Vorschlag für ein PVS-Sonderheft 2012

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Call for Papers für ein Leviathan-Sonderheft:
Der Aufstieg der Legitimitätspolitik.
Rechtfertigung und Kritik politisch-ökonomischer Ordnungen
Herausgeber/innen:
Christopher Daase, Anna Geis, Frank Nullmeier
Globalisierung und Transnationalisierung, Privatisierung und Vermarktlichung bestimmen die
gesellschaftliche Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte. Neue Akteure sind dadurch in den
Vordergrund geraten und neue Ordnungen sind entstanden, die Geltung, Folgebereitschaft und
Anerkennung beanspruchen. Zu diesem Zweck nutzen sie Verfahren und Narrative, die sich
einerseits aus dem historischen Repertoire politischer Herrschaft bedienen (Macht, Recht,
Gewalt, Zwang, Effektivität usw.), andererseits auf neuere Formen politischer
Anerkennungswürdigkeit stützen (Überzeugung, Deliberation, Öffentlichkeit, Informalität usw.).
Zu diesen Akteuren und den von ihnen getragenen Ordnungen gehören nicht nur internationale
Institutionen und Organisationen regionaler Integration, sondern auch die großen transnationalen
Unternehmen und Einrichtungen der Selbstregulation der Ökonomie. Sie alle zielen auf Geltung
und Anerkennung oder müssen sich auf Kritik an der Anerkennungswürdigkeit ihres Agierens
einstellen. Diese Veränderungen in der globalen Wirtschaft und Politik führen zu einer
Expansion von Legitimitätsansprüchen und -anforderungen. Auseinandersetzungen über die
Gestaltung der Einrichtungen und Formen globalen Regierens wie der internationalen
Finanzarchitektur werden heute in Begriffen der Legitimation und Delegitimation geführt,
zunehmend strategisch durchdacht und systematisiert. Wir beobachten die Entwicklung eines
neuen Feldes politischer und ökonomischer Auseinandersetzung: den Aufstieg der
Legitimitätspolitik. Ziel des Sonderheftes ist es, diesen Aufstieg in seinen öffentlichen wie
innerwissenschaftlichen Bedingungen und Folgewirkungen nachzuzeichnen, die verschiedenen
Formen von Legitimitätspolitik systematisch zu erfassen, ihre theoretischen Grundlagen zu
reflektieren, die Erfolge und Misserfolge politischer Legitimationsstrategien zu erklären und den
zukünftigen Forschungsbedarf in empirischer und normativer Perspektive zu eruieren.
„Legitimität“ gehört zu den Grundbegriffen normativer wie empirischer Politikwissenschaft;
auch in den Nachbardisziplinen, etwa der Rechtswissenschaft und der Soziologie, ist
„Legitimität“ seit langem ein Kernbegriff. Es gibt allerdings jüngere Entwicklungen in der
praktischen Politik, die dem Thema „Legitimität“ aktuell eine besondere Virulenz verleihen: Im
Zuge vielfältiger Denationalisierungsprozesse ist offenbar geworden, dass die nationalstaatlichen
Problemlösungskapazitäten nicht ausreichen, um grenzüberschreitende Probleme in Bereichen
wie Ökologie, Sicherheit, Handel und Finanzen, Migration usw. angemessen zu bearbeiten.
Nationalstaatliche Politik wird zum einem zunehmend transnationalisiert, d.h. staatliche Akteure
sind auf die Kooperation mit nicht-staatlichen Akteuren (z.B. zivilen NGOs oder transnationalen
Unternehmen) auch jenseits der Grenzen angewiesen oder werden von nicht-staatlichen
Akteuren symbolträchtig herausgefordert (z.B. durch organisierte Kriminalität oder transnationalen Terrorismus). Zweitens schreitet die Internationalisierung von Politik weiter fort, wie die
wachsende Anzahl und Bedeutung formeller wie informeller Koordinationsgremien auf
internationaler Ebene oder die Vertiefung regionaler Integrationsprozesse zeigen. Welche
Akteure (oder Akteurskonstellationen) und welche Formen von Governance dürfen unter diesen
Bedingungen Anerkennung, Rechtmäßigkeit und Folgebereitschaft erwarten und wie (und mit
welchem Erfolg) werden diese eingefordert und begründet. Zudem haben die Internationalisierung ökonomischer Prozesse und die Dominanz von Märkten und Marktakteuren dazu
geführt, die Legitimität ökonomischer Ordnungen zu befragen bzw. in Frage zu stellen. Kritik
der Globalisierungseffekte ist oft Kritik von politischer und ökonomischer Herrschaft, und
Rechtfertigungen politischer Herrschaft müssen so angelegt sein, dass sie zugleich die
marktwirtschaftliche Ordnung und das Zusammenspiel von Markt und Staat legitimieren.
Die Internationalen Beziehungen (IB) haben das Thema Legitimität in den vergangenen Jahren
für sich neu entdeckt. Sind die nationalstaatlichen politischen Institutionen in eine
Legitimationskrise geraten und wie kann das Demokratiedefizit der Institutionen globalen und
europäischen Regierens abgebaut werden? In den letzten Jahren hat eine regelrechte Wende hin
zu einer „legitimacy language“ (Ian Clark) eingesetzt, zahlreiche internationale wie nationale
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten inzwischen mit diesem Begriff an der
Klärung der normativen Güte von formellen wie informellen Arenen globalen Regierens sowie
an der Bewertung von einzelnen weit reichenden internationalen Entscheidungen, wie etwa dem
Einsatz militärischer Gewalt.
Der Begriff der Legitimität ist inzwischen – verschärft angesichts der jüngsten internationalen
Finanzkrise – auch prominent in den Debatten über die angemessene wirtschaftliche Ordnung
vertreten. Die politisch-soziologische Forschung zur Marktwirtschaft hat die Rechtfertigungen,
die die Ausbildung der Wettbewerbsökonomie antrieben oder begleiteten, seit der Weberschen
Protestantismusthese immer wieder aufgegriffen, aber meist nicht mit dem Begriff Legitimation
und auch nicht im Vergleich zu politischen Ordnungen untersucht. Die Renaissance der
Wirtschaftssoziologie und der Aufstieg der Internationalen bzw. Vergleichenden Politischen
Ökonomie führen heute zu einer breiten sozialwissenschaftlichen Perspektive, die das ganze
Vokabular der Sozialwissenschaften nutzt, um Entwicklungen im Feld der Ökonomie zu
analysieren. Märkte, Unternehmen und ökonomische Prozesse werden immer häufiger als
Phänomene verstanden, für deren Bestand und Funktionieren ihre Anerkennungswürdigkeit von
großer Bedeutung ist. Heute wird nicht nur politischer Herrschaft, sondern auch ökonomischen
Ordnungen abgefordert, sich als legitim und anerkennungswürdig auszuweisen. Dabei ist auch
das Zusammenspiel zwischen ökonomischen und politischen Akteuren zu untersuchen: Müssen
die politischen Akteure letztlich auch noch Legitimationsleistungen für die ökonomische
Ordnung übernehmen?
Bei der Analyse politischer und ökonomischer Ordnungen und ihrer wechselseitigen
Angewiesenheit sind dabei drei Fragen relevant: Erstens die deskriptive, wie mit normativen
Argumenten politische und institutionelle Traditionen und Innovationen begründet und
gerechtfertigt werden; zweitens die normative, mit welchem Recht diese Argumente vorgebracht
werden; und drittens die empirisch-explanatorische Frage, warum und mit welchem Erfolg
solche Argumente vertreten werden und welche Folgen und ‚(Miß-)Erfolge’ sie zeitigen. Mit
diesen Fragen wird ein engeres juridisches zugunsten eines diskursiven Verständnisses von
Legitimität verlassen, zudem wird in empirischer Perspektive die bisher vorherrschende
Begrenzung auf Meinungs- und Einstellungsforschung zugunsten eines kommunikativprozessualen Vorgehens überwunden.
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Das Leviathan-Sonderheft soll nicht nur einen Beitrag zu den auch in der deutschen
Politikwissenschaft bereits rezipierten bzw. gerade im Hinblick auf die Europäische Union
besonders intensiv geführten Debatten leisten, sondern sowohl in theoretischer als auch
empirischer Hinsicht darüber hinausgehen: Die meisten Fachdiskussionen um Legitimität stützen
sich auf ‚klassische‘ Konzeptionen wie Weber, Easton, Luhmann, Habermas und Scharpf.
Hinzutreten sollten in diesem Sonderheft insbesondere neuere Ansätze aus Politikwissenschaft,
Soziologie und Rechtswissenschaft (z.B. Boltanski, Rosanvallon, Barker, Möllers). Da sich
Politik und Ökonomie im Zuge von Denationalisierungsprozessen gegenwärtig massiv
verändern, reichen ‚klassische‘ Konzeptionen von Legitimität womöglich nicht mehr aus, um
aktuelle Legitimitätspolitiken sowie Legitimitätskrisen/-konjunkturen von Kapitalismus und
Demokratie angemessen erfassen zu können. Ähnlich wie die Wirtschaftspolitik reklamierte
insbesondere die Sicherheitspolitik lange eine Eigenlogik für sich, die den Sachzwängen des
Sicherheitsdilemmas geschuldet und deshalb von normativen Begründungszusammenhängen
weitgehend befreit sei. Die zunehmende Verregelung der Sicherheitspolitik und ihre immer
stärker in nationale und internationale Rechtsgefüge eingreifenden Maßnahmen (i. S. des
Präventionsstaats) erfordern jedoch neue Rechtfertigungen und Legitimationspraktiken, um
allgemein akzeptabel zu sein.
In der empirischen Legitimationsforschung fehlte es zudem an der Untersuchung des aktiven, um
Anerkennung werbenden bzw. Legitimitätsansprüche bezweifelnden Handelns. Um der
„Legitimität“ näher zu kommen, sollte die Untersuchung dynamischer Legitimationsprozesse
verstärkt werden: Man verlegte sich dann mehr auf Diskurse und Strategien, vermittels derer
Akteure versuchen, die Anerkennungswürdigkeit einer Ordnung, einer Institution, einer
politischen Entscheidung herzustellen. Solche Legitimationsprozesse sind nicht selten mit den
gleichzeitigen Versuchen der Delegitimierung (anderer Akteure, Ordnungen und Institutionen,
getroffener Entscheidungen) gekoppelt – auf die wiederum die so in den Fokus Geratenen mit
Strategien der Re-Legitimierung antworten. Legitimität steht für dynamische, komplexe Prozesse
der Verteidigung sozialer und politischer Strukturen sowie ihrer Anfechtung, in Extremfällen mit
Gewalt. Zwang und Gewalt bilden in einem Weberschen Kategoriengebäude den Gegenpol zum
Legitimitätsglauben. Doch Gewalt kann auch symbolische Funktionen übernehmen und ist
deshalb selbst Strategien der Legitimation und Delegitimation ausgesetzt. Da viele sozialwissenschaftliche Abhandlungen zu Legitimität Gewalt jenseits des staatlichen Gewalt- und Erzwingungsmonopols ausblenden, sollen in diesem Sonderheft auch Beiträge zu den (De-) Legitimierungsstrategien von nicht-staatlichen Gewaltakteuren (Terrorgruppen, Rebellengruppen) sowie
zur gewalttätigen Eskalation von Bürgerprotesten eingeworben werden.
Grundgliederung des Sonderheftes und mögliche Themen
I.
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Theorien und Narrative
Kann der Legitimationsbegriff nur auf Herrschaftsordnungen angewandt werden?
Wie hat sich der Legitimationsbegriff zu einem Zentralbegriff der Sozialwissenschaften
entwickelt?
Trust/Vertrauen – ein angemessener Begriff zur Charakterisierung der
Legitimationsproblematik?
After Böckenförde. Neuere rechtswissenschaftliche Legitimationskonzepte
Die aktuelle französische Legitimationsdiskussion
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Legitimationstheorien als Rechtfertigungstheorien?
Radikale Konzepte demokratischer Legitimität
„Good Governance“ und „Responsibility to Protect“: Demokratie und Menschenrechte als
neuer Legitimitätsstandard der internationalen Gesellschaft
Menschenrechte als Rechtfertigungsnarrativ
Was heißt eigentlich „Legitimationskrise“?
Gewaltlegitimationen – Theorien legitimer Gewaltsamkeit
II.
Strategien und Politiken
1.
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Legitimation politischer Ordnungen
Praktiken der Selbstlegitimation von politischen Regimen: Wie rechtfertigt sich die
politische Klasse vor sich selbst?
Die Bürokratisierung neuer Legitimitätsstandards?: Das Beispiel Gender Mainstreaming
Gewaltsamer Protest als Delegitimation? Die Ablehnung von Großprojekten als
Herausforderung der repräsentativen Demokratie
Das Präventionsparadigma: Selbstüberlastung des Sicherheitsstaates?
Legitimation durch (Verfassungs-)Gerichte
Die G8/ G 20 als Quasi-Weltregierung?
Was heißt Politisierung internationaler Institutionen?
Legitimation der Grenzen/territorialen Größe politischer Ordnungen
Etablierung von „Opposition“ als Legitimitätspolitik
Legitimitäts- und Rechtskonflikte zwischen internationalen Organisationen
Wie wird man ein legitimer Akteur der Weltpolitik? Zum normativen Wandel politischer
Handlungsmacht
Ermächtigung und Selbstermächtigung zum Gewalteinsatz (am Beispiel UNO und NATO)
Legitimation und Delegitimation nicht-staatlicher Gewaltakteure
b.
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Legitimationen ökonomischer Ordnungen
Begründungen des Kapitalismus in der Hochzeit des Finanzkapitalismus
Hilflose Kapitalismuskritik? Oder: Internationale Regulation als einzige ‚Alternative‘
Unternehmen als Legitimationsobjekte
(De-)Legitimationsstrategien der Verbraucherbewegungen
Aufstieg der ‚sozialen Marktwirtschaft‘ zum globalen Wirtschafts(rechtfertigungs)modell?
Delegitimationsstrategien der Antiglobalisierungsbewegung
Unternehmensleitungen als Träger von Legitimationsdiskursen
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Verfahren zur Einwerbung der Beiträge und Qualitätssicherung
Beiträge werden durch Einladung und durch diesen Call for Papers eingeworben. Die nähere Auswahl
liegt bei den Herausgebern. Die bis Ende Oktober 2011 einzusendenden Manuskripte werden
abschließend zusätzlich einem double blind peer review-Verfahren durch je ein externes Gutachten
unterzogen.
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Das Herausgeberteam:
Christopher Daase ist seit 2009 Professor für internationale Organisationen an der GoetheUniversität Frankfurt/Main und Programmbereichsleiter an der Hessischen Stiftung Frieden- und
Konfliktforschung.
Anna Geis ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Im
Wintersemester 2010/11 vertritt sie an der LMU München die Professur für Empirische Theorien
der Politik.
Frank Nullmeier ist seit 2002 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen und
Leiter der Abteilung „Theorie und Verfassung des Wohlfahrtsstaates“ des Zentrums für
Sozialpolitik.
Bitte schicken Sie Ihren Vorschlag als Abstract von 1-2 Seiten Länge bitte bis
31. März 2011
per email an alle drei Herausgeber:
Prof. Dr. Christopher Daase
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Institut für Politikwissenschaft
Senckenberganlage 31
60325 Frankfurt am Main
Tel.: 069-798 22771
[email protected]
Dr. Anna Geis
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Institut für Politikwissenschaft
Senckenberganlage 31
60325 Frankfurt am Main
Tel.: 069-798 22776
[email protected]
Prof. Dr. Frank Nullmeier
Universität Bremen
Zentrum für Sozialpolitik
Mary-Somerville-Strasse 5
28359 Bremen
Tel.: 0421-218-58576
[email protected]
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