassung – Kompetenz, Verfahren und
Grenzen, in: Verfassungsgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen, Festschrift zum 50-jährigen
Bestehen des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen, 2002, S. 225 (241).
15
Vgl. BVerfGE 93, 37 (66); 83, 60 (71); 47, 253 (272); 9, 268 (281); VerfGH NW, Urteil vom 18.
Februar 2009 – 24/08, juris Rn. 46.
16
So bereits Aristoteles: Politik, hrgg. v. J. Henderson, 2. Aufl. (1944 ND 2005) 1317 b. Die
Verbindung von Demokratie und Gleichheit ist Gemeingut, vgl. zum klassischen Bereich der
politischen Mitwirkungsrechte H. Meyer, in: HdbStR III, 3. Aufl. 2005, § 46 Rn. 30 zur
Wahlgleichheit: „fundamental mit dem Gedanken der Demokratie verbunden.“
17
So auch U. Kramer, Stellungnahme zum Kommunalvertretungsstärkungsgesetz im der
öffentlichen Anhörung des Hauptausschusses und des Ausschusses für Kommunalpolitik des
Landtages Nordrhein-Westfalen am 21. Januar 2016, LT-16/3325, B. I.; vgl. auch zum
Verfassungskern i.S.d. Art. 79 III GG J. Krüper, Verfassungsunmittelbare Sperrklauseln – Maßstab,
Modelle und Folgen einer Beschränkung der Wahlrechtsgleichheit im Grundgesetz, in: ZRP 2014,
130 (131) m.w.N.
18
J. Krüper, Verfassungsunmittelbare Sperrklauseln – Maßstab, Modelle und Folgen einer
Beschränkung der Wahlrechtsgleichheit im Grundgesetz, in: ZRP 2014, 130 (131).
19
HbgVerfG, Urteil vom 20. Oktober 2015 – 4/15, HVerfG 4/15, juris Rn. 76 f.; vgl. VerfGH
Berlin, Urteil vom 13. Mai 2013 – 155/11, juris Rn. 34 f.
20
8
des dafür vorgesehenen zentralen Verfahrens, also der Wahl zu staatlichen Ämtern und
Mandaten, bedeutet demokratische Gleichheit daher einen möglichst gleichen Einfluss
aller abgegebenen Stimmen auf das Ergebnis der Wahl.
Auch wenn man - so wie dies hier vertreten wird - der Ansicht ist, dass das
Demokratiegebot den gleichen Einfluss aller gültig abgegebenen Stimmen auf die
Zusammensetzung der gewählten Volksvertretung gebietet und nicht nur einen gleichen
Zählwert der Stimmen, ist allerdings die Wahlrechtsgleichheit nicht in dem Sinne
unantastbar, als dass sie jeglicher konkretisierenden Regelung entzogen wäre. Als
ausgestaltungsbedürftige Rechtsprinzipien muss die Gleichheit der Wahl zu
konkurrierenden Verfassungsbelangen ins Verhältnis gesetzt werden21, dazu unten C.II.
Wesentlich
ist
dabei,
landesverfassungsändernde
dass
nach
Gesetzgeber
hier
durch
vertretener
die
Ansicht
auch
Demokratiegebote
in
der
den
entsprechenden Ewigkeitsklauseln der Landesverfassungen22 auf den Grundsatz der
Gleichheit der Wahl festgelegt ist, woraus folgt, dass eine Einschränkung der
Wahlrechtsgleichheit auch dann vor dem entsprechenden Demokratiegebot der
Landesverfassung
rechtfertigungsbedürftig
ist,
wenn
sie
durch
ein
landesverfassungsänderndes Gesetz erfolgt.23
III. Art. 28 I GG als objektiv-rechtlicherMaßstab fürdie
Landesverfassungen
Die Verfassungsräume von Bund und Ländern sind grundsätzlich voneinander
unabhängig. Dieses prinzipiell selbständige Nebeneinander der Verfassungsräume stellt
jedoch keine Bezugslosigkeit dar. Dies wäre aufgrund der bundesstaatlichen Ordnung
Deutschlands, innerhalb derer Bund und Länder intensiv zusammenarbeiten müssen,
auch nicht praktikabel. Es bedarf daher einer gewissen Koordination und Homogenität
der Landesverfassungen und des Grundgesetzes. Zentrale Entscheidungen in diesen
Fragen der Kompatibilität von Landesverfasssungen und Bundesverfassung können nur
Vgl. für eine verfassungsunmittelbare Sperrklausel im Grundgesetz J. Krüper,
Verfassungsunmittelbare Sperrklauseln – Maßstab, Modelle und Folgen einer Beschränkung der
Wahlrechtsgleichheit im Grundgesetz, in: ZRP 2014, 130 (131).
21
Oder auch über Normen, mit denen die Gliedstaatlichkeit des jeweiligen Landes anerkannt wird,
etwa Art. 64 Verf Hessen. Dies zieht für grundlegende Homogenitätsanforderungen der Bremische
StGH, Urteil vom 12. April 2013 – 1/12, juris Rn. 63 in Betracht, wenngleich die kompetenziellen
Bestimmungen der Art. 70 ff. GG nicht über Bundesstaatlichkeitsnormen inkorporiert werden
könnten, siehe ebd. Rn. 64.
22
U. Kramer, Stellungnahme zum Kommunalvertretungsstärkungsgesetz im Rahmen der
öffentlichen Anhörung des Hauptausschusses und des Ausschusses für Kommunalpolitik des
Landtages Nordrhein-Westfalen am 21. Januar 2016, LT-16/3325, B. I.
23
9
im Grundgesetz getroffen werden.24 Dies bedeutet, dass ein Einwirken des
Grundgesetzes in den landesverfassungsrechtlichen Raum nicht ausgeschlossen ist. Die
Aussage von Trennung des Raumes der Landesverfassungen von demjenigen des
Bundes ist somit zu qualifizieren, denn lediglich, soweit das Grundgesetz für die
Verfassungen der Länder nichts bestimmt, können die Länder ihr Verfassungsrecht
selbst ordnen.25 Sie sind allerdings an der Entstehung wie gemäß Art. 79 II GG an der
Weiterentwicklung des Grundgesetzes als Mitwirkende beteiligt, wodurch ein
prozedural-politischer Schutz vor einer Aushöhlung der Eigenständigkeit ihrer
Verfassungsräume gegeben ist.
Vor allem die Bestimmung des Art. 28 I GG bewirkt die notwendige
Kompatibilisierung der Verfassungsräume der Länder mit demjenigen des Bundes.
Einerseits gibt sie der Verfassungsautonomie der Länder sichtbaren Ausdruck,
andererseits begrenzt sie zugleich deren konstitutionelle Gestaltungsfreiheit.26 Dabei
sind das allgemeine Homogenitätsgebot nach Art. 28 I 1 GG und ein spezielles
Identitätsgebot aus Art. 28 I 2 GG zu unterscheiden.
1. Homogenitätsgebotaus Art. 28 I 1 GG
Zunächst erkennt Art. 28 I 1 GG die Gestaltungsmacht der Länder bei der Konzeption
ihrer Verfassung an, indem nur ein gewisses Maß an Homogenität von Bundes- wie
Landesverfassungen gefordert wird.27 Jedoch wird eine strukturelle Homogenität der
Landesverfassungen mit dem Grundgesetz vorgeschrieben, die auch die demokratische
Gleichheit der Bürger beinhaltet, siehe oben II.
Vgl. insb. J. Dietlein, in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in NRW, 6. Aufl. 2016, § 1 Rn.
69.
24
BVerfGE 103, 332 (350); 96, 345 (368 f.). Dabei ist allerdings als Grenze grundgesetzlicher
Vorgaben wiederum der Grundsatz der Bundesstaatlichkeit nach Artt. 20 I, 79 III GG zu beachten.
25
M. Dombert, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus – Föderalismus als demokratische
Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt – Band II, 2012, § 27 –
Landesverfassungen und Landesverfassungsgerichte in ihrer Bedeutung für den Föderalismus, Rn. 5;
J. Dietlein, Das Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht, in: Verfassungsgerichtsbarkeit
in Nordrhein-Westfalen, Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Verfassungsgerichtshofs für das
Land Nordrhein-Westfalen, 2002, S. 203 (208); C. Pestalozza, Die Bedeutung gliedstaatlichen
Verfassungsrechts in der Gegenwart, in: NVwZ 1987, S. 744 (747); U. Kramer, Stellungnahme zum
Kommunalvertretungsstärkungsgesetz im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Hauptausschusses
und des Ausschusses für Kommunalpolitik des Landtages Nordrhein-Westfalen am 21. Januar 2016,
LT-16/3325, B. II.; vgl. auch BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 31. März 2016 – 2 BvR
1576/13, juris Rn. 54.
26
BVerfGE 103, 332 (350); 90, 60 (84 f.); 83, 37 (58); 41, 88 (119); 36, 342 (361); vgl. auch
BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 31. März 2016 – 2 BvR 1576/13, juris Rn. 57.
27
10
2. Spezielles Identitätsgebotaus Art. 28 I 1 GG
Soweit aber das Grundgesetz weitere Vorgaben macht, sind die Länder in der
Ausgestaltung ihrer Verfassung gebunden. Dies ergibt sich aus dem im Ganzen die
Landesautonomie begrenzenden Charakter des Art. 28 GG. In diesem Sinne wird der
Landesverfassungsgeber bezüglich des Wahlrechts in den Ländern durch das spezielle
Identitätsgebot des Art. 28 I 2 GG begrenzt, welches ein Minimum an
Rechtsgewährleistungen
bereits
bestimmt28,
nämlich
die
Allgemeinheit,
Unmittelbarkeit, Freiheit, Gleichheit und Geheimheit des Wahlrechts in den Ländern,
Kreisen und Gemeinden. Danach soll jedermann seine staatsbürgerlichen Rechte in
formal möglichst gleicher Weise ausüben können.29
Art. 28 I 2 GG gibt den Ländern somit eine konkrete Ausgestaltung bestimmter
demokratischer Grundentscheidungen verbindlich vor, zu denen insbesondere auch die
grundsätzlich zu gewährleistende, streng formal zu verstehende Wahlrechtsgleichheit
gehört.
IV. Rechtfertigungsbedürftigkeitverfassungsunmittelbarer
Sperrklauseln
Einschränkungen – sei es durch den einfachen Gesetzgeber oder den gleichermaßen an
die grundgesetzlichen Vorgaben gebundenen verfassungsändernden Landesgesetzgeber
–
bedürfen
gleichermaßen
der
Rechtfertigung.30
Dabei
sind
an
eine
verfassungsunmittelbare Sperrklausel dieselben materiell-rechtlichen Maßstäbe der
Rechtfertigung anzulegen wie an eine einfachgesetzliche.31
BVerfGE 83, 37 (58); 36, 342 (361); vgl. auch BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 31. März
2016 – 2 BvR 1576/13, juris Rn. 58; VerfGH Berlin, Urteil vom 13. Mai 2013 – 155/11, juris Rn.
34; J. Dietlein, Kommunale Sperrklausel durch Verfassungsänderung? Das Grundgesetz sitzt immer
am längeren Hebel, in: LTO vom 28.08.2014.
28
BVerfGE 51, 222 (234); 28, 220 (225); 16, 130 (138); 13, 243 (246); 13, 1 (12); 12, 73 (77); 12,
10 (25); 11, 351 (360 f.); 11, 351 (360 f.); 6, 84 (91), vgl. auch BVerfG, Nichtannahmebeschluss
vom 31. März 2016 – 2 BvR 1576/13, juris Rn. 58; VerfGH NW, Urteil vom 18. Februar 2009 –
24/08, juris Rn. 47; U. Kramer, Stellungnahme zum Kommunalvertretungsstärkungsgesetz im
Rahmen der öffentlichen Anhörung des Hauptausschusses und des Ausschusses für
Kommunalpolitik des Landtages Nordrhein-Westfalen am 21. Januar 2016, LT-16/3325, B. II.
29
So auch die Stellungnahmen zum Kommunalvertretungsstärkungsgesetz im Rahmen der
öffentlichen Anhörung des Hauptausschusses und des Ausschusses für Kommunalpolitik des
Landtages Nordrhein-Westfalen am 21. Januar 2016 von U. Kramer (LT-16/3325, B.), J. Oebbecke
(LT-16/3334, S. 4); H. Wissmann (LT-16/3313, S. 2, 4).
30
So auch die Stellungnahmen zum Kommunalvertretungsstärkungsgesetz im Rahmen der
öffentlichen Anhörung des Hauptausschusses und des Ausschusses für Kommunalpolitik des
Landtages Nordrhein-Westfalen am 21. Januar 2016 von U. Kramer (LT-16/3325, B., C.), J.
Oebbecke (LT-16/3334, S. 4); H. Wissmann (LT-16/3313, S. 2, 4); obgleich in den benannten
Verfahren der Rechtfertigungsmaßstab nicht anwendbar war, in diesem Sinne aber auch VerfGH
Berlin, Urteil vom 13. Mai 2013 – 155/11, juris Rn. 24, 32, 34; HbgVerfG, Urteil vom 20. Oktober
2015 – 4/15, HVerfG 4/15, juris Rn. 93.
31
11
Dagegen schlägt allerdings ein „Neuansatz zur Interpretation“ im Schrifttum vor, dass
Art. 28 I 2 GG nur den einfachen Gesetzgeber auf Landesebene beschränke, nicht aber
den Landesverfassungsgeber32. Diese Interpretation steht im Widerspruch zu Wortlaut,
Systematik sowie Sinn und Zweck des Art. 28 GG. Zunächst adressiert Art. 28 I GG die
Länder. Seine Vorgaben binden daher sowohl den einfachen Gesetzgeber wie auch den
Verfassungsgeber in den Ländern.33
Weiterhin gewährleistet gemäß Art. 28 III GG der Bund, dass die verfassungsmäßige
Ordnung der Länder den Grundrechten und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2
entspricht. Diese Regelung ist Ausdruck des bundesstaatlichen Prinzips und sichert
dieses, indem nur in den Grenzen der föderativen Bindungen den Ländern eigenständige
Verfassungsbereiche zustehen, wobei dem Bund die Gewährleistung der Einhaltung
dieser Bindungen überantwortet wird. Ausdrücklich ist damit auch die in Art. 28 I 2 GG
verbindlich festgelegte Geltung der Wahlrechtsgrundsätze Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung in den Ländern, die selbstverständlich auch und zuvörderst durch den
Landesverfassungsgeber gestaltet wird.
Was zu dem zu gewährleistenden Minimum an Homogenität der Verfassungen in den
Ländern gehört, bestimmen demnach Art. 28 I 1 und 2 GG. Nur im Übrigen sind die
Länder, soweit das Grundgesetz nicht noch außerhalb des Art. 28 für bestimmte
Tatbestände etwas anderes vorschreibt, frei in der Ausgestaltung ihrer Verfassung.34
Im Rahmen einer Konkretisierung der objektivrechtlichen verbindlichen Vorgaben des
Art. 28 I 2 GG ist der verfassungsändernde Landesgesetzgeber damit denselben
Restriktionen durch höherrangiges Bundesverfassungsrecht unterworfen wie der
einfache Gesetzgeber35, so dass Differenzierungen im Bereich der Wahlrechtsgleichheit
eines besonderen, sachlich legitimierenden, zwingenden Grundes bedürfen, der
insbesondere auch in der Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden
Volksvertretung liegen kann. „Die Frage, was der Sicherung der Funktionsfähigkeit
dient und dafür erforderlich ist, kann indes nicht für alle zu wählenden
Volksvertretungen einheitlich beantwortet werden [...], sondern bemisst sich nach den
konkreten Funktionen des zu wählenden Organs […]. Zudem kommt es auf die
So (soweit ersichtlich als einziger) L. Michael, Verfassungsunmittelbare Sperrklauseln auf
Landesebene, 2015, S. 127 ff.
32
Vgl. BVerfGE 103, 111 (134 f., 138); ausdrücklich auch HbgVerfG, Urteil vom 20. Oktober 2015
– 4/15, HVerfG 4/15, juris Rn. 93; H. Dreier, in: Horst Dreier (Hrsg.), GGK, Bd. II, 3. Aufl. 2015,
Art. 28 Rn. 16.
33
34
BVerfGE 60, 175 (208); 36, 342 (361).
Siehe die Stellungnahmen zum Kommunalvertretungsstärkungsgesetz im Rahmen der öffentlichen
Anhörung des Hauptausschusses und des Ausschusses für Kommunalpolitik des Landtages
Nordrhein-Westfalen am 21. Januar 2016 von U. Kramer (LT-16/3325, B., C.), J. Oebbecke (LT16/3334, S. 4); H. Wissmann (LT-16/3313, S. 2, 4).
35
12
konkreten Bedingungen an, unter denen die jeweilige Volksvertretung arbeitet und von
denen die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Funktionsstörungen abhängt [...]“.36
Demgegenüber wird vereinzelt in der Literatur angenommen, bei der Einführung von
Sperrklauseln auf Landesverfassungsebene sei insoweit nicht der Nachweis konkreter
Funktionsstörungen verlangt, sondern dem Verfassungsgesetzgeber stünde ein
„größerer Gestaltungsspielraum“ zu37, so dass auch schon eine abstrakte Gefahr von
Funktionsbeeinträchtigungen die Einführung einer Sperrklausel rechtfertigen könne.38
Zur Stützung dieser These wird angeführt, der für einfache Gesetze geltende
Rechtfertigungsmaßstab könne „konzeptionell nicht für die verfassungsändernde
Gewalt gelten. Denn Verfassungsnormen haben per se ein hohes Abstraktionsniveau
(bzw. sollten es haben) und vom verfassungsändernden Gesetzgeber erwarten wir vor
allem abstrakte Erwägungen und weniger Reaktionen auf konkrete Befunde“.39
Dieses Argument vermag nicht zu überzeugen, sofern es sich auf die Einführung einer
konkret bezifferten Sperrklausel auf Verfassungsebene geht, denn von einem hohen
Abstraktionsniveau kann dann nicht die Rede sein. Umgekehrt spricht bereits der
Charakter
von
Verfassungsnormen
dagegen,
mit
ihrer
Hilfe
wahlrechtliche
Sperrklauseln zu regeln. Verfassungsnormen dienen nämlich dazu, die wesentlichen
Grundzüge des Gemeinwesens abstrakt zu formulieren, um die auf eine dauerhafte
Geltung angelegte Verfassung inhaltlich offen zu halten und so die Vielfalt sich
wandelnder Probleme zu bewältigen.40
Geringere
Rechtfertigungsanforderungen
des
verfassungsändernden
Landesgesetzgebers für wahlrechtliche Sperrklauseln werden teilweise auch damit
begründet, dass „Verfassungen […] auf Langfristigkeit und der Mechanismus der
Verfassungsänderung auf erschwerte Änderbarkeit angelegt [sind]“, weshalb sich
insbesondere auch „Anpassungspflichten geradezu denknotwendig nur an den einfachen
Gesetzgeber richten“ könnten.41
Dem ist entgegenzuhalten, dass im Gegenteil die erschwerte Abänderbarkeit von
Verfassungsnormen die Rechtfertigungslast für den verfassungsändernden Gesetzgeber
gerade steigert, nicht mindert. Weil die Anpassung von Normen der Landesverfassung
36
BVerfGE 135, 259 (286) m.w.N., st. Rspr.
So W. Roth, Verfassungsmäßigkeit der Einführung einer 3%-Sperrklausel bei Kommunalwahlen
durch Verfassungsänderung, insbesondere für das Land Nordrhein-Westfalen, 2015, S. 106 ff., 108.
37
38
So L. Michael, Verfassungsunmittelbare Sperrklauseln auf Landesebene, 2015, S. 149, 165.
39
So L. Michael, Verfassungsunmittelbare Sperrklauseln auf Landesebene, 2015, S. 165.
Vgl. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl.
1999, § 1 Rn. 23.
40
41
So L. Michael, Verfassungsunmittelbare Sperrklauseln auf Landesebene, 2015, S. 165.
13
gegenüber
einfachen
Gesetzen
durch
die
erhöhten
Anforderungen
des
Verfassungsänderungsverfahrens erschwert ist, steigt das Rechtfertigungsbedürfnis für
die Wahl dieser Regelungsebene vielmehr erheblich, denn Sperrklauseln sind vom
Gesetzgeber daraufhin zu überwachen, ob sie weiterhin notwendig sind. Andernfalls
sind sie zu modifizieren oder aufzuheben, dazu unten C.II.3.b). Verfassungen sind für
die Normierung wahlrechtlicher Sperrklauseln daher wenig geeignet.
Weiterhin wird argumentiert, ein weniger strenger Rechtfertigungsmaßstab für
landesverfassungsrechtlich geregelte Sperrklauseln ergebe sich aus einer „Doppelnatur“
des Art. 28 I 2 GG „als Identitätsmaßstab gegenüber einfachem Landesrecht und als
bloßer Homogenitätsmaßstab gegenüber Landesverfassungsrecht“ begründet.42
Diese These der gespaltenen Rechtswirkungen des Art. 28 I 2 GG lässt sich indes weder
mit dem Wortlaut noch mit Sinn und Zweck von Art. 28 GG in Einklang bringen.
Art. 28 I 1 GG verlangt Homogenität. Eine solche Einschränkung macht Art. 28 I 2 GG
gerade nicht. Vielmehr werden ohne jegliche Einschränkung allgemeine, unmittelbare,
freie, gleiche und geheime Wahlen der Volksvertretungen in den Ländern vorgegeben,
und zwar im Sinne eines Identitätsmaßstabes. Dafür, dass Art. 28 I 2 GG nur für den
einfachen Gesetzgeber, nicht aber den verfassungsändernden Gesetzgeber gelten solle,
gibt Art. 28 GG nichts her. Adressaten von Art. 28 I 1 und 2 GG sind eben stets „die
Länder“, und zwar mit dem Ziel, in den Verfassungsräumen der Länder ein Mindestmaß
an Homogenität im bundesstaatlichen Gefüge des Grundgesetzes zu erreichen. Dieses
Mindestmaß an Entsprechung wird in Art. 28 I 2 GG für einen Kernbereich der
Demokratie durch die wörtliche Wiederholung der in Art. 38 I 1 GG normierten
Wahlrechtsgrundsätze verbindlich konkretisiert. Der auf diese Weise begrenzte
Gestaltungsspielraum der Länder ist weiteren Abstufungen je nach Regelungsebene –
Landesverfassung oder einfaches Gesetz – schon nach dem Wortlaut des Art. 28 I GG
nicht
zugänglich
und
widerspräche
auch
dessen
Sinn
und
Zweck,
den
Wahlrechtsgrundsätzen auch in den Ländern Geltung zu verschaffen.
Dieses Verständnis liegt auch den Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes des
Landes Berlin und des Hamburgischen Verfassungsgerichts zugrunde, die verfassungsunmittelbare Sperrklauseln für die dortigen Bezirksversammlungen nur deshalb
gebilligt haben, weil diese dem Begriff der Volksvertretung nicht unterfallen und
deshalb der Regelungsbereich des Art. 28 I 2 GG nicht eröffnet war. Von einer nach
42
So L. Michael, Verfassungsunmittelbare Sperrklauseln auf Landesebene, 2015, S. 165.
14
Art. 28 I 2 GG grundsätzlich erforderlichen Rechtfertigung eines solchen Eingriffs
gehen beide Entscheidungen hingegen zu Recht aus.43
Somit gelten für den verfassungsändernden Gesetzgeber bei Einschränkungen der
Wahlrechtsgleichheit dieselben Rechtfertigungsanforderungen wie für den einfachen
Gesetzgeber.
VerfGH Berlin, Urteil vom 13. Mai 2013 – 155/11, juris Rn. 24, 32, 34; HbgVerfG, Urteil vom
20. Oktober 2015 – 4/15, HVerfG 4/15, juris Rn. 93.
43
15
C. Wirkungen von Sperrklauseln und
Rechtfertigungsanforderungen
Die Anforderungen für die Rechtfertigung einer wahlrechtlichen Sperrklausel ergeben
sich aus ihren die Gleichheit der Wahl und die politische Chancengleichheit
einschränkenden Wirkungen.
I. Einschränkende Wirkungen von Sperrklauseln
Eine wahlrechtliche Sperrklausel senkt den Erfolgswert der Stimmen, die für Listen von
Parteien abgegeben wurden, welche unterhalb der Sperrschwelle bleiben, auf null. Sie
stellt daher einen der gravierendsten Eingriffe in die demokratische Gleichheit der
Wahlbürger wie auch der Kandidaten dar.44
Die einschränkenden Wirkungen wahlrechtlicher Sperrklauseln45 beziehen sich damit
ebenso auf die Gleichheit des aktiven und des passiven Wahlrechts wie auf die
Chancengleichheit der politischen Parteien. Die Effekte treten dabei auf drei Ebenen
auf:
Erstens bei der Sitzverteilung. Dies ist die sogenannte „mechanische Wirkung“46, dazu
sogleich unter 1. a).
Zweitens als „psychologische Wirkung“, welche als eine Vorwirkung die durch die
Einschätzung der Wähler über die Erfolgschancen von Parteien auf die Wahlentscheidung
ausgeübten Einflüsse erfasst47, dazu siehe unten 1. b).
Drittens prägen die Wirkungen der Sperrklausel auch die mediale Berichterstattung über
politische Parteien, dazu unten unter 1. c).
1. Mechanische Wirkung
Die mechanische Wirkung von wahlrechtlichen Sperrklauseln betrifft die Gleichheit des
aktiven und des passiven Wahlrechts sowie die Chancengleichheit der politischen
Parteien.
H. Klein, in: Herzog/Herdegen/Klein (Hg.), Maunz/Dürig GG, (74. Lfg. 2015), Art. 38 Rn. 126;
H.-H. Trute, in: v. Münch/Kunig GGK, Bd. I, 6. Aufl. 2012, Art. 38 Rn. 58; H. Meyer, in: HdbStR
III, 3. Aufl. 2005, § 46 Rn. 36.
44
Diese sind abzugrenzen von den impliziten oder faktischen Sperrwirkungen bzw., mit welchem
Begriff der Mindeststimmanteil bezeichnet wird, der rechnerisch notwendig ist, damit eine Liste das
erste Mandat gewinnt. Zur rechtlichen Problematik faktischer Sperrklauseln in kommunalen
Volksvertretungen VerfGH NRW, Urteil vom 16.12.2008 - 12/08 juris = NVwZ 2009, 449 ff. und
M. Hahn, Formalisierbare Gleichheit, in: MIP 2008/2009, S. 41 ff. sowie R. Theisen,
Chancengleichheit der Parteien und Gleichheit der Wahl, in: DVP 2009, S. 241 ff.,
45
Der Begriff geht zurück auf die klassische Untersuchung von M. Duverger, Die politischen
Parteien, 1959, dort S. 238,
46
47
Auch dieser Begriff ist von Maurice Duverger geprägt, vgl. ebd.
16
a) Fehlender Einfluss „verlorener Stimmen“ auf Zusammensetzung der
Volksvertretung
Die Wirkung auf das aktive Wahlrecht besteht darin, dass Stimmen, die auf
Wahlvorschläge entfallen, welche unterhalb der wahlrechtlichen Sperrklausel bleiben ,
so dass die Stimmen aus diesem Grunde keine Vertretung im Parlament finden und
keine positive Mandatsverschaffungsmacht ausüben.48
Diese verlorenen Stimmen werden damit vom Wahlrecht anders behandelt als solche
Stimmen, die auf Listen entfallen, welche die Sperrklausel überspringen. In der vom
Verfassungsgerichtshof und vom Bundesverfassungsgericht benutzten Terminologie
handelt es sich um eine Beeinträchtigung der wahlrechtlichen Erfolgswertgleichheit49,
die von Art. 28 I 2 GG (i.V.m. der jeweiligen Rezeptionsanordnung in der
Landesverfassung) geschützt ist.50
b) Verzerrung der Gleichheit des passiven Wahlrechts und der Chancengleichheit
der Parteien
Die Verzerrung der Gleichheit des aktiven Wahlrechts wirkt sich spiegelbildlich auch
auf die Gleichheit des passiven Wahlrechts aus, die gleichfalls von Art. 28 I 2 GG
(bspw. i.V.m. Art. 1 I 69 I 2 LVerf NRW, 64 LVerfHess) umfasst ist.51
Kandidaten, deren Liste einen ausreichenden Wahlerfolg erzielt hat, um die faktische
Sperrwirkung zu überwinden, können gleichwohl an der wahlrechtlichen Sperrklausel
scheitern. Darin liegt eine Beeinträchtigung der Gleichheit des passiven Wahlrechts.52
Dieser Effekt betrifft auch die politischen Parteien, deren chancengleiche Beteiligung am
politischen Wettbewerb, insbesondere durch Teilnahme an Wahlen mit eigenen Kandidaten,
verfassungsrechtlichen Rang genießt, siehe oben B.I., und welche von einer
Zum Begriff der Mandatsverschaffungsmacht siehe M. Morlok, in: Dreier (Hg.),
Grundgesetzkommentar, Bd. 2, 3. Aufl. (2015) Art. 38 Rn. 102.
48
Zur Erfolgswertgleichheit vgl. BVerfGE 135, 259 (284); 129, 300 (318 ff.); 95, 335 (353); 82, 322
(337); 16, 130 (138 f.); VerfGH NW, Urteil vom 6. Juli 1998 - 14/98, 15/98 juris, Rn. 58; VerfGH
Thüringen, Urteil vom 11. April 2008 – 22/05, juris Rn. 50.
49
Eine Bindung der Länder an den „strikt formale[n] Charakter der Wahlrechtsgleichheit“ sieht A.
Dittman, in: HdBStR VI, 3. Aufl. 2008, § 127 Rn. 20; ebenso („eng bemessen[er] Spielraum“) M.
Nierhaus, in: Sachs GGK 2014, Art. 28 Rn. 20; unter Verweis auf die Rspr. d. BVerfG H. Meyer, in:
Handbuch für Kommunale Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, 3. Aufl. 2007, § 20 Rn. 38; zur bislang
strikten Handhabung der Wahlrechtsvorgaben K. Schönenbroicher, in: Heusch/Schönenbroicher
(Hrsg.), Die Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, 2010, Art. 1 Rn. 21 f.
50
Siehe bereits oben unter I. 2. a), BVerfGE 9, 268 (281); 47, 253 (272); 83, 60 (71); 93, 37 (66);
VerfGH NW, Urteil vom 18. Februar 2009 – 24/08, juris Rn. 46. Zur Verbundenheit des passiven
Wahlrechts mit dem aktiven Wahlrecht P. Tettinger/ K.-A. Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck
GGK, 6. Aufl. 2010, Art. 28 Rn. 104.
51
Vgl. VerfGH NW, Urteil vom 6. Juli 1998 - 14/98, 15/98, juris Rn. 58 BVerfGE 120, 82 (102, 105
ff.); 129, 300 (316 ff.), 135, 259 (284 ff.), sowie mit Bezug auf die Chancengleichheit politischer
Parteien VerfGH NW, Urteil vom 16. Dezember 2008 – 12/08 juris, Rn. 43 ff., 48.
52
17
wahlrechtlichen Sperrklausel auch betroffen ist53, jedenfalls insofern eine Partei mit eigenen
Listenvorschlägen an Wahlen teilnimmt.
2. Psychologische Wirkung
Für die Wähler, die mit einer kleinen politischen Partei sympathisieren, gewinnt die
Einschätzung der Wähler über die Erfolgschancen der Gruppierung besondere
Bedeutung. Wird die Aussicht der eigentlich präferierten Partei, die Sperrklausel zu
überspringen, als gering eingeschätzt, kann die Angst überhandnehmen, die eigene
Stimme zu vergeuden. Dies führt dazu, die Stimme nicht nach der eigentlichen
politischen Präferenz abzugeben, sondern zugunsten einer anderen, als chancenreicher
eingeschätzten Partei. Dies ist nichts anderes als eine besondere Form der „Leihstimme“
zugunsten größerer Parteien.
Die eigentlichen politischen Präferenzen werden also nicht nur wegen der
mechanischen Wirkung der Sperrklausel in der Sitzverteilung des Parlaments nicht
mehr ausgedrückt, sondern sie schlagen sich bereits gar nicht mehr unverfälscht in der
Stimmabgabe nieder. Die psychologische (Vor)Wirkung der Sperrklausel auf das
Stimmabgabeverhalten und ihre mechanische Wirkung auf die Verrechnung
abgegebener Stimmen kumulieren also. Dabei ist die psychologische Wirkung auf das
Stimmabgabeverhalten auch für sich genommen rechtserheblich.54 Sie ist insbesondere
keine bloße Mutmaßung, sondern einer empirisch-sozialwissenschaftlichen Erforschung
prinzipiell zugänglich.55
Die psychologische Wirkung der Sperrklauseln betrifft aber nicht nur die Wähler, die
Kandidaten und die Listenvorschläge der Parteien, sondern bereits die Entstehung von
Wahlvorschlägen, denn kleine Parteien, deren Aussichten auf Vertretung im Parlament
als schlecht erscheinen, haben oft bereits aus diesem Grund Schwierigkeiten, eigene
Kandidaten zu finden und zur Wahl anzutreten. Hinzu treten die unterschiedlichen
Voraussetzungen für Parteien, um mit eigenen Vorschlägen an einer Wahl teilnehmen
zu können. Diese unterscheiden nämlich typischerweise zwischen Parteien, die im
Parlament vertreten sind und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist.56
Vgl. BVerfGE 82, 322 (337); 60, 162 (167); 3, 19 (26); 1, 208 (242); S. Roßner, Sperrklauseln –
Wahlrechtliche Marktzugangsbeschränkungen auf dem Prüfstand, in: KommunalPraxis Wahlen
2012 S. 10 (12); U. Volkmann, in: Friauf/Höfling (Hg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, (4.
Erg.-Lfg. 2002) Art. 21 Rn. 50 m.w.N.
53
54
Vgl. BVerfGE 129, 300 (344 f.).
Siehe H. Schoen: Wahlsysteme, in: Falter/Schoen (Hg.): Handbuch Wahlforschung, 2005, S. 573
(588 ff.) mit zahlreichen weiteren Nachweisen
55
Siehe etwa § 15 II 2 und 3 KommWahlG NW, nach welcher Norm Parteien (und Wählergruppen),
die nicht durchgängig während der laufenden Wahlperiode in der zu wählenden Volksvertretung, in
der Volksvertretung des zuständigen Kreises oder im Landtag vertreten waren, besonderen
Anforderungen zu genügen haben, vor allem Unterstützungsunterschriften einreichen müssen.
56
18
Sperrklauseln haben also die Tendenz, bereits die Entstehung politischer Angebote zu
erschweren57, was angesichts der verfassungsrechtlichen Bedeutung gerade auch der
kleinen Parteien für die Offenheit und Lernfähigkeit des politischen Systems58 erheblich
und rechtfertigungsbedürftig ist.
3. Wirkung aufdie mediale Berichterstattung überpolitische Parteien
Demokratische Politik spielt sich in der Öffentlichkeit ab und soll dies tun. Für die
Teilnahme am politischen Wettbewerb bedeutet dies, dass sie erfolgreich nur geschehen
kann, soweit der jeweilige Akteur ein gewisses Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit
erhält.
Für Parteien ist in dieser Hinsicht die Vertretung in Parlamenten eine Wasserscheide
zwischen politischem Erfolg und politischer Irrelevanz. Dies wird greifbar in der
Wahlberichterstattung im Rundfunk wie in der Presse: Kleine, oft nur wegen einer
wahlrechtlichen Sperrklausel nicht im Parlament vertretene Parteien werden meist
schlicht unter der Bezeichnung „Sonstige“ zusammengefasst und tauchen somit nicht
einmal mehr namentlich als Organisation auf, geschweige denn, dass über ihre
politischen Ziele oder ihr Personal berichtet würde. Der Nichteinzug in das Parlament
wegen einer Sperrklausel gewinnt so über die jeweilige, punktuell wirksame
Wahlentscheidung hinaus Einfluss auch auf die nächsten Wahlen.
4. Faktische Dimension derAuswirkungen
Die faktischen Auswirkungen einer Sperrklausel lassen sich wegen eines besonderen
methodischen Problems nur schwer erfassen.59
Sowohl die psychologische Wirkung wie auch die Effekte der Veränderung in der medialen
Berichterstattung betreffen bereits die Stimmabgabe. Ein Rückgriff auf eine historische
Stimmabgabe, anhand derer die Sitzverteilung unter Geltung einer Sperrklausel errechnet
und mit der Sitzverteilung ohne Geltung der Sperrklausel verglichen wird, oder eine
schlichte zahlen- oder anteilsmäßige Erfassung der abgegebenen Stimmen, die wegen der
Sperrklausel ohne Vertretung im Parlament geblieben sind, erfasst also die Auswirkungen
der Sperrklausel nur teilweise, nämlich soweit sie auf die mechanische wirkung
zurückgehen. Denn ohne Sperrklausel – und damit ohne ihre psychologische Wirkung und
ihre Auswirkung auf die mediale Darstellung von Politik – würden vermutlich mehr
Stimmen für kleine Parteien abgegeben werden.
S. Roßner, Sperrklauseln – Wahlrechtliche Marktzugangsbeschränkungen auf dem Prüfungstand,
in: KommunalPraxis Wahlen 2012 S. 10 (11).
57
58
BVerfGE 111, 382 (404 f.).
Dazu näher S. Roßner, Sperrklauseln – Wahlrechtliche Marktzugangsbeschränkungen auf dem
Prüfungstand, in: KommunalPraxis Wahlen 2012, S. 10 (11).
59
19
Dennoch sind bereits die Folgen der mechanischen Wirkung beträchtlich, können sogar
extrem ausfallen.60 Bei der Bundestagswahl 2013 haben 15,7 % der abgegebenen
Stimmen wegen der Sperrklausel keine Vertretung im Bundestag gefunden61, bei der
letzten Wahl zum europäischen Parlament unter Geltung einer Sperrklausel im Jahr
2009 waren es 10,8 % der abgegebenen Stimmen62 und bei den Landtagswahlen etwa in
Nordrhein-Westfalen blieben im Jahr 2012 6,9 % der Stimmen ohne direkte
Auswirkung auf die Zusammensetzung des Landtages.63
Wahlrechtliche Sperrklauseln haben damit tendenziell eine delegitimierende Wirkung
auf die unter ihrer Geltung gewählten Volksvertretungen. Denn Parlamente ziehen ihre
Legitimation vor allem aus dem Umstand, dass sie das Volk repräsentieren.64
Mit dieser Legitimation versehen, treffen sie grundlegende Entscheidungen und
legitimieren ihrerseits andere Staatsorgane. Dass Volksvertretungen das Volk
repräsentieren, wird dabei in rechtlich-prozeduraler Hinsicht in erster Linie durch die
Prinzipien
der
Freiheit,
Gleichheit,
Allgemeinheit
und
Unmittelbarkeit
von
Parlamentswahlen bewirkt65, welche ihrerseits durch die Geheimheit der Wahl
abgesichert werden.66 Die Gleichheit der Wahl wird aber, wie gezeigt, durch
Sperrklauseln massiv beeinträchtigt, selbst wenn man die nicht sicher erfassbaren, der
Stimmabgabe vorgelagerten Effekte außer Acht lässt, siehe oben 2. und 3. Dies
So haben bei den kirgisischen Parlamentswahlen im Jahr 2010 unter Geltung einer 5 %
Sperrklausel 62,5 % der abgegebenen Stimmen keine Vertretung im Parlament gefunden, vgl.
http://www.kas.de/zentralasien/de/publications/20793/ (zuletzt aufgerufen am 16.12.2016).
60
https://www.bundeswahlleiter.de/info/presse/mitteilungen/bundestagswahl-2013/2013-10-09endgueltiges-amtliches-ergebnis-der-bundestagswahl-2013.html. (zuletzt aufgerufen am
16.12.2016).
61
62
https://www.bundeswahlleiter.de/europawahlen/2009.html (zuletzt aufgerufen am 16.12.2016).
http://www.wahlergebnisse.nrw.de/landtagswahlen/2012/aktuell/a0lw1200.html, (zuletzt
aufgerufen am 16.12.2016).
63
Siehe BVerfGE 135, 259 (286); 131, 316 (355); 130, 212 (231): 95, 408 (418 f.); „Prinzi[p] der
umfassenden Repräsentation“ des Art. 38 I 2 GG, VerfGH Rheinland-Pfalz NVwZ-RR 2016, 161
(162 f.); s.a. VerfGH NW, Urteil vom 16. Dezember 2008 – 12/08 juris, Rn 48; allgemein zum
Repräsentationsbegriff des GG U. Schliesky, § 5 – Parlamentsfunktionen in:
Morlok/SchlieskyWiefelspütz Parlamentsrecht, Rn. 27.
64
Vgl. BVerfGE 123, 39 (68 ff.); 95, 335 (368 ff.). Zum Gehalt dieser Grundsätze im föderalen
System BVerfGE 99, 1 (11 f.); H. Meyer, HdBStR II, 2. Aufl. 1998, § 37 Rn. 18-21; im Einzelnen
ders., ebd., § 38 Rn. 1-45; S. Magiera, Sachs GGK, 7. Aufl. 2014, Art. 38 Rn. 77; sowie J. Ipsen,
Staatsorganisationsrecht, 27. Aufl. 2016, Rn. 73 ff. 246 ff.; vgl. zu den hieraus folgenden
Handlungs- und Unterlassungspflichten Jarass/B. Pieroth, GGK, 14. Aufl. 2016, Art. 38 Rn. 10-22.
65
Vgl. U. Sacksofsky: § 6 Wahlrecht und Wahlsystem, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz (Hrsg.),
Parlamentsrecht, 2016, Rn. 54.
66
20
beeinträchtigt
die
Repräsentationsfunktion
der
Parlamente,
welche
für
eine
repräsentative Demokratie konstitutiv ist.67
Daneben hat Legitimation auch eine faktische Seite, die als eine prinzipielle Akzeptanz
politischer Prozesse und Entscheidungen durch die Bürger beschrieben werden kann.
Diese Akzeptanz wird in starkem Maße beeinträchtigt durch das Gefühl, man werde mit
seinen Anliegen nicht gehört. Konkret für eine Nichtteilnahme an Wahlen ist eine
Hauptmotivation der Eindruck, man könne durch die Stimmabgabe am Gang der Dinge
nichts ändern.68 Wähler zu frustrieren, indem ihre Stimme durch eine Sperrklausel
entwertet wird, bedeutet, auch in Hinblick auf die faktische Legitimation einen
delegitimierenden Faktor zu stärken.69
II. Rechtfertigungsanforderungen
Sowohl die Gleichheit der Wahl wie auch die Chancengleichheit der politischen
Parteien wird als formaler, streng zu handhabender Gleichheitssatz verstanden.70 Daraus
ergeben sich besondere Anforderungen an die Rechtfertigung von Einschränkungen
dieser beiden Verfassungsgrundsätze, die für die Demokratie zentral sind.71
Zu den geltenden Anforderungen an die Rechtfertigung wird in 1. und 2. Stellung
bezogen. Für die Normierung einer wahlrechtlichen Sperrklausel haben die
Verfassungsgerichte der Länder und das Bundesverfassungsgericht eine verfeinerte
Dogmatik entwickelt. Zu den Besonderheiten der Rechtfertigung einer wahlrechtlichen
Sperrklausel folgen in 3. und 4. Ausführungen; ein Maßstab der Rechtfertigung von
Sperrklauseln wird in 5. formuliert.
Zu dieser Wirkung zuletzt VerfGH Hmbg., Urteil vom 20. Oktober 2015 – 4/15, juris Rn. 60:
„[…] grundsätzlich jede Stimme den gleichen Einfluss auf die zu wählende Vertretung haben muss“;
zum Repräsentationsbegriff des Grundgesetzes s. U. Schliesky; § 5 – Parlamentsfunktionen, in:
Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.): Parlamentsrecht, 2016, Rn. 27; zum legitimatorischen
Aspekt der Wahlentscheidung H. Meyer, in: HdBStR III, 3. Aufl. 2008, § 45 Rn. 1, 4; ders. a.a.O., §
46 Rn. 30.
67
68
M. Güllner, Nichtwähler in Deutschland, Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2013 S. 32, 77.
So auch T. Puhl: Die 5%-Sperrklausel im Kommunalwahlrecht auf dem Rückzug, in:
Depenheuer/Hientzen/Jestaedt (Hg.): FS Josef Isensee, 2008, S. 441 (455 f.).
69
BVerfGE 135, 259 (286); 130, 212 (229); 124, 1 (18); 121, 266 (295); 85, 148 (157); VerfGH
NW, Urteil vom 21.11.1995 – 21/94 juris, Rn. 47; Urteil vom 6. Juli 1998 - 14/98, 15/98 juris, Rn.
58; Urteil vom 16.12.2008 – 12/08 juris, Rn 47; VerfGH Berlin, LKV 1998, 147; VerfGH
Thüringen, Urteil vom 11. April 2008 – 22/05, juris Rn. 50 ff. st. Rspr.
70
BVerfGE 121, 266 (295): „Die Gleichbehandlung aller Staatsbürger bei der Ausübung des
Wahlrechts ist eine der wesentlichen Grundlagen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung,
wie sie das Grundgesetz verfasst.“
71
21
1. Einschränkung aus zwingendem Grunde
Eingriffe in die Wahlrechtsgrundsätze und in die Chancengleichheit der Parteien
unterliegen gleichartigen Rechtfertigungsanforderungen.72 Beide Gewährleistungen
können nur aus einem „zwingenden Grund“ oder aus einem „besonderen, sachlich
legitimierten Grund“ gerechtfertigt werden.73 Diese Gründe müssen durch die
Verfassung legitimiert sein und den Wahlrechtsgrundsätzen bzw. der Chancengleichheit
der politischen Parteien an Gewicht gleichkommen.74
Das Bundesverfassungsgericht macht zwar verbal nicht den – angesichts des Charakters
der Wahlrechtsgrundsätze als vorbehaltlose Gewährungen dogmatisch folgerichtigen –
Schritt hin zu einer Einschränkbarkeit nur durch verfassungsimmanente Schranken. In
der Sache nähert sich die Rechtsprechung dieser Figur aber an.75 Verfassungsgerichtlich
überprüfbar ist demnach, ob ein den Eingriff potentiell legitimierendes Ziel verfolgt
wurde, das zumindest das Gewicht der Chancengleichheit der politischen Parteien bzw.
der Gleichheit der Wahl besitzt.
2. Verhältnismäßige Verfolgung des Grundes
Überprüft wird von der Verfassungsgerichtsbarkeit weiter auch entweder, ob dieses Ziel
in geeigneter und angemessener Art76, oder ob es in geeigneter und erforderlicher Weise
verfolgt wurde.77
BVerfGE 129, 300 (320); 124, 1 (20); 82, 322 (337); exemplarisch aus der
landesverfassungsrechtlichen Rspr. z.B. VerfGH Schleswig-Holstein, Urteil vom 13. September
2013 – 9/12, juris Rn. 84 f.
72
BVerfGE 135, 259 (286); 132, 39 (48); 129, 300 (320); 95, 408 (417f.); 95, 335 (376); 14, 121
(133); 1, 208 (225); Chancengleichheit der politischen Parteien: BVerfGE 44, 125 (146); 34, 160
(163); 24, 300 (341); 14, 121 (133); 8, 51 (64 f.); st. Rspr.; zur landesverfassungsrechtlichen Lage in
NRW VerfGH NW, Urteil vom 6. Juli 1998 - 14/98, 15/98 juris, Rn. 58; Urteil vom 16. Dezember
2008 – 12/08 juris, Rn 47; Niedersächs. StGH, Urteil vom 15. Apri 2010 – 2/09, juris Rn. 25;
VerfGH Berlin, Urteil vom 13. Mai 2013 – 155/11, juris Rn. 21 f.
73
BVerfGE 130, 212 (227 f.); zur Chancengleichheit der politischen Parteien: BVerfGE 131, 316
(338); ähnlich 95, 408 (418); VerfGH NW, Urteil vom 16. Dezember 2008 – 12/08 juris, Rn 47 f.;
Urteil vom 6. Juli 1998 - 14/98, 15/98 juris, Rn. 58; Urteil vom 26. Mai 2009 – 3/09, juris Rn. 38;
VerfGH Hmbg. Urteil vom 20. Oktober 2015 – 4/15, juris Rn. 83; VerfGH Thüringen, Urteil vom
11. April 2008 – 22/05, juris Rn. 53, 56.
74
Zu Wahlrechtsgleichheit sowie zur Chancengleichheit der politischen Parteien BVerfGE 135, 259
(286);. VerfGH NW, Urteil vom 26. Mai 2009 – 3/09 juris, Rn. 38; Urteil vom 16. Dezember 2008 –
12/08 juris, Rn 48 f.; S. Roßner, Sperrklauseln – Wahlrechtliche Marktzugangsbeschränkungen auf
dem Prüfstand, in: KommunalPraxis Wahlen 2012 S. 10 (12); U. Sacksofsky: § 6 Wahlrecht und
Wahlsystem, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hg.): Parlamentsrecht, 2016, Rn. 61 f.; mit
Befürwortung eines strengen Prüfungsmaßstabes weiterhin M. Morlok, Demokratie und Wahlen, in:
Festschrift 50 Jahre BVerfG, 2001, S. 592 f. sowie – explizit für die Einordnung unter die
dogmatische Kategorie „Gründe von Verfassungsrang“ – ders./H. Kühr, Wahlrechtliche
Sperrklauseln und die Aufgaben einer Volksvertretung, in: JuS 2012, S. 385 (388).
75
BVerfGE 132, 39 (48 f.); 129, 300 (321); 120, 82 (107); 95, 408 (418); BVerfG NVwZ 1997,
1207 (Kammerbeschluss vom 25. Juli 1997, 2 BvR 1088/97).
76
BVerfGE 135, 259 (287); VerfGH NW, Urteil vom 26. Mai 2009 – 3/09 juris, Rn. 38; VerfGH
Hmbg., Urteil vom 15. Januar 2013 – 2/11 juris, Rn. 79 f.
77
22
Damit nähert sich die Rechtsprechung zwar nicht explizit, aber doch der Sache nach
einer Prüfung an, ob der zwingende Grund in verhältnismäßiger Art und Weise verfolgt
wurde.78
Dies bedeutet auch, dass alternative Möglichkeiten der Verfolgung des zwingenden
Grundes in die Betrachtung miteinzubeziehen sind. Diese können vor allem auch in
einer
Ausschöpfung
bestehender
Instrumente
bestehen,
wie
z.B.
des
Geschäftsordnungsrechts der Räte und Kreistage. Die Erforderlichkeit einer
Einschränkung der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der politischen
Parteien ist dann anhand der alternativen Maßnahmen zu beurteilen.
3. Funktionsstörungen derVolksvertretung einzigerRechtfertigungsgrund
fürwahlrechtliche Sperrklauseln
Ein tauglicher Grund zur Rechtfertigung wahlrechtlicher Sperrklauseln ist die Abwehr
von Funktionsstörungen der jeweiligen Volksvertretung: Die Wahl eines Organs ist nur
dann sinnvoll, wenn dieses Organ in der Folge auch seine Funktionen erfüllen kann.
Dementsprechend darf die Gestaltung des Wahlrechts die Funktionsfähigkeit des
jeweiligen Parlaments nicht beeinträchtigen, sondern soll sie fördern.
Unter bestimmten Bedingungen kann die Sicherung der Funktionsfähigkeit des
Parlaments Einschränkungen der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der
Parteien rechtfertigen.79
Das Ziel einer Verhinderung des Wahlerfolgs radikaler oder verfassungsfeindlicher
Parteien vermag eine Beeinträchtigung der Gleichheit der Wahl sowie der
Chancengleichheit der politischen Parteien dagegen nicht zu rechtfertigen80, denn die
Vgl. VerfGH NW, Urteil vom 6. Juli 1998 - 14/98, 15/98 juris, Rn. 68, 72 sowie VerfGH NW,
Urteil vom 16. Dezember 2008 – 12/08 juris, Rn 57 f, 70 ff.; siehe ferner VerfGH Thüringen, Urteil
vom 11. April 2008 – 22/05, juris Rn. 53; aus der Literatur insb. R. Schmidt-De Caluwe, Die
Novellierung des Kommunalrechts in Hessen, in: NVwZ 2001 S. 270 ff.; J. Dietlein/D. Riedel,
Zugangshürden zu Kommunalwahlen, 2012, S. 37. Eine besondere Ausprägung findet das
Verhältnismäßigkeitsgebot auch in der gesetzgeberischen Prüfungspflicht für wahlrechtliche
Vorschriften, dazu VerfGH NW, Urteil vom 21. November 1995 – 21/94, juris Rn. 48 ff.
78
Vgl. BVerfGE 95, 408 (421); 71, 81 (97); 51, 222 (246 f.); zur Chancengleichheit der politischen
Parteien insbesondere BVerfGE 135, 259 (286); 120, 82 (111 ff.); 51, 222 (236 f.); 6, 84 (90); ferner
VerfGH NW, Urteil vom 21. November 1995 – 21/94, juris Rn. 48; Urteil vom 6. Juli 1998 - 14/98,
15/98. juris Rn. 58; sowie VerfGH Hmbg., Urteil vom 15. Januar 2013 – 2/11, juris Rn. 79; VerfGH
NW; speziell zur Chancengleichheit politischer Parteien BVerfGE 135, 259 (286); 120, 82 (111 ff.);
51, 222 (236 f.); 6, 84 (90); VerfGH NW, Urteil vom 16. Dezember 2008 – 12/08, juris Rn 58;
Niedersächs. StGH, Urteil vom 15. Apri 2010 – 2/09, juris Rn. 25; VerfGH Berlin, Urteil vom 13.
Mai 2013 – 155/11, juris Rn. 21 f.
79
Siehe VerfGH NW, Urteil vom 16. Dezember 2008 – 12/08, juris Rn. 73: „Zudem steht es dem
Wahlgesetzgeber nicht zu […] unerwünschte Parteien oder Wählergruppen gezielt von der
Mitwirkung an der politischen Willensbildung auszuschließen“, in Anlehnung an BVerfGE 120, 82
(109); vgl. ferner BVerfGE 111, 382 (410); VerfGH Thüringen, Urteil vom 8. Juli 2016 – 38/15,
juris Rn. 30.
80
23
staatliche Abwehr verfassungswidriger Parteien darf nur durch das Verfahren nach Art.
21 II GG stattfinden.81
a) Nur punktuelle Funktionsstörungen unzureichend
Für eine kommunalwahlrechtliche Sperrklausel sind Funktionsstörungen, die nur in
einzelnen Gemeinden auftreten, selbst dann nicht ausreichend als Rechtfertigung, wenn
die Störungen besonders schwer sind. Derartig begrenzte Funktionsstörungen, die in
einer Gesamtbetrachtung des Landes nur Ausnahmen darstellen, müssen mit den dafür
im einfachen Recht zur Verfügung stehenden Instrumenten des einfachen Rechts
bekämpft werden, zu diesen Instrumenten siehe unten 4.c). Denn eine Einschränkung
der Gleichheit des Wahlrechts und der politischen Chancengleichheit für die große
Mehrzahl der von den Störungen nicht betroffenen Gemeinden wäre ansonsten
unangemessen und unverhältnismäßig.
b) Überprüfung der gesetzgeberischen Prognose
Die Prognose des Gesetzgebers, ob ohne eine wahlrechtliche Sperrklausel eine
Funktionsstörung der jeweiligen Volksvertretung zu befürchten sei, unterliegt
verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Denn mit der jeweils (Verfassungs-) Gesetzgeber in
Fragen des Wahlrechts auftretenden Mehrheit werden über die Abgeordneten und die
hinter ihnen stehenden Parteien Personen und Organisationen tätig, die selbst Akteure in
dem politischen Wettbewerb sind, dessen zentrale Regel sie mit dem Wahlrecht
gestalten.82 Somit ist eine strenge verfassungsgerichtliche Kontrolle notwendig83, die
BVerfGE 120, 82 (109); 1, 208 (257); J. Ipsen, in: Sachs GGK, 7. Aufl. 2014, Art. 21 Rn. 148 ff.;
zum daraus folgenden weiten Verständnis parteipolitischer Neutralität VerfGH Thüringen, Urteil
vom 3. Dezember 2014 – 2/14, juris Rn. 53 ff., 77; OVG NW, Urteil vom 4.11.2016 – 15 A
2293/15, juris Rn. 84 mit zutreffendem Verweis auf den grundgesetzlichen Vorrang der öffentlichen
Auseinandersetzung mit radikalen Parteien VerfGH Thüringen, Urteil vom 8. Juni 2016 – 25/15,
juris Rn. 107 f.
81
Vgl. BVerfGE 129, 300 (322 f.); T. Puhl, Die 5%-Sperrklausel im Kommunalwahlrecht auf dem
Rückzug, in: Depenheuer/Hientzen/Jestaedt (Hrsg.): FS Josef Isensee, 2008, S. 441 (449 f.); H.
Meyer: Die Zukunft des Wahlrechts zwischen Unverständnis, Interessenkalkül, obiter dicta und
Verfassungsverstoß, in: Wieland (Hrsg.): Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache, 2010, S.
41 (48 f). S. Roßner, Sperrklauseln – Wahlrechtliche Marktzugangsbeschränkungen auf dem
Prüfstand, in: KommPWahlen 2012, S. 10 (12). Ausdrücklich auch bezogen auf eine gesteigerte
Kontrollintensität bei verfassungsändernden Gesetzen HbgVerfG, Urteil vom 08. Dezember 2015 –
2/15, HVerfG 2/15, juris Rn. 88.
82
BVerfGE 129, 300 (323); vgl. weiter auch E 120, 82 (105); für die Landesverfassung NW VerfGH
NW, Urteil vom 16. Dezember 2008 - 12/08, juris Rn. 56 mit Verweis auf BVerfGE 120, 82 (113)
und die dortige Wendung: „gerade bei der Wahlgesetzgebung besteht die Gefahr, dass die […]
Parlamentsmehrheit sich […] vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt“; VerfGH SchleswigHolstein, Urteil vom 13. September 2013 – 9/12, juris Rn. 84 f. vgl. ferner T. Puhl, Die
5%-Sperrklausel im Kommunalwahlrecht auf dem Rückzug, in: Depenheuer/Hientzen/Jestaedt
(Hrsg.), FS Josef Isensee, 2008, S. 441 (449 f.).
83
24
ohne eine rechtliche und tatsächliche Überprüfung der gesetzgeberischen Prognose
jedoch ins Leere liefe.84
Somit reicht die „abstrakte und allgemeine“ Behauptung nicht aus, ohne eine
Sperrklausel „werde der Einzug kleinerer Parteien und Wählergemeinschaften in die
Vertretungsorgane erleichtert und dadurch die Willensbildung in diesen Organen
erschwert“.85 Die Funktionsstörung muss vielmehr mit „einiger Wahrscheinlichkeit“
drohen.86
Dabei
sind
die
konkreten
Funktionsbedingungen
der
jeweiligen
Volksvertretung ins Auge zu fassen.87
Wegen der Kontinuität des politischen Wettbewerbs ist auch eine einmalige
gesetzgeberische Prognose unzureichend, da die politischen Verhältnisse stets im Fluss
sind und sich verändern können. Den Gesetzgeber trifft also eine Pflicht, zu
überwachen, ob wahlrechtliche Sperrklauseln weiterhin notwendig sind.88 Sind sie nicht
mehr notwendig, ergibt sich aus dem Charakter der Gleichheit der Wahl wie der
Chancengleichheit der politischen Parteien als Rechtsprinzipien89, dass die betreffende
Sperrklausel abgesenkt oder abgeschafft werden muss. Auch vor diesem Hintergrund
stellt sich die Rechtsform einer Verfassungsbestimmung für die Normierung einer
wahlrechtlichen Sperrklausel als wenig geeignet dar. Denn bekanntermaßen unterliegt
eine
Verfassungsänderung
deutlich
gesteigerten
parlamentarischen
Mehrheitserfordernissen im Vergleich zur Änderung eines einfachen Gesetzes, so dass
der Eintritt einer Konstellation möglich würde, in der der Gesetzgeber zur Modifikation
oder Streichung der Sperrklausel rechtlich verpflichtet, politisch aber nicht in der Lage
Vgl. BVerfGE 129, 300 (323), 120, 82 (113 f.); VerfGH NW, Urteil vom 6. Juli 1999 – 14/98,
15/98, juris Rn. 64 ff.; Urteil vom 16. Dezember 2008 – 12/08, juris Rn. 57 ff.; VerfGH Thüringen,
Urteil vom 11. April 2008 – 22/05, juris Rn. 53. Ausgeschlossen ist jedoch eine reine
Zweckmäßigkeitskontrolle, VerfGH NRW, Urteil vom 26. Mai 2009 – 2/09, juris Rn. 84.
84
VerfGH NW, Urteil vom 6. Juli 1999 – 14/98, 15/98, juris Rn. 68; Urteil vom 16. Dezember 2008
– 12/08, juris Rn. 57; BVerfGE 129, 300 (323); 120, 82 (114), VerfGH Thüringen, Urteil vom 11.
April 2008 – 22/05, juris Rn. 57, 77; vgl. ferner J. Dietlein/D. Riedel, Zugangshürden im
Kommunalwahlrecht, 2012, S. 83 ff.
85
Vgl. jüngst BVerfGE 135, 259 (288); sowie ausdrücklich BVerfGE 120, 82 (114); VerfGH NW,
Urteil vom 6. Juli 1999 – 14/98, 15/98, juris Rn. 68.
86
Exemplarisch BVerfGE 129, 300 (326 ff.); siehe auch VerfGH Thüringen, Urteil vom 11. April
2008 – 22/05, juris Rn. 55; VerfGH Saarland, Urteil vom 29. September 2011 – Lv 4/11, juris Rn.
222 ff.; vgl. J. Dietlein/D. Riedel, Zugangshürden im Kommunalwahlrecht, 2012, S. 38.
87
Zur Überwachungspflicht BVerfGE 135, 259 (288 f.); 129, 300 (321); 120, 82 (102); VerfGH
NW, Urteil vom 6. Juli 1999 – 14/98, 15/98, juris Rn. 72; Urteil vom 16. Dezember 2008 – 12/08,
juris Rn. 57 ff., 70 ff.; VerfGH Thüringen, Urteil vom 11. April 2008 – 22/05, juris Rn. 77; VerfGH
Saarland, Urteil vom 29. September 2011 – Lv 4/11, juris Rn. 220; vgl. zur prozessualen
Darlegungspflicht Hess. StGH, Beschluss vom 14. Juni 2006, juris Rn. 28
88
M. Morlok, in: Dreier (Hg.), Grundgesetzkommentar, Bd. 2, 3. Aufl. (2015), Art. 38 Rn. 59 f.;
ähnlich auch BVefGE 121, 266 (295); zur Verbundenheit der politischen Gleichheitsrechte mit dem
Demokratieprinzip und dem „egalitär-politischem Zug“ des Grundgesetzes P. Häberle, in: HdBStR
II, 3. Aufl. 2004, § 22 Rn. 65 f. Grundlegend zur Prinzipientheorie R. Alexy, Theorie der
Grundrechte, S. 75 ff., 133 f.
89
25
wäre. Auch aus diesem Grunde ist es zu begrüßen, dass, mit Ausnahme der nordrheinwestfälischen, alle Landesverfassungen wie auch das Grundgesetz auf derartige
Vorschriften verzichten.
c) Funktionsstörung anhand rechtlicher Funktionsanforderungen zu beurteilen
Der Bezugspunkt aller gesetzgeberischen Prognosen über Funktionsstörungen von
Parlamenten und eine mögliche Abwehr mittels einer wahlrechtlichen Sperrklausel sind
die rechtlichen Funktionsanforderungen an die zu wählende Volksvertretung, die sich
eben aus dem jeweiligen Fachrecht ergeben. Diese Funktionsanforderungen sind also
zunächst zu ermitteln.90
4. Funktionen von Kommunalparlamenten
Für die kommunalen Vertretungskörperschaften, das meint vor allem für die
Gemeinderäte und Kreistage91 ergeben sich die Funktionsanforderungen primär aus
einfachrechtlichen Kommunalverfassungen und Gemeindeordnungen, weiterhin aus der
Verfassung des jeweiligen Landes und in einigen grundlegenden Zügen aus dem
Grundgesetz.
a) Repräsentationsfunktion
Eine wesentliche Funktion von Volksvertretungen besteht in der legitimierend
wirkenden Repräsentation des Volkes.92 Dieses Grundverständnis liegt auch
kommunalen Vertretungskörperschaften zugrunde. Auf Ebene des Grundgesetzes wird
dies in Art. 28 I 1 und 2 GG ausgedrückt, welche Normen als zwingende
Strukturvorgabe die Ausübung von staatlicher und Herrschaftsgewalt in den Ländern
und insbesondere die kommunale Selbstverwaltung nach Art. 28 II 1 GG prägen. In den
jeweiligen Landes- und Kommunalverfassungen wird der demokratische Aspekt
kommunaler Vertretungen wie auch der grundgesetzlich geforderte Aufbau der
BVerfGE 95, 408 (421); J. Dietlein/D. Riedel, Zugangshürden im Kommunalwahlrecht, 2012,
S. 38; S. Roßner, Sperrklauseln – Wahlrechtliche Markzugangsbeschränkungen auf dem Prüfstand,
in: KommunalPraxis Wahlen 2012 S. 10 (13); ähnlich auch T. Puhl: Die 5%-Sperrklausel im
Kommunalwahlrecht auf dem Rückzug, in: Depenheuer/Hientzen/Jestaedt (Hrsg.), FS Josef Isensee,
2008, S. 441 (449). Der Aufgabe einer Ermittlung parlamentarischer Funktionsanforderungen
unterzieht sich für das Europäische Parlament eingehend BVerfGE 129, 300 (335 ff.).
90
In anderen Ländern werden teils auch andere Bezeichnungen für die Vertetungsorgane bestimmt
(z.B. Gemeindevertretung, Kommunalvertretung, Stadtrat etc.). Aus Gründen der Einheitlichkeit
werden im Übrigen die Begriffe „Gemeinderat“ und „Kreistag“ verwendet. Im Übrigen finden die
nachstehenden Grundsätze aber auch auf die jeweils anderen Vertretungsorgane Anwendung. Auf
Besonderheiten wird in den nachfolgenden Nachweisen hingewiesen.
91
BVerfGE 123, 39 (68 ff.); 95, 335 (368 ff BVerfGE 99 1 (11 f.); H. Meyer, HdBStR II, 2. Aufl.
1998, § 37 Rn. 18-21; im Einzelnen ders., ebd., § 38 Rn. 1-45; J. Ipsen, Staatsorganisationsrecht, 27.
Aufl. 2016, Rn. 73, 246 ff.
92
26
Demokratie von „oben nach unten“ bewusst betont.93 In Nordrhein-Westfalen etwa
bringen dies Artt. 1 I 1; 2; 69 I 2, 78 I 1 und 2 Verf NW; §§ 1 I; 40 I und II 1 GO NW;
§§ 1 I; 25 I KrO NW94 zum Ausdruck.95
b) Weitere Funktionen nach der Gemeindeordnung und der Kreisordnung
Die durch Gesetz ausdrücklich übertragenen Funktionen der Räte und Kreistage sind
vielfältig. Bedingt durch ihre besondere demokratische Legitimation sind die
Vertretungskörperschaften grundsätzlich allzuständig, nämlich für alle Angelegenheiten
der Verwaltung der Gemeinde, soweit nicht ausnahmsweise gesetzlich andere
Zuständigkeiten gegeben sind.96
Einheitlich besteht ein Katalog unübertragbarer Aufgaben und Zuständigkeiten (z.B.
Rechtssetzung, Haushaltsplanung).97 Nur außerhalb dieses Katalogs kann der Rat
Aufgaben an die Verwaltungsspitze (bzw. an Ausschüsse) delegieren und nimmt eine
solche Delegation kraft gesetzlicher Verweisung oder einer fiktiven Übertragung
üblicherweise für die exekutivischen „Programmaufgaben“ der laufenden Verwaltung
vor.98 Die Befugnisse der Volksvertretungen in den Kreisen sind ähnlich geregelt.99
Vgl. G. Püttner, in: Handbuch für kommunale Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, 3. Auflage 2007, §
19 Rn. 6 f.; M.-E. Geis, in: Kommunalrecht, 4. Aufl. 2016, § 5 Rn. 3.
93
Vgl. zu den nordrheinwestfälischen Bestimmungen insb. S. Smith, in: Kleerbaum/Palmen,
Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen, § 40 S. 495 f.; R. Wansleben, in: Held/Winkel,
Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen, § 40 S. 250; vgl. BVerfGE 11, 266 (275 f.).
94
Auch in anderen Ländern wird diese wichtige Aussage an prominenter Stelle im ersten Paragraph,
bzw. Artikel der Kommunalverfassung gemacht: bspw. in § 1 ThürKO, § 1 I HGO, Art. 1 BayGO,
§ 1 I SächsGO. Durch die jeweiligen Landesverfassungen werden diese Aussagen (meist in der
Form der Garantie von kommunalen Vertretungsorganen und Wahlen) flankiert, vgl. exemplarisch
Art. 95 ThürVerf; Art. 138 HessVerf, Art. 86 VerfSachs. Ausdrücklich als Garantie einer
demokratischen Staatsstruktur von „unten nach oben“ vgl. bspw. Art. 11 IV VerfBayern.
95
D. Ehlers, in: Handbuch für kommunale Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, 3. Auflage 2007, § 21
Rn. 3; Siehe für die einzelnen Kommunalverfassungen, bzw. Gemeindeordnungen bspw. § 41 I 1
GO NW, § 24 I 1 GO BW, Art. 29, 30 II BayGO, § 22 III 1 ThürKO, § 50 I 1 HGO, § 28 I 1
SächsGO, § 45 I 1 KVG S.-A. Sofern im Einzelnen keine formelle Allzuständigkeit besteht, so
ergeben sich in inhaltlicher Hinsicht wegen der Vielzahl der übertragenen Kompetenzen keine
relevanten Unterschiede.
96
Siehe bspw. § 41 I 2 GO NW, § 39 II GO BW, Art. 32 II 2, 37 II 1 BayGO, § 58 I, II
NdsKomVG, § 51 HGO, § 28 GO SH; § 41 II SächsGO.
97
Vgl. etwa § 41 III GO NW, § 44 II 1 GO BW, Art. 37 I 1 Nr.1 BayGO, § 85 I 1 Nr. 7
NdsKomVG; § 53 II 1 SächsGO, §§ 66 I KVG S.-A. Mit ausdrücklichem Bezug auf die geringe
Bedeutung der übertragenen Aufgaben bspw. § 29 II ThürKO. In NRW „gelten“ die Aufgaben der
laufenden Verwaltung als auf den Rat übertragen. Es existiert – rechtspolitisch fragwürdig und ohne
größere praktische Relevanz, vgl. J. Dietlein/D. Riedel, Zugangshürden im Kommunalwahlrecht,
2012, S. 72 – daneben eine Rückholbefugnis, vgl. § 41 III GO NW.
98
Siehe §§ 26 I; 42 lit a) KrO NW; §§ 19, 37 f. KrO BW, §§ 29, 44 HLKO; mit Bezug auf ein
grundlegend antagonistisches Verhältnis zum Landrat und Konzentration „wichtiger“ Aufgaben
beim Kreistag z.B. Art. 23 I 2, 3, 34 Bay LKO, §§ 22, 51 KrO SH. Falls keine explizite
Allzuständigkeit des Kreises besteht (bspw. § 58 I NdsKomVG), dann handelt es sich – wie auch bei
den Gemeindevertretungen – angesichts der Fülle der übertragenen Kompetenzen nur um eine
begriffliche Unterscheidung, vgl. A. Engels/D. Krausnick, Kommunalrecht, 2015, § 4 Rn. 86.
99
27
Besonders hervorzuheben ist allerdings eine Funktion, die Räte und Kreistage nicht
mehr ausüben, nämlich die Wahl des Hauptverwaltungsbeamten. Das Fehlen dieser
Funktion unterscheidet die modernen Kommunalverfassungen nach dem System der
Süddeutschen
Ratsverfassung100
grundlegend
von
den
parlamentarischen
Regierungssystemen der Länder und des Bundes, die parlamentarische Mehrheiten
bereits benötigen, um überhaupt eine handlungsfähige Regierung und Exekutivspitze zu
wählen. Diese Abhängigkeit ist ein entscheidendes Argument in Rechtsprechung und
Literatur für die Rechtfertigung der Sperrklauseln in den Ländern und im Bund.101
Nach zahlreichen Kommunalverfassungsreformen in den Ländern über die Einführung
der Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten102 wurde die Formierung der
Verwaltungsspitze von den Kommunalparlamenten unabhängig gemacht. Zwar wählen
die Gemeinderäte und Kreisvertretungen die „Beigeordneten“ respektive auf Kreisebene
die
allgemeinen
Vertreter
(bzw.
die
funktionalen
Äquivalente
in
anderen
Kommunalverfassungen103), jedoch unterliegen diese Gemeindebediensteten als
Wahlbeamte auf Zeit regelmäßig dem Weisungsrecht der vom Volk gewählten
Hauptverwaltungsbeamten (z.B. des Landrats).104 Damit hat die Befugnis, die
In allen Bundesländern herrscht mittlerweile das System der Süddeutschen Ratsverfassung vor,
vgl. T. Schmidt, Kommunalrecht, 2. Aufl. 2014, Rn. 375.
Lediglich in Hessen besteht ein System der sog. „unechten Magistratsverfassung“, bei dem für die
Städte die Aufgaben der laufenden Verwaltung durch den vom Gemeindevolk gewählten Magistrat
durchgeführt werden, vgl. § 9 II HGO. Zwar wird dieses, anders als der Bürgermeister (vgl. § 39 Ia
HGO) nicht von den Gemeindebürgern, sondern von der Gemeindevertretung gewählt (§ 39 II
HGO). Daraus lässt sich allerdings nicht schließen, dass die Rechtsprechung zur Süddeutschen
Ratsverfassung nicht auf die unechte Magistratsverfassung zu übertragen sei. Denn hauptsächlich hat
der Gemeindevorstand (=Magistrat) eine dirigierende, überwachende Funktion für die Aufgaben der
laufenden Verwaltung (vgl. §§ 66 I, 70 II HGO). Hier ist durch das starke Element der
Gewaltenteilung vielmehr politische Konsensfindung nötig, vgl. M.E. Geis, Kommunalrecht, 4.
Aufl. 2014, § 2 Rn. 36. Akute Gefährdungen der Gemeindefunktionen sind auch hier durch das
Notverwaltungsrecht des Hauptverwaltungsbeamten ausgeschlossen, vgl. T. Schmidt,
Kommunalrecht, 2. Aufl. 2014, § 11 Rn. 459.
100
BVerfGE 120, 82 (116); VerfGH NW, NVwZ 1995, 579 (581); LVerfG M-V, LKV 2001, 270
(270 f.); T. Puhl, Die 5%-Sperrklausel im Kommunalwahlrecht auf dem Rückzug, in:
Depenheuer/Hientzen/Jestaedt (Hg.): FS Josef Isensee, 2008, S. 441 (453).
101
In Hessen besorgt dabei analog zu den Regelungen in der HGO der „Kreisausschuss“ die
Angelegenheiten der laufenden Verwaltung. Auch hier tritt der Kreisausschuss nicht an die Stelle
des Landrats, sondern beschränkt seinen Wirkungskreis, vgl. §§ 8 S. 2, 36 I 1 HLKO. Der Landrat
führt dabei nach § 36 I HLKO den Vorsitz, vgl. A. Engels/D. Krausnick, Kommunalrecht, 2015, § 4
Rn. 108 f.
102
§ 71 GO NW; § 47 KrO NW; § 50 GO BW, auf Kreisebene gibt es hier z.B. „allgemeine
Vertreter“ und einen vom Kreistag zu wählenden Beirat, vgl. § 42 V, 45 KrO BW; begriffliche
Unterscheidung „weitere Bürgermeister“ in Bayern, vgl. Art. 35 I 1 BayGO sowie die Darstellung
bei G. Lissack, Bayrisches Kommunalrecht, 1997, § 4 Rn. 12 ff., auf Kreisebene „allgemeine
Stellvertreter“ (Art. 32, 36 BayGO); siehe ferner für Hessen §§ 39a I, 51 I Nr. 1 HGO, §§ 38, 44 IV
HLKO (Kreisbeigeordnete), vgl. weiter oben u. Fn. zum Kreisausschuss; in Schleswig-Holstein auf
Gemeindebene „Stadtrat“ § 66 I GO S.H, auf Kreisebene „allgemeine Vertreter“, vgl. §§ 28 II, 48
LKO S.H.
103
Vgl. dazu im Einzelnen die Darstellungen bei A. Engels/D. Krausnick, Kommunalrecht, 2015, § 4
Rn. 80. Anders allerdings in Hessen, wo kein Weisungsrecht des Bürgermeisters gegenüber dem
Magistrat besteht, sondern nur gegenüber der übrigen Verwaltung.
104
28
Beigeordneten und Kreisdirektoren zu wählen, bei weitem nicht die Bedeutung wie die
zuvor bestehende Befugnis zur Wahl des Hauptverwaltungsbeamten.
Zwar haben die kommunalen Volksvertretungen nach wie vor eine Reihe anderer
bedeutsamer Kompetenzen: Sie üben gegenüber Bürgermeistern, Landräten und den
Gemeindebediensteten gewisse Kontrollrechte aus105, sind wesentlich an der
kommunalen Normgebung beteiligt106, und an der Aufstellung der kommunalen
Haushalte sowie der Bestimmung der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben.107
Allerdings sind diese Funktionen den Kommunalparlamenten nicht ohne rechtliche
Sicherungen übertragen.
c) Sicherungen gegen mögliche Funktionsstörungen
Für die Beurteilung eines Eingriffs in die Gleichheit der Wahl und in die
Chancengleichheit der politischen Parteien sind im Zusammenhang mit den rechtlichen
Funktionsanforderungen
auch
die
rechtlichen
Funktionsbedingungen
relevant,
insbesondere die rechtlichen Vorkehrungen, die getroffen wurden, um die Erfüllung der
Funktionsanforderungen abzusichern.
i. Beschlussfähigkeit
Für alle Entscheidungen von Gemeinderäten und Kreisvertretungen ist die
Beschlussfähigkeit Voraussetzung. Die einschlägigen Regelungen treffen jedoch,
abgesehen
von
einer
generellen
Verpflichtung
der
Mitglieder
von
Kommunalparlamenten zur Aufgabenerfüllung und damit auch zu hinreichender
Teilnahme108, Vorkehrungen, um die Beschlussfähigkeit zu sichern. So genügt für die
Beschlussfähigkeit die Anwesenheit von mehr als der Hälfte der Mitglieder109, wobei
§§ 55; 41 I lit. j) GO NW, § 26 I lit. i), II, III, IV KrO NW; Art. 30 Abs. 3 BayGO, Art. 23 II
BayLKO; § 58 IV 1 NdsKomVG (einheitlich für sämtliche Gemeindevertretungen); teils tritt diese
Funktion nicht ausdrücklich hervor, ergibt sich aber aus der konkreten Aufgabenübertragung, vgl.
insb. § 24 I GO BW, auf Kreisebene hingegen ausdrücklich in § 19 I 2 LKO BW; vgl. § 28 III
SächsGO, § 24 II SächsLKO
105
§ 41 I litt. f), g) GO NW; § 26 I lit. f) KrO NW. Als Kernstück demokratischer Herrschaft ist der
Normerlass auch in anderen Bundesländern weder auf Ausschüsse noch auf die Verwaltungsspitze
übertragbar, vgl. z.B. § 39 II Nr. 3 GO BW, § 34 II Nr 3 LKO BW; Art. 32 II 2 Nr. 2 BayGO
(übertragbar an den Bauausschuss sind hier lediglich Satzungen nach dem BauGB), Art. 30 I Nr. 9
BayLKO; § 51 Nr. 6 HGO, § 30 Nr. 5 HKO; § 41 II Nr. 3 SächsGO, §§ 24 II Nr. 4, 37 II
SächsLKO.
106
§ 41 I litt. h), i) GO NW; § 26 I litt. g), h) KrO NW; § 39 II Nr. 10 ff. GO BW, § 34 II Nr 8 ff.
LKO BW; Art. 32 II 2 Nr. 4-6 BayGO, Art. 30 I Nr. 17 BayLKO; § 51 Nr. 7 ff. HGO, § 30 Nr. 6 ff.
HKO, § 41 II Nr. 9 ff. SächsGO, §§ 24 II Nr. 10 ff., 37 II SächsLKO.
107
Ausdrückliche Mandatsausübungspflichten bspw. in §§ 34 III, 39 V, 41 III GO BW; Art. 48 I, 55
II BayGO, §§ 37 I, 43 I ThürKO; § 35 IV SächsGO.
108
Z.B. Art. 47 II BayGO, § 53 I 1 HGO, 49 I 1 GO NRW, § 38 I 1 GO S.H; § 39 II 1 SächsGO.
Auf Kreisebene finden sich äquivalente Regelungen, z.B. Art. 41 II BayLKO, § 34 I KrO NRW,
§ 33 I KrO S.H.; § 17 SächsLKO
109
29
die Beschlussunfähigkeit auf Antrag festgestellt werden muss.110 Die Gefahr einer
Beschlussunfähigkeit infolge des Fernbleibens der Vertreter kleiner Gruppierungen
besteht somit kaum. Ihr könnte zudem durch verstärkte Präsenz der Mitglieder anderer
Fraktionen
begegnet
werden.
Ist
aber
eine
Angelegenheit
dennoch
wegen
Beschlussunfähigkeit zurückgestellt worden, so kann in einer folgenden Sitzung der
Kommunalvertretung
über
dieselbe
Angelegenheit
ohne
Rücksicht
auf
die
Beschlussfähigkeit entschieden werden.111
ii. Mehrheit
Sachentscheidungen der Kommunalvertretungen werden mit einfacher Mehrheit
getroffen.112 Für Wahlen gilt im ersten Wahlgang zwar das Erfordernis einer Mehrheit
der gültig abgegebenen Stimmen, in einem zweiten Wahlgang kommt es dann aber zur
Stichwahl zwischen den beiden erfolgreichsten Bewerbern des ersten Durchgangs.113
Da Enthaltungen und ungültige Stimmen nicht für die Berechnung der Mehrheit
herangezogen werden114, können Sachentscheidungen und Wahlen gegen bloße
Obstruktion als gesichert gelten. Ähnliches gilt auch für die Ausschusswahlen, die nach
dem Verfahren der Verhältniswahl zwischen den Wahlvorschlägen der Fraktionen und
Gruppen des Rates respektive des Kreistages durchgeführt werden.115
iii. Haushalt
Sollte es sich trotz der genannten Vorkehrungen als unmöglich erweisen, eine
Haushaltssatzung zu erlassen, kann auf die Vorschriften über die vorläufige
Vgl. § 49 I 2 GO NRW; teils muss die Beschlussfähigkeit im Allgemeinen festgestellt werden
und gilt dann solange als vorhanden, bis das Gegenteil bewiesen wurde, vgl. z.B. § 53 I 2 HGO, § 65
I NdsKomVG. Vgl. als Beispiel zu den jeweiligen LKrOen § 34 I 2 KrO NW, § 32 HLKO (als
Verweis auf § 53 I 2 HGO). In Baden-Württemberg hat man hingegen eine Absicherung durch
Mindestquoten bzgl. der Mitgliederzahl vorgesehen, vgl. § 37 GO BW, § 32 II 1, 2 LKO BW.
110
Vgl. § 49 II GO NW; § 34 II KrO NW; § 53 I, II HGO (i.V.m. § 32 HLKO); Art. 47 III BayGO;
Art. 41 III BayLKO; teils warden auch geringe Mindestteilnahmezahlen angegeben, so sind z.B. drei
Ratsmitglieder in Sachsen nötig, vgl. § 39 III SächsGO, § 35 III SächsLKO
111
§ 50 I 1 GO NW, § 35 I 1 KrO NW; Art. 51 I BayGO, Art. 45 I BayLKO; § 39 VI SächsGO, § 35
VI SächsLKO; § 54 I HGO (i.V.m. § 32 HLKO); § 37 VI 2 GO BW, § 32 VI 2 LKO BW; § 66
NdsKomVG.
112
§ 50 II GO NW; § 35 II KrO NW; Art. 51 III BayGO, Art. 45 III BayLKO; § 39 VII SächsGO,
§ 35 VII SächsLKO; § 55 V HGO (i.V.m. § 32 HLKO); § 37 VII GO BW, § 32 VII LKO BW; § 67
NdsKomVG.
113
Vgl. etwa § 50 V GO NW; § 35 V KrO NW; Art. 51 I, III BayGO, Art. 45 I, III BayLKO; § 39
VI 3 SächsGO, § 35 VI 3 SächsLKO sowie § 66 NdsKomVG; ausdrücklich § 54 I 3 HGO (i.V.m. §
32 HLKO); ohne ausdrückliche Nennung „Stimmenmehrheit” etwa § 37 VII GO BW, § 32 VII LKO
BW.
114
§ 50 III GO NW; § 35 III GO NW; Art. 51 III BayGO (i.V.m. Art. 55 BayGO), Art. 45 III, IV
BayLKO (i.V.m. Art. 49 BayLKO); §§ 54 I, 62 V HGO (i.V.m. § 33 II HLKO); §§ 67, 71
NdsKomVG
115
30
Haushaltsführung und über die über- und außerplanmäßigen Ausgaben zurückgegriffen
werden.116
iv. Vom Volk gewählter Hauptverwaltungsbeamter
Die Bürgermeister und Landräte sind im System der süddeutschen Ratsverfassung (mit
Einschränkungen auch bei der unechten Magistratsverfassung) institutionell unabhängig
von den jeweiligen Volksvertretungen, da sie direkt vom Volk gewählt sind.117 Damit
ist die Vertretung der Gemeinde oder des Kreises nach außen, die Führung der
laufenden Geschäfte der Verwaltung, die Ausübung der Zuständigkeit für
Personalentscheidungen,
Kreistagsbeschlüssen
die
wegen
Möglichkeit
der
Rechtswidrigkeit
Beanstandung
wie
auch
von
die
Rats-
oder
Handhabe
zu
Dringlichkeitsentscheidungen gewährleistet.118
v. Staatliche Aufsicht
Zudem gibt es mit der staatlichen Aufsicht, die teils als Rechts-, teils als Fachaufsicht
ausgestaltet ist, Möglichkeiten, eventuelles Funktionsversagen der kommunalen
Volksvertretungen aufzufangen.119
vi. Bei Funktionsausfall Möglichkeit gesetzgeberischen Eingreifens
Sollte
es
trotz
all
der
genannten
Sicherungsinstrumente
doch
zu
einem
Funktionsversagen kommen, so besteht immer noch die Möglichkeit, dass das
zuständige staatliche Parlament eingreift und die gesetzlichen Rahmenbedingungen so
ändert, dass die Entscheidungsfähigkeit wiedererlangt wird, etwa durch Einführung
einer wahlrechtlichen Sperrklausel. Kommunale Volksvertretungen haben so eine Art
Rückversicherung. Anders die staatlichen Parlamente: Ein Landtag oder der Bundestag
darf es nicht darauf ankommen lassen, ob seine Mehrheits- und Entscheidungsfähigkeit
Vgl. dazu in NRW die §§ 82, 83 GO NW (für die Kreise je in Verbindung mit § 53 I KrO NW);
in Hessen bspw. die §§ 99, 100 HGO, 30 I Nr. 7 HLKO; vgl. hierzu BVerfGE 120, 82 (116) zu den
inhaltsgleichen Vorschriften der GO Schleswig-Holstein; Thomas Puhl, Die 5%-Sperrklausel im
Kommunalwahlrecht auf dem Rückzug, in: Depenheuer/Hientzen/Jestaedt (Hg.): FS Josef Isensee,
2008, S. 441 (455).
116
Vgl. bspw. § 65 I 1 GO NW; § 44 I 1 KrO NW; § 45 I GO BW, Art. 17 BayGO, Art.12
BayLKO; § 39 Ia S. 2 HGO, § 37 Ia HLKO; 4 II 2 NdsKomVG (Gemeinde und Kreis); § 48 I
SächsGO, § 44 I SächsLKO.
117
Siehe z.B. §§ 63 I 1; 41 III; 73 II, III; 54 II; 60 I 2 GO NW bzw. §§ 42 lit. a), e); 49 I; 39 II; 50
III 2 KrO NW; Art. 37 I 1 BayGO, Art. 34 I, II, 37 BayLKO; § 66 I HGO, §§ 37 Ia,, 44, 55 HLKO;
§ 29 ThürKO; §§ 101 II, 107 ThürKO.
118
§§ 119 ff. GO NW (für die Kreise in Verbindung mit § 57 I KrO NW); Art. 108 ff. BayGO
(spezifisch öffentlich-rechtliche Aufsicht); §§ 120 ff. GO S.H.; §§ 135 ff. HGO (i.V.m § 54 ff.
HLKO); §§ 170 ff. NdsKomVG; §§ 143 ff. KVG S.A.; ebenso nur spezifisch öffentlich-rechtliche
Aufsicht in Thüringen, vgl. §§ 117 ff. ThürKO; allgemeine Aufsicht in Brandenburg, vgl. §§ 109 ff.
Bbg.KVG
119
31
wegen zu großer Zersplitterung und unüberwindlicher politischer Antagonismen
verloren geht oder nicht, weil bei Verwirklichung der Gefahr auch keine realistische
Möglichkeit mehr bestünde, eine dann notwendig gewordene wahlrechtliche
Sperrklausel zur Wiederherstellung der Entscheidungsfähigkeit einzuführen. Im
Vergleich zu Situation in den Parlamenten von Bund und Ländern, kann bei den
Kommunalparlamenten im Sinne einer sicheren Gefahrenprognose länger zugewartet,
bis zu der einschneidenden Maßnahme einer wahlrechtlichen Sperrklausel gegriffen
wird.
5. Maßstab füreine Rechtfertigung
Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass eine kommunalrechtliche Sperrklausel, auch
wenn sie auf Ebene einer Landesverfassung eingeführt wird, nur durch eine bereits
eingetretene und festgestellte oder jedenfalls mit hinreichender Sicherheit für die
Zukunft prognostizierbare, gravierende Funktionsstörung gerechtfertigt werden, die
nicht nur punktuell, sondern in einer erheblichen Anzahl von Kommunen auftritt und
der nicht mit anderen, die demokratischen Gleichheitsrecht weniger beeinträchtigenden
Mitteln begegnet werden kann.
32
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