Schuld ist immer der andere – Muslime und Teror Islamische Zeitung, 27. Oktober 2004 In ihrem Buch „Dynamit des Geistes“ gehen Sie der Frage nach, inwiefern Selbstmordanschläge der islamischen Tradition entspringen oder ein spezifisch modernes Phänomen sind. Könnten Sie uns die Kerngedanken dieser Analyse darstellen? Mit diesem Buch habe ich versucht, zu zeigen, woher der Märtyrergedanken entstanden ist, wo er seine Herkunft hat und wie Terroristen heute durchaus mit der Tradition agieren. Nur die Art und Weise, wie sie mit der Tradition agieren, wie sie Bildern daraus verwenden, ist spezifisch modernes. Ich habe versucht, zu zeigen, wie diese beide Elemente zusammenkommen, auch gegen die apologetische Sicht, daß dies alles mit dem Islam nichts zu tun habe. Es hat durchaus mit dem Islam zu tun. Die Terroristen argumentieren islamisch. Aber es ist wichtig, zu zeigen, wie genau sie die die islamische Tradition in die Moderne übertragen. Bin Laden ist nicht die Wiederkehr des Mittelalters. Er ist Ausdruck der Moderne, gegen die er kämpft. Was sind die historischen Wurzeln dieser Selbstmordattentate? Im Koran taucht das Wort Märtyrer in dem Sinne, wie wir es verwenden, nicht auf. Im frühen Islam war die islamische Gemeinschaft eine Minderheit, die unterdrückt wurde, und damals trat der Märtyrer auf, der für seinen Glauben starb, der selbst unter Folter nicht bereit war, von seinem Glauben abzulassen, ähnlich wie der christliche Märtyrer unter römischer Herrschaft. Man kann dann sehen, wie in dem Augenblick, wo der Islam sich durchsetzt und ausweitet, diese Art von Martyrium keine Rolle mehr spielt und zunehmend durch das Kämpfermartyrium ersetzt wird: der Märtyrer, der in der Schlacht stirbt. Aber zugleich verliert das Martyrium als religiöses Konzept an Relevanz. Jedenfalls im sunnitischen Islam hat es nie eine Martyriumstheologie gegeben wie im Christentum, keinen Märtyrerkult, der über das kulturell übliche Maß an Verehrung für die Gefallenen hinausgegangen wäre. Wo die Martyriumsidee eine herausragende Rolle gespielt hat, war im schiitischen Islam; angefangen mit dem Martyrium der Imame und speziell Imam Hosseins. Und viele Bilder, die bei den modernen Terroristen auftauchen, stammen aus dem schiitischen Glauben, obwohl dieser aus Sicht dieser Extremisten ja viel schlimmer ist als das Christentum. Die frühen Islamisten, die Muslimbrüder, haben sehr wohl an den islamischen Märtyrer angeknüpft, allerdings an die Dulder-Märtyrer der islamischen Frühzeit. Vom ägyptischen Staat verfolgt, identifizierten sie sich mit den frühen Muslimen, die von den Quraischiten verfolgt worden waren. In den letzten Jahren nun sieht man wieder den Übergang zum Kämpfermartyrium unter Zuhilfenahme von einigen Bildern aus der schiitischen Tradition. Diese ganze Bildersprache stammt oft gerade nicht aus dem sunnitischen Islam. Und im schiitischen Islam haben diese Bilder eine völlig andere Bedeutung. Es gibt eine Linie im schiitischen Märtyrerkult, die zu den Minenkindern im irakisch-iranischen Krieg geführt hat. Das heißt nicht, daß jeder schiitische Gläubige dies für vertretbar hält, aber man kann sehen, daß es eine Linie gibt, die zu so einer Perversion führen kann. Aber sie führt vom schiitischen Glauben nicht linear zu den Selbtmordattentaten. Wenn wir uns nun die frühen Selbstmordattentate in der arabischen Welt anschauen, sehen wir, daß diese nicht von Schiiten verübt, sondern von Tätern aus säkularen Kreisen, aus kommunistischen Gruppierungen. Diese Gemengelage versuche ich zu analysieren. Ich möchte nichts reinwaschen oder schuldig sprechen, sondern einfach nur aufzeigen, wo dieses Phänomen herkommt und wie es sich in den letzten Jahrzehnten fortentwickelt hat. Und es macht es auch nicht unbedingt ungefährlicher, wenn dies eine spezifisch moderne Struktur, ein spezifisch modernes Denken ist. Um noch etwas hinzuzufügen: Diese Art von Dschihadi-Terror sollte man unterscheiden von der Gewalt, die er in Palästina, Tschetschenien oder woanders ausgeübt. Ich sage nicht, daß das eine schlimmer als das andere sei, aber der Terrorismus in Palästina oder Tschetschenien funktioniert, zumindest bis vor kurzem, nach dem herkömmlichen Muster. Man will dadurch eine politische Lösung herbeibomben. Hier war der Terrorismus noch ein Teil des politischen Kampfes. Der Grund, warum ich das Stichwort des Nihilismus eingeführt habe, ist nicht, daß ich sagen wollte, daß diese Leute Nietzsche gelesen hätten. Ich wollte vielmehr damit ausdrücken, daß es hierbei nicht mehr darum geht, irgendein konkretes Ziel zu erreichen, sondern um das Moment der Vernichtung als solches, auch der Selbstvernichtung. Die dritte Entwicklung, und die ist sehr gefährlich, ist, daß sich diese beiden Arten des Terrorismus verbinden, wie wir in Beslan sehen konnten. Terror wie in Beslan leitet sich aus einer Widerstandsbewegung her, von der er sich abgekoppelt hat. Er verfolgt kein konkretes Ziel, stellt keine Forderungen und zietl auch nicht mehr darauf, die Sympathie der Welt oder der eigenen Bevölkerung zu gewinnen. Eine reale soziale Verzweiflung, die man bei den Attentätern des 11. Septembers nicht vorfinden kann, mischt sich nun mit dieser nihilistischen Ideologie, die den Feind überall sieht und die eigene Vernichtung in Kauf nimmt oder sogar anstrebt . Und dies macht es auch so gefährlich, weil man mehr über konkrete politische Lösungen sprechen kann. Auf meinen Reisen habe ich den verheerenden wahhabitischen Einfluß besonders in Zentralasien gespürt. Die soziale und ökonomische Lage ist katastrophal, was im Westen kaum wahrgenommen wird. Da ist eine Diktatur schlimmer als die andere. Jede Art von Opposition wird als fundamentalistisch bekämpft. Dann kommen wahhabitische Gruppen mit viel Geld rein und bauen soziale Zentren oder Moscheen und bieten sich als Alternative an. Dabei ist die zentralasiatische Bevölkerung, obwohl muslimisch, aufgrund ihrer sowjetischen Prägung eigentlich völlig säkular ausgerichtet. Allerdings sind sie oft nicht sehr gefestigt sind in ihrer religiösen Tradition, denn die wurde unter den Sowjets bekanntlich weitegehend unterdrückt. In dieser Situation können die wahhabitischen Gruppen zwar nicht die Mehrheit der Bevölkerung, aber kleine Gruppen für sich gewinnen, die dann sehr gefährlich werden, vor allem für die eigene Bevölkerung. Alles was dem wahhabitischen Glauben nicht paßt, ist plötzlich Ketzerei. Die Bevölkerung ist also quasi eingeklemmt. Auf der einen Seite die brutalen Diktaturen, denen es nur um den eigenen Machterhalt geht, auf der anderen Seite die puritanischen Bewegungen von auswärts. Je weiter diese Situation anhält, desto mehr gewinnen die Terroristen an Boden. Wieso grenzen sich die Gelehrten aus der arabischen Welt nicht klar genug von dem Terror ab? In der arabischen Welt ist der offiziöse Islam vollkommen erstarrt. Ich sehe da kaum Leben. Aus den theologischen Hochschulen kommen keinerlei Impulse. Es ist anders in der Türkei, es ist auch anders in Malaysia oder Indonesien, teilweise auch in Iran. In der arabischen Welt ist die Lage ziemlich erbarmungswürdig. Dies führt folgerichtig auch zu den erbarmungswürdigen Positionen, zu der Apologetik, der defensiven Argumentation, den Verschwörungstheorien. Man sucht die Ursachen nicht bei sich selbst. Schuld sind immer die anderen. Das Erstarken des Terrors in der arabischen Welt hat mit dem völligen Versagen der Gelehrtenkultur zu tun, die ja weitgehend vom Staat – also von den Diktaturen – dominiert sind. Wenn man sich die Freitagspredigten des obersten Scheichs der Azhar-Universität, der größten und bedeutendsten theologischen Institution der sunnitischen Welt anhört - da erfährt man nichts. Es ist ein Diskurs, der für die Gesellschaft völlig irrelevant ist, der überhaupt nicht auf soziale, politische oder geistige Realitäten eingeht - aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Das schafft natürlich ein großes Vakuum. Und diejenigen, die im Namen des Islams dann über gesellschaftlich relevante Sachen sprechen, finden eher Gehör. Wie kann man diese Krise überwinden? Was für eine Rolle können europäische Muslime darin einnehmen? Die europäischen Muslime müssen sich davon abkapseln. Es muß hier etwas eigenständiges entstehen. Der Islam ist speziell in Deutschland sehr national geprägt, also an den Herkunftsländern orientiert. Es gibt keine muslimische Identität. Weshalb hat eine jüdische Zeitung eine vergleichsweise hohe Auflage und eben eine Islamische Zeitung eine relativ geringe? Es gibt nicht das islamische Publikum; es gibt die Türken, die Araber, die Iraner und so weiter, aber es gibt fast keine Moschee, in die Muslime aller Nationalitäten gehen würden. Das wird aber, denke ich, noch entstehen. Je mehr Ressentiment von außen kommt, desto mehr führt es auch dazu, daß man sich als Muslim versteht, als Muslim agiert. In anderen Ländern Europas gibt es auch deshalb eine größere islamische Öffentlichkeit, weil die soziale Struktur der Einwanderer eine andere ist. Dorthin sind auch die Eliten eingewandert, nicht nur die Arbeiter. In Frankreich distanzierten sich die Muslime viel klarer vom Terror, während hier die offiziellen Vertreter eben in der Mehrzahl defensiv agieren, immer Angst haben, etwas falsch zu sagen und es sich mit keinem verderben wollen. Sie sind nicht in der Lage, auf gleicher Augenhöhe mit deutschen Intellektuellen Debatten zu führen. Es gibt diese Leute noch nicht. Aus den künftigen Generationen wird sich dies, wenn alles normal verläuft, herausbilden. Bislang geben die islamischen Verbände in Deutschland ein schwaches Bild ab. Wenn sie im Namen des Islams sprechen, sind sie auch verpflichtet, nicht bloß defensiv zu reagieren, sondern offensiv die innerislamische Debatte zu führen: zum Beispiel darüber, ob man in Moscheen nicht doch die Augen zudrückt, wenn sich hier und dort seltsame Leute herumtreiben. Es ist gewiß nicht so, daß die Mehrzahl der Muslime oder der Moscheebesucher radikal sind. Aber es ist so, daß man allzu oft ein Auge zudrückt, weil diese jungen Leute dann doch irgendwie unsere Brüder sind, die man nicht an deutsche Behörden verrät. Das ist ja der Grund, warum es zu so etwas wie der Hamburger Zelle kommen konnte. Diese Zelle war natürlich radikal, aber sie haben sich längere Zeit in einem Umfeld bewegt, das nicht so war und wo man dachte, na ja, das wird schon nicht so schlimm sein. Und diese Art von stiller Duldung kann sehr gefährlich sein. Ich denke, daß die Verbände klar sagen müssen, daß diese Vorkommnisse nicht zu tolerieren sind und hier auch eine eigene Verantwortung eingestehen, statt immer nur zu sagen: Terrorismus ist nicht Islam. Ansonsten werden sie in große Schwierigkeiten kommen. Denn man wird automatisch - und da dürfen sich die Muslime nicht beschweren, wenn es hier einen buddhistischen Terror gäbe, würde man die Buddhisten unter Pauschalverdacht stellen – wird man automatisch sagen, Muslime sind gefährlich. Das ist ein ganz normaler Mechanismus. Das wäre in der Türkei auch nicht anders, wenn Aleviten Anschläge verüben würden. Ich denke, daß sich die Muslime nicht in erster Linie mit dem Feindbild Islam auseinandersetzen sollten, sondern als zuerst mit dem Islam selbst, der in der Gegenwart oft sehr aggressiv auftritt. Es gibt so viel auf der Welt, was beklagenswert ist, aber echtes gesellschaftliches oder philosophisches Denken heißt für mich prinzipiell Selbstkritik. Das ist unsere Aufgabe. Kulturen waren immer dann stark, wenn sie sich selbst in Frage stellten und Einflüsse von außen selbstbewußt aufnahmen, statt sich zu verkriechen oder sich immer nur zu beklagen. Das Gespräch führte Eren Güvercin.