gross, grösser, giesserei

Werbung
30
Wir holzbauer
Das Verbandsmagazin von Holzbau Schweiz
Gross, grösser,
Giesserei
Das Mehrgenerationenhaus «Giesserei» in Oberwinter­
thur ist Europas grösstes Holzwohnhaus. Das «Dorf in der
Stadt» setzt architektonisch und ökologisch Massstäbe.
TEXT ANGELA OBRIST
I
m Herzen des ehemaligen Industrie­
geländes auf dem Sulzer-Areal in Oberwinterthur liegt der grüne Eulachpark.
Gleich dahinter fällt dem Betrachter ein
sechsstöckiges Gebäude mit kräftig roter
Fassade ins Auge. Das seit Februar 2013
bewohnte Mehrgenerationenhaus Giesserei ist in vielerlei Hinsicht aussergewöhnlich und richtungsweisend. Mit
Ausnahme des Untergeschosses und der
Treppenhäuser wurde das gesamte Gebäude inklusive des Tragwerks aus Holz
erstellt, was die Giesserei zum grössten
Holzwohnhaus Europas macht. Der rund
85 Millionen teure Wohnkomplex mit
seinen 155 Wohnungen wird vom Verein
Mehrgenerationenhaus, dem die Bewohnerinnen und Bewohner angehören,
selbstverwaltet. Der Verein hat den
Anspruch, in der Giesserei allen Altersgruppen, vom Kind bis zum Senior, ein
Zuhause zu bieten und so ein generationenübergreifendes Miteinander zu ermöglichen. Das Gebäude ist auch in ökologischer Hinsicht ein Vorzeigeobjekt: Es ist
mit dem Minergie-P-Eco-Label zertifiziert und wird mit Fernwärme aus der
städtischen Kehrichtverbrennungsanlage
beheizt. Die Siedlung ist ausserdem fast
autofrei, so gibt es nur dreissig Autoparkplätze für die Mieter. Dafür sind insgesamt
580 Veloabstellplätze vorhanden, davon
298 unterirdisch.
Die sechs Geschosse hohen Längsriegel der Giesserei messen 130 Meter und
schliessen sich mit zwei zweigeschossigen Querbauten um einen grossen Innen-
hof. Das gesamte Grundstück ist rund
11 000 Quadratmeter gross, die Dimen­
sionen des riesigen Gebäudekomplexes
werden aber erst nach dem Eintritt in
den grossen Hofraum ersichtlich. Dieser
ist vielfältig bepflanzt und mit Kiesflächen und einem Brunnen gestaltet. Hier
zeigt sich auch das raffinierte Fassadenbild der Giesserei. Die Tiefenwirkung und
die visuelle Dynamik ergeben sich durch
die vor- und rückspringenden Loggien,
die an den Fassaden schmal durchlaufen
und sich vor den Wohnzimmern verbreitern. Sie wirken wie ein Teil der tragenden
Holzkonstruktion, erweitern den Wohnraum an allen vier Längsseiten des Gebäudes nach aussen und sind teilweise
versetzt angeordnet. Zur Gesamtwirkung
tragen auch die Fassaden in Rot- und
Grüntönen bei, die bis auf die beweglichen vertikalen Sonnenroste komplett
aus Holz bestehen. Die einfachen säge­
rohen Bretter wurden zur Farbgebung
mit einer Schlemmfarbe gestrichen. Wenn
diese mit der Zeit ergraut, kann sie abgebürstet und die Fassade kann neu gestrichen werden. Das Holz kann unter der
gewählten Farbe natürlich atmen, und
weil sie keine Schutzfunktion übernimmt,
entfällt nach einem Hagelschlag auch die
Nachbehandlung.
Dass die Giesserei ein Holzbau werden sollte, war für den Verein Mehrgenerationenhaus schon früh klar. «Zentral
war für uns bei dieser Entscheidung das
bessere Raumklima, das Holzbauten von
Beginn an bieten», erklärt Jürg Altwegg,
Ausgabe 1.2013
BEWEGEN
«Das Vereinen so vieler Bewohner
in einem Gebäude verlangt nach
einer grosszügigen Geste im Freiraum.»
Andreas Galli, Architekt
31
32
Wir holzbauer
Das Verbandsmagazin von Holzbau Schweiz
Auf der ehemaligen Industriebrache am Eulachpark entstand ein moderner Holzbau.
der während der Planungs- und Bauzeit
als Projektleiter für die Giesserei tätig
war und heute dort lebt. Auch in ökologischer Hinsicht und in der Lebenszyklus-Betrachtung liegt Holz vorne: «Das
Haus soll hundert Jahre bestehen; wenn
man es später abbrechen muss, gibt es
mit der Entsorgung des Materials keine
Probleme. Bei einem konventionellen Bau
wäre dies aufwendiger und teurer», sagt
Jürg Altwegg. Solche und andere Ansprüche an den Bau wurden in einer ersten
Planungsphase von den Mitgliedern des
Trägervereins, also den künftigen Bewohnern, festgelegt. Die Vereinsmitglieder
fanden sich in verschiedenen Arbeitsgruppen zusammen, wo sie die baulichen und
gemeinschaftlichen Ziele der Siedlung definierten. «Viele der heutigen Bewohner
waren schon in frühen Planungsphasen
dabei und konnten das Projekt aktiv gestalten. Das ist vielleicht ein Grund, wieso
wir heute so viele positive Rückmeldungen erhalten», sagt Altwegg.
Neben dem Aspekt der Nachhaltigkeit
lag den Initiatoren auch das gemeinschaftliche Zusammenleben in der Siedlung am
Herzen, weshalb sie sich eine begegnungsfreundliche Architektur wünschten. Als
Sieger aus dem eingeladenen Projektwettbewerb ging 2009 das Projekt der Zürcher
Architekten Galli Rudolf hervor. Architekt
Andreas Galli sagt: «Während des Wett-
bewerbs war uns schon bald klar, dass
hinter diesem Projekt Idealismus, Mut und
Innovation stecken. Mit anderen Worten
ein Traum also, den es zu verwirklichen
gilt.» Die Architekten setzten den Wunsch
nach einer gemeinschaftsstiftenden Architektur vielfältig in die Tat um. Dreh- und
Angelpunkt für das Miteinander im heutigen Gebäude ist der Hof: «Das Vereinen
so vieler Bewohner in einem Gebäude verlangt nach einer grosszügigen Geste im
Freiraum», erklärt Galli. So kann der gemeinschaftliche Hofraum vielseitig genutzt
und von den Bewohnern mitgestaltet werden. Projektleiter Jürg Altwegg sagt: «In
der Giesserei wurden auch Begegnungsräume geschaffen, die im konventionellen
Baustil oft nicht vorhanden sind, aber einen
grossen gemeinschaftlichen Mehrwert
schaffen.» Orte der Begegnung sind beispielsweise die Gemeinschaftswerkstätten, die Wasch­salons, die Gemeinschaftsräume und der grosse Veranstaltungssaal.
Im fünften Stock lädt eine so genannte
Pantoffelbar zum Verweilen ein. «Wir wollten keine Schlafstadt erzeugen, deshalb
gibt es auch viel publikumswirksame Fläche», sagt Altwegg. Heute bringen eine
Bibliothek, ein Veloladen, ein Biorestaurant, ein Tageszentrum für Hirnverletzte
und eine Kita Leben ins Gebäude.
Um dem Anspruch Mehrgenerationenhaus gerecht zu werden, entwickelten die
Ausgabe 1.2013
BEWEGEN
Bewohner Jürg Altwegg hatte während der Planungs- und Bauphase die Rolle des Projektleiters inne.
Architekten der Giesserei ein räumliches
Modulsystem: «Dadurch erschliesst jedes der acht Treppenhäuser eine Vielzahl
unterschiedlicher Wohnungstypen, was
unwei­
gerlich zu einer durchmischten
Mieterschaft pro Treppenhaus und somit
zu verschiedenen generationenübergreifenden Kontakten führt», erklärt Architekt Andreas Galli. Das Wohnangebot reicht
von der 1½- bis zur 9-Zimmer-Wohnung.
Ausserdem gibt es noch die so genannten
Jokerzimmer, Kleinstwohnungen mit
Nass­zelle, aber ohne Küche, die für einen
gewissen Zeitraum dazugemietet werden
können. Obwohl in der Giesserei rund
2400 Kubikmeter Holz verbaut worden
sind, ist im Gebäude und in den Wohnungen von der Holzkonstruktion des Gebäudes nichts mehr zu sehen. Aus Brandschutzgründen sind die Wände mit gespachtelten Gipsplatten verkleidet. Erbaut wurde
der Gebäudekomplex in Trockenbauweise
aus seriell vorfabrizierten Holzbauelementen. «Dadurch ergaben sich Zeiteinsparungen auf der Baustelle, das Vorgehen erforderte aber eine ausgesprochen seriöse
und zeitintensive Planung und eine optimale Koordination zwischen Architekten, Holzbauingenieur, HLKS-E-Ingenieur und Holzbauunternehmern», betont
Andreas Galli. In seinem Unternehmen
arbeitete ein Architekt beispielsweise
mehr als ein Jahr lang an der konstruktiven Entwicklung der Fassade.
Viel Fachwissen erforderten auch der
Brandschutz und die Luftdichtigkeit des
Gebäudes, die zur Erreichung des Minergie-P-Eco-Labels notwendig war. Grosses
­Augenmerk legten die Verantwortlichen
auf die Schallschutzmassnahmen. Gute
Tritt- und Luftschallergebnisse wurden
mit einem Schichtenaufbau der insgesamt
50 cm dicken Geschossdecken erzielt. Die
Schichten wie Gipskartondecken, die an
Federbügeln aufgehängt wurden, diverse
33
34
Wir holzbauer
Das Verbandsmagazin von Holzbau Schweiz
Keine Schlafstadt: In der Giesserei gibt es unter anderem einen Veloladen, ein Restaurant und eine Bibliothek.
Dämmschichten und der Anhydrit- oder
der Parkettboden verhindern die Schwingung der Decke. Zusätzliche Masse und
damit ein besseres Körperschallverhalten
bringt eine 30 mm starke Sandschüttung
in die Geschossdecken. Trotz einer aus
Sicherheitsgründen gesperrten Baustelle
waren während der Bauphase auch die
künftigen Bewohner über solche Überlegungen der Bauverantwortlichen informiert. Dies dank einem Projektblog, der
von Jürg Altwegg ins Leben gerufen worden war. Auf diesem erklärte er wöchentlich wichtige Kernaspekte des Baus und
informierte über die baulichen Fortschritte.
Was dämpft den Schall der Nachbarn nebenan? Woraus besteht der Wohnungsboden? Wie wird der Holzbau erstellt? Und
welches sind die Vor- und Nachteile der
Komfortlüftung? So war ein elektronischer
Treffpunkt geboren, der bei den künftigen Bewohnern auf reges Interesse stiess.
Heute sind schon beinahe alle Wohnungen in der Giesserei bewohnt. «Das Ge-
bäude hat den Praxistest bestanden, ich
fühle mich hier sehr wohl und erhalte
viele positive Rückmeldungen von anderen Bewohnern», sagt Jürg Altwegg. Das
Projekt erregte auch bereits über die
Landesgrenzen hinaus Aufmerksamkeit,
Altwegg konnte es schon an Fachtagun-
gen in Deutschland und in Österreich
vorstellen. Er sagt: «Das ist ein wichtiges
und positives Signal für den Holzbau, und
wir vom Verein Mehrgenerationenhaus
freuen uns, dass wir ein solches Leuchtturmprojekt realisieren konnten.»
Zahlen und Fakten zur Giesserei
Bauherrschaft: Gesewo, Genossenschaft für selbstverwaltetes Wohnen, Winterthur
Bewohnerorganisation: Hausverein Giesserei, Winterthur
Architekt: Galli Rudolf Architekten AG, Zürich
Bauleitung: ph-baumanagement AG, Frauenfeld
Holzbauingenieur: Indermühle Bauingenieure, Thun
Holzbau: Arge MGH Implenia Brunner, Zürich; Knecht, Oberwil
Investitionskosten: 85 Mio. Franken
Kennzahlen: nach SIA 416
Zertifizierung: Minergie-P-Eco
Photovoltaik: 3000 kWp
Wohnungen: 155, rund 43 verschiedene Wohnungstypen
Mobilität: 30 Autoparkplätze + 18 Besucherparkplätze, 3 Mobility-Autos,
580 Veloabstellplätze
Herunterladen