Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des Opferentschädigungsgesetzes Vortrag im Rahmen des 6. Irseer Symposiums für Kinder- und Jugendpsychiatrie Gliederung Theorie Sachverständigengutachten im Rahmen des OEG Traumafolgestörungen Praxis Beauftragung Quellen Rahmenbedingungen Untersuchungsablauf Beurteilung und Abfassung Exkurs: psychische Effekte der Begutachtung Literatur/Internetquellen 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 2 Theorie 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 3 Sachverständigengutachten im Rahmen des OEG 1 • Das Opferentschädigungsgesetz regelt die Versorgung gesundheitlicher und wirtschaftlicher Schäden als Folge von vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffen (zu denen u.a. auch sexueller Missbrauch im Kindes- und Jugendalter zählt). • Zuständig für den Vollzug des OEG sind die Landesbehörden für soziale Leistungen im Ressort der Sozialministerien (in Bayern: Zentrum Bayern Familie und Soziales) = behördlicher Entscheidungsprozess. • Die fachliche Begutachtung im sozialen Entschädigungsrecht ist indiziert, wenn die verwaltungsseitigen Ermittlungen nicht ausreichen, um die geltend gemachten Gesundheitsstörungen oder gutachterlichen Fragen erschöpfend zu beantworten. Dies ist nicht selten im Bereich der psychischen Folgeschäden der Fall, da diese u.a. oft weniger eindeutig sind, nicht immer angemessen behandelt werden sowie zeitverzögert auftreten können. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 4 Sachverständigengutachten im Rahmen des OEG 2 Zentrale Aufgaben des psychiatrischen Gutachters im Rahmen des OEG: • Feststellung aller bestehenden Gesundheitsstörungen. • Klärung, ob durch das Ereignis (Tatgeschehen) hervorgerufene Gesundheitsstörungen vorliegen (Ursachenzusammenhang). • Wenn ja: Klärung welcher Grad der Schädigungsfolgen (GdS) dadurch verursacht wurde, ab wann und in welchem Zeitraum. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 5 Traumafolgestörungen 1 Überblick relevanter Beschwerden im Rahmen der OEG-Begutachtung: • Die psychischen Schädigungsfolgen von tätlichen Angriffen (zu der im OEG auch sexuelle Delikte sowie als Sonderfall z.B. die extreme Vernachlässigung im Kleinkindalter oder der Schockschaden zählen) sind in ihrer Spezifität als gering einzuschätzen (Ausnahme: PTBS und Sexualisierung). • Auch der Eintritt der Schädigungsfolge und der zeitliche Verlauf sind nicht eindeutig. • Der Schockschaden ist eine durch das persönliche Miterleben einer dem OEG zuzurechnenden schweren vorsätzlichen Gewalttat entstandene nicht nur vorübergehende psychische Störung von Krankheitswert. Bei besonderer emotionaler Beziehung/Angehörigen ist dieser auch durch das Auffinden des Opfers oder die Nachricht von der Tat möglich. • Das Spektrum der Folgen geht von spezifischen Traumareaktionen (z.B. der posttraumatischen Belastungsstörung) über dissoziative Beschwerden (im Extremfall: multiple Persönlichkeitsstörung) bis hin zu unspezifischen Beeinträchtigungen oder Verschlimmerungen (z.B. Ansteigen der Dissozialität). Auch Störungen der Sexualität und der sexuellen Entwicklung sind möglich sowie im Kindes- und Jugendalter ein schädigender Einfluss auf die Persönlichkeits- und Bindungsentwicklung. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 6 Traumafolgestörungen 2 Spezifisch/eng gefasst: Allgemein: • • • • • • • • • • • • • Akute Belastungsreaktion (ICD-10 F43.0) Anpassungsstörung (ICD-10 F43.2) Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43.1) Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10 F62.0) Unspezifisch: • • ADHS-Verschlimmerung Verschlimmerung einer SSV, Dissozialität Depression Angst Drogenabusus Psychose-Rezidiv NSSV BPS usw. Dissoziative Störungen Sexualstörungen (Sexuelle Aversion/sexuelle Reifungskrise) 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 7 Traumafolgestörungen 3 • Nicht alle Betroffenen entwickeln langfristige Störungen. Die Art der Belastung spielt hierbei eine Rolle sowie die vorhandenen Vulnerabilitäts- und Resilienzfaktoren des Betroffenen. Relativ gering ist die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung von Belastungssymptomen nach körperlichen Angriffen im Erwachsenenalter (11,5% PTBS), hoch dagegen nach sexueller Gewalt (50-80% PTBS). Etwa 1/3 der Opfer von sexuellem Missbrauch im Kindesalter entwickeln nach einer Metaanalyse von KendallTackett et al. (1997) „keine auffälligen Symptome“. Diathese-Stress-Modell (Quelle: Wikipedia) 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 8 Traumafolgestörungen 4 Risiko- und Schutzfaktoren Personale Ressourcen Positives Temperament Erstgeborenes Kind Quelle: www.resilienz-freiburg.de 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 9 Traumafolgestörungen 5 Besonderheiten im Kindes- und Jugendalter: • Abhängig von Alter und/oder Entwicklungsphase entsprechen die Symptome der Erkrankungen oftmals nicht dem Erwachsenenbild (z.B. PTBS/Depressionen). • Nicht selten sehen wir bei Kindern eine zwischenzeitlich gute Adaption an das Tatgeschehen mit verzögertem Aufbrechen der Symptomatik erst in der Adoleszenz mit ihren neuen Entwicklungsaufgaben (z.B. Übernahme der Geschlechtsrolle, Akzeptieren der körperlichen Erscheinung). Gegebenenfalls sind zwischenzeitlich larvierte Phänomene zu beobachten (z.B. Aggressivität). • Mindestens bei Häufung von Vor- und Nachschäden sowie geringen Resilienzfaktoren ist eine nachhaltige Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentwicklung und der Beziehungsfähigkeit zu befürchten. Quelle: Stein & Rosner (2009) 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 10 Praxis 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 11 Praxis – Beauftragung 1 • Die Beauftragung mit der Begutachtung erfolgt über die zuständige soziale Landesbehörde (in Bayern: Zentrum Bayern Familie und Soziales) in Folge der behördlichen Ermittlungen, bei der bereits umfängliche Informationen erhoben wurden: Arzt- und Krankenhausberichte, Auszüge der Krankenkassen, Schulmaterial, Kurberichte, Auskünfte von Vorbehandlern usw. • Oft liegt ein nicht mehr strittiges Tatgeschehen vor, das bereits verhandelt wurde. Dies entspricht den sogenannten „Anknüpfungstatsachen“. • Ein umfangreicher und detaillierter Fragenkatalog zu den verschiedenen Schädigungsarten und – folgen sowie zur Frage der Nachprüfung und des zukünftigen Behandlungsbedarfes wird vorgelegt. • Der Auftragnehmer (Gutachter) muss vor Beginn u.a. prüfen, inwiefern der Auftrag in sein spezifisches Fachgebiet fällt, ob hinreichende Qualifikation, Fachkunde und spezifische Erfahrung vorliegt sowie genügend aktuelle Zeit/Kapazitäten. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 12 Praxis – Beauftragung 2 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 13 Praxis - Quellen • Im Rahmen der Begutachtung wird zunächst die Aktenlage erhoben und intensiv studiert. Neben der oft umfangreichen Versorgungsakte werden u.a. nicht selten auch die Strafakte des Tatgeschehens sowie u.U. eine bereits vorhandene Schwerbehindertenakte bei Vorschäden vorgelegt. • Zentrales Moment ist die eigene Untersuchung des Opfers, bei Kindern und Jugendlichen auch die Befragung der Eltern bzw. Bezugspersonen. • Ergänzend werden bei nicht ausreichenden Vorbefunden nach Einverständniserklärung der Betroffenen und nach Absprache mit dem Amt Gespräche mit eventuellen Vor- oder Begleitbehandlern (z.B. Psychotherapeuten) auf der Basis der gemeinsamen Sachkunde durchgeführt. • Bei nicht ausreichender Aktenlage oder Unklarheiten in der Objektivierung werden analog ergänzende fremdanamnestische Daten erhoben (z.B. von der Lehrkraft). 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 14 Praxis – Rahmenbedingungen 1 Raum und Zeit: • Ein ungestörter Raum und ausreichend Zeit sind gerade für zu Begutachtende mit Traumafolgestörungen wichtig, um ihr allgemeines Stressniveau so gering wie möglich zu halten. Umgekehrt dürfen, gerade bei Kindern, auch keine Stresssymptome aus der Situation heraus erzeugt werden (Artefakte), die eine fälschliche Interpretation als traumabedingt möglich sein lassen. Aufklärung: • Die zu begutachtende Person sowie bei Kindern und Jugendlichen deren Sorgeberechtigten werden in verständlicher Sprache über den gutachterlichen Auftrag und Ablauf informiert. Es wird erläutert, dass der Sachverständige nicht selbst die anstehende Rechtsentscheidung trifft. Es wird ausdrücklich darüber aufgeklärt, dass die Mitarbeit freiwillig ist, also ein Schweigerecht besteht. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 15 Praxis – Rahmenbedingungen 2 Gesprächsführung: • Mit Opfern von Gewalttaten sollte möglichst durchschaubar, genau und strukturiert gesprochen werden. Interesse, Respekt und Empathie sind wichtig, auch dosierte Validierungen von Spontanangaben ohne die nötige Sachlichkeit und Objektivität zu vernachlässigen. Anwesenheit dritter Personen: • Die eigentliche Untersuchung sollte, auch bei Kindern und Jugendlichen, im vertraulichen Zweierkontakt stattfinden. Ansonsten besteht die Gefahr einer Verfälschung (z.B. Schutzimpuls gegenüber den Eltern bzw. Übernahme von Aggravierungstendenzen). In unserem Fachgebiet ist es dabei oft üblich und hilfreich, zunächst ein Kennenlernen und größere Vertrautheit in Anwesenheit der Bezugspersonen aufzubauen und sich dann die Erlaubnis zum Einzelgespräch zu holen. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 16 Praxis – Untersuchungsablauf - Anamnese • Grundlage ist zunächst eine sorgfältige und umfassende Anamnese der Betroffenen und ihres Lebensumfeldes. • Dazu gehören je nach Beschwerdebild auch eine genaue Überprüfung der Entwicklung und des Gesundheitszustandes vor der Tat sowie eine Abklärung hinsichtlich eventueller früherer Schädigungen. • Die nachtatliche Entwicklung sowie eventuelle Folge- und Nachschäden müssen detailliert und zeitgenau erhoben werden. • Im Rahmen der Anamneseerhebung ist besonders auf die psychosoziale Anpassung der Betroffenen in den verschiedenen Zeitabschnitten (prä- und posttraumatisch) und allen Lebensbereichen zu achten. Dazu gehören die Aktivitäten des täglichen Lebens (Schlaf, Tagesablauf, Mobilität, Hausaufgaben usw.) sowie die Partizipation in den verschiedenen Lebensbereichen (familiäre Integration, schulische Entwicklung, Freizeitaktivitäten, Beziehung zu Gleichaltrigen, Sexualität usw.). • Der Betroffene und die Bezugspersonen/Eltern sollten befragt, gegebenenfalls auch andere Personen im Rahmen einer Fremdanamnese (z.B. Schule) = Objektivierung. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 17 Praxis – Untersuchungsablauf Exploration, Beschwerdeschilderung und Erhebung des psychopathologischen Befundes: • Neben den Angaben der Bezugspersonen muss nach ausreichendem Aufbau eines Arbeitsbündnisses und bei grundlegender Gesprächsbereitschaft des Opfers dieses über seine allgemeinen Beschwerden und auch behutsam über das Tatgeschehen befragt werden. Dabei sind psychophysiologische Reaktionen (Erregungsanstieg, Dissoziation) genau zu beobachten sowie u.a. eventuelle Vermeidungstendenzen und sprachliche Entgleisungen. • Im psychopathologischen Befund werden die freien Beschwerdeangaben, abgefragte Symptome, die Ergebnisse der Verhaltensbeobachtung (Auftreten, Interaktion, Mimik, Gestik usw.) sowie die fachliche Beurteilung verschiedener Störungsbereiche gebündelt erhoben. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 18 Praxis – Untersuchungsablauf – Testpsychologische Untersuchung 1 Entwicklungs- und Intelligenzdiagnostik • Oftmals ist zur Einschätzung eventueller kognitiver Grundstörungen (z.B. Lernbehinderung, geistige Behinderung), zum Ausschluss von Funktionseinschränkungen im Sinne einer Überforderung sowie nicht zuletzt zur Befundbeobachtung unter Stressbedingungen eine ausführliche Intelligenz- und Entwicklungsdiagnostik nötig. Bei einer vorliegenden Vortestung im Zeitraum vor der Schädigung ist eine Verlaufstestung zur Bestimmungen eventueller Leistungsbeeinträchtigungen sinnvoll. Symptomübersichtsverfahren • Zur systematischen und quantitativ einschätzbaren Erhebung aller vorhandenen psychischen Gesundheitsstörungen sind normierte Fremd- und Selbstbeurteilungsinstrumente einzusetzen z.B. die Child Behavior Checklist (CBCL/6-18R), die Teacher`s Report Form (TRF/6-18R), der Youth SelfReport (YSR/11-18R) oder die Symptom-Checkliste (SCL-90-S). Bei zum Tatgeschehen zeitnaher Untersuchung und verlässlichem Umfeld darüber auch prä- und posttraumatische Urteile möglich (die jedoch mit objektiven Belegen zu untermauern sind). 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 19 Praxis – Untersuchungsablauf – Testpsychologische Untersuchung 2 Child Behavior Checklist (CBCL/6-18R) 28.10.2015 Symptom-Checkliste (SCL-90-S) A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 20 Praxis – Untersuchungsablauf – Testpsychologische Untersuchung 3 Traumadiagnostische Instrumente: Zur spezifischen Erhebung von Traumafolgestörungen im engeren Sinn liegt eine Reihe von gut geeigneten Erhebungsinstrumenten (Fragebogen- und Interviewverfahren) vor. Quelle: www.kindertraumainstitut.de 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 21 Praxis – Untersuchungsablauf – Testpsychologische Untersuchung 4 Der UCLA PTSD Reaction Index Quelle: www.uniklinik-ulm.de 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 22 Praxis – Untersuchungsablauf – Somatische Diagnostik und Vorbefunde Somatische Diagnostik: • Eine orientierende körperliche Untersuchung (internistisch/neurologisch) ist durchzuführen. Bei spezifischen Verdachtsmomenten (z.B. Syndromverdacht) und unzureichenden Vorbefunden ist eine eingehendere Abklärung obligat. • Cave: ein behutsames und möglichst eigenbestimmtes Vorgehen mit vorheriger Kosten/Nutzenabwägung ist insbesondere bei Opfern von körperlichen Grenzüberschreitungen wichtig. Vorbefunde: • Ergeben sich im Laufe der Untersuchung Unklarheiten und neue Fragestellungen, so ist mit Einverständnis der Betroffenen (erneut) Kontakt mit professionellen Außenstellen herzustellen und die Datenlage zu komplettieren. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 23 Praxis – Untersuchungsablauf – Beurteilung und Abfassung • Zentraler Schritt nach gründlicher Erhebung und Untersuchung ist die Darstellung und Beurteilung der erhobenen Befundtatsachen mit einer objektiven Beantwortung der Fragestellungen der Behörde in verständlicher Abfassung. Trotz eingehender Prüfung verbliebene Unsicherheiten sollten als solche auch benannt werden. • Zunächst ist die Frage zu beantworten, welche Gesundheitsstörungen zum Zeitpunkt der Untersuchung insgesamt vorliegen ohne Berücksichtigung der Verursachung. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 24 Praxis – Untersuchungsablauf – Beurteilung und Abfassung 2 • Der zeitliche Verlauf und die Veränderungen der Gesundheitsstörungen werden dann möglichst genau über die gesamte relevante Lebensspanne in definierten Zeitabschnitten, insbesondere präund posttraumatisch beschrieben. Für die Zeit vor der Schädigung stellen wir fest, dass xxx bis auf diskrete Aufmerksamkeitsprobleme nach vorliegenden Informationen keine klinisch relevanten Auffälligkeiten zeigte. Es sind bis zum Zeitpunkt der Tat keine Störungen aus dem klinisch-psychiatrischen Formenkreis festzustellen. Das psychosoziale Funktionsniveau war insgesamt zufriedenstellend ausgebildet. Für den Zeitraum direkt nach der Tat bis April ist wie ausgeführt von einer schweren Ausprägungsform einer Posttraumatischen Belastungsstörung auszugehen. Ab April xxx kam es zusätzlich zur Entwicklung einer fortbestehenden mittelgradigen depressiven Episode. Die psychosoziale Anpassung erlitt erhebliche und generalisierte Einbußen. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 25 Praxis – Untersuchungsablauf – Beurteilung und Abfassung 3 • Der Kausalzusammenhang mit dem Trauma wird nun beurteilt: ist dieses alleinige Ursache oder zumindest wesentliche Mitursache (bei Vor- oder Nachschäden), ist die Gesundheitsstörung neu entstanden oder hat sie nur ein bestehendes Leiden verschlimmert? 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 26 Praxis – Untersuchungsablauf – Beurteilung und Abfassung 4 Typisierte Verlaufsformen Funktionsbeeinträchtigung PTBS Verschlimmerung Vorschaden PTBS, verzögerter Beginn Tat Keine Schädigung posttraumatisch prätraumatisch 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 27 Praxis – Untersuchungsablauf – Beurteilung und Abfassung 5 Nachschaden: Tatunabhängig. Keine versorgungsrechtliche Relevanz im Rahmen der aktuellen Begutachtung (z.B. erneuter Übergriff, Unfall, familiärer Todesfall) Funktionsbeeinträchtigung Folgeschaden: Tatabhängig/mittelbar. Wird wie unmittelbare Schädigung gewertet (z.B. Familienreaktion, Pressemeldungen, Bemerkungen der Mitschüler, Gerichtsverhandlung). Funktionsbeeinträchtigung Schädigungsanteil 28.10.2015 Schädigungsfolge A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 28 Praxis – Untersuchungsablauf – Beurteilung und Abfassung 6 • Ursächlich durch die Tat (=rechtlich wesentlicher Ursachenzusammenhang): bei Zweifeln ist es ausreichend (also hinreichend wahrscheinlich), dass nach allgemeinem ärztlichen Erfahrungswissen die Gefahr des Ausbruchs der Krankheit durch schädigende Ereignisse dieser Art deutlich erhöht worden ist. • Zu beurteilen ist nicht zentral, was der Betroffene erlebt hat, sondern wie sich die Belastungen bei ihm nach seiner individuellen Belastbarkeit und Kompensationsfähigkeit ausgewirkt haben. • Bei länger zurückliegenden Taten/Schädigungsereignissen (Erwachsenenbegutachtung) mit in der Regel später folgenden unabhängigen Nachschäden besteht die Aufgabe des Gutachters in der Ermittlung und Beurteilung, inwieweit die ursprüngliche Schädigung Ursache oder zumindest wesentliche Teilursache der Gesundheitsschäden oder ihrer Verschlimmerung ist. • Bei verzögertem Krankheitseintritt werden oft sogenannte „Brückensymptome“ gefordert. Das sind Symptome oder Symptomfragmente (wie z.B. Albträume, Konzentrationsprobleme oder erhöhte Anspannung) die zwischen dem Tatgeschehen und der Schädigungsfolge (z.B. Vollbild PTBS) auftreten. Die Notwendigkeit dieser ist allerdings umstritten. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 29 Praxis – Untersuchungsablauf – Beurteilung und Abfassung 7 • Der Grad der Schädigungsfolge wird dann über die Funktionseinschränkung in allen Lebensreichen („Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit“) nach Maßgabe der versorgungsmedizinischen Grundsätze über die verschiedenen Zeitabschnitte beurteilt. Die Schädigungsfolge ist dabei immer bezogen auf die erwartbare (alters-, schicht- und intelligenzbezogene) Entwicklung. Der Grad der Schädigungsfolge entspricht nicht der Diagnose. • Spezifischen Traumafolgestörungen sind den „Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen“ zuzuordnen. Bei Verschlimmerung bestehender Grundstörungen (z.B. ADHS, SSV) gelten die jeweils anderen Bereiche. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 30 Praxis – Untersuchungsablauf – Beurteilung und Abfassung 8 • Bei mehreren parallelen Schädigungen (z.B. PTBS und Depression) ist ein sogenanntes „top-downVorgehen“ bezüglich der Einschätzung der Funktionsbeeinträchtigung und damit des gesamten Grades der Schädigung angezeigt. Die einzelnen Bereiche werden nicht additiv verwertet sondern es ist von der Funktionsbeeinträchtigung ausgehen, die den höchsten Einzel-GdS bedingt und die anderen darauf prüfen, ob und um wieviel sie dieses Ausmaß (d.h. die Funktionsbeeinträchtigung) zusätzlich vergrößern. • In Ausnahmefällen kann bei Vorschäden der neu hinzugekommene Schaden u.U. eine stärkere Funktionsbeeinträchtigung bedingen als wenn er isoliert aufgetreten wäre (vgl. vollständige Erblindung bei Einäugigem) z.B. psychologisch: Schulverweigerung statt „nur“ Prüfungsängste. 28.10.2015 Zu 8. Im Zeitraum von Juli 2012 bis März 2013 entspricht die Schädigungsfolge im Sinne einer stark ausgeprägten Posttraumatischen Belastungsstörung einem GdS von 40. Ab April 2013 entwickelte sich zusätzlich eine mittelgradige depressive Episode, die mit einem GdS von 30 zu bewerten ist. Insgesamt beträgt damit die Schädigungsfolge von Juli 2012 bis März 2013 einem GdS von 40, ab April 2013 bis zum Zeitpunkt der Begutachtung bei einer stark behindernden kombinierten Störung mit massiver Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit sowie deutlichen und übergreifenden sozialen Anpassungsschwierigkeiten einem GdS von 50. A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 31 Praxis – Untersuchungsablauf – Beurteilung und Abfassung 9 Im Rahmen von Begutachtungen mit Sekundärgewinn für die Betroffenen bei positivem Bescheid ist von gutachterlicher Seite aus möglichst gewissenhaft zu prüfen, ob Tendenzen zur Simulation (Vortäuschung) und/oder Aggravierung (Verschlimmerung) erkennbar sind (Thema Plausibilitätsprüfung und Beschwerdevalidierung). Hinweise dafür können u.a. sein: • Die Beschwerden werden demonstrativ und theatralisch vorgetragen. • Die Angaben weichen erheblich von fremdanamnestischen Informationen ab. • Es besteht eine auffällige Diskrepanz zwischen der Intensität der vorgetragenen Beschwerden und dem Verhalten/Befund in der Untersuchungssituation. • Das psychosoziale Funktionsniveau ist weitgehend intakt. • Die Symptome sind über die Zeit völlig stabil und unverändert. • Die Themen werden häufig gewechselt. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 32 Praxis – Untersuchungsablauf – Beurteilung und Abfassung 10 • Cave: gerade bei Kindern kann die Tendenz bestehen, z.B. zum Schutz ihrer Eltern oder nach mehrmaliger Befragung, die Beschwerden zu minimieren. Auch ist es ein Kennzeichen der PTBS, die Beschäftigung mit den belastenden Themen zu vermeiden. Nicht zu unterschätzen ist auch die vorübergehende Adaptionsfähigkeit von Kindern an hoch pathologische Umstände, die tiefgreifende Schädigungen nur sehr larviert beobachten lässt. Zudem mindert das häufige tiefe Schamerleben die Offenheit. • Das bedeutet, dass insbesondere im Kindes- und Jugendalter gegenläufige und symptomminimierende Kräfte wirken, die den Schweregrad möglicherweise unterschätzen lassen. • Nach persönlicher Erfahrung ist das betroffene Kind oder der betroffene Jugendliche im Rahmen der Begutachtung eher geneigt, die eigenen Beschwerden als zu gering darzustellen. Hier erfordert es Geduld, guter Gesprächsführung und Beobachtung, um die tieferen Schichten zu erfahren. In Einzelfällen wurde erlebt, dass offensichtliche Aggravierungen durch die Bezugspersonen vorlagen, die die gutachterliche Bewertung jedoch kaum behinderten. Die Erhebung objektiver Daten, das Einzelgespräch mit dem Betroffenen und eine gute Verhaltensbeobachtung sind elementar. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 33 Praxis – Untersuchungsablauf – Beurteilung und Abfassung 11 Einschätzung der Nachprüfung: vor allem im Kindes- und Jugendalter ist aufgrund der Entwicklungsdynamik in der Regel eine Nachbegutachtung nach zwei Jahren sinnvoll. Einerseits kann eine Verbesserung möglich sein (so bietet z.B. die Adoleszenzentwicklung Chancen auf Neuorientierung und Anpassung), andererseits können larvierte Phänomene aufbrechen und eine Erhöhung des Grades der Schädigung bedingen. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 34 Exkurs 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 35 Exkurs: Psychische Effekte der Begutachtung 1 • Neben den administrativen Effekten der Begutachtung durch Unterstützung der behördlichen Entscheidung sind in der Begutachtungssituation und durch die gutachterliche Beurteilung nicht unerhebliche psychologische Wirkungen zu reflektieren. • Der fachliche Gutachter befindet sich als Angehöriger einer helfenden/heilenden Berufsgruppe im Spannungsfeld zwischen der nötigen Neutralität und Objektivität des Sachverständigen sowie der ethischen Grundverpflichtung einer Nichtschädigung und Fürsorge. Dies gilt insbesondere auch bei betroffenen Kindern und Jugendlichen. • Cave: Die gutachterliche Untersuchung stellt besonders bei schwer betroffenen Probanden eine nicht unerhebliche Belastungssituation dar. Es kann zu emotionalen Überflutungen kommen und Flashbacks kommen. Die Gutachtensituation kann als beschämend und fremdbestimmt erlebt werden, ähnelt im Ansatz also u.U. der Traumatisierung. • Bei Nichtanerkennung einer Schädigungsfolge kann bei dem Betroffenen oder seiner Bezugspersonen der Eindruck entstehen, dass die Schwere der Tat nicht wahrgenommen oder gewürdigt wird. Die gedachte Genugtuung entfällt. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 36 Exkurs: Psychische Effekte der Begutachtung 2 Wichtig ist deshalb: • Das Opfer erhält im Rahmen der Begutachtung möglichst viel Kontrolle über die äußeren Bedingungen (Termin, Sitzplatz, Lichtverhältnisse usw.) um den Kontrollverlust der Traumatisierung nicht zu wiederholen und die eigene Kontrollüberzeugung zu stärken. Am Ende einer Sitzung wird analog um Rückmeldung und Veränderungswünsche gebeten. • Das Schweigerecht wird erläutert. • Bei Redebereitschaft wird das fachgerechte Besprechen des Tatgeschehens als eine Möglichkeit erläutert und anerkannt, die begleitenden Beschwerden langfristig zu mindern. Der Gutachter vermittelt Sicherheit durch das Aushalten der Darstellung der belastenden Erlebnisse. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 37 Exkurs: Psychische Effekte der Begutachtung 3 • Die gesamte Untersuchung ist geprägt von Transparenz, Vorhersagbarkeit, Respekt und Wertschätzung. Der Betroffene bekommt ausreichend Zeit, um sein Erleben darzustellen. Dies wird fortlaufend validiert. • Je nach Bedarf findet eine ressourcenorientierte Aufklärung über mögliche Modi einer Tatverarbeitung statt. Bei geringgradiger oder nur vorübergehender Schädigung wird dies funktional attribuiert. • Soweit möglich und nötig, werden die Bezugspersonen beraten, im Begutachtungszeitraum für den Betroffenen emotionalen Rückhalt und Verfügbarkeit zu bieten. Im besten Fall ist der Verwaltungs- und Begutachtungsprozess im Rahmen des OEG für den Betroffenen eine wichtige Erfahrung, dass das Trauma als solches wahr- und ernstgenommen wird, sein Erleben validiert wird und die Gemeinschaft sich kümmert. 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 38 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 39 Literatur/Internetquellen Foerster, K. und Dreßing, H. (Hrsg.) (2009): Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen, 5. Auflage. Elsevier, München. Karle, M. (2010): Opferschädigung durch Opferentschädigung? Probleme bei der Anwendung des OEG nach sexuellem Missbrauch. In: Clauß, M. et al. (Hrsg.): Sexuelle Entwicklung – sexuelle Gewalt. Grundlagen forensischer begutachtung von Kindern und Jugendlichen. Pabst Science Publishers, Lengerich. Salzgeber, J. (2011): Familienpsychologische Gutachten, 5. Auflage. C. H. Beck, München. Schläfke, D. et al. (2005): Opferentschädigung psychischer Folgen nach Vergewaltigung. In: Schläfke, D. et al. (Hrsg.): Sexualstraftaten. Forensische Begutachtung, Diagnostik und Therapie. Schattauer, Stuttgart. Stang, K. und Sachsse, U. (2014): Trauma und Justiz, 2. Auflage. Schattauer, Stuttgart. Steil, R. und Rosner, R. (2009): Posttraumatische Belastungsstörung. Hogrefe, Göttingen. Winkler, R. (1998): Begutachtung von Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter nach dem Opferentschädigungsgesetz. Der medizinische Sachverständige, 94 (3), 2-6. Internetquellen: www.bmas.de www.dguv.de www.krisendienst-mittelfranken.de www.resilienz-freiburg.de www.uniklinik-ulm.de www.wikipedia.de 28.10.2015 A. Mühlbauer : Begutachtung von Traumafolgestörungen im Rahmen des OEG 40