protagoras - philocom Philosophische Praxis Detlef Staude

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PROTAGORAS:
WEITGEREISTER
PHILOSOPHISCHER
PRAKTIKTER ALS
RHETORIKER,
VERFASSUNGSKUNDLER,
REGIERUNGSBERATER,
LEHRER UND
ANTHROPOLOGE ?
Reflexionen über die Vielfalt
und Internationalität
Philosophischer Praxis
DETLEF STAUDE
Indermühleweg 5, CH – 3018 Bern (Schweiz)
philocom Philosophische Praxis www.philocom.ch
+41 (0)31 534 07 66 Skype: detlefstaude
Präsident des Schweizer Netzwerks für
Philosophische Praxis philopraxis.ch
VORTRAG AM WELTKONGRESS DER PHILOSOPHIE
UND DEM INTERNATIONALEN KONGRESS PHILOSOPHISCHER PRAXIS ATHEN 2013
Detlef Staude, Philosophischer Praktiker (Bern)
und Präsident des Netzwerks für Praktisches Philosophieren, philopraxis.ch (Schweiz)
Protagoras: Weitgereister Philosophischer Praktiker als Rhetoriker,
Verfassungskundler, Regierungsberater, Lehrer und Anthropologe? –
Reflexionen über die Vielfalt und Internationalität Philosophischer Praxis
Philosophische Praxis in ihrer heutigen Form ist im 20. Jahrhundert in der westlichen
Welt entstanden. Sie wurde als solche proklamiert von Gerhard Achenbach und hatte
ähnlich inspirierte Vorläufer in Deutschland, England und den USA. Doch sie hatte, wie
Pierre Hadot und Michel Foucault aufgezeigt haben, auch Vorläufer in der Antike. Die
frühesten finden sich bei den Sophisten, die die intensive philosophische Auseinandersetzung mit dem Menschen und seiner Existenz erst einleiteten. Die philosophischen Ansätze
der Sophisten waren vielfältig, und ihr durch Reisen geweitetes Denken überschritt die
engen Vorstellungen vieler anderer Griechen. Sie können auch für die heutige, international gewordene Philosophische Praxis ein Paradigma darstellen, wenn wir auf ihre Errungenschaften schauen statt ihren Anthropozentrismus und Pragmatismus zu verteufeln.
Die Lebenszeit von Protagoras ist nicht exakt bestimmbar.1 Er lebte während 70 bis 90
Jahren im 5. vorchristlichen Jahrhundert und hat dieses in der griechischen Welt entscheidend mitbestimmt. Er wurde wohl im Jahr 420, 415 oder 411 wegen Asebie, also
Gotteslästerung, verurteilt. Etliche Jahre vor ihm war bereits der ebenfalls mit Perikles
befreundete Anaxagoras deswegen zum Tode bzw. zur Verbannung verurteilt worden,
und wenige Jahre nach ihm fielen auch eine der klügsten Frauen der damaligen griechischen Welt, die ehemalige Gattin des Perikles, Aspasia, und 399 Sokrates dem Asebiegesetz zum Opfer. Athen war für die Philosophie und das freie Denken also nie nur
ein förderliches Pflaster, sondern auch ein gefährlicher Ort. Protagoras soll sich der
Vollstreckung des Urteils entzogen haben, indem er auf einem Schiff floh, so wie es
auch Sokrates hätte machen können. Böswillige Zungen behaupten, das Schiff hätte
dann Schiffbruch erlitten und Protagoras somit doch den Tod gefunden. Dieses Ende
des Sophisten erscheint jedoch konstruiert im Kontrast zum Ende des Sokrates: Hier
der ängstliche „Ausländer“ aus Abdera, der verführerische Redner und flüchtende Feigling, der schließlich in den namenlosen Weiten des Meeres versinkt, dort der standhafte Sucher der Wahrheit, Held und Märtyrer der Philosophie, der das ungerechte Urteil
seiner Vaterstadt Athen annimmt und von eigener Hand stirbt.
PROTAGORAS: Weitgereister Philosophischer Praktiker… Vortrag Athen 2013
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Wahrscheinlich ist es also nur das Ende, das manche sich gern gewünscht hätten. Aber warum? Sokrates und Protagoras waren die Protagonisten der damaligen „ersten
Aufklärung“, des Appells an das kritische Denken und die Selbstsorge in Griechenland,
und beide wirkten in Athen. Protagoras, um einiges älter als Sokrates, genoss großen
Einfluss und Respekt auch bei denen, die seine Ansichten nicht teilten, obwohl oder
gerade weil er zeit seines Lebens ein provokativer Denker gewesen ist.2 Als Redner
war ihm klar, wie viel davon abhängt, dass man seine Argumente geschickt zur Wirkung bringt, damit sie überzeugen. Und so scheute er sich nicht zu behaupten, dass er
dem Argument A und dem gegenteiligen Argument A' zum Sieg verhelfen könne unabhängig von deren Wahrheitsgehalt. Das hört sich nicht so recht nach einem Philosophen an, sondern eher nach einem guten Anwalt. Die Situation vor Gericht war auch
eine, die er im Blick hatte, denn in den griechischen Stadtstaaten konnte es manchem
ansonsten unbescholtenen Bürger leicht passieren, dass er wegen irgendetwas vor ein
Gericht geriet oder einer Volksversammlung Rede und Antwort stehen musste. Hier
und bei jeder öffentlichen Rede war Rhetorik ein wichtiges Werkzeug. Doch Protagoras wäre nicht Protagoras gewesen, wenn er es dabei belassen hätte, seine Schüler rhetorische Künste und Kniffe zu lehren. Ihn beschäftigte die Frage, inwieweit die in der
Antike geläufige Unterscheidung zwischen Wahrheit und Meinung überhaupt begründet war. Auf welche Weise konnte jemand nahelegen, dass die von ihm vertretene Ansicht der Wahrheit entsprach? - Mit guten Gründen. Und wer beurteilte die? - Andere
Menschen. Diese waren jedoch immer durch Rhetorik und auf andere Weise beeinflussbar darin, für wie gut bzw. überzeugend sie die Gründe hielten. Woher also konnte
man wissen, was die Wahrheit war? Worin lag das Maß, mit dem man beurteilen konnte, was auf die infrage stehenden Angelegenheiten zutraf?
Bekanntermaßen hat diese skeptische Argumentation Platon später dazu gebracht,
Erkenntnis als unmittelbare Schau (theoria) zu verstehen, die nur wenigen zuteilwird,
und nicht mehr allein als das Einsehen von Gründen. Protagoras hätte eine solche „Lösung“ des Erkenntnisproblems wahrscheinlich belächelt und Platons hiermit zusammenhängende Vorstellungen eines zwar gut gemeinten, aber totalitär verfassten Staates bedenklich gefunden. Denn aus dem Homo-mensura-Satz3 von Protagoras folgt
auch, dass es immer eine Gemeinschaft von Menschen ist, die über ihre eigene Verfasstheit, über ihre Regeln, darüber, was für sie gilt und was nicht, sich zu einigen hat,
nicht einige einsichtige Philosophen. - Das ergibt sich ebenfalls aus der Verfassung, die
Protagoras für die süditalienische Stadt und athenische Kolonie Thurioi ausgearbeitet
hat: In dieser Verfassung sah er, obwohl das damals in den meisten anderen Städten
nicht der Fall war, die Schulpflicht für alle vor.4 Wenn also die Menschen selbst über
ihre Angelegenheiten entscheiden sollten, wenn es keine höhere Autorität dafür gibt
zu entscheiden, was richtig und was falsch ist, als die es betreffenden Menschen selbst,
so sollten diese auch gebildet und somit nicht leicht verführbar durch Demagogie und
Rhetorik sein.
PROTAGORAS: Weitgereister Philosophischer Praktiker… Vortrag Athen 2013
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Gerade durch sein Wissen um die Verführungskraft der Rhetorik war ihm bewusst, wie
gefährdet der Einzelne und die polis waren, wie geeignet andererseits die Sprache aber
auch war, die in einer bestimmten Situation entscheidenden Punkte hervorzuheben.
Anders als Platon, der die Regierung der polis nur Fachleuten, den Philosophen, anvertrauen will, will Protagoras möglichst viele Menschen bilden und so ihre Urteilsfähigkeit stärken und ihre Verführbarkeit schwächen.5 Anders als Platon, dem es um Erkenntnis und die Gewinnung von Wissen geht, das dieses Expertentum rechtfertigen
kann, versteht Protagoras Bildung als Stärkung des kritischen Urteilsvermögens aller:
Dieser Konflikt ist heute so aktuell wie vor 2500 Jahren. Während seines zweijährigen
Aufenthalts in Thurioi besprach Protagoras sich beim Ausarbeiten der Verfassung sicherlich mit anderen Gelehrten, die während dieser Zeit dort lebten,6 vor allem wohl
mit dem Historiker Herodot und mit Empedokles.
Der Mensch wurde von den antiken Griechen zwar immer als Wesen verstanden, das
dank seiner Vernunft zur Selbstbestimmung und Unabhängigkeit fähig war, aber er
wurde ebenso als polis-Wesen verstanden, als notwendiger Teil einer größeren Gemeinschaft, über deren Struktur und Führung man reflektierte. So bezieht sich auch
der Homo-mensura-Satz über den Einzelnen hinaus auf die Gemeinschaft, die Gesellschaft und die Menschheit und ihre Fähigkeit zu erkennen, zu urteilen und zu entscheiden. Protagoras ist kein Aristokrat der Erkenntnis, der die Mehrheit der Menschen sich mit Schattenbildern begnügen lassen will. Auch ihm wird klar gewesen sein,
dass nicht alle eine Aspasia, ein Perikles, ein Herodot, ein Solon werden können, aber
eine für das eigene Leben und das in der Gemeinschaft so gute Urteilskraft, dass weitestgehend vernünftige Entscheidungen die Folge sind, hoffte er, mit seiner Verfassung
für Thurioi fördern zu können.
Und Protagoras war somit auch nicht, als was uns das sophistisch-rhetorische Tun zuerst erschien: ein guter Anwalt nur für den, der ihn bezahlen konnte. Das hätte seiner
demokratischen Grundüberzeugung widersprochen. Ein Anwalt würde auch nicht freizügig anbieten, seine rhetorischen und gedanklichen Tricks weiter zu vermitteln, um
das Können der Anderen auf diesem Gebiet zu verbessern.
Protagoras war Erkenntnistheoriker und Pragmatiker, denn Zeit seines Lebens, insbesondere natürlich während der Regierungszeit von Perikles, dem er nahe stand, war
Politikberatung für ihn wichtig. Doch Politik brauchte natürlich nicht in erster Linie die
erkenntnistheoretischen Grundüberlegungen, sondern vor allem die praktischen
Schlussfolgerungen daraus, die das politische Handeln kohärent machen konnten – wie
z.B. die Schulpflicht.
Protagoras war in der attischen Gesellschaft einer der ersten, die offiziell ihre Dienstleistung als Berater, Redner und Lehrer anboten. Und er war auch einer der einflussreichsten, nicht nur auf politischem Gebiet. Das Gewerbe derer, die nicht in offiziellen
Institutionen, sondern als Selbstständige, eben dies heute tun, indem sie Kurse anbieten, Firmen, Einzelne oder Institutionen beraten, die Vorträge halten usw., wird auch
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heute noch – wie zu Protagoras' Zeiten – kritisch angeschaut. Im Namen welcher Autorität bieten sie an, was sie anbieten? Wie lässt sich wissen, ob was sie anbieten, auch
gut ist? Wie lässt sich ihre Qualität prüfen? Wie steht es mit ihrer Unabhängigkeit, die
doch für kritische Reflexion und deren Resultate entscheidend ist?
All diesen Fragen müssen auch Philosophische Praktiker sich heute stellen, sei es, dass
diese Fragen ausgesprochen werden oder nicht. Die Philosophische Praxis heute ist
also in vielem in einer ähnlichen Situation wie die Sophistik in der Antike war. Auch
Philosophische Praktiker heute sind in der Mehrzahl auf die Einkünfte aus ihrer Tätigkeit angewiesen und können sich nicht, wie Platon oder Schopenhauer, mit dem Ererbten begnügen.
Philosophische Praxis ist eine Art mittlere Philosophie, so wie die Lösung, die Protagoras für das Problem fand, dass ein Staat möglichst vernünftig geführt werden sollte:
Allgemeinbildung. Philosophische Praxis ist philosophischer Dialog für die Allgemeinheit, ausgehend von der Überzeugung, dass der Mensch ein Wesen mit Vernunft ist
und dass es in seinem Leben viele Situationen gibt, in denen feinfühliges vernünftiges
Herangehen gefordert ist und hilft, ein gutes Leben zu führen. Philosophische Praxis ist
auch Bildung als Stärkung der kritischen Urteilskraft und der gemeinsamen Reflexion.
Die akademische Philosophie als die sozusagen geistesaristokratische Form des Philosophierens hat ihre Berechtigung, aber sie sollte die allgemeinverständliche und lebenspraxisorientierte Philosophie nicht geringschätzen, denn diese Form des Philosophierens ist mit der Philosophie seit ihrer Entstehung eng verbunden.7 Dass sie im 20.
Jahrhundert sozusagen ein eigener Berufszweig geworden ist, hat mit der Tendenz der
Moderne zu immer weiter gehender Arbeitsteilung und Spezialisierung zu tun, die ja
bekanntermaßen an der Philosophie auch sonst nicht spurlos vorüber gegangen ist.
Philosophische Praxis beschäftigt sich also vor allem mit der Reflexion auf existenziell
bedeutsame Fragen und mit lebenspraktischer Orientierung mithilfe eines beratend
begleitenden philosophischen Dialogs, die dem Subjekt helfen, sich und seine Zeit zu
verstehen. All dies findet sich bereits in der damals angemessenen Form bei den Sophisten.
Die Art, wie die Sophisten ihre Bildung vermittelten, ihre Mitmenschen herausforderten, begrifflich klar und rhetorisch überzeugend zu argumentieren und sich so ihrer
Intentionen, des von ihnen vertretenen Sachverhalts und ihres Umfelds bewusst zu
werden, ist klar pragmatisch orientiert: Es ist Philosophische PRAXIS.
Doch wie weit ist, was sie betrieben, philosophisch? - Das wurde immer wieder infrage
gestellt, insbesondere im deutschsprachigen Kulturkreis, wo das Wort „sophistisch“ in
Anlehnung an Platons Abwertung einen klar pejorativen Charakter hat. Interessanterweise ist das beim englischen „sophisticated“ gar nicht der Fall, im Gegenteil: Es ist
klar positiv konnotiert. Wir stoßen hier auf einen grundlegenden Unterschied der angelsächsischen und der deutschsprachigen Geisteskultur: Die deutschsprachige ist
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sehr stark vom deutschen Idealismus und der Romantik beeinflusst. Somit ist dort
immer wieder die sehr produktive Sehnsucht nach dem Edlen, Echten, Wahren zu finden. Und so stellt man sich gerade dort häufig die Frage, was denn nun wirklich z.B.
Philosophische Praxis ist. Das faustische Bemühen, immer zum Kern der Sache selbst
vorzudringen, egal mit welchen Folgen das verbunden ist, kann zu einigem Unverständnis gegenüber anderen Traditionen des Philosophierens führen, nicht nur gegenüber der angelsächsischen. Diese ist, so heißt es wenigstens, in ihren Grundzügen eher
erfahrungsorientiert und pragmatisch.
Aber waren nun die Sophisten nur bezahlte Lehrer von Sachkompetenzen oder waren
sie Philosophen, eben Philosophische Praktiker, um den heutigen Begriff zu gebrauchen? - Sowohl der erkenntnistheoretisch grundlegende Homo-mensura-Satz wie die
Aussage des Protagoras, die Platon überliefert: „Diese Kenntnis (die ich lehre) aber ist
die Klugheit in seinen eigenen Angelegenheiten, wie er sein Hauswesen am besten verwalten, und dann auch in den Angelegenheiten des Staates, wie er am geschicktesten sein
wird, diese sowohl zu führen als auch darüber zu reden.“ 8 weisen darauf hin, dass die
sophistische Reflexion eine sehr grundlegende war, die sich nicht prinzipiell von der
philosophischen unterscheidet, aber einen praktischen Bezug hat. Denn die Klugheit in
eigenen Angelegenheiten setzt Selbsterkenntnis voraus, Verwaltung von oikos und polis setzten in der damaligen Zeit ebenfalls ganz grundsätzliche Überlegungen voraus,
vor allem, da es darum ging, die entsprechenden Konzepte auch überzeugend explizieren und begründen zu können. Sophisten waren also überwiegend Philosophen.
Wenn Protagoras vom „Maß aller Dinge“, das der Mensch ist, spricht, so argumentiert
er für ein lebensweltliches Maß. Im praktischen Sinn relevant ist das an Wahrheit, was
in einer gegebenen Situation bedeutsam ist. Dem entgegen formulierte Wittgenstein in
seinem Tractatus:
„6.53 Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was
sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie
nichts zu tun hat...“
und zuvor:
„6.52 Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. (...)“9
Dies ist die in Jahrhunderten errungene Konsequenz einer Philosophie, die nur auf klare Erkenntnis der Wahrheit und Gewinnung von Wissen aus ist und deren lebenspraktische Bedeutsamkeit vernachlässigt. So jedenfalls würde wohl Protagoras argumentieren, der die Aussichtslosigkeit des Unterfangens einer Philosophie als objektiver
Wahrheitssuche schon damals erkannte: Sie hat den Menschen in ihren existenziellen
Fragen nichts mehr zu sagen und überlässt sie somit den Demagogen, Fundamentalisten und Beeinflussungen des Marktes.
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Protagoras geht es aber um eine lebensweltlich bedeutsame Wahrheit.10 Es geht ihm
sowohl um den Einzelnen wie das Zusammenleben in der polis. Heute liefern uns die
Wissenschaften immer neue Erkenntnisse, die wir als wahr oder zumindest im Sinn
des kritischen Rationalismus als weitestgehend sicher und gut begründet ansehen.
Doch was wir damit bzw. mit den davon abgeleiteten technischen Möglichkeiten machen, damit werden wir allein gelassen. Die Schulausbildung bereitet uns nur unzureichend auf den kritischen Umgang mit all dem Wissen vor, das uns durch Experten
oder Medien vermittelt gegenübertritt, denen wir wiederum ja nur glauben können.
Heute ist die Menschheit zwar im Besitz einer großen Menge an Wissen und der
Mensch verändert durch dieses Wissen ständig seine Lebenswelt, aber die Selbsterkenntnis, politische Einsichten, Sinn fürs Ganze und die Fähigkeiten der Einzelnen
wachsen nicht im erforderlichen Maß mit.
So gesehen, lässt sich der Homo-mensura-Satz auch als Warnung vor dieser zu starken
Selbstbezüglichkeit verstehen, in die eine Gesellschaft verfällt, die die anthropologischen, politischen und ethischen Grundfragen nicht immer wieder reflektiert und die
nicht auch allen die Möglichkeiten eröffnet zu verstehen, worum es dabei geht. Denn
der berühmte Satz: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, sofern sie sind, der
nicht seienden, sofern sie nicht sind.“11 ist eben nicht Ausdruck eines ethischen Relativismus, sondern Aufforderung, dafür, wie wir als Menschen das Seiende gestalten, was
wir gelten lassen und was nicht, die Verantwortung zu übernehmen und uns darüber
gemeinsam klar zu werden. Nichts ist vorgegeben, gottgegeben, naturgegeben, und
gerade deswegen ist kein Fatalismus angesagt, sondern die Bereitschaft, bewusst Teil
dieser das Seiende gestaltenden Menschheit zu sein.
Philosophische Praxis ist eine Antwort auf die Herausforderung, diese „Klugheit in den
eigenen Angelegenheiten“, die Protagoras lehrte und zu denen er auch das Hauswesen
und den Staat rechnete, unserer Situation gemäß auszuweiten auf die Angelegenheiten der Menschheit. Philosophische Praxis unterstützt Menschen in ihrer subjekt- und
gemeinschaftsbildenden Reflexion und trägt dazu bei, starke, urteilsfähige Subjekte
und ein breites kritisches, urteilsfähiges Publikum im kantischen Sinn zu bilden, also
eine sich immer weiter bildende Reflexionsgemeinschaft.
Auch wir Philosophische Praktiker sollten solch ein Publikum, solch eine Reflexionsgemeinschaft werden, und das nicht nur alle zwei Jahre an einem Kongress. Philosophische Praxis sollte uns zur ständigen gemeinsamen Reflexion über Erfahrungen,
Grundsätze, Ideen bringen, und wir sollten selbst ein gutes Beispiel für den Wert von
Philosophischer Praxis sein und zeigen, dass wir einige „Klugheit in den eigenen Angelegenheiten“ auch in Bezug auf uns besitzen. Wir sollten eine virtuelle polis bilden und
uns eine uns angemessene Verfassung und Strukturen geben, so wie es Protagoras,
Empedokles, Herodot und andere es für die Idealstadt Thurioi taten.
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In der Philosophischen Praxis geht es nicht um die Wahrheit, und es gibt keinen richtigen Weg oder einen falschen. Aber es geht um Wahrhaftigkeit und Offenheit, um den
Mut, philosophische Reflexion auf neue Weise in unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft zu tragen, aufzuklären und sich aufklären zu lassen. Und um das Bestreben, einander zu verstehen. Philosophische Praxis ist nicht das Maß aller Dinge, aber sie ermutigt dazu, sich gemeinsam darum zu bemühen.
Hauptquelle für das Leben von Protagoras ist Diogenes Laertius, 9,50 ff. Eine sehr detaillierteDarstellung der gegenwärtigen Forschung kann gefunden werden in: Zilioii, Ugo. 2002. The epistemology of
the sophists: Protagoras. Durham: Durham University. Online edition. Durham E-Theses Online, accessed June 20., 2013: http://etheses.dur.ac.uk/4023/ , 1.1. Life. p. 1-5.
1
s.a. Kranz, Walther. 1941. Die Griechische Philosophie: Zugleich eine Einführung in die Philosophie
überhaupt. Leipzig: Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, 95-110.
2
πάντων χρημάτων μέτρον ἐστὶν ἄνθρωπος; Plat. Tht. 152a, p Emp. math. 7.60 = 80 B 1 DK; Diog.
Laert. 9.51, siehe auch Fussnote 10.
3
Diodorus 12,12,4. Schulpflicht (Lehrergehälter werden vom Staat bezahlt) war unüblich (ausser ansatzweise in Sparta) in Griechenland, aber wurde von Platon in den Nomoi (804d 5-6) übernommen.
4
Siehe auch: Woodruff, Paul. 1999. “Rhetoric and Relativism: Protagoras and Gorgias.” In: The Cambridge Companion to Early Greek Philosophy, edited by A.A. Long, 290-310. Cambridge: Cambridge University Press.
5
6
Ehrenberg, V. 1948. “The foundation of Thurii.” American Journal of Philology 69/2 : 149-70.
Foucault, Michel. 2009. Le courage de la vérité. Le governement de soi et des autres II. Cours au Collège
de France (1983-1984), hrsg. von Alessandro Fontana, Frédéric Gros. Paris: Edition du Seuil é Edition
Gallimard. Dt.: Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesungen am Collège
de France 1983/84“, trans. J. Schröder (Berlin: Suhrkamp, 2010), 6. Vorlesung, 305-308.
7
8
Platon Protagoras 318e - 319a.
Wittgenstein, Ludwig, 1922. Tractatus Logico-philosophicus. London: Kegan Paul. Mit engl. Übers.
von C.K. Ogden; siehe Side-by-Side-by-Side-Edition 0.29: http://people.umass.edu/phil335-klement2/tlp/tlp-ebook.pdf besucht am 17.8.2013.
9
Siehe insbesondere: Schmitz, Hermann. 2007. Der Weg der europäischen Philosophie. vol. 1. Freiburg,
Munich: Karl Alber, 132-138.
10
Schmitz 2007, 134, übersetzt den Homo-mensura Satz so: „Aller Angelegenheiten Maß ist der
Mensch, der stattfindenden, wie sie stattfinden, der nicht stattfindenden, wie sie nicht stattfinden.“
11
PROTAGORAS: Weitgereister Philosophischer Praktiker… Vortrag Athen 2013
Seite 7
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