Pädiatrietage 2011 Neuropädiatrie/Psychiatrie M. Noterdaeme Autismus-Spektrum-Störungen – ein Überblick zum aktuellen Forschungsstand Neuropädiatrie/Psychiatrie Autismus-Spektrum-Störungen – ein Überblick zum aktuellen Forschungsstand Michele Noterdaeme Übersicht Einleitung Klassifikation und Symptomatik Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen Diagnostische Vorgehensweise 1 2 5 8 Einleitung Epidemiologie Ätiologie Therapie Verlauf und Prognose Ausblick 10 11 12 13 14 In seiner 1944 veröffentlichten Habilitationsschrift beschrieb Asperger eine Reihe von Kindern im Alter von Der Begriff „Autismus“ wurde im Jahr 1911 von dem 6 – 11 Jahren, deren gemeinsames Merkmal in einer er- Psychiater Bleuler als medizinischer Fachbegriff ge- heblichen Störung der Beziehung zu anderen Men- prägt und dem Bereich der schizophrenen Erkrankun- schen und im sozialen Kontakt bestand. Es waren fast gen zugeordnet. Nach Bleuler sind autistische Verhal- ausschließlich Jungen betroffen, die meist normal oder tensweisen dadurch gekennzeichnet, dass bei den hoch begabt waren, einige hatten zudem eine Sonder- betreffenden Personen Kontaktschwierigkeiten und begabung. Asperger beschrieb das Auftreten von auf- Rückzugstendenzen sowie Störungen des Realitätsbe- fälligen Persönlichkeiten in den Familien. Auch er ging zugs bestehen. von einer Vererbung aus. „Längst ist die Frage entschieden, dass auch psychopathologische Zustände Im Jahr 1943 berichtete der amerikanische Kinderpsy- konstitutionell verankert und darum auch vererbbar chiater Kanner über 11 Kinder, die deutliche Auffällig- sind, freilich auch, dass es eine eitle Hoffnung ist, einen keiten in der Sprache und der Kommunikation zeigten. klaren einfachen Erbgang aufzuweisen: diese Zustände Diese Kinder hatten auch massive Kontakt- und Bezie- sind ja zweifellos polymer, also an mehrere Erbeinhei- hungsstörungen. „The outstanding, ‚pathognomonic‘ ten gebunden“ [2]. fundamental disorder is the children’s inability to relate themselves in the ordinary way to people and situa- Da Aspergers Arbeit lange ignoriert wurde, orientierte tions from the beginning of life.“ Kanner vermutete, sich die Forschung um das diagnostische Konzept dass es sich um eine angeborene Störung im Bereich „Autismus“ erst einmal an Kanners Arbeit. Die Schwere des affektiven Kontakts handelt. „We must, then, assu- der autistischen Störung ließ zunächst vermuten, dass me that these children have come into the world with es sich um eine sehr früh beginnende Form der Schizo- innate inability to form the usual, biologically provided phrenie handele. Deshalb wurde in der ICD_9 der affective contact with people, just as other children Autismus nahe an den Psychosen klassifiziert. Die Stu- come into the world with innate physical or intellectual dien von Rutter [3] zeigten aber deutlich, dass Autis- handicaps“ [1]. mus eine eigenständige nosologische Entität ist. Diese Feststellung bildete die Basis für die Einführung der Kategorie „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ in der ICD-10 (ICD: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) und im DSM-IV Pädiatrietage 2011 ê DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0030-1256068 1 2 Autismus-Spektrum-Störungen – ein Überblick zum aktuellen Forschungsstand (DSM: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), in dem alle Formen der autistischen Störungen Klassifikation und Symptomatik klassifiziert werden. Die Diagnose einer autistischen Störung beruht auf der 1979 führten Wing und Gould [4] eine epidemiologi- Beschreibung des Verhaltens. Seit der Arbeit von Wing sche Untersuchung durch, in der sie Kinder erfassten, und Gould [4] werden autistische Verhaltensweisen in die ein auffälliges Sozialverhalten zeigten. Sie beschrie- 3 Kernbereiche gegliedert, die oft als klassische Trias ben eine Gruppe von Kindern, die nicht dem typischen bezeichnet werden. Diese Triade ist charakterisiert frühkindlichen Autismus zugerechnet werden konn- durch das Vorhandensein von qualitativen Beeinträch- ten, die aber klinisch so auffällig waren, dass eine psy- tigungen im Bereich der sozialen Interaktion und der chiatrische Diagnose gerechtfertigt erschien. Sie spra- Kommunikation sowie durch eingeschränkte, sich wie- chen von einem autistischen Spektrum. Dies führte derholende und stereotype Verhaltensmuster, Interes- in den Klassifikationen zu der Untergruppe des atypi- sen und Aktivitäten [4]. schen Autismus (ICD-10) und zum „Pervasive Developmental Disorder Not Otherwise Specified“ (PDDNOS; Die Kategorie der tiefgreifenden Entwicklungsstörun- DSM-IV) [5 – 6]. gen umfasst verschiedene Subgruppen (Tab. 1). Entsprechend dem aktuellen Forschungsstand werden der frühkindliche Autismus (F84.0), der atypische Autismus (F84.1), das Asperger-Syndrom (F84.5), die nicht Tabelle 1 näher bezeichnete (F84.9) und sonstige tiefgreifende Klassifikation tiefgreifender Entwicklungsstörungen. Entwicklungsstörungen (F84.8) unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zusammengefasst Tiefgreifende Entwicklungsstörung (TE) und somit von den anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen wie dem Rett-Syndrom (F84.2), der Autismus-SpektrumStörungen (ASS) F84.0 F84.5 F84.1 F84.8 F84.9 frühkindlicher Autismus Asperger-Syndrom atypischer Autismus sonstige tiefgreifende Entwicklungsstörung nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung desintegrativen Störung (F84.3) oder der überaktiven Rett-Syndrom desintegrative Störung überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Stereotypien gestellt. Für die verschiedenen Diagnosen/Subtypen Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien (F84.4) abgegrenzt. Die einzelnen Verhaltensweisen, die zu den 3 Kernbereichen gehören, sind in Tab. 2 – 4 und Abb. 1 – 3 dar- Andere tiefgreifende Entwicklungsstörungen F84.2 F84.3 F84.4 innerhalb des autistischen Spektrums müssen unterschiedliche Schweregrade und Zusammensetzungen von Symptomen aus dem Kernbereich sowie bestimmte Entwicklungsaspekte vorliegen. Der frühkindliche Autismus (F84.0) gilt als Prototyp der ASS, alle anderen Tabelle 2 ASS zeigen wesentliche phänotypische Überschnei- Qualitative Beeinträchtigung in der sozialen Interaktion. dungen mit dem frühkindlichen Autismus; deren Definitionen in der ICD-10 können als Varianten des Unfähigkeit, Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zur Regulation sozialer Interaktionen zu verwenden frühkindlichen Autismus verstanden werden. In der vorläufigen Fassung des DSM-V wird der Begriff „Autismus-Spektrum-Störungen“ offiziell in die Klas- Unfähigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen mit gemeinsamen Interessen, Aktivitäten und Gefühlen Mangel an sozioemotionaler Gegenseitigkeit, die sich in einer Beeinträchtigung oder devianten Reaktion auf die Emotionen anderer äußert; Mangel an Verhaltensmodulation entsprechend dem sozialen Kontext; labile Integration sozialen, emotionalen und kommunikativen Verhaltens Mangel, spontan Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen (z. B. Mangel, anderen Menschen Dinge, die für die Betroffenen von Bedeutung sind, zu zeigen, zu bringen oder zu erklären) Pädiatrietage 2011 sifikation aufgenommen und die Einteilung in die verschiedenen Subtypen aufgelöst. Neuropädiatrie/Psychiatrie Geplante DSM-V-Änderungen Folgende Änderungen werden █ Statt der klassischen Trias werden voraussichtlich im DSM-V vorgenommen 2 Kernbereiche definiert: (Quelle: http://www.dsmr.org): Autismus-Spektrum-Störungen. – qualitative Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation █ zusätzliche Codes für Komorbiditäten (Sprachstörung, Regression, Intelli- █ genzminderung) Schweregradeinteilung ist vorgesehen – repetitive Verhaltensweisen und Zusammengefasst werden: frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, desintegrative Störungen, atypischer █ eingeschränkte Interessen █ Autismus und nicht näher bezeichnete Beginn der Störung: Symptome müssen in der frühen Kindheit vorhanden sein tiefgreifende Entwicklungsstörung Für die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ (F84.0) Tabelle 3 gelten folgenden Kriterien: █ Von den insgesamt 12 aufgelisteten Symptomen der Qualitative Beeinträchtigung der Sprache und der Kommunikation. 3 Kernbereiche müssen mindestens 6 vorhanden sein, davon mindestens 2 aus dem Bereich sozialer Interaktion und mindestens je 1 Symptom aus den Bereichen Sprache/Kommunikation, Stereotypien Verspätung oder vollständige Störung der Entwicklung der gesprochenen Sprache, die nicht begleitet ist durch einen Kompensationsversuch durch Gestik oder Mimik als Alternative zur Kommunikation (vorausgehend fehlendes kommunikatives Geplapper) und Sonderinteressen. █ Eine auffällige und beeinträchtigte Entwicklung (Verzögerung in der Sprachentwicklung, Auffälligkeiten im Spielverhalten) muss bereits vor dem 3. Lebensjahr erkennbar sein. █ Das klinische Erscheinungsbild kann nicht durch an- Relative Unfähigkeit, einen sprachlichen Kontakt zu beginnen oder aufrechtzuerhalten, bei dem es einen gegenseitigen Kommunikationsaustausch mit anderen Personen gibt Stereotype und repetitive Verwendung der Sprache oder idiosynkratischer Gebrauch von Worten oder Phrasen dere psychische Störungen (z. B. Psychosen, elektiver Mutismus, Zwangsstörungen) erklärt werden. Mangel an verschiedenen spontanen Als-ob-Spielen oder sozialen Imitationsspielen Bei der genauen Betrachtung der aufgeführten Merkmale fällt auf, dass die Symptomkonstellation sehr Tabelle 4 unterschiedlich sein kann und somit das klinische Er- Eingeschränkte und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und scheinungsbild von ASS sehr variabel ist: Einige Kinder Aktivitäten. sind sehr zurückgezogen (Abb. 1 a), verwenden kaum aktive Sprache und zeigen viele motorische Stereotypien. Andere Kinder suchen auf eine eigenartige, teilweise distanzlose Art aktiv Kontakt (Abb. 1 c), sind verbal auffällig geschickt, im Ausdruck aber pedantisch, floskelhaft und wenig kommunikativ, sie zeigen Umfassende Beschäftigung mit gewöhnlich mehreren stereotypen und begrenzten Interessen, die in Inhalt und Schwerpunkt abnorm sind; es kann sich aber auch um ein oder mehrere Interessen ungewöhnlicher Intensität und Begrenztheit handeln Zwanghafte Anhänglichkeit an spezifische, nicht funktionale Handlungen oder Rituale zwanghafte Verhaltensweisen oder spezielle Sonderinteressen. Eine dritte Gruppe verhält sich im Kontakt eher passiv (Abb. 1 b). Das Asperger-Syndrom (F84.5) ist, wie der frühkindliche Autismus, gekennzeichnet durch eine Störung der Stereotype und repetitive motorische Manierismen mit Hand- und Fingerschlagen oder Verbiegen oder komplexe Bewegungen des ganzen Körpers Vorherrschende Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht funktionalen Elementen des Spielmaterials (z. B. ihr Geruch, die Oberflächenbeschaffenheit oder das von ihnen hervorgebrachte Geräusch oder Vibration) sozialen Interaktion, durch eingeschränkte, sehr umschriebene Interessen und stereotype Verhaltensweisen. Als obligates Kriterium wird eine normale frühe heitsbild handelt. Nachdem die Evidenz bis jetzt nicht Sprachentwicklung verlangt. Darüber hinaus wird de- für eine valide nosologische Abgrenzung reicht, er- finitorisch festgelegt, dass das adaptive Verhalten und scheint die im DSM-V vorgeschlagene Klassifikation in die Neugierde an der Umgebung in den ersten 3 Jahren einer zusammenfassenden Kategorie „Autismus-Spek- einer normalen Entwicklung entsprechen müssen. Es trum-Störungen“ sinnvoll. wird zurzeit diskutiert, inwieweit es sich beim Asperger-Syndrom tatsächlich um ein eigenständiges Krank- Pädiatrietage 2011 3 4 Autismus-Spektrum-Störungen – ein Überblick zum aktuellen Forschungsstand Abb. 1 a bis c Formen der Kontaktstörung (vgl. Tab. 2). b a c Die diagnostischen Kriterien des atypischen Autismus ten bei Mädchen lässt sich durch eine X-chromosomal (F84.1) entsprechen den Kriterien des Autismus dominante Vererbung erklären, bei der die Mutation im (F84.0), jedoch ist das Manifestationsalter verspätet männlichen Geschlecht (mit nur einem X-Chromosom) (nach dem 3. Lebensjahr) und/oder einer der 3 Kern- in der Regel einen Letalfaktor darstellt. Es kommt zu bereiche bleibt unauffällig. Die Diagnose einer nicht einem Stillstand der bis dahin normalen Entwicklung näher bezeichneten tiefgreifenden Entwicklungsstö- zwischen dem 7. und 24. Lebensmonat und danach zu rung ist ähnlich, aber noch vager definiert. In der Regel zunehmendem Verlust des Handgebrauchs, der Spra- wird diese Diagnose vergeben, wenn Auffälligkeiten in che und der Lokomotion. Die mit abnehmender Hand- der sozialen Interaktion vorliegen und die Kriterien für funktion klassischerweise in Erscheinung tretenden einen der beiden anderen Bereiche erfüllt sind. reibenden, wringenden Handbewegungen und ein fast zwanghaft erscheinendes, stereotypes Lutschen oder Das Rett-Syndrom kommt fast ausschließlich bei Mäd- Beißen an den Händen, sobald die Arme nicht zur chen vor. Die Inzidenz wird mit 1 : 10 000 bis 1 : 15 000 Stützfunktion eingesetzt werden oder der Mund nicht angegeben, ist aufgrund der Varianz des klinischen mit Schnuller besetzt ist, geben diesem Verhalten einen Phänotyps jedoch möglicherweise höher zu vermuten. charakteristischen, fast syndromspezifischen Wieder- Ursache des Rett-Syndroms sind Mutationen und Dele- erkennungswert. tionen im MECP2-Gen (Methyl-CpG-binding Protein 2), das auf dem Langarm des X-Chromosoms in Position q28 lokalisiert ist. Das nahezu ausschließliche AuftreAbb. 2 a und b Das Kind spricht unablässig über ein Thema, es entsteht keine aufeinander bezogene Kommunikation (vgl. Tab. 3). … der größte Dino der Welt ist der Argentinosaurus. Er wurde in Argentinien entdeckt, wie der Name schon sagt … a Pädiatrietage 2011 ?! b Neuropädiatrie/Psychiatrie chromosomale Erkrankungen und das gleichzeitige Vorliegen von psychiatrischen Symptomen, die nicht zur Kernproblematik der autistischen Störungen gehören (z. B. hyperkinetische Symptome, Angststörungen, depressive Verstimmungen). Die wichtigsten Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen sind in Tab. 5 zusammengefasst [24]. Die Komorbidität zwischen Autismus und einer Intelligenzminderung ist gut dokumentiert. Ging man früher davon aus, dass bei mindestens 80 % aller Personen mit einer autistischen Störung ebenfalls eine Intela b Abb. 3 a und b Das Kind zeigt bizarre Verhaltensweisen (a) und bewegt Gegenstände stereotyp (z. B. Drehen wie ein Kreisel) (b) (vgl. Tab. 4). ligenzminderung vorlag, liegen bei neueren Untersuchungen die durchschnittlichen Angaben bei etwa 50 % [8]. Allgemein wird angenommen, dass zwischen 5 und 10 % der Kinder mit ASS und einer zusätzlichen Intelli- Die anderen desintegrativen Störungen des Kindes- genzminderung an einem bekannten genetischen alters sind gekennzeichnet durch eine Phase einer ein- Syndrom erkrankt sind. Man spricht dann von einem deutig normalen Entwicklung bis zum 3. Lebensjahr, „syndromalen Autismus“. Zu den bekanntesten mono- gefolgt von einem relativ schnellen Abbau der erwor- gen vererbten Syndromen, die im Zusammenhang mit benen Fähigkeiten in der Sprache, im Spiel, im sozialen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen erwähnt wer- Kontakt und in lebenspraktischen Fertigkeiten. Das den, zählen die tuberöse Sklerose, das Fragile-X-Syn- klinische Bild ähnelt später dem des frühkindlichen drom, und das Smith-Lemli-Opitz-Syndrom. Andere zu Autismus in Kombination mit einer schweren geistigen erwägende bekannte Syndrome sind durch Mikrodele- Behinderung. tionen/-duplikationen bedingt und in ihrem klinischen Bild etwas heterogener, da nicht nur ein Gen betroffen Die überaktive Störung mit Intelligenzminderung ist: Mikrodeletion 22q11.2, Phelan-McDermid-Syn- und Bewegungsstereotypien wird bereits in der drom (del 22q13), Angelman-Syndrom, Prader-Willi- ICD-10 als eine schlecht definierte Störung mit frag- Syndrom (del 15q11 – 13), Smith-Magenis-Syndrom licher Validität beschrieben. Es handelt sich um Patien- (del 17p11.2) und das Potocki-Lupski-Syndrom ten mit einer schweren Intelligenzminderung (IQ < 35), (dup17p11.2). Die Häufigkeit des Auftretens dieser einer ausgeprägten Hyperaktivität und Aufmerksam- Syndrome innerhalb des autistischen Spektrums ist keitsstörungen. eher gering [9]. Definition der ASS Variabilität der ASS ASS werden als komplexe, neurobiologisch bedingte Die große phänotypische Variabilität der ASS ist un- Entwicklungsstörungen definiert. zureichend bekannt und mitverantwortlich für eine verzögerte Früherkennung. Das Vorliegen einer ASS sollte als ein Risikofaktor für Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen das Vorhandensein von weiteren Erkrankungen oder Störungsbildern gewertet werden. Verschiedene Studien haben nachgewiesen, dass bei ASS eine höhere Rate an Epilepsien anzutreffen ist. Je nach Untersuchung liegen die Häufigkeitsangaben Neben der Kernsymptomatik zeigen Personen mit ASS zwischen 11 und 39 %. In Studien, die auch Personen häufig eine große Zahl verschiedener Begleitsympto- mit einer schwereren Form der Intelligenzminderung me. Zu den häufigsten Komorbiditäten gehören weitere und/oder mit zusätzlichen körperlichen Erkrankungen Entwicklungsstörungen (z. B. motorische Störungen, oder Syndromen einschließen, liegen die Häufigkeits- Sprachstörungen, Intelligenzminderungen), neurologi- angaben höher als in Studien, die vor allem Personen sche (z. B. Epilepsien), somatische und genetische/ mit einem hochfunktionalen Autismus untersuchen. Pädiatrietage 2011 5 6 Autismus-Spektrum-Störungen – ein Überblick zum aktuellen Forschungsstand Tabelle 5 Komorbidität und Differenzialdiagnose im Überblick. Alter Komorbidität Differenzialdiagnose Vorschulalter Schlaf- und Essstörungen, Regulationsstörungen, allgemeine Unruhe Bindungsstörungen allgemeine Entwicklungsverzögerung (Sprache, Motorik, Spiel) i. S. einer Intelligenzminderung Intelligenzminderung ohne ASS, genetisch-somatische Erkrankungen Intelligenzminderung mit spezifischen neurologischen Symptomen oder genetischen Syndromen (Epilepsie, Zerebralparese, FragilesX-Syndrom, tuberöse Sklerose, Makro- oder Mikrozephalie) spezifische genetische Syndrome ohne ASS, Epilepsiesyndrome ohne ASS, Sinnesbeeinträchtigungen (v. a. Höroder Sehstörungen) Regression desintegrative Störung, Rett-Syndrom, neurologische Erkrankungen, Landau-Kleffner-Syndrom autoaggressives, aggressives Verhalten, Aufmerksamkeitsstörungen oppositionelle Störung, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung), Intelligenzminderung Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen, oppositionelles Verhalten ADHS, Störung des Sozialverhaltens, Mutismus Lernstörungen umschriebene Sprachentwicklungsstörung, Intelligenzminderung/Lernbehinderung Ticstörungen Tourette-Syndrom Ängste, Depression oder Zwänge, Essstörungen Angststörung, Phobien, Zwangsstörung, Anorexia nervosa, Persönlichkeitsstörungen akute Belastungsreaktionen bei jahrelang bestehender kognitiver/ sozialer Überforderung (schizophrene) Psychosen, psychotische Episoden, bipolare Störungen Schulalter Jugendalter/ Erwachsenalter Bezüglich des Manifestationsalters lässt sich eine bi- Kinder mit einer ASS und einer durchschnittlichen modale Verteilung nachweisen. Der 1. Manifestations- Intelligenz können eine Vielzahl von komorbiden psy- gipfel liegt zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr, der 2. chopathologischen Symptomen/Syndromen zeigen, oberhalb des 10. Lebensjahres [10]. die ihren Entwicklungsverlauf beeinträchtigen. Im Grundschulalter gehören die typischen Kernsymptome Die Komorbidität zwischen Autismus und Epilepsie hat einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstö- sehr früh zur Postulierung der biologischen Grundlage rung (Aufmerksamkeitsdefizite, motorische Unruhe, der ASS geführt. Bis heute gibt es aber keine über- Impulsivität) zu den am häufigsten erwähnten Begleit- zeugende Evidenz, dass epileptische Syndrome oder symptomen einer autistischen Störung. Eine aktuelle pathologische EEG-Veränderungen ein wesentlicher Übersichtsarbeit zeigt, dass mindestens 30 – 80 % der ursächlicher Faktor in der Entstehung der ASS sind. Kinder mit ASS die Kriterien einer ADHD (Attention Generell wird angenommen, dass die Assoziation zwi- Deficit Hyperactivity Disorder) erfüllen [11]. schen Autismus und Epilepsie indirekt über die zugrunde liegende, gemeinsame Ätiologie der beiden Krankheitsbilder vermittelt wird. Der idiopathische Autismus ist eine komplexe Entwicklungsstörung des ASS und ADHD Kinder mit der Diagnose ASS oder ADHD sollten sys- Zentralnervensystems, deren Ursache durch geneti- tematisch auf das Vorliegen einer Doppeldiagnose sche Faktoren bedingt wird, die ebenfalls in der Genese „ASS und ADHD“ untersucht werden. von Epilepsiesyndromen von Bedeutung sein könnten. Pädiatrietage 2011 Neuropädiatrie/Psychiatrie Insbesondere in der Adoleszenz und im frühen Er- halten auf. Wenn die Sinnesbeeinträchtigung im Rah- wachsenenalter ist die Depression vor allem beim men einer Mehrfachbehinderung (zusätzliche geistige Asperger-Syndrom eine bedeutende Komorbidität. In und/oder körperliche Behinderung) auftritt, können dieser Zeit nimmt der Vergleich mit anderen Jugend- auch vermehrt stereotype Bewegungsmuster und ge- lichen zu, die Identitätssuche setzt ein, die psycho- legentlich autoaggressive Verhaltensweisen das Er- sexuelle Entwicklung beginnt, was häufig zu Krisen scheinungsbild prägen. Durch genaue Sinnesprüfungen führt. Der Jugendliche mit einem Asperger-Syndrom mit subjektiven und vor allem objektiven Verfahren wird sich seiner Andersartigkeit bewusst, der Wunsch lassen sich Sinnesbeeinträchtigungen meist problem- nach sozialem Kontakt und die Anzahl der damit zu- los von ASS abgrenzen. sammenhängenden Frustrationen steigen. Die Anzahl der Depressionen und Angststörungen nimmt zu, auch Kinder mit umschriebenen Sprachentwicklungsstö- die Suizidgefahr steigt in dieser Zeit. Die typischen rungen sind in einem hohen Prozentsatz auch in ihrem Symptome einer Depression finden sich in einer deut- Verhalten auffällig. Speziell die rezeptiven Sprachent- lich veränderten Stimmungslage, Selbstabwertung, wicklungsstörungen können zu Problemen in der Dif- reduziertem Appetit, Schlafstörungen, einer Zunahme ferenzialdiagnose führen, da die betroffenen Kinder von zwanghaftem Verhalten [12]. häufig ein repetitives Spiel und zwanghafte Verhaltensweisen zeigen. Die kommunikativen Fähigkeiten In den letzten Jahren hat das Auftreten von bipolaren sind aufgrund der schweren Sprachstörung oft sehr Störungen in der frühen Kindheit und im Jugendalter eingeschränkt, jedoch durch nonverbale Kommunika- mehr Aufmerksamkeit bekommen. Einige Studien tionsmittel (Gestik, Mimik) kompensiert. untersuchen gezielt die Häufigkeit von affektiven Störungen bei Menschen mit ASS. In einer Studie an Stark vernachlässigte, misshandelte oder deprivierte 44 Menschen mit einer autistischen Störung wurde bei Kinder können im Querschnittsbild autistischen Kin- 36,4 % der Probanden eine affektive Störung diagnosti- dern sehr ähnlich sein. Hier muss die Vorgeschichte zur ziert. Bei 4 Probanden wurde eine depressive Störung Klärung der Diagnose beitragen. Meist tritt bei diesen festgestellt und bei 12 Patienten eine bipolare Störung. Kindern eine deutliche Veränderung der Interaktion Die Autoren stellen die Hypothese auf, dass eine ver- unter entsprechender Förderung und adäquatem Be- gleichbare genetische Vulnerabilität in der Ätiopatho- ziehungsaufbau ein. genese von autistischen Störungen und bipolaren Störungen eine Rolle spielen könnte [13]. Ängstliche, zurückgezogene, mutistische, gehemmte oder zwanghafte Kinder können, besonders in der Gruppe, in ihrem sozialen Verhalten an autistische Verhaltensmerkmale der ASS Kinder erinnern. Die Vorgeschichte, das Verhalten in anderen Situationen, insbesondere auch in der Familie, Kein Verhaltensmerkmal ist pathognomonisch für ASS, jedes Symptom kann auch in annähernd vergleichbarer Form bei anderen kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern vorliegen. und das Ansprechen auf eine Behandlung sind für die diagnostische Abgrenzung wichtige Faktoren. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit guter kognitiver Entwicklung kann die differentialdiagnosti- Im Vorschulalter müssen ASS differentialdiagnostisch sche Abgrenzung zwischen einem Asperger-Syndrom vor allem von sensorischen Beeinträchtigungen (Hör- und einer Persönlichkeitsstörung schwierig sein. Ge- und Sehstörungen), Sprachentwicklungsstörungen und mäß der ICD-10 wird eine Persönlichkeitsstörung (F60) Intelligenzminderungen ohne ASS abgegrenzt werden. diagnostiziert, wenn bei einem Individuum rigide und wenig angepasste Verhaltensweisen vorliegen, die eine Kinder mit Seh- oder Hörbeeinträchtigungen zeigen hohe zeitliche Stabilität aufweisen, situationsübergrei- vereinzelt Verhaltensweisen, die dem Verhalten autis- fend auftreten und zu persönlichem Leid und/oder ge- tischer Kinder ähneln. Bei Personen mit Sehbehinde- störter sozialer Funktionsfähigkeit führen. Sie beginnen rung können der fehlende Blickkontakt, das distanzlose in der Kindheit und Jugend, nehmen eine lebenslange Kontaktverhalten sowie ein besonderes Interesse an Entwicklung und manifestieren sich in typischer Form akustischen oder sensorischen Reizen an eine ASS auf Dauer im Jugendalter und frühen Erwachsenenal- denken lassen. Bei hörbeeinträchtigten Personen fallen ter. Laut ICD-10 ist die Diagnose einer Persönlichkeits- vor allem Sprachentwicklungsstörungen sowie eine störung vor Abschluss der Pubertät wahrscheinlich fehlende Reaktion auf Ansprache oder Rückzugsver- unangemessen. Wichtigstes Instrument ist die früh- Pädiatrietage 2011 7 8 Autismus-Spektrum-Störungen – ein Überblick zum aktuellen Forschungsstand kindliche Anamnese, in der sich die typische Verhal- den. Ebenso können bestimmte Probleme aggraviert tenskonstellation des Asperger-Syndroms abbildet. oder dissimuliert werden. Meist fehlt bei den Persönlichkeitsstörungen die qualitative Beeinträchtigung der sozialen Kommunikation. █ Fragebogen bis zu 36. Lebensmonat Die Modified Checklist for Autism in Toddlers (M-CHAT) ist ein Fragebogen, bestehend aus 23 Ja/Nein- Diagnostische Vorgehensweise Fragen zur Früherkennung von ASS im Alter von 24 Monaten. Es gibt keine direkte Beobachtung des Kindes in Trotz des frühen Beginns von ASS wird die Diagnose der Untersuchungssituation. Die Spezifität (Anzahl der leider deutlich verspätet gestellt. Bei frühkindlichen richtig erkannten gesunden Kinder) (99 %) und die Sen- autistischen Störungen vom Kanner-Typ (frühkind- sitivität (Anzahl der richtig erkannten Kinder mit ASS) licher Autismus mit deutlicher Entwicklungsverzöge- (97 %) für die untersuchten Stichproben sind gut. Ent- rung) wird die Diagnose meist um das 6. Lebensjahr, sprechend kann der Fragebogen als Screeninginstru- bei autistischen Störungen ohne Entwicklungsverzö- ment in Praxen eingesetzt werden [15]. Folgt man den gerung (sog. hochfunktionalen autistischen Störungen, Ergebnissen der verschiedenen Studien zur M-CHAT, wie z. B. dem Asperger-Syndrom) wird die Diagnose ergibt sich eine Liste von 6 Symptomen, die als Warn- noch später gestellt, um das 12. Lebensjahr [14]. signale für das Vorliegen einer Störung aus dem autistischen Spektrum zu werten sind. Wenn mindestens 2 Die diagnostische Einschätzung im frühen Alter ist ein Symptome dieser Liste auffällig sind, sollte eine genaue komplexer Prozess, der meist in mehreren Schritten diagnostische Einschätzung vorgenommen werden stattfindet. Die in Tab. 6 zusammengefasste Vorge- (Tab. 7). Die M-CHAT und die Anleitung zur Anwendung hensweise macht deutlich, dass es sich um einen zeit- können auf der Homepage der kinder- und jugendpsy- intensiven und sehr differenzierten Prozess handelt. Es chiatrischen Klinik der Universität Frankfurt abgerufen gibt keinen „Labortest“ für den frühkindlichen Autis- werden (http://www.klinik.uni-frankfurt.de/zpsy/ mus. Im Rahmen der Abklärung nehmen neben allge- kinderpsychiatrie/Downloads/M-CHAT_dt.pdf). meinen Verfahren die autismusspezifischen Verfahren eine zentrale Rolle ein. █ Fragebogen für ältere Kinder Einer der am meisten verwendeten Fragebogen ist der Wenn Eltern wegen Auffälligkeiten beunruhigt sind, Fragebogen zur Sozialen Kommunikation (FSK), der ist die erste Anlaufstelle der Kinderarzt. Dort wird für Kinder ab dem 36. Lebensmonat eingesetzt werden aufgrund der Schilderungen der Eltern und durch kann. Der FSK-Fragebogen ist aus dem ADI-R (Autism Beobachtung des Kindes der erste Verdacht auf eine Diagnostic Interview-Revised) abgeleitet und besteht ASS formuliert und mit den Eltern besprochen. Der aus 40 Items, die von den engsten Bezugspersonen des 2. Schritt besteht in einer Vorstellung des Kindes bei Kindes bewertet werden müssen. Die Durchführung spezialisierten Zentren mit dem Ziel, eine umfassende des FSK dauert etwa 20 Minuten. Das Itemformat ist Diagnostik zu veranlassen. binär („ja/nein“). Die Interpretation des FSK hinsichtlich des Vorliegens einer Störung aus dem autistischen Spektrum wird auf der Basis des Summenwerts Fragebögen als Screeninginstrument der „Lebenszeit“-Fassung vorgenommen. Wird der Schwellenwert von 15 erreicht, ist eine Störung aus Fragebogenverfahren haben den Vorteil, dass in kurzer dem Spektrum wahrscheinlich, wird der Schwellen- Zeit ohne großen Zeitaufwand auf standardisierte wert 16 erreicht, so ist die Diagnose „frühkindlicher Weise viel Information über ein Kind gewonnen wer- Autismus“ im engeren Sinne wahrscheinlich und eine den kann. Es besteht aber die Gefahr, dass Fragen sei- weiterführende Diagnostik indiziert [16]. tens der Eltern falsch oder gar nicht verstanden werDie Marburger Beurteilungsskala zum Asperger- Einsatz von Fragebögen Syndrom (MBAS) ist ein Fragebogen für Personen Fragebögen dienen primär als Screeninginstrument, zwischen 6 und 24 Jahren mit durchschnittlichen zum Generieren von Verdachtsdiagnosen. Eine um- kognitiven Fähigkeiten. Der Bogen besteht aus 57 Be- fassende Diagnostik anhand von Elterninterviews schreibungen, die auf einer 5-stufigen Skala von einer und Beobachtungsskalen kann durch Fragebögen keineswegs ersetzt werden. Bezugsperson eingeschätzt werden sollen (von „niemals“ bis zu „immer“). Es gibt 37 Verhaltensbeschreibungen für das aktuelle Verhalten, 14 Verhaltensbe- Pädiatrietage 2011 Neuropädiatrie/Psychiatrie Tabelle 6 Diagnostische Bausteine bei ASS. Angaben von Eltern bzw. engsten Bezugspersonen Alter bei Beginn der Probleme frühe Entwicklungsgeschichte (Kleinkindzeit, Kindergartenzeit) aktuelle Entwicklungen Angaben von Kindergarten, Tagestätte, Schule etc. im Hinblick auf Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation und im Verhalten Familienanamnese, insbesondere das Vorhandensein von Entwicklungsstörungen, Intelligenzminderungen, psychiatrischen Störungen medizinische Anamnese Beobachtung/psychiatrische Evaluation Kernsymptomatik, insbesondere die Art der sozialen Probleme (aloof, passiv oder odd), Vorhandensein von ängstlich-zwanghaftem Verhalten (ADOS-G, ADI-R, SRS, FSK, MBAS) zusätzliche psychiatrische Probleme, insbesondere Aufmerksamkeitsprobleme, Aggressivität, selbstverletzendes Verhalten oder Angst und Depression im Jugendalter regelmäßige psychiatrische Follow-ups nach der Initialdiagnose Neuropsychologische Evaluation Intelligenzniveau, Profil (Anwendung von mehrdimensionalen Verfahren) Sprache und Kommunikation Sprachentwicklung auf lexikalischer und syntaktischer Ebene, expressiv und rezeptiv █ Sprachentwicklung auf pragmatischer Ebene (Verstehen von Turntaking im Gespräch, später Verstehen von Witz, Humor und Ironie, Doppelbedeutungen etc.) █ Theory of Mind (Erkennen von Mimik und Emotionen, soziale Situationen) Exekutivfunktionen (Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit, Handlungsplanung) zentrale Kohärenz adaptives Verhalten, Funktionsniveau im Alltag Medizinische Evaluation Ausschluss von Hör- und Sehstörungen Stoffwechselscreening entwicklungsneurologische und körperliche Untersuchung EEG (Schlafableitung), evtl. CCT/MRI genetisches Konsil (z. B. Fragiles-X-, Rett-, Angelman-Syndrom, tuberöse Sklerose o. ä.) ADOS-G: Autism Diagnostic Observation Schedule-Generic; ADI-R: Autism Diagnostic Interview-Revised; SRS: Social Responsiveness Scale; FSK: Fragebogen zur Sozialen Kommunikation; MBAS: Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom Pädiatrietage 2011 9 10 Autismus-Spektrum-Störungen – ein Überblick zum aktuellen Forschungsstand Autismus, nicht näher bezeichnete tiefgreifende Ent- Tabelle 7 wicklungsstörung) [18]. Warnsignale für eine ASS. 1. Das Kind zeigt kein Interesse an anderen Kindern. 2. Das Kind benutzt den Zeigefinger nicht, um auf etwas zu zeigen oder um Interesse für etwas zu bekunden (kein protodeklaratives Zeigen). 3. Das Kind bringt keine Gegenstände, um sie den Eltern zu zeigen. 4. Das Kind imitiert die Eltern nicht (z. B. bei Grimassen schneiden). 5. Das Kind reagiert nicht auf seinen Namen, wenn die Eltern es rufen. 6. Das Kind schaut nicht hin, wenn die Eltern auf ein Spielzeug am anderen Ende des Zimmers zeigen. Diagnostikinstrumente Als Goldstandards in der Diagnostik von ASS gelten das Autism Diagnostic Interview-Revised (ADI-R) und Autism Diagnostic Oberservation Schedule-Generic (ADOS-G) [19, 20]. Das ADI-R ist ein standardisiertes, halbstrukturiertes untersuchergeleitetes Interview, basierend auf Angaben der Eltern bzw. der engsten Bezugsperson des Kindes. Das Interview dauert etwa 2 – 3 Stunden. Dabei werden für den Autismus typische Verhaltensweisen im Laufe der Entwicklung erfragt. Anhand der verschiedenen Fragen wird am Schluss des Interviews mithilfe eines Algorithmus eine Summe für schreibungen für das 4. – 5. Lebensjahr und 6 Fragen die 3 Verhaltensbereiche „soziale Interaktion“, „Kom- zu Sprachbeginn und sprachlichen Auffälligkeiten. Die munikation“ und „repetitives Verhalten“ gebildet. Bei einschätzende Bezugsperson sollte nach Möglichkeit Überschreiten eines Grenzwerts in allen 3 Bereichen täglich mit dem Kind/Jugendlichen zusammen sein und erfolgt dann die Zuordnung der Diagnose „frühkind- mit dem üblichen Verhalten des Betroffenen vertraut licher Autismus“. sein. Der Gesamtschwellenwert liegt bei 103. Die Verdachtsdiagnose Asperger-Syndrom wird vergeben, Das ADOS-G ist ein halbstandardisiertes Spielinterview wenn der Gesamtscore über dem Schwellenwert liegt mit dem Kind, in dem Situationen geschaffen werden, und keine Sprachentwicklungsverzögerung festzustel- die normalerweise soziale Interaktion hervorrufen. Das len ist [17]. Interview dauert etwa 30 – 45 Minuten und besteht aus 4 Modulen, die je nach kognitiver und sprachlicher Mit der Skala zur Erfassung sozialer Reaktivität (SRS) Entwicklung der Kinder eingesetzt werden können. wird ein Fragebogen eingeführt, der den Anspruch Das ADOS-G und das ADI-R sind inzwischen die meist- erhebt, Autismus als ein dimensionales, in der Allge- verwendeten Instrumente in der Diagnostik autisti- meinbevölkerung normalverteiltes Merkmal abzu- scher Störungen. bilden. Besondere Bedeutung hat der SRS bei der Auffindung von Personen mit leichteren, jedoch durchaus behandlungsbedürftigen ASS im Übergangsbereich vom subklinischen zum klinischen Bereich. ADOS-G und ADI-R ADOS-G und ADI-R ergeben in der Hand eines ge- Die SRS ist als Elternfragebogen zur Beurteilung von Kindern oder Jugendlichen konzipiert. Die Skala erfasst soziale, kommunikative und rigide Verhaltensweisen bei Probanden zwischen 4 und 18 Jahren im Sinne schulten und erfahrenen Untersuchers, der über Erfahrung mit differentialdiagnostisch relevanten Störungen bei Kleinkindern verfügt, eine recht sichere Diagnose. einer dimensionalen Diagnostik von Autismus. Der Fragebogen besteht aus 65 Items, die auf einer 4-stufigen Skala (0 = „trifft nicht zu“ bis 3 = „trifft fast immer Epidemiologie zu“) eingeschätzt werden sollen. Die Bearbeitung der SRS beansprucht etwa 15 – 20 Minuten. Die Interpre- Der frühkindliche Autismus galt lange als eine sehr sel- tation der Rohwerte erfolgt über die Zuordnung von tene Erkrankung mit einer Häufigkeit von 0,04 %. Die T-Normen, die eine Einschätzung der berichteten erste epidemiologische Studie wurde 1966 von Lotter autistischen Verhaltensweisen in Relation zu Kindern durchgeführt [21]. Die Mehrzahl der älteren Studien und Jugendlichen der Allgemeinbevölkerung ermög- machen nur Angaben zur Häufigkeit des frühkindlichen lichen. Zudem liegen Autismusnormen auf der Basis Autismus. Angaben zu anderen ASS finden sich erst einer Stichprobe von Kindern und Jugendlichen mit durch die Einführung des Spektrum-Begriffs durch ASS vor (Autismus, Asperger-Syndrom, atypischer Wing und Gould. In neueren epidemiologischen Unter- Pädiatrietage 2011 Neuropädiatrie/Psychiatrie suchungen lässt sich ein deutlicher Anstieg der Präva- ten 5 – 10 Jahren stark erweitert. Dabei wurde erwar- lenzraten für Störungen aus dem autistischen Spek- tungsgemäß „das Autismus-Gen“ nicht gefunden, da trum feststellen. Die stetige Zunahme der Prävalenz sowohl die früheren Zwillings- und Familienuntersu- begann bereits vor der Jahrtausendwende. Die Studien chungen als auch die aktuellen molekulargenetischen von 1966 – 1973 ergaben eine Prävalenz von 0,05 %, und Array-CGH-Studien (CGH: Comparative genomic während für Studien aus den Jahren 1990 – 1997 eine Hybridization) auf eine genetische Heterogenität hin- höhere Rate von 0,1 % errechnet wurde. In epidemio- weisen, die der klinischen Heterogenität entspricht. Die logischen Untersuchungen seit 2000 ist die Prävalenz bisher gefundenen De-novo-Mutationen und Syndro- für das autistische Spektrum deutlich angestiegen. me sind insgesamt bei 10 – 20 % der Patienten mit ASS Zusammenfassend ergeben diese neuen Studien eine ursächlich, wobei die einzelnen genannten Störungen Prävalenzrate für Autismus von ca. 0,3 % und für die jeweils nur 1 – 2 % aller Fälle verursachen. Somit bleiben anderen ASS von insgesamt 0,9 %. weiterhin 80 – 90 % der Fälle ursächlich unklar. Die Häufigkeitsverteilung (4 : 1) zugunsten der Jungen In Familienstudien finden sich Wiederholungsrisiken bei ASS scheint in Abhängigkeit vom Intelligenzniveau von ca. 3 % bei Geschwistern von Betroffenen. Dieses zu variieren. Die Geschlechtsunterschiede sind gerin- Risiko ist ca. 50-mal höher als in der Allgemeinbevöl- ger in der Gruppe der Menschen, die eine mittelgradige kerung. Die großen Unterschiede von Konkordanzraten bis schwere Form der Intelligenzminderung zeigen bei monozygoten und dizygoten Zwillingspaaren sowie (2 : 1), während im normativen Intelligenzbereich das das stark abfallende Wiederholungsrisiko bei zweit- Verhältnis Jungen zu Mädchen bei 6 : 1 liegt [7, 22, 23]. und drittgradigen Verwandten sprechen gegen einen Defekt in einem Gen. Gegenwärtig wird von einem signifikanten Beitrag von 3 – 4 Genen ausgegangen. Zunahme der Prävalenzrate ASS sind keine seltenen Störungen. Die Zunahme der Heterogenes Krankheitsbild Prävalenzrate ist durch veränderte Definitionen in den Klassifikationen und durch eine frühere und ASS sind ein klinisch und genetisch heterogenes bessere Diagnostik zu erklären, nicht durch eine tat- starker genetischer Komponente. In den meisten sächliche Zunahme der Erkrankungen. Fällen bleibt auch mit moderner Diagnostik die Ursache unklar. Krankheitsbild. Die Genese ist multifaktoriell mit Ätiologie Psychosoziale und biologische Umweltfaktoren Genetische Faktoren Im Rahmen der Ätiologie psychiatrischer Erkrankungen können sowohl psychosoziale als auch biologische Bereits in den Erstbeschreibungen von Kanner und Risikofaktoren genannt werden. Im Hinblick auf ASS Asperger wurden genetische Faktoren ursächlich für sind in Bezug auf psychosoziale Risiken vor allem ex- ASS postuliert. Zwillingsstudien zeigten, dass die Kon- tremste Vernachlässigung in den ersten Lebensjahren kordanzraten bei monozygoten Zwillingen zwischen beschrieben worden, wie sie z. B. in rumänischen Kin- 36 und 96 % lagen, im Gegensatz zu den dizygoten derheimen vorgefunden wurde. Diese Lebensbedin- Zwillingen, bei denen die Konkordanzraten bei 0 % gungen beinhalteten Unter- und Fehlernährung, eine nachzuweisen waren, was auf eine Erblichkeit von über hohe Rate an Infektionen, keine festen Bezugspersonen, 90 % schließen lässt. Die Tatsache, dass die Konkor- keine Spielmöglichkeiten. Studien zeigen, dass die Rate danzrate der eineiigen Zwillinge nicht bei 100 % liegt, an autismusspezifischen Verhaltensweisen deutlich er- deutet aber auch darauf hin, dass neben genetischen höht war, wenn Kinder dieser extremen Form der Ver- Faktoren auch in geringerem Ausmaß exogene Fakto- nachlässigung länger als 2 Jahre ausgesetzt waren. Da ren bei der Entstehung der autistischer Störungen eine aber derartige Formen der Deprivation extrem selten Rolle spielen [24]. sind, ist davon auszugehen, dass emotionale und körperliche Vernachlässigungen bei den meisten Kindern Fortschritte in der zytogenetischen, molekularzytoge- mit ASS keine Ursache der Erkrankung darstellt. Diffe- netischen und molekulargenetischen Diagnostik haben renzialdiagnostisch muss allerdings bei Kleinkindern die Kenntnisse über Ursachen der ASS v. a. in den letz- immer auch an eine Bindungsstörung gedacht werden. Pädiatrietage 2011 11 12 Autismus-Spektrum-Störungen – ein Überblick zum aktuellen Forschungsstand Eine Vielzahl an biologischen Risikofaktoren ist ebenfalls untersucht worden, wobei nur wenige Faktoren als Therapie ursächlich in der Entstehung von ASS belegt werden konnten. Ein erhöhtes mütterliches und väterliches Die Behandlung von Kindern mit ASS wird vom Ent- Alter ist als Risikofaktor repliziert worden. Möglicher- wicklungsstand, von den individuellen Besonderheiten weise findet sich eine erhöhte Rate von zytogeneti- und Eigenheiten eines Kindes sowie von den Möglich- schen Veränderungen bei höherem Alter der Eltern als keiten und Bedürfnissen seiner Familie bestimmt, Ursache der ASS. weniger durch die Methodik. Es gibt keine für autistische Störungen generell gültige und erfolgverspre- Virusinfektionen in der Schwangerschaft wurden viel- chende Therapie. Für jedes autistische Kind muss ein fach untersucht. Lediglich für die Rötelninfektion individuelles Programm erstellt und im Verlauf seiner konnte eine höhere Rate von ASS nachgewiesen wer- Entwicklung immer wieder adaptiert werden. den. Aufgrund der derzeitigen Studienlage kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass auch andere Virus- Die Schwerpunkte der Therapie liegen bei verhaltens- erkrankungen der Mutter in der Schwangerschaft eine therapeutischen und heilpädagogischen Ansätzen ASS verursachen kann. (Tab. 8). Die Ziele der Behandlung bestehen darin, die soziale und kommunikative Entwicklung autistischer Auch bezüglich der Auswirkungen von Medikamen- Kinder zu unterstützen, ihre allgemeine Lern- und teneinnahme existieren nur vereinzelt Studien. In Problemlösefähigkeit zu fördern, Verhalten abzubauen, Langzeitstudien wurde nachgewiesen, dass Thalidomid das mit Lernen und Zugang zu Möglichkeiten normaler und VPA mit erhöhten ASS-Raten einhergehen. Erfahrung interferiert (Rigidität und Stereotypien), und Hilfen zur Bewältigung des Autismus für Familien zu Oft wird vermutet, dass Geburtskomplikationen eine vermitteln. Zahlreiche Methoden, Verfahren und Maß- Rolle in der Entstehung von ASS spielen. Meist sind nahmen werden zur Behandlung von Störungen aus aber bei Kindern mit einer genetischen Veränderung dem autistischen Spektrum angewandt, manche mit schwierige Geburtsverläufe die Folge dieser Verände- unrealistisch hohen Erwartungen. Eine Heilung der ASS rung und nicht die Ursache der Störung. In einigen Fäl- ist bisher nicht möglich [26]. len kann aber eine starke Gehirnblutung um die Geburt herum eine ASS mitverursachen. Diese Störungen wer- An einzelnen Interventionen und Maßnahmen seien den als Zerebralparesen definiert und kommen bei genannt: intensive verhaltenstherapeutische Frühför- etwa 2 % der Kinder mit ASS vor. Eine kürzlich durch- derprogramme (ABA), TEACCH-Programm (Treatment geführte Untersuchung bei Frühgeborenen mit einem and Education of Autistic and Communication handi- Geburtsgewicht unter 1500 g bezifferte das Risiko, capped Children), pädagogische Frühförderung, Ergo- autistische Symptome zu entwickeln, mit 26 %. Dabei therapie, Logopädie, Spieltraining, tiergestützte Thera- wurde deutlich, dass vor allem Kinder mit einem sehr pien und soziale Kompetenztrainings. niedrigen Geburtsgewicht, abnormen Befunden in der zerebralen Bildgebung, perinatalen Infektionen, Hirn- Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist eher blutungen oder langfristigen Sauerstoffgaben im selten indiziert, z. B. bei intellektuell gut entwickelten durchschnittlichen Alter von 22 Monaten anhand der Jugendlichen oder Erwachsenen, die sich mit ihrer Be- M-CHAT auffällige Screening-Werte hatten [25]. hinderung auseinandersetzen. Musiktherapie kann nonverbal oftmals einen ersten Zugang zu einem Kind ermöglichen. Methoden, an die unrealistisch hohe Erwartungen ge- Behandlungsschwerpunkte Die Schwerpunkte der Behandlung gewählt als bei nicht autistischen liegen – insbesondere beim jünge- Kindern. Eltern haben eine große ren Kind – im Aufbau sozialer und Bedeutung bei der Entwicklungs- sprachlicher Fertigkeiten. Dabei werden meist verhaltenstherapeu- förderung und Generalisierung von Therapieschritten in die tische oder heilpädagogische Lebensumwelt des autistischen Methoden genützt und sehr viel Kindes. aktivere und direktivere Zugänge richtet werden, sind u. a. das auditive Integrationstraining, Diäten, Vitamin- und Mineralstofftherapien, die Festhaltetherapie, die gestützte Kommunikation, die Irlen-Therapie. Die kontinuierliche Eltern- und Familienarbeit ist ein unverzichtbarer Schwerpunkt in der Behandlung autistischer Menschen. Ziele bestehen in der Unterstützung im Umgang mit den oft unverständlichen Pädiatrietage 2011 Neuropädiatrie/Psychiatrie Verhaltensweisen der autistischen Familienmitglieder, Tabelle 8 in der Entlastung von Schuldgefühlen, in der Vermittlung von Hilfen im täglichen Umgang und im konkreten Übersicht über Therapieverfahren. Einbeziehen in die Entwicklungsförderung und Verhaltensstabilisierung. Die individuellen Belastungen und die Ressourcen einer Familie bilden die Grundlage für Empirisch gut abgesicherte und anerkannt wirksame Verfahren verhaltenstherapeutische Verfahren und Therapieprogramme, auch im Rahmen von Frühförderprogrammen, psychoedukative Programme wie TEACCH, Medikation der Begleitsymptome Empirisch mäßig abgesicherte Verfahren, aber potenziell wirksam Training der sozialen Kompetenz, auch anhand von Theory-of-Mind-Trainings, Social Stories, gruppentherapeutische Angebote Empirisch nicht abgesicherte Verfahren, aber potenziell wirksam Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie, Reittherapie, vor allem, wenn in die Behandlungseinheiten lerntheoretische Elemente eingebaut werden beratende und ggf. therapeutische Interventionen. Selbsthilfegruppen wirken in dem Prozess der Auseinandersetzung mit der Erkrankung eines Familienmitglieds an frühkindlichem Autismus entlastend und unterstützend. Manche Patienten mit einer autistischen Störung bedürfen zumindest vorübergehend einer ergänzenden medikamentösen Behandlung (Tab. 9). Hauptindikation für eine medikamentöse Therapie sind hyperaktive, aggressive und destruktive Verhaltensweisen, selbstverletzendes Verhalten, Stereotypien, Ängste und Depressivität sowie Schlafstörungen. Eine Medikation Zweifelhafte Methoden ohne empiri- Festhaltetherapie, Diäten, Vitamin- und sche Absicherung und ohne wissen- Mineralstofftherapien, Sekretin, auditives schaftlich fundierten Hintergrund Integrationstraining, Irlen-Therapie muss in jedem Einzelfall sorgfältig überlegt, Nutzen und Risiko abgewogen werden. Meist hat die Pharmakotherapie den Charakter einer zeitlich befristeten Kri- meinsame Interessen verfolgen und an sozialen Aktio- senintervention. Sie ist nicht kurativ und hat nicht die nen teilnehmen. Dabei liegt der ausgeübte Beruf häufig Funktion einer Basistherapie [27, 28]. deutlich unter dem, was man aufgrund der kognitiven Fähigkeiten und der Ausbildung erwarten würde. 25 % der in der Kindheit diagnostizierten Fälle mit einer ASS Verlauf und Prognose erreichen einen Status, der als „fair“ bezeichnet wird, mit einem geschützten Arbeitsplatz, einer geschützten Die langfristige psychosoziale Prognose von Menschen Wohnsituation und Kontakten zu Gleichaltrigen, die mit ASS ist sehr variabel. Etwa 15 % gewinnen eine als aber lose sind. Etwa 60 % brauchen als Erwachsene sehr „gut“ zu bezeichnende Selbstständigkeit, mit einem viel Hilfe im Alltag, leben in speziellen Einrichtungen Arbeitsplatz auf dem 1. oder 2. Arbeitsmarkt, sie woh- und haben keine Kontakte mit Gleichaltrigen außer- nen selbstständig mit wenig Unterstützung und haben halb der Einrichtung [29]. soziale Kontakte zu Mitmenschen, mit denen sie geTabelle 9 Medikamentöse Therapie bei autistischen Störungen. Gruppe Dosierung Indikationsbereich Nebenwirkungen 0,25 – 2 mg/Tag 2,5 mg/Tag 25 mg/Tag 2,5 – 5 mg/Tag motorische Unruhe, (auto-)aggressives Verhalten, repetitives Verhalten, Wutanfälle, Reizbarkeit, Impulskontrollstörung Gewichtszunahme, Müdigkeit, extrapyramidale Störungen (EPS), Prolaktinerhöhung, Senkung der Krampfschwelle, sexuelle Dysfunktion Aufmerksamkeitsstörungen, motorische Unruhe, Impulsivität Appetitminderung, Tics, Schlafstörungen, Tachykardie, Bauchschmerzen, Dysphorie atypische Neuroleptica Risperidon Olanzapin Quetiapin Aripiprazol Stimulanzien Methylphenidat 0,3 – 1 mg/KG/Tag Atomoxetin 0,5 – 1 mg/KG/Tag Antidepressiva Fluoxetin Fluvoxamin Citalopram Mirtazapin 20 – 60 mg/Tag 50 – 200 mg/Tag 20 – 60 mg/Tag 7,5 – 30 mg/Tag Zwangsstörungen, Angst, depressive Verstimmungen, Aggressionen, repetitives Verhalten Unruhe, Agitiertheit, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Durchfall, Tremor, Schwindel, Schlafstörungen andere Melatonin 0,5 – 5 mg Schlafstörungen Tagesmüdigkeit Pädiatrietage 2011 13 14 Autismus-Spektrum-Störungen – ein Überblick zum aktuellen Forschungsstand Erreichbare Selbstständigkeit Ausblick Erwachsene Menschen mit einer Selbstständigkeit und sozialen Fer- ASS unterscheiden sich nur un- tigkeiten in diesem Alter erwartet ASS sind neurobiologisch bedingte Entwicklungsstö- wesentlich in ihrer Symptomatik werden. Auch Erwachsene mit ei- rungen, die stark genetisch determiniert sind. Die von Kindern mit dieser Diagnose. ner durchschnittlichen Intelligenz Symptome werden schon in der frühen Kindheit deut- In der Pubertät und im jungen sind auf Hilfen und Unterstützung lich und sind vor allem durch Auffälligkeiten in der Erwachsenenalter kommt es bei etwa der Hälfte zu einer Verbes- angewiesen und brauchen eine Umgebung, die auf ihre Besonder- sozialen Kommunikation und das Vorhandensein von serung der Symptomatik. Diese heiten Rücksicht nimmt. Etwa 15 % sichtlich werden im DSM-V die verschiedenen Sub- reicht aber nicht aus, um die An- der Erwachsenen erreichen eine forderungen zu erfüllen, die an weitgehende Selbstständigkeit. kategorien der ASS zusammengefasst und die Triade stereotypen Verhaltensweisen charakterisiert. Voraus- durch eine duale Kernsymptomatik ersetzt. Eine frühzeitige Diagnose verbessert die psychosoziale Prognose Die Lebenssituation von Jugendlichen und Erwachse- von Menschen mit ASS. Die therapeutischen Ansätze nen mit einer ASS ist von vielen unterschiedlichen Fak- basieren vor allem auf lerntheoretischen und struktu- toren abhängig: Neben der Ausprägung der Kernsymp- rierenden heilpädagogischen Maßnahmen; die medi- tomatik der Störung spielen die kognitiven Fähigkeiten, kamentöse Behandlung ist lediglich zur Behandlung das Vorhandensein von kommunikativen Sprachfertig- von Komorbiditäten sinnvoll. keiten, das Vorliegen von neurologischen und/oder psychiatrischen komorbiden Störungen und das Ausmaß der erforderlichen Unterstützung eine wesent- Über die Autorin liche Rolle. Diese Faktoren beeinflussen die Selbstständigkeitsentwicklung, die Eingliederung im Michele Noterdaeme Arbeitsprozess und somit die Zufriedenheit der Person bezüglich der eigenen Situation. Gute Ergebnisse im Erwachsenenalter, d. h. ein Arbeitsplatz auf dem 1. Ar- Jahrgang 1956, Professorin an der LMU München. Medizinstudium in beitsmarkt und selbstständiges Wohnen, werden bei Gent, Belgien. Weiterbildung am Max- Menschen mit einem IQ unter 50 nicht erreicht, dies Planck-Institut für Psychiatrie, an der gilt aber auch für Menschen ohne autistische Störung. Universitätsklinik Dr. von Hauner- Ab einem IQ von über 60 können gute Ergebnisse er- schen Kinderspital und an der Heck- zielt werden. Auffallend ist, dass es offenbar keinen scher-Klinik in München. 1994 Fach- Unterschied im Ergebnis gibt zwischen Menschen mit ärztin für Kinder- und Jugend- einem IQ von 70 – 79 und solchen mit einem IQ über 100. psychiatrie und -psychotherapie. 2001 tiefenpsychologische Psychotherapeutin. 2003 Habilitation an der LMU. Forschungsschwerpunkte: um- Bezüglich der Mortalitätsrate bei ASS zeigt sich vor allem bei Betroffenen mit erheblichen Komorbiditäten wie einer Intelligenzminderung oder einer Epilepsie ein erhöhtes Risiko für frühzeitigen Tod. Ingesamt liegt die Mortalität bei ASS etwa doppelt so hoch wie in der normalen Bevölkerung. Als Todesursachen werden Selbstverletzung, Epilepsie, Unfälle, Ersticken durch Verschlucken gefährlicher Gegenstände, Infektionen und Suizid genannt [30]. schriebene und tiefgreifende Entwicklungsstörungen, insbesondere Neuropsychologie und Entwicklungspsychopathologie der Autismus-Spektrum-Störungen. Bis 2009 leitende Oberärztin des Heckscher-Klinikums, München. Aufbau der Abteilung für Entwicklungsstörungen. 2008 Qualifikation in der forensischen Psychiatrie. Seit 1. 1. 2010 Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Josefinum, Augsburg. Mitglied und Vertreterin Deutschlands im Management Committee of COST Action BM1004: „Enhancing the scientific study of early autism: A network to improve research, services and outcomes“. Pädiatrietage 2011 Neuropädiatrie/Psychiatrie Korrespondenzadresse 13 Munesue T, Ono Y, Mutoh K et al. High prevalence of bipolar Prof. Dr. Michele Noterdaeme disorder comorbidity in adolescents and young adults with Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und high functioning autism spectrum disorder: A preliminary -psychotherapie study of 44 outpatients. Journal of Affective Disorders 2008; Kapellenstrasse 30 86154 Augsburg Telefon: 0821/2412461 E-mail: [email protected] 111: 170 – 175 14 Noterdaeme M, Hutzelmeyer-Nickels A. Early symptoms and recognition of pervasive developmental disorders in Germany. Autism 2010; 5: 1 – 15 15 Robins D, Fein D, Barton M et al. The Modified Checklist for Autism in Toddlers: An initial study investigating the early detection of autism and pervasive developmental disorders. Journal of Autism and Developmental Disorders 2001; 31: 131 – 148 Literatur 16 Bölte S, Poustka F. FSK Fragebogen zur sozialen Kommunikation. Bern: Huber, 2006 17 Kamp-Becker I, Mattejat F, Wolf-Ostermann K et al. Die Mar- 1 Kanner L. Autistic disturbances of affective contact. 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