Executive Summary Soziale Grenzziehungsprozesse von jungen Erwachsenen in Israel Eine qualitative Analyse sozialer Wirklichkeitskonstruktion in Haifa Executive Summary der Masterarbeit, eingereicht bei der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (CH) im Mai 2011 von: Evelin Stettler Heimatort: Eggiwil (BE) [email protected] Betreut durch: Prof. Dr. Monica Budowski, Professorin (Lehrstuhlinhaberin) Prof. Dr. Michael Nollert (assoziierter Professor) Studienbereich „Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit“, Departement Sozialwissenschaften, Universität Fribourg (CH) Inhaltsverzeichnis 1. EINLEITUNG .......................................................................................................... 1 2. THEORIE................................................................................................................ 3 3. FORSCHUNGSSTAND .......................................................................................... 4 4. EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG .......................................................................... 5 5. WICHTIGSTE RESULTATE ................................................................................... 7 6. DISKUSSION DER ERGEBNISSE ........................................................................ 9 7. LITERATURVERZEICHNIS ................................................................................. 12 I 1. Einleitung Im Zuge der Globalisierung werden Grenzen vermehrt zum Thema. Generell assoziiert man mit der Globalisierung den Abbau alter Grenzen, wie Handelsbarrieren und Grenzkontrollen in Europa. Aber es wäre weit gefehlt Globalisierung mit Grenzabbau gleichzusetzen. Auf der ganzen Welt werden beispielsweise neue Grenzsicherungen erstellt: Griechenland plant eine über drei Meter hohe Mauer mit Infrarotkameras und Bewegungsmeldern zur Türkei, der Grenzwall zwischen den USA und Mexiko wird stetig ausgebaut, elektronische Barrieren werden um Saudiarabien und Katar gezogen, Südafrika befestigt seine Grenze gegen Simbabwe, Israel baut seit November 2010 zusätzlich zur existierenden Mauer der besetzten palästinensischen Gebiete einen 260 Kilometer langen Sicherheitszaun an der Grenze zu Ägypten. Diese Grenzsicherungen sollen vor allem vor Flüchtlingsströmen, Schmuggel- und Drogenwaren schützen1. Der Begriff der Grenze hat jedoch nicht nur eine territoriale Dimension. Die Grenzen aus soziologischer Perspektive beziehen sich immer auf eine Interaktion und Wechselwirkungen von Grenzziehenden. Bei sozialen Grenzziehungsprozessen werden einerseits fortwährend Kriterien und Signale für die Identifikation von Mitgliedern oder NichtMitgliedern der eigenen sozialen Gruppe bestimmt. Andererseits werden durch Verhaltensmuster, welche soziale Kontakte steuern, soziale Grenzen täglich neu konstruiert. Der Begriff der sozialen Grenzziehungsprozesse wird im Kapitel 2.2 ausführlich behandelt und theoretisch situiert. Es wurden viele Studien zu Identitäts-Wechseln und Gruppendynamiken in heute stabilisierten Konfliktländern durchgeführt. Jedoch lassen sich nur wenige Forschungsergebnisse zu diesem Thema in noch andauernden Konfliktgebieten finden. „Wir wissen nur wenig über Identifikationsmuster und Formen sozialer Gruppierungen, über Bündnisbildung und deren Auseinanderbrechen und Neuformierung in Konfliktsituationen“ (Schlee 2006:26). Das Ziel dieser Forschungsarbeit ist, einen Beitrag zur Schliessung dieser Forschungslücke zu leisten. Indem die subjektiven Sinnzusammenhänge von Grenzziehenden in einem historischen und gewaltsamen Konflikt analysiert werden, trägt die Arbeit zum besseren Verständnis der Generierung von sozialer Wirklichkeit in einer solchen brisanten Situation bei. Die Erkenntnisse aus der Erforschung dieses Themenbereichs leisten einen Beitrag zum Aufgabengebiet der Sozialarbeit und Sozialpolitik, indem sie Grundlagewissen bereitstellen, welches zur Mitgestaltung von friedlichem Zusammenleben von Bedeutung ist. Der nun schon über ein halbes Jahrhundert dauernde und immer wieder von militärischen Auseinandersetzungen geprägte palästinensisch-israelische Konflikt, bot sich als aktueller und bedeutender Hintergrund für das Forschungsthema an. In den Medien wird laufend über 1 Vgl. NZZ-Artikel „Nachdem 1989 die Mauern fielen, werden jetzt neue gebaut“ vom 9. Januar 2011. 1 die aktuellsten militärischen Auseinandersetzungen oder über neue politische Verhandlungen in Bezug auf den palästinensisch-israelischen Konflikt berichtet. Weniger Aufmerksamkeit der Presse ist auf palästinensische Flüchtlingslager oder die Palästinenser, die unter israelischer Besatzung leben, gerichtet. Makdisi (2008) beschreibt beispielsweise in seinem aktuellen Buch „Palestine Inside Out. An Everyday Occupation“ anhand einer Kombination von persönlichen Geschichten und Analysen aus verschiedenen Quellen anschaulich, wie das alltägliche Leben der Palästinenser, die unter israelischer Besetzung leben, aussieht. Noch weniger Medienaufmerksamkeit wird der grossen palästinensischen Minderheit mit einem israelischen Pass gewidmet. Im Unterschied zu den Palästinensern in den besetzten Gebieten ist diese Minderheit jedoch nicht ‚im Krieg„ mit Israel, sondern sie leben in Israel als Bürgerinnen und Bürger des demokratischen Staates. Durch die Forschungsarbeit wird untersucht, ob die jungen Erwachsenen in Israel soziale Gruppen konstruieren, die den Konfliktparteien entsprechen. Um die Untersuchung durchführen zu können, ist es jedoch nicht möglich, ohne vordefinierte soziale Kategorien zu arbeiten. Diese vordefinierten Kategorien der zwei Konfliktparteien werden bei der Auswahl der Stichprobe verwendet und vorläufig in ‚palästinensische Israelis„ und in ‚nicht palästinensische Israelis„ eingeteilt. Diese Einteilung hatte jedoch auf den späteren Forschungsverlauf keinen Einfluss. Durch verschiedene methodische Instrumente wurde gewährleistet, dass die Interviewten selbst soziale Grenzziehungskriterien auswählten. Vorläufig werden unter ‚palästinensischen Israelis‟ männliche und weibliche Bürger Israels verstanden, welche Nachkommen jener 156'000 Palästinenser sind, die nach dem Krieg 1949 in Israel geblieben sind und dadurch die israelische Bürgerschaft zugesprochen erhielten. Es leben 1,2 Millionen ‚palästinensische Israelis‟ in Israel. Drusen, Beduinen und arabische Juden und Jüdinnen (Sephradim) sind nicht von palästinensischer Herkunft und werden im Folgenden bei der Verwendung des Begriffs ‚palästinensische Israelis‟ nicht eingeschlossen. Die Palästinenserinnen und Palästinenser des Gazastreifens und des Westjordanlandes fallen auch nicht unter den Begriff ‚palästinensische Israelis‟. Palästinensische Israelis machen einen Fünftel der knapp 7,5 Millionen zählenden Bevölkerung Israels aus. Weil gerade in der jüngeren Vergangenheit vermehrt Studien und aktuelle journalistische Publikationen zu den Konfliktgebieten in den palästinensischen Autonomiegebieten innerhalb Israels, dem Gazastreifen und dem Westjordanland sowie den dort lebenden Menschen veröffentlicht wurden, fiel die Wahl des Forschungsfeldes auf israelisches Gebiet. Im Weiteren wurde das Forschungsfeld auf die Stadt Haifa beschränkt. In Israel gibt es Städte mit rein ‚jüdischen‟ und rein ‚palästinensischen‟ Quartieren. Haifa stellt jedoch einen Sonderfall dar und ist somit ein einmaliges Forschungsgebiet. Dort kann es sich die aufstrebende ‚palästinensische‟ Mittelschicht leisten, sich in rein 2 jüdische Quartiere einzumieten, so dass es neben rein ‚palästinensischen‟ und ‚jüdischen‟ Quartieren auch gemischte Wohngebiete gibt (vgl. Rosenthal 2006:303) 2. Theorie Als erstes werden anhand des Konzeptes der Wirklichkeitskonstruktion Fragen nach der alltäglichen Reproduktion von sozialer Ordnung auf der Mikroebene geklärt. Die vorgefundenen wirklichkeitsgenerierenden Konzepte sind jedoch im Hinblick auf eine Operationalisierung noch zu allgemein und zu unpräzise gefasst. Es findet eine Vertiefung der Theorie durch das Konzept der sozialen Grenzziehungsprozesse statt (vgl. Barth 1969). Zusammenfassend lassen sich ‚soziale Grenzen„/‚soziale Grenzziehungsprozesse„2 vorläufig wie folgt definieren: Soziale Grenzen/Soziale Grenzziehungsprozesse organisieren das soziale Leben, indem Gruppenmitglieder ein Set Beurteilungskriterien teilen und bewusst ‚Fremde‟ identifizieren, welche andere Kriterien aufweisen. Die Aufrechterhaltung der sozialen Grenzen findet nicht nur durch Kriterien und Symbole für die Identifikation der Mitglieder oder NichtMitglieder einer bestimmten Gruppe, sondern auch durch Verhaltensmuster, welches inter- und intragruppen Kontakte steuert, statt. Der Fokus liegt auf Beurteilungskriterien von Personen und ihren interpersonellen Interaktionen sowie den Bedeutungen, die sie diesen Interaktionen beimessen und die durch diese Interaktionen konstruiert werden. Es interessiert, wie sich junge Menschen in ihren komplexen Beziehungsnetzen organisieren, welche Beurteilungskriterien sie dabei anwenden und ob ihr soziales Kontaktverhalten ihren eigenen Beurteilungskriterien entspricht. Die Beurteilungskriterien bilden unter anderem Identifikationsprozesse ab: Anhand Differenzierungskriterien werden bewusst Personen ausserhalb der eigenen Gruppe identifiziert. Ähnlichkeitskriterien werden mit den eigenen Gruppenmitgliedern geteilt. Aus diesen Überlegungen lassen sich folgende zwei konkrete Teilforschungsfragen ableiten: Welche subjektiven Grenzziehungskriterien sind für die jungen Menschen in Haifa von Relevanz? Welche Beurteilungskriterien werden für die Organisation der eigenen sozialen Kontakte angewendet? (Forschungsfrage Nr.1) Können anhand der rekonstruierten Grenzziehungsprozesse und -kriterien Sinnstrukturen der Grenzziehenden rekonstruiert werden? Wenn ja, welche Grenzziehungstypologie kann daraus abgeleitet werden? (Forschungsfrage Nr.2) 2 Unter beiden Begriffen wird dasselbe verstanden. Der Begriff ‚soziale Grenzziehungsprozesse„ verweist jedoch klarer darauf, dass soziale Grenzen nicht etwas ‚Gegebenes„ sind, sondern täglich durch soziale Prozesse konstruiert werden müssen. 3 Interessant in Bezug auf den Froschungsgegenstand ist weiter, dass soziale Probleme im konstruktivistischen Sinn immer Formen von Interaktionen sind: „Claims-making is always a from of interaction: a demand made by one party to another that something be done about some putative condition“ (vgl. Spector und Kituse 1987:78). Spector und Kitsuse (1987) grenzen sich davon ab, dass soziale Probleme als eine objektive Gegebenheit existieren. Nach ihnen werden soziale Probleme durch Individuen oder Gruppen wie folgt konstruiert: „Thus, we define social problems as the activities of individuals or groups making assertions of grievances and claims with respect to some putative conditions” (Spector und Kituse 1987:75). Beteiligte konstruieren soziale Probleme, indem sie versuchen auf von ihnen genannte Missstände aufmerksam zu machen, währendem sie sich beispielsweise bei jemandem darüber beschweren. Es interessiert ob die Interviewten während den Grenzziehungsprozesen auch soziale Probleme konstruieren. Konkret lässt sich folgende Frage zur Leitfrage der Forschung ableiten: Inwiefern werden während den Grenzziehungsprozessen soziale Probleme konstruiert? (Forschungfrage Nr.3) 3. Forschungsstand Befunde zu Sozialdynamiken zwischen und innerhalb Gruppen Die Befunde zu Sozialdynamiken zwischen und innerhalb Gruppen können am Erkenntnisgerüst von Elias und Scotson (2002) aufgezeigt werden. Dieses wird von vielen Forscher und Forscherinnen empirisch bestätigt, besonders in Bezug auf den erklärenden Aspekt der Machtverhältnisse. Beispielsweise stellt Vaisely (2007) in einer Analyse von 50 urbanen Gemeinschaften fest, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb von Gruppen einerseits durch strukturelle Mechanismen, wie den herrschenden Machtverhältnissen und der physischen Verteilung innerhalb des Raumes, andererseits durch moralische und kulturelle Mechanismen entsteht. Geteilte moralische Vorstellungen stellten sich als beste Stellvertreter für das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Gruppen heraus (Vaisely 2007:851). Es interessiert, welche Ähnlichkeitskriterien von den jungen Erwachsenen in Haifa in Bezug auf das Zusammengehörigkeitsgefühl genannt werden und inwiefern sie Bezug auf Machtaspekte nehmen. Befunde zu Grenzziehungsprozessen in Konfliktsituationen In Bezug auf den Untersuchungsgegenstand ist wichtig, dass die Frage nach der Grenzziehung in Konfliktsituationen eindeutig untertheoretisiert ist (vgl. Schlee 2006). Weiter sollte beachtet werden, dass Kosten-Nutzten-Kalküle während Grenzziehungsprozessen eine Rolle spielen können. Emotionale Faktoren, die auch einen grossen Einfluss auf die Grenzzie4 hungsprozesse haben könnten und die meist nicht spezifisch analysiert wurden, scheinen eine interessante Lücke bei der Theorieblildung zu sein wie auch Faktoren der ‚Nähe„. Weiter ist in Bezug auf die Fragestellungen der Masterarbeit die Tatsache wichtig, dass traumatische Verletzungen, welche durch Krieg entstehen, anhaltende und tiefgreifende Folgen für die Betroffenen haben können. Unter anderem kann sich durch den Einfluss des Krieges die ethnische Zugehörigkeit einer Person als Hauptkriterium zu deren Bewertung entwickeln. Je grösser der äussere Konflikt, desto grösser die Tendenz, die Identität an der Referenzgruppe auszurichten. Die Tendenz zu individueller Identität scheint grösser, je grösser die externe Stabilität ist. Aus diesen Erkenntnissen wird folgende konkrete Forschungsfrage abgeleitet: Sind Aspekte der Konfliktsituation während den Grenzziehungsprozessen für die Interviewpartner/Innen relevant? Wenn ja, welche und wie? (Forschungsfrage Nr. 4) Befunde zu verschiedenen sozialen Gruppen in Israel und in Haifa Aus dem Forschungsstand konnten folgende Erkenntnisse zur Beziehungen zwischen palästinensischen und nicht-palästinensischen Israelis auf der Mikroebene gefunden werden. Die Ursache der tiefen Kluft zwischen den palästinensichen und nicht-palästinensischen Israelis entstehe durch die Unterscheidung von ‚Palästinensischer und israelischer Identität„ und nicht aufgrund der verschiedenen Religionszugehörigkeiten der beiden Gruppen (Smooha 2004:31). In Bezug auf die Methode sind Ben-Artzis (1996) Untersuchungen zu den räumlichen und demographischen Veränderungen von Haifa spannend. Er analysiert, dass sich die geographische Minderheits-Situation in Haifa immer mehr den Städten aus aller Welt angleicht, in welcher Minderheiten leben: Die Minderheit besiedelt mehr und mehr die Grenzgebiete des Zentrums der Stadt. Ben-Artzi (1996) interpretiert daraus, dass die Haupteinflussfaktoren für das genannte Besiedlungsmuster die ökonomischen Realitäten und die städtischen Dynamiken sind. Diese haben für Ben-Artzi (1996) viel mehr Einfluss auf die Besiedlungsmuster als andere Gründe, wie der politische Konflikt oder kulturelle Faktoren. Es interessiert, ob die Interviewten während Grenzziehungsprozessen Aussagen in Bezug zum Besiedlungsmuster machen, die Ben-Artzi‟s Interpretation bestätigen. 4. Empirische Untersuchung In Israel fanden zwei intensive Erhebungsphasen im Zeitraum von Juni bis August 2009 statt. In der ersten Erhebungsphase wurde nach den Expertengesprächen und dem Kennenlernen des Forschungsfeldes, der geplante Stichprobenplan und der Zugang zu den Interviewpartnern den vorgefunden Umständen angepasst. Die Grundgesamtheit setzt sich aus allen in Haifa lebenden Menschen zusammen, welche zwischen 20 und 45 Jahren alt sind und einen israelischen Pass besitzen. Diese Altersbegrenzung wurde aus pragmatischen Gründen gewählt. Einerseits weil davon ausgegangen wurde, dass diese Altersgruppe der Englischen 5 Sprache mächtig ist. Andererseits konnte ein erster Zugang zu dieser Altersgruppe über die Universitäten von Haifa gefunden werden. Die Kriterien wurden aus dem theoretischen Rahmen abgeleitet: Als erstes Kriterium der Stichprobe wurden je gleichviele Personen aus den beiden Konfliktparteien befragt. Als zweites Kriterium wurden Personen mit verschiedenem sozioökonomischem Status befragt. Als drittes Kriterium wurde das Merkmal der ‚Religion’ und dem Grad der Religiosität innerhalb der beiden Konfliktparteien möglichst heterogen erhoben. Die zusätzlichen Merkmale ‚Geschlecht‟, ‚Migrationshintergrund‟ und ‚Politische Einstellung‟ wurden als ergänzende Merkmale mit geringerer Priorität herangezogen. Aus den genannten Kriterien entstand folgender Stichprobeplan (vgl. Tab. 1). In Klammern steht die Anzahl der geplanten, ohne Klammer die Anzahl der tatsächlich durchgeführten Interviews. Tab. 1: Qualitativer Stichprobeplan Stichprobenplan Palästinensische Israelis Muslime Sozioökonomischer Status: tief 3 (2) Christen 1 (2) 2 (2) 1 (1) Nicht palästinensische Israelis Säkulare 2(2) 3 (2) 1 (1) Religiöse bis Ultraorthodoxe 0 (2) 2 (2) 1 (1) Total: 19 (20) Interviews Sozioökonomischer Status: mittel 2 (2) Sozioökonomischer Status: hoch 1 (1) Es ergab sich ein Feld innerhalb des Stichprobeplans mit zwei geplanten, jedoch keinen durchgeführten Interviews (vgl.Tab. 1). Eine Person dieses Feldes müsste einen tiefen sozioökonomischen Status aufweisen und jüdisch Orthodox oder Ultraorthodox sein. Es hat sich im Verlauf des Erhebungsprozesses herausgestellt, dass Personen mit diesen Kriterien in Haifa gar nicht gefunden werden konnten, sondern das Feld nur aus ‚forschungstheoretischen„ Überlegungen entstanden ist. Dies einerseits, weil die orthodoxen Gemeinschaften und die ultraorthodoxe Gemeinschaft im Quartier Neve Sha‟anan in Haifa angesiedelt sind. Dieses in der Mitte des Berges Carmel liegende Quartier entspricht einem mittleren sozialen Status. Weiter werden diese Gemeinschaften staatlich oder/und von jüdischen Gemeinschaften aus dem Ausland finanziell unterstützt3, so dass auch der ökonomische Aspekt des sozioökonomischen Status dieser Personen nicht tief ist. Für die Herstellung des Gleichgewichts zwischen den Interviewpartner/Innen aus beiden Konfliktparteien, wurde deshalb ein zusätzliches Interview innerhalb der Konfliktpartei zwei geführt. Aus pragmatischen Gründen wurde ein weiteres Interview mit einer säkularen Person durchgeführt, weil sich der Zugang zu ei- 3 Diese Informationen stammen aus dem Expertengespräch mit dem soziologie Professor der Universität Haifa. 6 ner solchen als nicht so schwierig und zeitaufwändig gestaltete.4 Alle weiteren Felder des Stichprobeplans konnten mit mindestens einer Person mit den entsprechenden Kriterien durchgeführt werden. In Bezug auf die Forschungsfrage konnte so die theoretisch relevante Heterogenität im Untersuchungsfeld gewährleistet werden. Zwei weitere geringe Abweichungen der tatsächlich durchgeführten und der geplanten Interview-Anzahl lassen sich durch den sich als schwierig erweisenden Zugang zu Personen mit tiefem sozioökonomischen Status und muslimischen oder christlichem Glauben erklären. Für die Umsetzung des Stichprobeplans wurde ein Erhebungsinstrument zum sozioökonomischen Status der Interviewten erstellt. In der zweiten Erhebungsphase wurden 19 problemzentriert Interviews durchgeführt. Während den Interviews wurden jeweils sozialräumliche Karten erstellt. Anschliessend folgte im Zeitraum von Januar 2010 bis Februar 2011 eine Analyse-Phase, die auf das Hauptziel der vorliegenden Forschungsarbeit des Erklärens und des Verstehens der Grenzziehungsprozesse bei jungen Menschen in Haifa ausgerichtet ist. Eine typenbildende Analyse war in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand optimal, weil durch diese komplexe soziale Realitäten und Sinnzusammenhänge erfasst werden können, die dann anhand der Typen möglichst weitgehend verstanden und erklärt werden (vgl. Z.Bsp. Kelle und Kluge 2002:101). Dazu wurden alle Interviews transkribiert und kodiert. Verschiedene Auswertungen der sozialräumlichen Karten wurden geprüft und durchgeführt, Einzelfallanalysen und kontrastierende Fallanalysen fanden statt. Für die Erstellung der Grenzziehungstypologie wurden durch verschiedene mögliche Überlegungen und den daraus resultierenden Erkenntnisse die definitiven Vergleichsdimensionen Grenzziehungsverhalten anhand des Mobilitätsumfangs und Grenzziehungsbewertung anhand der Wunschquartiere erarbeitet. Anhand dieser Vergleichsdimensionen wurde der Merkmalsraum aufgespannt, analysiert, reduziert und wieder analysiert. Durch den schliesslich definierten Merkmalsraum konnten vier Grenzziehungstypen identifiziert werden. 5. Wichtigste Resultate Es konnten vier Grenzziehungstypen rekonstruiert werden. Diese wurden umfassend anhand ihrer Merkmalskombination und ihren inhaltlichen Sinnzusammenhängen analysiert. In Anlehnung an Lanfranconi (2008) wurde dazu eine Übersichtstabelle erstellt, die das rasche Erkennen der Sinnzusammenhänge zwischen und innerhalb der Grenzziehungstypen ermöglicht (vgl. Kelle und Kluge 1999:91-94). Diese Übersichtstabelle dient gleichzeitig der Kurzpräsentation der identifizierten Typen (vgl. Tab 2). 4 Für einen qualitativen Stichprobeplan ist es wichtig, theoretisch bedeutsame Merkmalskombinationen umfassend zu berücksichtigen (vgl. Kelle und Kluge 1999:53) Der Zugang erwies sich für die säkulare Gruppe, die mit 86% im Vergleich zur religiös bis ulatraorthodoxen Gruppe mit 14% innerhalb dieser Konfliktpartei in Haifa deutlich mehr vertreten ist, als leichter (vgl. Central Bureau of Statistics 2009). In der anderen Konfliktgruppe ist das Verhältnis der Muslime zu den Christen dagegen ausgeglichen (vgl. Central Buerau of Statistics 2009 und Abb. 2). 7 Tab. 2: Sinnzusammenhänge zwischen und innerhalb der Grenzziehungstypen Empirische Fälle Zugehörigkeit zur Konfliktpar5 tei 2x Israelis Mobilitätsumfang Wunschquartiere Sehr klein (600m) Neve Sha‟anan (in der Mitte des Berges Carmel) Ein GrenzziehungsKriterium Religiosität Umfang der Grenzziehungskriterien Typische Grenzziehungskriterien Sozialökonomischer Staus Relevante Merkmale zur Verwandtschaft Relevante Merkmale zum weiteren Beziehungsnetz Nachbarschaftsbeziehung Einstellung zur Konfliktsituation Interkonfliktparteienbeziehungen 5 Religiös Ausschliessende Avi, Adam Kommunenbezogen Beibehaltende Helena, Naha, Manoi, Hassan, Fadel 4x palästinensische Israelis, 1x Israeli Konfliktbezogen Durchlassende Tolerant Vernetzende Lila, Michal, Mhammoud, Itay, Moran 1x palästinensischer Israeli, 4x Israelis Ranja, Wasim, Sabrin, Rica, Amir, Boaz, Yasmin 5x palästinensische Israelis 2x Israelis Mittel (4„200m–12„600m) Quartiere unten am Berg Carmel Mittel (2„400m-13„500m) Quartiere oben am Berg Carmel Mittel bis Gross (5„400m-18„000m) Quartiere in der Mitte des Berges Carmel Ein GrenzziehungsKriterium Kommune (bezogen auf Religiosität oder Ethnie) 3x tief 2x mittel Viele GrenzziehungsKriterien Lebensstil, ‚Gleichheit„, Individualität, etc. 2x tief 4x mittel 1x hoch Wichtig aber kein starkes Kontrollverhalten der Verwandtschaft Kernfamilie relevant, Lose Bez. zur weiteren Verwandtschaft Homogen in Bezug auf die Religiosität Stark kontrolliert, Vorschrift der Heiratspartner, Sicherheitsgefühle Eher kleine, homogen soziale Netzwerke Zwei bis fünf GrenzziehungsKriterien Individualisierend, Konfliktparteientrenner 1x tief 1x mittel 3x hoch Wichtig aber nicht sehr enge Beziehung, kein starkes Kontrollverhalten der Verwandtschaft Eher mittelgrosse, homogene soziale Netzwerke Sehr eng Sehr eng Wenig Bezug Wenig Bezug Nicht relevant Relevant aufgrund Diskriminierungsgefühlen Eher positive Einstellung dem Ausgang des Konflikts gegenüber. Keine, Kontakte den Vorstellungen und Normen der religiösen Kommune entsprechend ‚Aus dem Weg gehen‟, Kontakte den Vorstellungen und Normen der religiösen Kommune entsprechend Sehr relevant, Misstrauen und Angstgefühle, eher negative Einstellung dem Ausgang des Konflikts gegenüber Durchlassendes Verhalten, Individuelle kollegschaftliche Kontakte, aber nicht generalisierend 2x mittel Eher heterogene, grosse soziale Netzwerke Schwierige, enge Freundschaften bis zu romantischen Beziehungen, generalisierend, Kontakte nicht immer den Verwandtschaftsnormen entsprechend Kursiv und nicht fett gedruckt: Merkmale mit Bezug auf die ausgewählten Kriterien der Stichprobe. 8 6. Diskussion der Ergebnisse An dieser Stelle können nicht alle empirischen Erkenntnisse diskutiert werden, sondern es wird nur auf für die Forscherin Überraschendes oder in Bezug auf den Forschungsstand Neues hingewiesen.Es sei darauf hingewiesen, dass sich aus der kleinen Stichprobenzahl von 19 interviewten Personen keine im quantitativen Sinne allgemein gültigen Aussagen machen lassen. Das Ziel der vorliegenden Forschungsarbeit war allerdings nicht Bekanntes durch statistisch repräsentative Analysen zu prüfen, sondern Neues zu entdecken und einen Beitrag zu einer empirisch begründeten Theorie zu leisten. Anhand der identifizierten Grenzziehungstypologie konnte die Komplexität und Vielschichtigkeit verschiedener subjektiver Sichtweisen aufgezeigt werden. Als erstes überraschte die Forscherin die besonders gute Eignung der sozialräumlichen Karten als methodisches Instrument. Es wurde zu Beginn der empirischen Forschung nicht davon ausgegangen, dass den sozialräumlichen Karten innerhalb des gesamten empirischem Forschungsprozesses soviel Bedeutung zukommen würde, schon gar nicht, dass schlussendlich anhand Vergleichsdimensionen, die auf diesen sozialräumlichen Karten basieren, die Grenzziehungstypologie erarbeitet werden konnte. Es handelt sich um die definitiv erarbeiteten Vergleichsdimensionen Grenzziehungsverhalten anhand des Mobilitätsumfangs und Grenzziehungsbewertung anhand der Wunschquartiere. Durch die Vergleichsdimension Grenzziehungsverhalten anhand des Mobilitätsumfangs konnten interessante Befunde zu der durch Schlee (2006) aufgeworfenen und bisher kaum diskutierten Frage der Faktoren der ‚Nähe„, welche während Grenzziehungprozessen spielen, generiert werden. Es wurde festgestellt, dass die rekonstruierten Grenzziehungstypen unterschiedliche Verhaltensmuster innerhalb von Haifa aufweisen. Diese Muster sind durch Faktoren der räumlichen Nähe oder Entfernung geformt. Beispielsweise weist der Religiös Ausschliessende Verhaltensmuster mit dem kleinesten Mobilitätsumfang auf, d.h. sein Verhaltensmuster repräsentiert die grösste räumliche Nähe aller Grenzziehungstypen. Der Tolerante Vernetzende besitzt dagegen den grössten Mobilitätsumfang von allen Grenzziehungstypen, d.h. sein Verhaltensmuster bildet die grösst mögliche räumliche Distanz innerhalb Haifas ab. Zweitens wurde in Bezug auf den Forschungsstand erwartet, dass sich grundsätzlich alle Grenzziehungstypen auf konfliktbezogene Grenzziehungskriterien beziehen werden, weil traumatische Kriegserfahrungen tiefe Verletzungen bei Menschen hinterlassen können, die sich auf Grenzziehungskriterien auswirken. In Bezug auf diese theoretischen Hintergründe ist überraschend, dass nur einer der vier identifizierten Grenzziehungstypen, der konfliktbezogen Durchlassende, Grenzziehungskriterien mit Bezug auf den palästinensischisraelischen Konflikt benennt sowie auf korrespondierende Ängste und Misstrauen verweist. 9 Dennoch pflegt er Kameradschaften mit Personen der jeweils anderen Konfliktpartei. Der gefundene Grenzziehungstypus, der Kommunenbezogen Beibehaltende, konstruiert soziale Grenzen hauptsächlich entlang dem Kriterium der Kommunenzugehörigkeit. Teilweise konstruiert er jedoch soziale Gruppen, die den Konfliktparteigruppen entsprechen, indem er Diskriminierungs-Mechanismen benennt. Der Religiös Ausschliessende grenzt sich innerhalb der jüdischen Konfliktparteigruppe soweit ein, bis die eingeschlossene soziale Gruppe mit seiner religiösen Gemeinschaft übereinstimmt. Der Tolerant Vernetzende konstruiert meist sehr grosse soziale Gruppen, die beide Konfliktparteien einschliessen. Es wäre spannend Erkenntnisse zum Vorkommen dieser Grenzziehungstypen in Haifa generieren zu können, beispielsweise durch eine quantitative Forschungsmethode. Die Erkenntnisse könnten darauf hinweisen, inwiefern ein Handlungsbedarf bezüglich der Ängste und des Misstrauens des Konfliktbezogen Durchlassenden besteht. Drittens überraschen die identifizierten sozialen Probleme. Es wurde nicht davon ausgegangen, dass während den Grenzziehungsprozessen überhaupt soziale Probleme konstruiert werden. Festgestellt wurde jedoch, dass nicht nur während den Grenzziehungsprozessen soziale Probleme konstruiert, sondern auch durch das aktive Konstruieren von sozialen Problemen gleichzeitig soziale Grenzen aufrechterhalten werden. Die rekonstruierten sozialen Probleme beziehen sich immer auf die Grenzziehungsprozesse zwischen den Konfliktparteien. Zwei soziale Probleme wurden sehr häufig benannt: Die Diskriminierung und die Nichtteilnahme beim Militärdienst. Die empirischen Ergebnisse dieser Forschungsarbeit weisen darauf hin, dass das bestehende Schulsystem in Israel als ein möglicher Ursprung der sozialen Probleme angesehen werden kann. Es besteht Handlungs- und Forschungsbedarf in Bezug auf das Schulsystem in Israel, insbesondere sollten die Konsequenzen, die sich aus der Trennung nach Religion und Religiosität ergeben, untersucht werden. Abschliessend kann gesagt werden, dass die identifizierten subjektiven Sinnzusammenhänge von Grenzziehenden während des historischen und gewaltsamen Konflikts zur Schliessung der diesbezüglichen Forschungslücke beitragen. Die gewonnenen Erkenntnisse tragen zum besseren Verständnis der Konstruktion von sozialer Wirklichkeit und Ordnung in dieser brisanten Situation und somit zum Aufgabengebiet der Sozialarbeit und Sozialpolitik zur Mitgestaltung von friedlichem Zusammenleben, bei. Es muss allerdings angemerkt werden, dass nicht alle Fragen zu den sozialen Grenzziehungsprozessen von jungen Erwachsenen in Haifa beantwortet werden konnten. Durch die Forschungsarbeit wurde ein weiteres Feld von Fragen eröffnet. Spezifisch wurde die Mikroebene der Grenzziehungsprozesse analysiert. Diese ist jedoch mit der Meso- und der Makroebene verknüpft. In Bezug auf die Meso- und Makroebene und deren Verknüpfung mit der Mikroebene besteht weiterer Forschungsbedarf, 10 insbesondere in Bezug auf internationale, institutionelle und ökonomische Aspekte der sozialen Grenzziehungsprozesse. Wichtig scheint, dass die empirischen Ergebnisse weiterverfolgt werden, die sich auf die sozialen Probleme beziehen. Dabei sollte besonders beachtet werden, dass sich für den Grenzziehungstypus, den Kommunenbezogen Beibehaltenden, der am häufigsten soziale Probleme nennt, besonders die Kommunenzugehörigkeit als wichtig herausstellte. Nachhaltige Lösungen müssen deshalb mit Bezug auf die jeweiligen Bedürfnisse der Kommunen gefunden werden. 11 7. Literaturverzeichnis Barth, Fredrik (1969). Introduction. In: Barth, Fredrik (Hg.) (1969). Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organisation of Culture Difference. Oslo: Johansen & Nielsen Boktrykkeri. Ben-Artzi, Yossi (1996). Normalization under Conflict? Spatial and Demographic Changes of Arabs in Haifa, 1948-92. Middle Eastern Studies, 32(4), 281-295. Berger, Peter und Thomas Luckmann (2007{1966}). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Fischer Tagebuch Verlag. Blumer, Herbert (1981). Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.) (1981). Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Opladen: Westdeutscher Verlag. Elbedour, Salaman, David Bastien and Bruce Center (1997). Identity Formation in the Shadow of Conflict: Projective Drawings by Palestinian and Israeli Arab Children from the West Bank and Gaza. Journal of Peace Research, 34(2), 217-231. Elias, Norbert und John Scotson (2002). Etablierte und Aussenseiter. Amsterdam: Suhrkamp Verlag. Kelle, Udo und Susann Kluge (1999). Vom Einzelfall zum Typus. Opladen: Leske + Budrich. Lanfranconi, Lucia (2008). Dura Vida?. Eine empirische Analyse der Handlungsstrategien von Haushalten mit Kindern in prekären Lebenslagen in einem städtischen Quartier in Costa Rica. Masterarbeit: Eingereicht bei der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (CH). Makdisi, Saree (2008). Palestine inside out: An everyday occupation. New York: W.W. Norton und Company Ltd. Rosenthal, Donna (2007). Die Israelis. Leben in einem aussergewöhnlichen Land. München: Verlag C.H. Beck. Schlee, Günther (2006). Wie Feindbilder entstehen. Eine Theorie religiöser und ethnischer Konflikte. München: Verlag C.H. Beck. Smooha, Sammy (2004). Arab-Jewish Relations in Israel: A Deeply Divided Society. In: Shapira, Anita (Hg.) (2004). Israeli Identity in Transition. Westport: Praeger Publishers. Spector, Malcom und John Kitsuse (1987 {1977}). Constracting Social Problems. New York: Aldine de Gruyter. Vaisely, Stephen (2007). Structure, Culture, and Community: The search of Belonging in 50 Urban Communes. In: American Sociological Review: American Sociological Association. Witzel, Andreas (2002). Auswertung problemzentrierter Interviews: Grundlagen und Erfahrungen. In: Strobl, Rainer (Hg.)(2002). Wahre Geschichten? Zu Theorie und Praxis qualitativer Interviews. Baden-Baden: Nomos. 12