93.157 Beiheft-Text als

Werbung
Die Musik eines Zauberers
»Angesichts Ihrer Musik sehen wir, Cliquet und ich, uns vor der Musik eines
Zauberers, der der Generation nach uns selbst angehören könnte.«
In einem
Brief des jungen Darius Milhaud vom Frühjahr 1915 an den 25 Jahre älteren Charles
Koechlin findet sich dieser bemerkenswerte Satz. Milhaud, 1892 geboren, war nie
Kompositionsschüler Koechlins, gleichwohl übte das Studium von dessen Musik
einen nachhaltigen Einfluss auf seine eigene Entwicklung aus. Der gegenseitige
Austausch intensivierte sich noch, als Milhaud zusammen mit der Pianistin Jeanne
Herscher-Clément im Mai 1915 Koechlins Sonate op. 53 für Viola und Klavier
uraufführte. In dem bereits zitierten Brief heißt es weiterhin: »Ich möchte diese
Sonate mit einer bestmöglichen Aufführung ganz auf den Punkt bringen. Es ist eine
schwere Verantwortung, eine so wunderbare Komposition, ein solches Meisterwerk
aus der Taufe zu heben. Dank ebenso für Ihre Mélodies [Lieder]. Ich spiele sie die
ganze Zeit. [Le Sommeil de] Canope vor allem – dann La jeune Tarentine,
Amethyste und Sur la Grève. Dies ist, gerade unter dem Aspekt der Harmonik, eine
sehr in die Zukunft weisende Musik. […] Jetzt bin ich sehr begierig, Ihre
Orchesterwerke kennen zu lernen. […]«
Koechlins transparente und damals so neuartige Orchestrierungskunst hat Milhaud
demnach, als er sich verzaubern ließ, noch gar nicht gekannt. Vielmehr war es ganz
offensichtlich die Harmonik Koechlins, die ihn so sehr anzog und die in seiner
eigenen Musik deutliche Spuren hinterließ. Eingebettet in die französischen
Zeitströmungen ging Koechlin auf diesem Gebiet schon in seinen frühen Liedern aus
der Periode zwischen 1890 und 1907 ganz eigene Wege: Sein Bedürfnis, sehr
entfernte Tonarten gegeneinander zu stellen oder überraschend zu verbinden, seine
große Freiheit der Modulation, die Verwendung von Akkorden aus aufgetürmten
Quarten und Quinten, nicht aufgelöste Vorhalte und Dissonanzen, parallel geführte
Nonenakkorde sowie Pedaltöne und -akkorde unter Harmonien weit entfernter
Tonarten. Durch das letztgenannte Verfahren erscheinen in Koechlins Musik bereits
sehr früh deutliche Spuren von Polytonalität, also von Gleichzeitigkeit verschiedener
Tonarten. Koechlin selbst spricht von »Polytonie« und meint damit eine sanfte und
geschmeidige Verkettung unterschiedlicher Tonalitäten. So erschließt er sich neue
Klangwelten, die durch eine für ihn typische, weitgespannte Harmonik
charakterisiert sind. Die frühesten der hier vorgestellten Kompositionen, die Deux
Nocturnes pour flûte, cor et piano op. 32 bis (1897-1907) erscheinen zunächst
ganz unspektakulär. Während das erste Stück »Venise« eher im konventionellen
Rahmen bleibt, wird im zweiten Nocturne »Dans la Forêt« die Tür zu den Räumen
einer nicht mehr grundtonbezogenen Harmonik bereits einen Spalt geöffnet. Die
ausgefallene Besetzung erlaubt Koechlin feinste Farbabstufungen mit der
Möglichkeit, im zweiten Nocturne beispielsweise das gedämpfte Horn mit der Flöte
zu verschmelzen oder nahtlos in diese übergehen zu lassen. Auf diese Weise
entstehen Momente von atmosphärischer Verzauberung und schwebender Balance.
Übrigens erlebten diese beiden Stücke ihre Uraufführung erst 1965, also rund 60
Jahre nach ihrer Entstehung und 15 Jahre nach Koechlins Tod.
Wie insgesamt in der französischen Musik des 19. und des 20. Jahrhunderts spielen
auch in Koechlins Kammermusik die Holzblasinstrumente – und dabei gerade auch
die Flöte – eine herausgehobene Rolle. Koechlin verfügte über gewisse Fertigkeiten
auf der Oboe, dem Horn und dem Klavier, dies jedoch unterhalb hoher
professioneller Ansprüche. Hingegen besaß er schon ganz früh ein intuitives
Einfühlungsvermögen in jede Art von Musikinstrument und eine traumwandlerische
Sicherheit in der spezifischen Verwendung der Instrumente. Seine vierbändige
Orchestrationslehre gilt als eine Art Bibel für die prägnante Instrumentationskunst
des 20. Jahrhunderts. Auch zu der Zeit, als das kompositorische Lebenswerk noch
weitgehend unentdeckt war, erfreute sich sein »Traité de l’orchestration« bereits
einer großen Verbreitung. Zur Charakteristik der Querflöte schreibt Koechlin in dem
1948 veröffentlichten Bändchen »Les Instruments à vent«: »Die Flöte lässt uns
Melodien voller Anmut hören oder auch dramatische Phrasen, die durch
zurückhaltende Kühle und plötzliche Ausbrüche des Timbres noch eindrucksvoller
werden; sie lebt sich aus in funkelnder Pracht oder in verzauberten Arpeggien voller
Ausgelassenheit.«
Ganz in diesem Sinne setzt Koechlin die Flöte in der Sonate pour deux flûtes op.
75 (1918-20) und im dreisätzigen Divertissement pour deux flûtes et
clarinette op. 91 (1923-24) ein. Durch die Verwendung von Quartenfolgen als
Baustein der Melodik werden im Finalsatz der Sonate op. 75 und im zweiten und
dritten Satz des Divertissement die Grenzen von Tonalität immer wieder
überschritten.
Um 1911, mit dem Beginn der Komposition seines ersten Streichquartetts op. 51
und der Sonate für Flöte und Klavier op. 52, beginnt eine intensive
Schaffensperiode, in der Koechlin über die Kammermusik die Fähigkeit zur
ausgedehnten Form für sich entwickelt. Koechlin selbst spricht von »technique du
développement «, seiner Technik der musikalischen Fortspinnung. Bis 1921
komponierte er insgesamt sieben Sonaten für Klavier und je ein Streichoder
Blasinstrument, drei Streichquartette, ein Klavierquintett sowie, neben einigen
Vokalwerken, mehrere Klavierzyklen und anderes mehr. Neben der bereits
erwähnten Sonate für Viola und Klavier entstand auch die dreisätzige Suite en
quatuor op. 55 (1911-15) in dieser Periode. Zunächst als Sonate für Flöte und
Klavier entworfen, erkannte der Komponist schon sehr bald die Notwendigkeit, diese
Besetzung durch Violine und Viola zu erweitern. In einem Kommentar schreibt
Koechlin zu seiner Quartettsuite: »Es ist vor allem der dritte Satz, der durch seine
Rhythmik eine tänzerische Atmosphäre beschwört. Aber man könnte auch für die
ruhigere Musik des ersten und zweiten Satzes langsame Tänze finden; geschmeidige
Bewegung ist angesagt, nicht ›klassischer‹ Tanz, – nichts von Gavotte oder Menuett
oder so ähnlich. Vielmehr denke ich dabei an bestimmte Schulen rhythmischer
Gymnastik oder an Isadora Duncan oder an die ›Ballets Russes‹.«
In einer schwebenden und frei modulierenden Harmonik fließt der erste Satz der
Suite, kein Grundtonanker hemmt seine ruhige und stetige Bewegung. Erst im
allerletzten Takt findet die Musik in einem tiefen ›E‹ mit leerer Obertonquinte zu
ihrem Ziel. Der zweite Satz verwendet ein schon im ersten Satz beiläufig
aufgetauchtes Motiv aus einem absteigenden Tonleitersegment als Ostinato-Thema.
Dieses gleichbleibende Thema, von den vier Instrumenten im Wechsel vorgetragen,
unterliegt dabei permanenter Umfärbung, so wie wenn es jedes Mal aus einem
etwas anderen Blickwinkel betrachtet würde. Gleichzeitig wird es im Verlauf des
Satzes harmonisch immer wieder neu ausgedeutet, aber auch verkürzt und
vergrößert. Dieser kurze Satz zeigt, wie Koechlin aus einem simplen Grundbaustein
eine extrem differenzierte Vielfalt zu zaubern versteht, ein einfaches Stück Musik
und doch ein kleines Wunder. Der letzte Satz der Suite ein schneller Tanz? Man
möchte sich eher ein vielleicht fünfbeiniges Tanzwesen vorstellen, das durch die
dauernde Verschiebung der Betonungen nicht aus dem Tritt geraten kann. Das
Stück mit seiner scheinbar einfachen, volksliedartigen Melodik zieht aus dieser
rhythmischen Irritation seinen besonderen Reiz.
Die in der Zeit bis 1921 gewonnenen Erfahrungen hatten Koechlin die
kompositionstechnische Sicherheit gegeben, die es ihm ermöglichte, seine
Vorstellungen auch in großdimensionierten Stücken zu verwirklichen. Seit der ersten
Lektüre von Rudyard Kiplings zweibändigem Werk »The Jungle Book« zur
Jahreswende 1898/99 hatte er davon geträumt, verschiedene Episoden des
Dschungelbuch-Romans musikalisch umzusetzen. Zurückgreifend auf frühe
Entwürfe, sah er sich erst jetzt in der Lage, die alten Träume zu verwirklichen. Die
Komposition der symphonischen Dichtung »La Course de printemps« op. 95 nach
Kipling beschäftigte Koechlin von 1923 bis 1927. Ab diesem Zeitpunkt unterscheidet
er deutlich zwischen orchestraler und kammermusikalischer Konzeption. Von jetzt
an – und ganz im Gegensatz zu den orchestralen Werken, deren Ausformung sich
immer über Jahre hinzieht – scheint die Kammermusik nun wie zur Erholung und
quasi mit leichter Hand komponiert. Als Beispiel dafür steht das Trio pour flûte,
clarinette et basson op. 92 vom Oktober 1924. Inventionsartig entwickelt sich die
abgeklärte und ausgewogene Dreistimmigkeit der beiden ersten Sätze. Das
Gegenstück zu diesen beiden eher introvertierten Sätzen bildet das Finale. Ein
Fugato- Thema, dessen Länge und Simplizität zunächst überrascht, wird dann im
virtuosen Vexierspiel der drei Instrumente abwechslungsreich kombiniert und
verflochten, eine Virtuosität mit ironischem Augenzwinkern.
Im Juni des Jahres 1933 sah Charles Koechlin zum ersten Mal den Film »Der blaue
Engel« mit Marlene Dietrich und Emil Jannings in den Hauptrollen. Nun war der
»Magicien« selbst wie verzaubert und wurde zum leidenschaftlichen Kinogänger. Die
Filmmusik, die er als zu oberflächlich, oft nichtssagend, banal oder vulgär kritisierte,
konnte ihn allerdings, von Ausnahmen abgesehen, nicht zufrieden stellen. Sie sei im
Film das schwächste Glied und spiele die Rolle der verarmten, missachteten Tante.
Inspiriert durch Filme der frühen 1930er Jahre mit ihren Stars Greta Garbo, Lilian
Harvey, Douglas Fairbanks, Charlie Chaplin sowie Fred Astaire und Ginger Rogers
entstand eine Vielzahl von Werken unterschiedlichster Art: Kompositionen, nicht als
Filmmusik zu einem bestimmten Film geschrieben, sondern durch Filmerlebnisse
ausgelöst. Diese feurige Leidenschaft verflog allerdings im Laufe des Jahres 1939,
nicht zuletzt unter dem Eindruck der bedrohlichen weltpolitischen Lage.
Der frühe Tod von Jean Harlow im Frühsommer 1937 – sie starb 26jährig während
der Dreharbeiten zu »Saratoga« – war für Koechlin der Anlass, der Schauspielerin
die bereits im Februar 1937 skizzierte Romanze für Flöte, Altsaxophon und Klavier
als Épitaphe de Jean Harlow op. 164 zu widmen. Wie schon in den beiden
Nocturnes erlaubt auch hier die Besetzung ein phantasievolles Klangfarbenspiel.
Ähnlich wie Alban Berg liebte Koechlin die sinnliche Geschmeidigkeit des Saxophons
und hat auch in seinen Orchesterwerken die Saxophonfamilie vielfach eingesetzt. In
einem Kommentar zum Épitaphe schreibt er: »Die erste Idee zu diesem kleinen
Stück war nicht für Jean Harlow (die im Februar 1937 noch lebte) bestimmt, aber
dann fand ich, dass diese melodische Linie sie so gut abbildete, und ich zögerte
nicht, ihr das als Epitaph zu dedizieren. Der Klang des Saxophons soll hier die ganze
süße Leichtigkeit des Stars in seiner kalifornischen Umgebung vermitteln.« Eine
Anmerkung im Notentext der Komposition verweist auf eine Doppelzeile des
Gedichts »Épiphanie« von Leconte de Lisle, das Koechlin um 1900 für Sopran und
Klavier bzw. Orchester vertont hatte:
« Quand un souffle furtif glisse
en ses cheveux blonds,
Une cendre ineffable inonde son épaule »
[Wenn ein flüchtiger Hauch ihr goldenes
Haar streift, legt sich unsagbare Asche
auf ihre Schulter]
Tatsächlich begegnet uns an dieser Stelle des Epitaphs ein notengetreues Selbstzitat
aus Koechlins 37 Jahre früher entstandener Mélodie »Épiphanie«.
Als Koechlin nach der durch den Ausbruch des 2. Weltkriegs bedingten Pause gegen
Ende des Jahres 1941 seine Komponiertätigkeit wieder aufnehmen konnte, standen
die Orchesterwerke »Offrande musicale sur le nom de BACH« op. 187, »Le Buisson
ardent« op. 203/171, die 2. Symphonie op. 196 und die große symphonische
Dichtung »Le Docteur Fabricius« op. 202 im Zentrum seiner Arbeit. Die
ungebundene Einstimmigkeit und die modale Polyphonie gewinnen im Spätwerk
Koechlins eine zunehmende Bedeutung. Bereits während der Zeit der sprühenden
Filmkompositionen hatte sich diese ganz anders orientierte Entwicklung mit Stücken
wie der fünfsätzigen Sonatine modale pour flûte et clarinette op. 155a (193637) angekündigt. Koechlin, dessen Reichtum im Erfinden subtiler harmonischer
Verbindungen und filigraner Klänge unerschöpflich war, befriedigt nun mit der
Beschränkung auf die weitgespannte melodische Linie sein Bedürfnis nach
Gegensätzlichkeit. In einem Brief vom 2. August 1945 schrieb er an Darius Milhaud:
»Mehr und mehr fühle ich mich von modaler Musik angezogen. Ich habe eine große
Anzahl von Stücken (drei Reihen von je 32 Stücken) für Flöte solo komponiert, die
in eine überwiegend modale Atmosphäre eingebettet sind. So ganz allgemein
möchte man kaum glauben, welch lebendige und abwechslungsreiche Schönheit
man mit modalen Monodien erreichen kann.« Gelegenheitskomposition und
gleichzeitig ein kleines Juwel ganz eigener Art ist die Pièce de flûte pour lecture à
vue op. 218. Als Prüfungsstück im Fach »Vom-Blatt-Spiel« am 30. Mai 1948 für
das Pariser Conservatoire komponiert, bezaubert diese Komposition von nur zwei
Minuten durch ihre in dichte Harmonik eingebettete Flötenmelodie und durch den
ganz überraschenden Schluss: ein Aufschwung, ein »Ausbruch des Timbres« in dem
Moment, als die bereits sanft zur Ruhe gekommene Musik eigentlich schon das Ende
des Stücks angekündigt hatte.
Ofried Nies
Herunterladen