Einführendes Im Jahr 1683 reist der im westfälischen Lemgo geborene Engelbert Kämpfer, Historiker, Philologe und Arzt, mit einer schwedischen Gesandtschaft in den safawidischen Iran und hält sich von 1684 bis 1685 für 20 Monate in Isfahan auf. Über Persepolis und Schiraz begibt er sich später an den Persischen Golf und von dort weiter nach Indien, Java und Japan. 1694 kehrt Kämpfer schließlich nach Deutschland zurück und schreibt seine Beobachtungen in den „Amoenitates exoticae“ 1 nieder. Bei Kämpfer finden sich bereits erstaunlich genaue Beobachtungen zum schiitischen Iran, etwa zu der Bedeutung der Imame, der „heiligmäßigen Scheiche“ 2, zu den Quellen, die neben Koran auch die Traditionen des Propheten und der Imame enthalten, den Lehreinrichtungen sowie zu der Stellung des Muğtahid 3, seines Werdegangs, seiner Lehre, vor allem aber auch seiner sozialen und politischen Position im monarchistisch regierten Safawiden-Reich. 4 Im Zusammenhang mit der Erziehung der safawidischen Prinzen schreibt Kämpfer: „Der Prinzenerzieher […] führ t den Zögling […] in die Gottesgelehrsamkeit ein, um ihn beizeiten mit den Lehrmeinungen des schiitischen Glaubens zu durchtränken. […] 1 Kaempfer, Engelbert: Amoenitates exoticae politico-physico-medicarum, übers. von Walther Hinz: Am Hofe des persischen Großkönigs (1684-1685), Tübingen und Basel 1977 (im Folgenden Kämpfer/Hinz 1977). 2 Ebd., S. 176. 3 Eingedeutschte Begriffe wie Schia, Koran, Imam, Ismailiten, aber auch das Safawiden-Reich werden ohne Umschrift, andere Termini oder Namen in der Umschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) wiedergegeben. 4 Ebd. Siehe vor allem die Seiten 126-149, 176-190. Zum Muğtahid besonders S. 130-133. Danach werden Leben und Wunder des Propheten Mohammad und der zwölf ihm nachfolgenden Imâme sowie deren schwer zu entwir rendes Verwandtschaftsverhältnis durchgenommen.“ 5 Dieser mögliche Hinweis auf verschiedene genealogische Imamatslinien schiitischer Grupperungen, die frühen Orientalisten 6 immer wieder Probleme bereiteten, soll an dieser Stelle auf das Verhältnis der deutschsprachigen Orientalistik zur Schia-Forschung, allen voran der Forschung zu den Zwölferschiiten, übertragen werden. Denn trotz der Berichte Engelbert Kämpfers sowie der einer Reihe weiterer Iranreisender des 17. Jahrhunderts 7 haben diese Beobachtungen doch nicht zu tiefgreifenden Auseinandersetzungen mit der Schia bzw. den schiitischen Gruppierungen geführt. Eine Unkenntnis der schiitischen Glaubenslehren und ihres Schrifttums lässt sich – nicht nur in Deutschland – bis weit ins 19. Jahrhundert hinein verfolgen. Während einige wichtige sunnitische Handschriften im 19. Jahrhundert schon mit viel Sorgfalt früher Orientalisten ediert werden, beginnt die Editionsarbeit schiitischer Texte etwa ab den 1960er Jahren. Im Mai 1968 findet der erste Kongress zur Schia in Straßburg statt 8 und Abdoljavad Falaturi ruft im Juli 1968 auf dem 17. Deutschen Orientalistentag in Würzburg zu einer Intensivierung der Schia Forschung auf 9. Trotz dieser Forderungen nach einer Belebung der Schia-Forschung, spielen die Schia-Studien in Deutschland, etwa im Vergleich mit England, bis heute nur eine marginale Rolle. Woran liegt dieser späte Einstieg in die Schia-Forschung? Drei Aspekte sind es, die im Folgenden mit einander in Beziehung gesetzt werden: die Entwicklung des Faches „Orientalistik“ bzw. der Islamwissenschaft in 5 Kämpfer/Hinz 1977, S. 35. Die Bezeichnungen „Orientalistik“ und „Orientalist“ (es sind nur Männer, von denen im Folgenden die Rede sein wird) werden verwendet, da sie der historischen Fachbezeichnung und Selbstreferenz entsprechen. Im Zuge der Orientalismusdebatte im 20. Jahrhundert und der institutionellen Auffächerung der einzelnen orientalistischen Disziplinen im Laufe des 19., vor allem des 20. Jahrhunderts hat man sich von dem Konzept einer „Orientalistik“ distanziert und auf der Grundlage sprachlicher, geographischer, methodischer und/oder thematischer Zuordnungen definiert. 7 Yarshater, Ehsan (ed.): Encyclopaedia Iranica, Bd. X, New York 2001, S. 555-559 (im Folgenden Encyclopaedia Iranica). 8 Publizierte Vorträge: „Le Shî’isme imâmite, Colloque de Strasbourg (6-9 mai 1968), Bibliothèque des Centres d’Études Supérierures spécialisés, Travaux du Centre d’Études Supérieures spécialisé d’Histoire des Religions de Strasbourg, Paris 1970, S. 9. 9 Falaturi, Abdoljavad: Die Bedeutung der Schia-Forschung für die islamischen Wissenschaften samt einem Bericht über die Schia-Forschung in Köln, in: Voigt, Wolfgang (Hrsg.): XVII. Deutscher Orientalistentag vom 21. bis 27. Juli 1968 in Würzburg, Vorträge Teil 2, Wiesbaden 1969, S. 604-610. Es sei darauf hingewiesen, dass Falaturi die Zwölferschia als „Sekte“ benennt, siehe ebd., S. 604. Eine Kritik an der Bezeichnung der schiitischen Gruppierungen als „Sekten“ findet sich bei ihm nicht. 6 Deutschland, die Konstellationen. Quellenlage und zeitgenössische politische Dabei skizzieren die folgenden Ausführungen mögliche Erklärungsansätze, ohne den Anspruch zu erheben, erschöpfend zu sein, und sie konzentrieren sich weitgehend auf das 17. bis 19. Jahrhundert. Folgende Einschränkungen und Probleme der Eingrenzung gelten für die nachstehenden Ausführungen: Zwar liegt der Schwerpunkt auf der Forschung zur Zwölferschia, doch wird im Folgenden deutlich werden , dass die Zuordnungen bestimmter religiöser und religionspolitischer Konzepte zu schiitischen Gruppierungen in der frühen Orientalistik nicht immer klar waren. Ferner beschränken sich die folgenden Ausführungen in Bezug auf Kontakte zu schiitisch geprägten Regionen weitgehend auf den Iran – zum einen, weil das Safawiden-Reich (1501-1722 n. Chr.) eine zentrale Rolle für die Kenntnis der Zwölferschia im deutschsprachigen Raum hatte und zum anderen, weil dieser Artikel auf einem Vortrag beruht, der im Rahmen der Veranstaltung einen deutlichen Iran-Bezug aufwies. Es soll damit keineswegs die weiter unten angeführte Sichtweise von der Schia als einem vorrangig „persischen Phänomen“ unterstützt werden. Ein drittes Problem der Eingrenzung stellt sich bei der geographischen Zuweisung der deutschen bzw. deutschsprachigen Orientalistik, die in der Geschichte großen Veränderungen unterlag. Nicht nur die wechselnden politischen Grenzen über die Jahrhunderte, auch die Tatsache, dass eine Reihe von skandinavischen und osteuropäischen Gelehrten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein auch auf Deutsch veröffentlichten, erschwert eine eindeutige Eingrenzung. 10 Die Anfänge: Erste Kontakte Etan Kohlberg betont in seinem Artikel “Western Studies of Shi’a Islam” von 1987 mit einem Verweis auf Bernard Lewis, dass “the Shi’a which the Western world first came to know from direct experience [was] that of the Fatimids and, somewhat later, the Assassins. It was the Fatimids, not the Twelver Shi’is, whom the Crusaders confronted as immediate enemies” 11. Man mag zwar auf Zwölferschiiten in Syrien und 10 Die prinzipielle Problematik dieser Eingrenzung findet sich auch bei verschiedenen Einträgen zu „Germany“ in der Encyclopaedia Iranica, Bd. X, S. 530, 567. 11 Kohlberg, Etan: Western studies of Shī’a Islam, in: Kramer, Martin (ed.): Shi’ism, resistance, and revolution, London 1987, S. 31-44. Palästina gestoßen sein, diese waren jedoch nicht staatlich organisiert wie die Fatimiden und besaßen auch nicht die „mystical aura“ der „Assassinen“. Das Fazit von Kohlberg: “They were therefore much less attractive to Crusader writers.“ 12 Dennoch blieben auch die Kenntnisse von den Ismailiten vage, bis im 20. Jahrhundert der Zugang zu ismailitischen Quellen neue Voraussetzungen für die Forschung schuf. 13 Unpräzise Vorstellungen der genealogischen Imamatsreihen und der theologischen und religionspolitischen Konzepte prägen die Anfänge der europäischen universitären Beschäftigung mit der Schia. Die Ausgangslage für europäische Gelehrte, die sich mit dem schiitischen Islam befassten – eine vage Kenntnis vor allem der Fatimiden und der sagenumwobenen „Assassinen“, weniger der Zwölferschiiten – wurde schließlich begleitet von dem Studium vorrangig sunnitischer firaqLiteratur, der es vor allem darum ging, das „Sektiererische“, Nonkonformistische der schiitischen Gruppierungen in Abgrenzung zu einem sich als „orthodox“ zu begreifenden (aš‛aritischen) Sunnitentum zu sehen, wobei die Darstellung extremer theologischer Positionen solch „abweichender“ Strömungen besonders betont wurden. 14 Dieses Konzept einer (aš‛aritischen) sunnitischen „Orthodoxie“ und einer schiitischen „Heterodoxie“ ist bis heute in der Islamwissenschaft lebendig geblieben, obgleich die Übertragung dieser Begriffe auf die islamische Religion höchst problematisch ist. 15 Im 16. Jahrhundert führen die orientalistischen Studien noch ein Randdasein. „Orientalische Sprachen“ waren vor allem eingebunden in die Bibel- und Kirchengeschichte und hatten eine praktische Bedeutung für die Mission in den betreffenden Gebieten. Diese Grundtendenz war nicht nur im 16. Jahrhundert bestimmend, sie hielt sich bis weit ins 18. und 19. Jahrhunder t. 16 12 Ebd., S. 23. Daftary, Farhad: The Ismā‛īlīs. Their history and doctrines, Cambridge 1994, S. 1-31; Hamdani, Sumaiya A.: Between revolution and state. The path to Fatimid statehood. Qadi alNu‛man and the construction of Fatimid legitimacy, London 2006, S. XXI-XXIV. Zu Darstellung und wissenschaftlichen Erforschung der Ismailiten siehe auch Lewis, Bernard: Die Assassinen. Zur Tradition des religiösen Mordes im radikalen Islam, München 1993, S. 15-38. 14 Siehe unten im Kontext der Forschung des 19. Jahrhunderts die Angaben zu den am häufigsten zitierten firaq-Werken. 15 Siehe Langer, Robert und Simon, Udo: The dynamics of orthodoxy and heterodoxy, Dealing with divergence in Muslim discourses and Islamic Studies, in: Die Welt des Islam 48 (2008), S. 273-288. (Der gesamte Band 48 befasst sich in verschiedenen Artikeln mit der Frage nach „Häresie” und „Orthodoxie” oder „richtigem Glauben“.) 16 Zu den orientalistischen Studien im 16. Jahrhundert siehe auch Irwin 2006, S. 54-81 (Irwins Fachgeschichte ist auch zu verstehen als kritische Entgegnung auf Said, Edward: Orientalism, London 1978.). Fück, J.: Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1955, S. 29-73. 13 Durch die Gründung der Safawiden-Dynastie im Iran 1501 und der folgenden Schiitisierung des Landes ab dem 16. Jahrhundert entstehen neue Voraussetzungen für die Kenntnisnahme und Erforschung der Zwölferschia. Dennoch ist dieses neue Reich zunächst vor allem politisch als potentielles Gegengewicht zum sunnitischen Osmanenreich präsent: Im Jahr 1523 sendet Schah Ismā‛īl einen Brief an Karl V., in dem mögliche gemeinsame militärische Schritte gegen das Osmanische Reich erörtert werden. Das 17. Jahrhundert: Grundlagen einer Schia-Forschung? Reiseberichte, philologische Grundlagenwerke und Handschriften Erst ab dem 17. Jahrhundert kommt es zu vermehrten diplomatischen Kontakten und Reiseberichten, die detaillierter von schiitisch geprägten Regionen, allen voran Iran berichten. Berichte wie jene von Engelbert Kämpfer oder Adam Olearius, der eine schleswig-holsteinische Gesandtschaft auf Veranlassung Friedrich III. zu Holstein -Gottorp an den safawidischen Hof begleitete, wurden zu Bestsellern. Dabei beschreibt Kämpfer, weit mehr als Olearius, zeitgenössische Ausprägungen der Zwölferschia im 17. Jahrhundert und geht verschiedentlich auch auf doktrinäre Inhalte ein. Zu der Rolle des Rechtsgelehrten, des Muğtahid, schreibt Kämpfer: „Weder die Gunst des Großkönigs noch das Einverständnis der Geistlichkeit oder der Vornehmen, sondern allein die allmählich erworbene, auf heiligmäßiges Leben und überlegene Bildung sich gründende Hochschätzung seitens des ganzen Volkes verhilft ihm zu dieser hohen Würde. […]“ Und: „[…] nach göttlichem Recht [stehe] dem Modschtahed als dem höchsten geistlichen Führer die Herrschaft über die Moslems [zu], während dem Schah nur die Einhaltung und Ausführung der oberhirtlichen Gutachten obliege. Demnach entscheide eigentlich der Modschtahed über Krieg und Frieden, ohne seinen Rat könne nichts Wichtiges in der Herrschaft über die Gläubigen unternommen werden.“ 17 Kämpfers vorrangig deskriptive Behandlung der Religionsgelehrsamkeit konnte noch nicht in dem historischen Konflikt zwischen Uśūlīs und Aốbārīs angesiedelt werden. Um so interessanter scheinen seine Beobachtungen im zeitgenössischen Iran, da das 17. Jahrhundert für den 17 Kämpfer/Hinz 1977, S. 130-132. in der formativen Periode des Islam angelegten Konflikt zwischen Schriftgebundenheit und eigenständiger, auf der Ratio beruhenden Entscheidungsfindung erst mit an bestimmte Personen gebundenen „Schulen“ greifbar wird. 18 Abgesehen davon, dass die Ausführungen Kämpfers oftmals nicht in ein vorhandenes akademisches Wissen von der Entwicklung der Zwölferschia integriert werden konnten – etwa zum iğtihād –, standen Beobachtungen zu zeitgenössischen Glaubensformen auch nicht im Blickfeld der damaligen Orientalistik. Zu der Safawiden-Dynastie und den Berichten über dieses Reich, die zumindest theoretisch Voraussetzungen für die Studien zur Zwölfersc hia darstellten, kamen im 17. Jahrhundert grundlegende Werke der arabistischen Philologie: Die „Grammatica Arabica“ von Thomas Erpenius (1584-1624) im Jahr 1613 sowie das „Lexicon ArabicoLatinum“ von Jakob Golius (1596-1667); der Züricher Johann Heinrich Hottinger (1620-1667) verfasste eine Realiensammlung („Historia Orientalis“). 19 Und es war das 17. Jahrhundert, das die ersten umfassenden Handschriftenkataloge hervorbrachte, die die Grundlage späterer bio-bibliographischer Werke bildeten und eine zentrale Informationsquelle der frühen Orientalisten waren. Eines der wichtigsten Werke für Orientalisten der folgenden Generation(en) sollte jedoch die „Bibliothèque Orientale“ von B. d’Herbelot werden. 20 D’Herbelot, der etwa zeitgleich zu den IranReisenden Kämpfer und Olearius lebte, konnte für seine Enzyklopädie auf einige schiitische Werke zurückgreifen. Diese lagen allerdings nicht in Deutschland, vielmehr fand er das grundlegende Material für seine „Bibliothèque“ nach Angabe J. Fücks 21 in Florenz, wo er sich ab 1666 für einige Zeit aufhielt. 22 Als entscheidendes Merkmal der Schia nennt er 18 Siehe hierzu vor allem Gleave, Robert: Scripturalist Islam. The history and doctrines of the Akhbārī Shī‛ī school, Leiden und Boston 2007. 19 Irwin 2006, S. 101-104; Fück 1955, S. 59-73, 79-84; zu Hottinger siehe Loop, Jan: Johann Heinrich Hottinger (1620-1667) und die „Historia Orientalis“, in: Church History and Religious Culture 88 (2008), S. 169-203. 20 D’Herbelot, Barthélemy de Molainville: Bibliothèque Orientale, ou Dictionnaire Universel contenant tout ce qui fait connoître les peuples l’Orient, 4 Bde, J. Neaulme & N. van Daalen, La Haye (Den Haag), 1777 (Bde 1-2), 1778 (Bd. 3), 1779 (Bd. 4). Zu ihm und der französischen Orientalistik im 17. Jahrhundert siehe die Ausführungen von Martino, Pierre: L’Orient dans la littérature francaise, Paris 1906, Bd. I, Kap. 5,3. 21 Fück 1955, S. 99. 22 Entscheidende Informationsquelle für d’Herbelots Wissen zur schiitischen Geschichte dürfte das Werk „Rauỗat aś-Śafā’“ gewesen sein. Ursprünglich von Mīrốwānd (st. 903/1498) begonnen, führte dessen Enkel Ốwāndāmīr (Ġiyāŧ ad-Dīn b. Humām ad-Dīn Muỏammad; 880/1475-76 bis 942/1536) die Arbeit fort. In seinem Band, „Rauỗat aś-śafā’ fī sīrat al-anbiyā’ wa-l-mulūk wa-lốulafā’“ stellt er den Sieg der Safawiden als einen Triumph des schiitischen Glaubens dar. (Ốwāndamīr verfasste 1523/24 auch ein weiteres Werk, „Tārīố-i Ỏabīb as-siyar“, zur frühen Safawidengeschichte.) Ein anderes historisches Werk, das d’Herbelot vorlag, behandelt ebenfalls unter dem Eintrag „Schiah“ den Glauben an das göttlich legitimierte Anrecht der Imame, ‛Alīs und seiner Nachkommen auf spirituelle und weltliche Herrschaft. Sodann teilt er die religiöse Zugehörigkeit den islamischen Reichen seiner Zeit zu: Die Türken, die Osmanen seien die Sunniten, die Perser, die Safawiden die Schiiten. 23 Derartige ethnische Zuschreibungen begegnen einem bei einer Reihe von Gelehrten des 19. Jahrhunderts wieder, die in der Schia ein explizit persisches Phänomen sehen. In d’Herbelots Einträgen zur „Schiah“, dem „Imam“ und dem „Mahadi“, Mahdī, wird deutlich, dass grundlegende genealogische Linien gekannt werden 24, aber nicht immer klar getrennt und zugeordnet werden können. Die zwölf Imame nennt er jedoch namentlich. 25 Die Mahdī-Erwartung findet sich bei den „Kessabien“, die wahrscheinlich mit der Ốašabiyya, einer Untergruppe der Kaysāniyya, identisch sein dürften, sowie bei den Zwölferschiiten. Im Zusammenhang mit den Zwölferschiiten verweist d’Herbelot auch auf die zwei Verborgenheiten des 12. Imams, „retraite“, der Begriff ġaiba wird nicht erwähnt. 26 D’Herbelot schließt seinen Schia-Eintrag mit dem politischen Aspekt der Schia, ihrer Ablehnung der ersten drei Kalifen Abū Bakr, ‛Umar und ‛Uŧmān, sowie der umayyadischen und abbasidischen Kalifate. Unter den Umayyaden sei Ỏusain ermordet worden, und die Abbasiden könnten ihre Abstammung nicht auf ‛Alī zurückführen. 27 Zugleich wird deutlich, dass auch d’Herbelot noch vielfach von den Ideen einer „extremen Schia“ und der (fatimidischen) Ismailiyya unterrichtet war. Das mag sich daran zeigen, dass er der Schia die Konzepte von Metempsychose (tanāsuố) und Inkarnation (ỏulūl) zuschreibt 28 und den Fatimiden einen 29 vergleichsweise ausführlichen Eintrag widmet. Die Kenntnis d’Herbelots im Bezug auf die Zwölferschia beschränkt sich somit weitgehend auf drei Komplexe: die Imame und ihren Anspruch auf die schiitische Geschichte: das auf Anfrage des Safawidenherrschers Šāh Tahmāsp von Yaỏyā b. ‘Abd al-Laţīf verfasste Werk „Lubb-i tawārīố“. Abgesehen von diesen und einigen wenigen anderen Werken lag d’Herbelot während seiner Forschungszeit an der „Bibliothèque“ auch die Bibliographie „Kašf aż-Żunūn“ von Ỏāğğī Ốalīfa (Kātib Čelebī, ca. 1599-1658) vor. 23 „Les Persans sont Schiites, & les Turcs sont Sunnites“, (d’Herbelot, Bd. 3, 1778, S. 264.) 24 So die Ỏasan, Ỏusain und Muỏammad b. al-Ỏanafiyya nachfolgenden Linien. D’Herbelot, Bd. 2, 1777, S. 323-326 zum „Imam“, Zitat und Nennung der Imame S. 325. Dabei gibt er den 10. Imam als „Ali Askeri, fils d’Abou Giâfar, surnommé Al Zek“ an. 26 Eintrag „Schiah“: d’Herbelot, Bd. 3, 1778, S. 265f.; zum „Imam“: Bd. 2, 1777, S. 323-326; zum „Mahadi“: Bd. 2, 1777, S. 513f. 27 D’Herbelot, Bd. 3, 1778, S. 265. 28 D’Herbelot, Bd. 2, 1777, S. 323-326, Bd. 3, 1778, S. 265. 29 D’Herbelot, Bd. 2, 1777, S. 27-29. Der Eintrag zu den Ismailiten (Ismaelioun, Ismaëliens) verweist auf die Fatimiden und die iranischen Ismailiten, für die d’Herbelot neben dem Gründer Ỏasan aś-Śabāỏ sieben weitere Führungspersonen aufzählt. (Ebd., S. 344f.) 25 weltliche und spirituelle Führung, sowie die Verborgenheit und damit verbundene messianische Mahdī-Erwartung des 12. Imams und Muỏammad b. al-Ỏanafiyyas. Entwicklungsprozesse in Fragen der Theologie und des Rechts behandelt er nicht. All die genannten Voraussetzungen haben dennoch nicht zu einer intensiven Beschäftigung mit der Schia im deutschsprachigen Raum geführt. Zwei Gründe mögen hier entscheidend gewesen sein: Zum einen war die allgemeine Quellenlage für eine Forschung zur Schia nach wie vor extrem beschränkt – es gab kaum schiitische Werke, dafür jedoch anti-schiitisch gefärbte sunnitische firaq-Werke –, zum anderen verwehrte die ideologische Verortung des Faches das Studium der islamischen Geschichte und ihres Schrifttums als Ausdruck einer eigenständigen, sich entwickelnden Kultur im Kontext der Weltgeschichte. Insgesamt gesehen gab es bis ins 18. Jahrhundert hinein original sprachliche islamische Quellen nur in begrenzter Zahl. Dennoch brachte das 17. Jahrhundert einen vergleichsweise großen Zuwachs an Handschriften: Durch die Siege gegen die osmanischen Truppen – 1693 vor Wien, 1686 bei Buda und Ofen und schließlich der Sieg über Sultan Mehmet IV. bei Mohács, wurden Handschriften erbeutet und einem eifrigen Buchhändler- und Gelehrtenmarkt eingespeist. Diese sogenannte Türkenbeute bildet in den meisten deutschen Bibliotheken den Grundstock ihrer islamischen Handschriftenbestände. Die Tatsache, dass das Osmanische Reich sunnitisch war, führte zugleich daz u, dass die bei weitem größte Masse an Handschriften an deutschen Bibliotheken sunnitisch war. Während man auf diese Weise nach und nach wichtige Kerntexte des sunnitischen Islam kennen lernte und bearbeitete, war die schiitische Literatur weitgehend unbekannt, und zwar bis ins 19. Jahrhundert hinein. Leipzig, das im 19. Jahrhundert mit Heinrich Leberecht Fleischer Zentrum der philologischen Arabistik werden sollte, möge für diese Entwicklungen ab dem 17. Jahrhundert als ein Beispiel dienen:Während 1691 erste orientalische Handschriften von der Ratsbibliothek erstanden wurden, bildeten vor allem die Nachlässe wichtiger Theologen und Orientalisten wie August Pfeiffer (1640-1698), Andreas Acoluthus (1654-1704) und Christoph Wagenseil (1633-1705) den Grundstock der orientalischen Handschriften der Ratsbibliothek in Leipzig. Zahlreiche Einträge in diesen Handschriften verweisen auf ihre Provenienz als Türkenbeute. 30 340 Handschriften lagen zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Ratsbibliothek, und nur eine einzige darunter war schiitisch. Wie unbekannt die schiitische Literatur noch im 18. Jahrhundert war, zeigt auch die Tatsache, dass sie oft falsch katalogisiert wurde: Der Gelehrte Georg Jakob Kehr (1692-1740) 31 verfasste einen ersten Katalog der islamischen Handschriften an der Ratsbibliothek. 32 Leider ist sein Katalog nicht vollständig erhalten, einige wenige Katalogisierungszettel in Handschriften machen jedoch das Arbeiten von Kehr deutlich. Kehr konnte diese eine schiitische Handschrift in den Beständen der Ratsbibliothek nicht zuordnen. Dabei handelt es sich um eine Abschrift des Werkes „Minhāğ al-karāma fī ma‘rifat al-Imāma“ von 743/1343, dessen Verfasser niemand anderer war als der prominente ‘Allāma al-Ỏillī (gest. 726/1325 n. Chr.). Al-Ỏillī war um 705/1305 33 an den Hof des mongolischen Ilốānidenherrscher Ülğāytü Muỏammad Ốudābanda gegangen und hat wohl zu dessen Konversion zum Schiitentum beigetragen. Das Werk „Minhāğ al-karāma“ ist Ülğāytü gewidmet, wie auch auf dem ersten Blatt der Handschrift zu lesen ist. Die Abhandlungen von al-Ỏillī zum Imamat waren damals den deutschen Gelehrten unbekannt. Kehr bezeichnet den Verfasser als „Anonymi“, und noch H.L. Fleischer übernimmt diesen Eintrag in seinem Katalog von 1838. 34 Die Geschichte dieser einen schiitischen Handschrift aus dem Nachlass des Theologen und Orientalisten Andreas Acoluthus 30 Liebrenz, Boris: Arabische, persische und türkische Handschriften in Leipzig. Geschichte ihrer Sammlung und Erschließung von den Anfängen bis zu Carl Vollers, (Schriften aus der Universitätsbibliothek Leipzig 13) Leipzig 2008, S. 12-28, 80-87. 31 Zu Kehr siehe auch Liebrenz 2008, S. 38-55. 32 Vor Kehr hatte der Sinologe Gottfried Siegfried Bayer (1694-1738) im Jahr 1717 versucht, alle Bestände orientalischer Handschriften zu katalogisieren, neben den arabischen, türkischen und persischen auch die hebräischen und chinesischen. Wie der detaillierte Katalog von Kehr ist aber auch der Bayer-Katalog verloren gegangen. 33 Dieses Datum nennt Halm, Heinz: Die Schia, Darmstadt 198, S. 85. S. Schmidtke schreibt, alỎillī sei ungefähr von 709/1309-10 bis 714/1314-15 oder sogar 716/1316-17 am Hof von Ülğāytü gewesen. Schmidtke, Sabine: al-‛Allāma al-Ỏillī and Shi‛ite Mu‛tazilite theology, in: Luft, P. and Turner, C. (eds.): Shi’ism. Critical concepts in Islamic Studies, New York u.a. 2008 Bd. I, S. 151-174 (Datum S. 158). Ebenso in: Schmidtke, S.: The theology of al-‘Allāma al-Ỏillī, Berlin 1991, wo sie detailliert auf die Datumsangabe eingeht, siehe ebd. S. 26-27. Zu Ỏillī und anderen schiitischen Gelehrten unter den Mongolen siehe auch: Mazzaoui, Michel M.: Šī’ism under the Mongols, in Luft/Turner 2008, S. 228-253. 34 Fleischer, H., Delitzsch, F.: Codices Orientalium Linguarum descripserunt H.L. Fleischer et F. Delitzsch, Grimma 1838 (Neudruck, Osnabrück 1985), S. 475 (CXCV). (Der Katalog war erst 1840 auslieferbar, das Datum 1838 geht auf den Gesamtkatalog von Naumann, Robert (Hrsg.): Catalogus librorum manuscriptorum qui in Bibliotheca Senatoria Civitatis Lipsiensis asservantur. Grimma 1838, zurück.). Siehe zu dieser Beschreibung der Handschrift und den Abbildungen Brinkmann, Stefanie: Zweifach einzigartig: Ein schiitischer Mongolenherrscher und die einzige schiitische Handschrift in der ehemaligen Leipziger Ratsbibliothek, in: Klemm, Verena (Hrsg.): Ein Garten im Ärmel. Islamische Buchkultur, Katalog zur Ausstellung in der Bibliotheca Albertina, 10. Juli-27. September 2008, (Schriften aus der Universitätsbibliothek Leipzig 12), Leipzig 2008, S. 67f. (Korrektur des Drucks ebd.: 743/1343.) (1654-1704) – der insgesamt 186 Kodices umfasste –, bleibt aufgrund fehlender Besitzer- oder Lesereinträge von 743/1343 bis zu dem Nachlass von Acoluthus in Leipzig zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Dunkeln. 35 Ein anderes Beispiel einer falschen Zuschreibung geht noch auf das 19. Jahrhundert zurück: Wilhelm Ahlwardt verwechselt in seinem Katalog zu den Berliner Handschriftenbeständen den Verfasser von „Bih ār alAnwār“, der bekannten Sammlung imamitischer Traditionen aus der Safawidenzeit, Muỏammad Bāqir al-Mağlisī (gest. 1110/1700), mit dem (sunnitischen) Ŧa’labī, der die „Qiśaś al-anbiyā’“ verfasst hat. 36 Das 18. Jahrhundert: Die ideologische Verortung der orientalistischen Studien und das alte Quellenproblem Zu den wenigen schiitischen Quellen und der Problematik, sie zu identifizieren und korrekt einzuordnen, kam aber noch etwas Anderes: Zeitgenössische Berichte, die Glaubensformen in einen konkreten historischen, politischen und gesellschaftlichen Kontext stellten, waren nicht gefragt. Es waren vielmehr zwei Diskurse, die die Wissenschaft in der Auseinandersetzung mit der islamisch geprägten Welt bestimmten: Der Orient als ein geschichtsloses Konstrukt sowie die Vorstellung eines linearen Kulturfortschritts, der seine kindliche Form im Orient, seine erwachsene aber in Europa habe. Johann David Michaelis (1717-1791) etwa war der Auffassung, dass all die Theologie nach dem Koran nicht der Beachtung Wert sei. Im Gegenteil, man müsse sich einzig auf den Koran konzentrieren, wenn man überhaupt zum Islam forschen möchte. „Überhaupt ist sie [die Religion des Islam] in so viele Secten zertheilt, dass man nirgends Hoffung haben kann, ächte Muhammedanische Religion völlig ohne Zusatz anzutreffen, wenn man nicht selbst zu der Secte gehört, und wie einer, der wissen will, was christliche Religion ist, 35 Zu den orientalischen Studien im 17. und 18. Jahrhundert in Leipzig, siehe Liebrenz 2008, S. 12-61, 80-86. Preissler, Holger: Orientalische Studien vor Reiske, in: Ebert, H.G. und Hanstein, Th. (Hrsg.): Johann Jacob Reiske – Leben und Wirkung. Ein Leipziger Byzantinist und Begründer der Orientalistik im 18. Jahrhundert, Leipzig 2005, S. 19-43. 36 Ahlwardt, Wilhelm: Verzeichnis der arabischen Handschriften der Kgl. Bibliothek zu Berlin, Berlin 1887-1899, Bd. I, S. 409, Nr. 1025, 1026. Zu al-Mağlisī siehe auch Brockelmann, Carl: Geschichte der arabischen Litteratur (GAL), Leiden, S II, S. 572f. Zu aŧ-Ŧa‘labī GAL, G I, 350 und S I, S. 592; Kaỏỏāla, ‘Umar ar-Riỗā: Mu‘ğam al-mu’allifīn, Beirut o.J., Bd. 2, S. 60f. nicht das System dieser oder jener Religionspartheyen, sondern die Bibel lesen muß, so ist das gleiche auch bey der Muhammedanischen Religion nöthig, und dis um desto mehr, weil der vor Untersuchungen fliehen müssende Koran nicht so wohl critische, als theologische Ausleger gehabt hat, die ihm mit erdichteten Histörchen aus der Tradition zu Hülfe kamen.“ Die Auslegung des Korans sei ausschließlich an der Frage auszurichten „was Mohammed selbst darin gesagt hat“ und nicht „was jetzt die Türken oder Persianer aus ihm machen.“ 37 Die Schia traf eine solche Haltung besonders, galt sie doch als eine dieser „Secten“, worin man nicht mehr die „wahre Mohammedanische Religion“ sah. Scharfe Kritik an solchen Ansätzen kam im 18. Jahrhund ert bereits von Johann Jakob Reiske (1716-1774). Reiske, Arabist und Byzantinist, widersprach der Stagnationsvorstellung einer „orientalischen Kultur“. 38 Es war gerade die stets wirkende islamische Auslegungstradition, die die dynamische islamische Kultur ausmache. Die „Secten“ sind nach Reiske nichts Verfälschendes, vielmehr seien sie es, deren Auslegungen es zu studieren gelte, um die Auslegungstraditionen in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu verstehen: „Es kömmt nicht darauf an, was für einen Sinn manche Stellen haben können, der sich auch gar wohl schickete; sondern was für einen Sinn die Muhammedaner darin finden. Was würden wir zu einem Muhammedaner sagen, der, ohne unsere Theologie in ihrem weitesten Umfange zu kennen, eine Uebersetzung vom neuen Testament machete, und seine philosophische Brühe darüber gösse.“ 39 Reiskes vorrangiges Interesse an der islamischen Geschichte im Rahmen der Universalgeschichte führte ihn auch zur Beachtung der Schia. In seiner Leipziger Antrittsrede und der Prodidagm ata des Werkes von Ỏāğğī Ốalīfa (Kātib Čelebī) stellt er sich sogar hinter den Anspruch ‘Alīs, der eigentlich berechtigte Nachfolger Muhammads zu sein. ‘Alī verkörpert für Reiske Gerechtigkeit, Tapferkeit und Stärke, und er 37 Loop, Jan: Kontroverse Bemühungen um den Orient. Johann Jacob Reiske und die deutsche Orientalistik seiner Zeit, in: Ebert, H.G. und Hanstein, Th. (Hrsg.): Johann Jacob Reiske – Leben und Wirkung. Ein Leipziger Byzantinist und Begründer der Orientalistik im 18. Jahrhundert, Leipzig 2005, S. 76. 38 Fück 1955, S. 108-124 (zu Reiske); Ebert/ Hanstein (Hrsg.) 2005 (zu den Debatten um methodische Zugänge seiner Zeit siehe vor allem den Artikel von Jan Loop, S. 45-85.) Liebrenz 2008, S. 56-61. 39 Loop 2005, S. 62. vergleicht ihn darin mit Marc Aurel. 40 Die Frage, aus welchen Quellen Reiske schöpfen konnte, ist noch nicht im Detail untersucht worden. Für seine Kenntnisse zur Schia und der schiitischen Geschichte dürften dies neben Handschriften zur islamischen Geschichte und Geographie, wie etwa dem Werk von Abū l-Fidā’ (gest. 732/1331), vor allem Bartholomé d’Herbelots (1625-1695) „Bibliothèque Orientale“ und Ỏāğğī Ốalīfas (1609-1657) „Kašf aż-żunūn“ 41 gewesen sein. Arbeiten, die sich ausdrücklich mit der Schia befassen, hat Reiske jedoch nicht hinterlassen. Das 19. Jahrhundert: Die institutionelle Etablierung Handschriftenzuwächse und neue Fragestellungen der „Orientalistik“, Im 19. Jahrhundert lässt sich eine gewisse Intensivierung der Kontakte zwischen Deutschland und dem Iran verzeichnen. Allerdings gestaltet en sich diese Kontakte in der Regel sehr zurückhaltend, da sich Deutschland unter Bismarck und Wilhelm II. mit Neutralitätsverpflichtungen Iran gegenüber und Aktivitäten im Iran zurückhielt, um nicht in den Kampf zwischen England und Russland um die Vormachtstellung im Iran involviert zu werden. Das 19. Jahrhundert war hingegen das entscheidende Jahrhundert für die orientalischen Studien, die sich durch unabhängige, von der Theologie losgelöste Institute als vorrangig philologische Disziplin etablierten. 42 Islamwissenschaftliche Fragestellungen, gar im Hinblick auf die Schia, finden sich zunächst kaum. Der Durchbruch für eine Forschung zur Zwölferschia fällt dementsprechend in die Zeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Verbunden sind damit, wie mit dem Entstehen islamwissenschaftlicher Forschung 43 überhaupt, vor allem folgende 40 Fück 1955, S. 116. Und in Reiske, J.J.: Prodidagmata ad Hagji Chalifae librum memorialem rerum a Muhammedanis gestarum exhibentia introductionem generalem in historiam sic dictam orientalem, erst 1766 in Leipzig von einem Schüler Reiskes, J.B. Koehler, hinter Reiskes „Abulfedae Tabula Syriae“,S. 215-240, veröffentlicht, 2. Aufl. 1786. Ohne Schlussteil (spätere Zusätze Reiskes) nochmals abgedruckt in J.G. Meusel’s Neubearbeitung der Struve-Buderschen Bibliotheca Historica II, 1785, S. 107-204.) 41 Zu Kātib Čelebī Ỏāğğī Ốalīfa siehe GAL, G II, 428, S II, S. 636. Zu d’Herbelot siehe Fück 1955, S. 98ff. 42 Mangold, Sabine: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 91ff. 43 Damit sei an dieser Stelle ganz allgemein die Behandlung der islamischen Geschichte als Teil einer Weltgeschichte und die Untersuchung islamischer Theologie als einer eigenständigen Theologie in ihrer historischen Entwicklung verstanden. Neben den (kultur-) historisch Namen: Alfred von Kremer (1828-1889), Julius Wellhausen (18441918), Theodor Nöldeke (1836-1930) sowie – zentral für die Islamwissenschaft allgemein und die Schia im Besonderen – Ignaz Goldziher (1850-1921). Die islamische Geschichte sollte fortan als Teil der Weltgeschichte studiert werden, wie es schon Reiske gefordert hatte. Auch änderte sich die Quellenlage, denn das 19. Jahrhundert brachte einen Schub an Handschriftenzuwächsen, die sich deutlich in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der islamisch geprägten Welt niederschlugen. 44 Im Kontext von Kolonialismus, Besatzung, diplomatischen Kontakten, vermehrten Reisen und Handelsbeziehungen kam es zum rechtmäßigen Erwerb und zur unrechtmäßigen Aneignungen von Handschriften. Aber auch hier gilt: wenig Schiitisches. Ein Vergleich: Englands Entwicklung im Bereich der Schia -Forschung ist eng verbunden mit seiner kolonialen Präsenz in Indien, wo schiitische Handschriften oder Lithographien vor Ort katalogisiert, ediert, übersetzt oder teilweise nach England gebracht wurden. England war ferner neben Russland ein wichtiger Akteur in der iranischen Politik des 19. Jahrhunderts, eine politische Konstellation, die auch praktische Antworten aus der Wissenschaft, allen voran Sprachkenntnisse und landeskundliche Kenntnisse, erforderte. Derartige, unter anderem mit imperialistischen Interessen verbundene Impulse in der Wissenschaft, bestanden für das Deutsche Reich nicht mit einem regionalen Bezug zu schiitisch geprägten Räumen. In der Figur des Tirolers Aloys Sprenger (1813-1893) 45 lässt sich jedoch eine Verbindungsperson zwischen der Erforschung schiitischer Werke im Kontext der englischen kolonialen Besatzung in Indien und dem Fortschritt der deutschen Schia-Forschung ausmachen: Aloys Sprenger verbrachte Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als 10 Jahre in Indien 46 und bearbeitete dort eine ganze Reihe den europäischen Forschern unbekannte Handschriften, die er zum Teil für seine Muỏammad- arbeitenden von Kremer und Wellhausen und dem weitgehend philologisch arbeitenden Nöldeke, kann man mit Goldziher die eigentliche Hinwendung zu einer künftigen Islamwissenschaft sehen. 44 Die Phasen erster großer Erwerbungen bzw. Eingänge orientalischer Handschriften an deutsche Bibliotheken im 17. Jahrhundert und einer zweiten Phase wichtiger Zugänge im 19 Jahrhundert lässt sich in vielen deutschen Bibliotheken beobachten. Siehe auch Kurio, Hars: Arabische Handschriften der ‘Bibliotheca orientalis Sprengeriana’ in der Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz-Berlin. Historische und quantitative Untersuchungen an der Sammlung des Islamhistorikers Sprenger (1813-1893): Die Abteilungen Geschichte, Geographie und Ỏadīŧ, Freiburg im Breisgau 1981, S. 11. 45 Zu ihm siehe Fück 1955, S. 176-179. 46 Sprenger, Aloys: A Catalogue of the Bibliotheca Orientalis Sprengeriana, Giessen 1857, S. III. Biographie 47 verwendete. Es war vor allem während seiner Zeit in Lucknow (Lakhnau), als Sprenger intensiv mit schiitischen Quellen arbeiten konnte – Lucknow ist seit dem 18. Jahrhundert ein Zentrum der Zwölferschia in Indien. 48 1853 veröffentlichte Sprenger mit Hilfe eines indischen Gelehrten eine Bearbeitung des „Fihrist kutub aš -šī’a“ von Abū Ğa’far Muỏammad b. al-Ỏasan aţ-Ţūsī, Šaiố aţ-Ţā’ifa (gest. 460/1067). 49 Auch auf seiner Rückreise erstand Sprenger Handschriften oder kopierte. 1856 kehrte er nach Europa zurück, und 1858 wurde seine Sammlung auf Betreiben des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. für die Berliner Staatsbibliothek angekauft und bildete fortan die „Bibliotheca Orientalis Sprengeriana“. 50 Sprengers Bearbeitung von Ţūsī’s Fihrist, die „Tusys list of Shy‘ah Books“, stand Ignaz Goldziher Ende des 19. Jahrhunderts als eine zentrale Quelle für seine Schia Studien zur Verfügung, und er beruft sich in seinen Veröffentlichungen immer wieder auf sie. Der im 19. Jahrhundert immer noch sehr beschränkten Masse an schiitischen Handschriften standen die zahlenmässig häufiger vorkommenden sunnitischen Handschriften zur Schia gegenüber, allen voran aus dem Bereich der Häresiographie. Davon ausgehend hatte das Bild einer sunnitischen Orthodoxie und eines schiitisches Sektierertums lange Zeit Bestand in der Forschung – bis weit ins 19., und auch noch im 20. Jahrhundert. Zentral waren hier die Werke der firaq-Literatur, insbesondere „Kitāb al-Milal“ von Ibn Ỏazm (gest. 456/1064) aus dem 11. Jahrhundert und Šahrastānīs (st. 548/1153) „al-Milal wa-n-niỏal“ aus dem 12. Jahrhundert, das 1850-51 in einer Übersetzung von Th. Haarbrücker vorlag. 51 So bezieht sich Alfred von Kremer in seiner Abhandlung zu „den religiösen Sekten“ in „Geschichte der herrschenden Ideen des Islams“ von 1868 52 im Bezug auf schiitische Gruppen vor allem auf Ibn Ỏazm 47 Sprenger, Aloys: Das Leben und die Lehre des Moỏammad nach bisher grösstenteils unbenutzten Quellen, Berlin 1881-85. 48 Siehe auch Halm, Heinz: Die Schia, Darmstadt 1988, S. 173-175 mit weiteren Literaturhinweisen. 49 aţ-Ţūsī, Abū Ğa‘far: Tusys List of Shy‘ah Books, ed. Alois Sprenger, Bibliotheca Indica, Old ser., Fasc. 60, 71, 90, 107, Calcutta: Asiatic Society of Bengal, 1853-1855. 50 Kurio, Hars: Arabische Handschriften der ‘Bibliotheca orientalis Sprengeriana’ in der Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz-Berlin. Historische und quantitative Untersuchungen an der Sammlung des Islamhistorikers Sprenger (1813-1893): Die Abteilungen Geschichte, Geographie und Ỏadīŧ, Freiburg im Breisgau 1981, S. 24. 51 Haarbrücker, Th.: Religionspartheyen und Philosophenschulen, 2 Bde, Halle 1850-51 (Neudruck Wiesbaden 1969). 52 Kremer, Alfred von: Geschichte der herrschenden Ideen des Islams, Leipzig 1868. und Šahrastānī und er behandelt kein schiitisches Werk. Ferner stechen, wie wir bereits bei d’Herbelot und anderen gesehen haben, die extremen Gruppen, wie etwa die Ġulāt hervor, neben Nusairiern, den Drusen und den Yeziden. Das Zwölferschiitische erschöpft sich in der Nachfolgefrage im Bezug auf ‘Alī, der Verehrung der Imame – Kremer nennt sie „Fürsten“ –, und dem Mahdī-Glauben, der aber nur als messianische Idee kurz genannt wird. Die Vorstellung, dass Göttliches ganz oder in Teilen auf Menschen übergehen könne, siedelt von Kremer im buddhistischen Gedankengut Indiens an, von wo aus sie westwärts gewandert sei und schließlich in Persien einen „günstigen Boden“ gefunden habe. 53 Julius Wellhausen legte als Historiker etwas mehr als 30 Jahre nach von Kremers „Geschichte der herrschenden Ideen des Islams“ im Jahr 1901 sein „Die religiös-politischen Oppositionsparteien im alten Islam“ vor und behandelt darin die Ốāriğiten und die Schiiten. 54 Grundlegendes Quellenmaterial bildete dabei Abū Ğa’far Muỏamad aţ-Ţabarī (gest. 310/923). Die Schia ist bei Wellhausen jedoch keine Absplitterung mehr, sondern eine der zahlreichen politischen Gruppierungen zur Frühzeit des Islam. Als entscheidendes Ereignis für einen Wandel hin zu einer auch religiösen Gruppierung gibt Wellhausen die Schlacht von Kerbal ā’ im Jahr 61/680 an. Neben einigen Einflüssen iranischer Religionselemente geht Wellhausen auch von einem Einfluss jüdischer I deen durch die Figur des ‘Abd Allāh b. Saba’ und jüdisch-häretischer Kreise aus. Von zentraler Bedeutung bei der Forschung Wellhausens zur Schia ist jedoch die Analyse des Wechselspiels von Politik und Religion, das er z.B. anhand der Spannungen zwischen den Mawālī und der ein Arabertum propagierenden Umayyadendynastie darstellt. Doch es wird Ignaz Goldziher (1850-1921) sein, der nicht nur erste grundlegende Untersuchungen zur Schia vorlegt, sondern auch stets das Bemühen erkennen lässt, eine Zwölferschia aus ihren eigenen Quellen heraus zu studieren. Aber auch er sieht sich noch mit einer sehr 53 Kremer 1868, S. 12. Im Kontext der Rassenideologien des 19. Jahrhunderts sahen einige Gelehrte das Sunnitentum als Repräsentanten eines semitischen Arabertums, und das Schiitentum als Repräsentanten eines arischen Iran, der sich gegen die semitische Dominanz auflehne. Das „Ariertum“ der Iraner und die Überlegenheit ihrer Kultur sollte später eine Rolle im wissenschaftlichen Diskurs unter den Nationalsozialisten im 20. Jahrhundert spielen, siehe Ellinger, Ekkehard: Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945, Berlin 2006, S. 314-319, 362ff. 54 Wellhausen, Julius: Die religiös-politischen Oppositionsparteien im alten Islam, Berlin 1901. Zu ihm siehe auch Rudolph, Kurt: Wellhausen als Arabist, Sitzungsbereichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-Hist. Klasse Bd. 123, Heft 5, Berlin 1983. bescheidenen Quellenlage konfrontiert, was in seinen Schriften immer wieder zu unterschiedlichen Äußerungen zur Schia als einer Konfession (neben dem Sunnitentum) oder aber einer Sekte führt, als religiöser Gruppierung mit Mittelstufen und gemäßigten Tendenzen oder als radikaler und fanatischer Partei. Mal spricht er davon, dass sich ein Schisma im Islam nie wirklich vollzogen habe 55, dann wieder spricht er vom (schiitischen) Schisma, etwa in seinen „Koranauslegungen“. Doch bei alldem ist sich Goldziher der Beschränktheit durch mangelhafte Quellenbestände bewusst. In seinen „Beiträgen zur Literaturgeschichte der Schia“ von 1874 schreibt er: „Wir verdanken unsere Kenntnis von der morgenländischen Literatur solchen Büchersammlungen, welche zumeist den Handschriftenschätzen und Bibliotheken von Ländern ihren Ursprung verdanken, wo der Sunnismus die herrschende Confessionsrichtung ist; der Buchhandel und die Bibliotheken des Orientes werden aber von solch subjectiver Einseitigkeit beherrscht, dass es wohl zu den Seltenheiten zählen mag, dass ein sunnitischer Büchersammler ein der gegnerischen Richtung angehörendes Werk seiner Sammlung einverleiben möchte.“ 56 Goldziher macht auf drei Gründe für die mangelnde Kenntnis der schiitischen Literatur aufmerksam: die Zerstörung schiitischer Literatur vor allem durch sunnitische Umtriebe, das Untergrunddasein schiitischer Literatur und das Verheimlichen der Religionszugehörigkeit im Sinne der taqiyya, sowie die dadurch teilweise bedingte Tatsache, dass nur wenig schiitische Literatur ihren Weg in europäische Bibliotheken gefunden hat. 57 Der beschränkte Zugang zu schiitischem Material wird besonders deutlich bei Goldzihers Abhandlung zur schiitischen Qur’ānexegese in den „Richtungen der islamischen Koranauslegung“ von 1952 58, wo er die schiitische Exegese unter dem Kapitel „sektiererische Koranauslegung“ behandelt. 59 Er betont eine Umayyaden-feindliche und ‛Alī-freundliche 55 Goldziher, Ignaz: Beiträge zur Literaturgeschichte der Šî‛â und der sunnitischen Polemik, in: Sitzungsberichte der k. Akademie der Wissenschaften, 78 (1874), S. 439-524 (= Goldziher, Ignaz: Beiträge zur Literaturgeschichte der Šî‛â und der sunnitischen Polemik, in: Desomogyi, Joseph (Hrsg.): Ignaz Goldziher. Gesammelte Schriften, Hildesheim 1967-73, Bd. I, S. 261346.), S. 282f. 56 Goldziher/Desomogyi, Beiträge, 1967, S. 264. 57 Goldziher/Desomogyi, Beiträge, 1967, S. 261f. 58 59 Goldziher, Ignaz: Die Richtungen der islamischen Koranauslegung, Leiden 1952. Goldziher 1952, S. 263-309. Deutung des Korantextes, und sagt: „Dies sind Ansätze zu einer bald üppig in die Halme schiessenden schī‘ītischen Parteiexegese. Es ist auf keinem Gebiete der tendenziösen Koranauslegung in so unersättlicher Weise und mit solch übertreibenden Resultaten gearbeitet worden als eben in diesem Kreise.“ 60 Diese Einschätzung Goldzihers beruht allerdings zu einem großen Teil auf seinem beschränkten Quellenmaterial. Von der Existenz einiger schiitischer Korankommentare und verwandtem Schrifttum weiß er nur aus Sekundärquellen, konnte sie jedoch nicht oder nur in Teilen für seine Forschung heranziehen. 61 Es war nur ein einziger schiitischer Kommentar, der ihm als Grundlage für seine Abhandlung zur schiitischen Exegese diente: das Tafsīrwerk von ‘Alī b. Ibrāhīm alQummī (st. 307/919?) 62, ein früher, deutlich anti-sunnitischer Kommentar, der über den Vater von al-Qummī eher noch Tendenzen der „spekulativen Theologie“ zeigt als der später oftmals mu‘tazilitisch geprägte und mit philologischen Ausführungen und argumentativen Schlüssen gekennzeichnete Korankommentar. Neben dieser einzigen zentralen schiitischen Tafsīr-Quelle stehen sunnitische Quellen bei Goldziher – unter anderem die firaq-Werke von Šahrastānī und Ibn Ỏazm. Wie stark jedoch das Interesse Goldzihers an schiitischem Schrifttum war, zeigt folgende Episode: Von September 1873 bis April 1874 hielt sich Goldziher in Damaskus auf, wo er Freundschaft schloss mit dem Damaszener Bibliophilen und Notablen Muśţafā Efendi as-Sibā‘ī. In einem Brief vom 18. November 1873 (27. Ramaỗān 1290) berichtet er seinem Lehrer Heinrich Leberecht Fleischer in Leipzig: „Sodann lassen Sie mich Ihnen über zwei Stücke Bericht erstatten, die ich ebenfalls in Privatbibliotheken gefunden, und von denen, so viel ich weiss, bisher weder in europäischen noch auch in orientalischen Büchersammlungen andere Exemplare nachgewiesen worden sind. Ueber das erstere will ich hier nur kurz referieren, da das darin Gefundene, vereinigt mit anderen Materialien, nach meiner Rückkunft in die 60 Goldziher 1952, S. 269f. Goldziher 1952, S. 271, 276-279. 62 Sichere Daten sind nicht überliefert. ‘Alawī Mihr, Ỏusain: Āšnā’ī bā ta’rīố-i tafsīr wamufassirān, Qom 1384, S. 171-175, gibt das Datum 307 d. H. an. Bar-Asher, Meir M.: Scripture and exegesis in early Imāmī Shiism, Leiden u.a. 1999, geht auf S. 34 auf die Problematik der unsicheren Datierung ein. Zum Qummī-Kommentar siehe ebd. S. 33-56. 61 Heimath in einer Abhandlung „Zur Literaturgeschichte der Šî’a aufzuarbeiten gedenke.“ 63 Die Handschrift, die Goldziher vorlag, bestand aus drei Werken, dem „Nahğ al-haqq wa-kašf aś-śidq“, in welcher der Schiit (Ğamāl ad-Din b. al-Muţahhir) ‘Allāma al-Ỏillī auf Anordnung des Ilốānīdenherrschers Ülğāytü die Dogmatik des (aš‘arītischen) Sunnitentums kritisierte, der Polemik des Sunniten Faỗl Allāh b. Rūzbihān b. Faỗl Allāh al-Hanağī (so nach Goldziher) [al-Ốunğī 64 oder al-Ốanğī 65] aus dem Jahr 909/1503 66, und drittens einer Antikritik gegen das letztgenannte Werk von dem Schiiten Nūr Allāh b. Šarīf al-Mar‛aši al-Ỏusainī aus dem Jahr 1014 d. H. 67 „Sämmtliche drei Werke haben mir in einer Hdschr. vom Jahre 1082 vorgelegen, da der dritte Kritiker seinen eigenen Worten stets den ganzen Wortlaut sowohl seines schi‘itischen Vorgängers als auch des sunnitischen Polemikers vorangehen lässt. Es liegt demnach in diesem Buche ein sehr erhebliches Material zur Kenntnis der Specialitäten des Schi‘ismus vor. Ich habe das Buch lange Zeit in meiner Wohnung gehabt und es mir durch reiche Excerpte, besonders in literaturgeschichtlicher Beziehung, nutzbar gemacht.“ 68 In seinen „Beiträgen“ von 1874 verweist Goldziher auf weitere Werke al -Ỏillīs, allerdings ohne das „Minhāğ al-karāma“ zu nennen, und behandelt schließlich die Werke der ihm vorliegenden Handschrift. 69 Goldziher weist aber auch darauf hin, dass „der Besitzer des schiitischen Werkes , dem ich einige nachfolgende Abschnitte zu widmen gedenke, in des allgemeinen Ansehens sich erfreuender Herr Muśtapha Sbā‘ī in Damaskus, dieses Werk vor den Augen seiner Freunde auf’s Sorgfältigste verbirgt, ja selbst mir das Versprechen abgenommen und nur unter der Bedingung das Buch leihweise zur Verfügung gestellt hat, 63 Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (ZDMG) 28 (1874), S. 161f. So Mazzaoui in Luft/Turner 2008, S. 232. 65 GAL, S 2, S. 272. 66 Titel des Werkes: Ibţāl an-nahğ al-bāţil wa-i‛māl kašf al-‛āţil, siehe GAL, S 2, S. 272. 67 Namensansetzung nach GAL, S 2, S. 207 und 607: Nūrallāh b. as-Saiyid aš-Šarīf al-Mar‛ašī aš-Šuštarī (st. 1019/1610), Titel des Werkes: Iỏqāq al-ỏaqq wa-izhāq al-bāţil (als Entgegnung auf Rūzbihāns [Rūzbahāns] „Ibţāl“). Siehe Goldziher/Desomogyi, Beiträge, 1967, S. 289ff., wo er zunächst Informationen zu Ülğāytü gibt und schließlich ab S. 291 näher auf das Wirken und Werk al-Ỏillīs eingeht. Wieder weist Goldziher auf weitere Handschriften dieses Werks „Nahğ al-ỏaqq“ hin, hier zwei in der Bibliothek des India Office. Siehe auch Mazzaoui in Luft/Turner 2008, S. 232. 64 68 ZDMG, 28 (1874), S. 161. 69 Goldziher/Desomogyi, Beiträge, 1967, S. 289ff. dass ich in Damaskus gegen keinen Muhammedaner erwähne, dass ich ein solches Buch aus seiner Bibliothek entliehen habe.“ 70 Goldziher versucht nun in seinen „Beiträgen“ dieses Missverhält nis von mangelhafter Quellenlage und sunnitischer Polemik kritisch zu entwirren, wobei er anti-schiitische Polemik in sunnitischer (Traditions )literatur untersucht und „Schiitisches“ aus schiitischen Quellen. Auch für seine 1906 erschienene Abhandlung zur Taqiyya, „Das Prinzip der taķijja im Islam“ 71, verwendet Goldziher vorrangig sunnitische Literatur, daneben wieder Ţūsīs „Fihrist“ in der Bearbeitung A. Sprengers, aber hier und da auch schiitische Literatur, die ihm für die „Beiträge“ noch nicht zugänglich gewesen war, so etwa Kulainīs (Kulīnī) „Uśūl al-Kāfī“ in der Edition von Bombay 1302. Die Masse der Information muss Goldziher aber nach wie vor mühsam kritisch aus vorrangig sunnitischen Werken herauslesen. Jedoch unternahm Goldziher große Anstrengungen, um das Vorkommen von schiitischen Handschriften, aber auch von Lithographien oder frühen Drucken in Erfahrung zu bringen. Im Anschluss an seine „Beiträge“ schreibt er unter „Nachträgliches“: „Vergl. den (eben im Druck befindlichen) Katalog der arab. Hschr. dieser Bibliothek [des India Office, Anm. der Verf.], in dessen Aushängebögen mir ein Einblick durch den Verf. Hrn. Prof. Loth in Leipzig gestattet war. Es ist dort ersichtlich, dass Ibn al-Muţţahir noch ein anderes theol. Werk im Auftrage Chudâbende’s arbeitete [sic].“ 72 Leider konnte Goldziher dieses Werk damals noch nicht identifizieren – dabei handelt es sich um „Minhāğ al-karāma fī ma‘rifat al-Imāma“, ein Werk, das seit Beginn des 18. Jahrhunderts durch den Nachlass von Andreas Acoluthus in der Leipziger Ratsbibliothek (der späteren Stadtbibliothek) schlummerte, und somit für Goldziher in greifbarer Nähe lag. Das 20. Jahrhundert: Ein Ausblick Doch auch wenn die Gelehrten im 19. Jahrhundert und um die Jahrhundertwende die Voraussetzung für eine Schia-Forschung legten, und auch wenn fachliche, politische, wirtschaftliche, aber auch 70 71 Goldziher/Desomogyi, Beiträge, 1967, S. 264. ZDMG 60 (1906), S. 213-226 (=Desomogyi, Joseph (Hrsg.): Ignaz Goldziher. Gesammelte Schriften, Hildesheim 1967-73, Bd. V, 1970, S. 59-72.) 72 Goldziher/Desomogyi, Beiträge, 1967, S. 346. medienrelevante Veränderungen im 20. Jahrhundert ganz neue Kontexte und Möglichkeiten für die Schia-Forschung bereit stellten, so ist diese in Deutschland auch im 20. und 21. Jahrhundert eine Randerscheinung geblieben. Daran änderte auch die institutionelle Etablierung der Islamwissenschaft durch Carl Heinrich Becker (1876 -1933) und Martin Hartmann (1851-1918) kaum etwas. Und die Iranistik – mit der Safawiden-Dynastie ab 1501 potentiell ein Ort der Studien zur Zwölferschia – blieb eine vorrangig philologische Disziplin, in der sich sogar das Neupersische erst seinen Platz in der Wissenschaft um die Jahrhundertwende sichern musste. Bis heute sind die Schia-Studien vorrangig in der Islamwissenschaft anzusiedeln. 73 Doch selbst diejenigen Forscher, die sich der Schia im 20. Jahrhundert zuwandten, wie etwa Heinz Halm, spezialisierten sich selten auf die Zwölferschia. Dementsprechend ist die Zahl Schia relevanter Publikationen und die Behandlung von Schia relevanten Themen im Rahmen allgemein islamwissenschaftlicher Abhandlungen – etwa zum Ỏadīŧ – sehr gering. Und durch ein ausgesprochen eingeschränktes Lehrangebot zu diesem Themenbereich an den Universitäten werden zu wenige Anreize für weitere Forschungen auf diesem Gebiet gestellt. Eine notwendige Förderung schiitischer Studien an deutschen Hochschulen sollte jedoch eingebettet sein in die Frage nach der eigenen Positionierung des Fachs im Spannungsfeld von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik, einem Spannungsfeld, das bis heute zu einem „Unbehagen in der Islamwissenschaft“ führt. 74 Die Anforderungen an eine Intensivierung schiitischer Studien in Lehre und Forschung müssen auf inhaltlicher, methodischer und struktureller Ebene diskutiert werden. Denn die Ausdifferenzierung der methodischen Zugänge im Bereich der Islamwissenschaft und die Herausforderung einer Interdisziplinarität bei steigender, auch institutionell verankerter Spezialisierung sind die Voraussetzungen, in die sich eine Schia-Forschung integrieren muss. Abgesehen von der Frage nach einer möglichen universitätsinternen Ansiedlung der Schia-Forschung sollte der Austausch mit schiitischen 73 Und so fällt der Eintrag zu den „Iranian Studies in Germany: Islamic Period“, „Religion (including Islamic law)“ entsprechend kurz aus: Heinz Halm wird als führender Spezialist für die Schia genannt, neben ihm Abdoljavad Falaturi (‘Abd al-Ğawād al-Falāţūrī) oder Harald Löschner. Für die moderne Schia werden ab der Gründung der Islamischen Republik Iran Werner Ende, Bert Fragner und H.R. Roemer genannt, im Bereich des Rechts Silvia Tellenbach. (Encyclopaedia Iranica, Bd. X, S. 547.) 74 So der Titel eines Buches, das 2008 von Abbas Poya und Maurus Reinkowski herausgegeben wurde. Wissenschaftlern ein vorrangiges Ziel sein. In diesem Bereich universitärer Kooperationen und Projekte böten sich interessante Perspektiven; leider sind auch derartige Initiativen vergleich sweise bescheiden in Deutschland. Einzig die internationale Konferenz zur schia, initiiert von den Schia-Forschern Werner Ende und Rainer Brunner, die 1999 in Freiburg im Breisgau stattfand und deren Beiträge in großer Zahl, wenn auch nicht vollständig publiziert wurden, bildet hier eine nennenswerte Ausnahme. 75 75 Brunner, Rainer und Ende, Werner (eds.): The Twelver Shia in Modern Times. Religious culture & political history, Köln u.a. 2001.