Stürmische Zuku Im Winterhalbjahr wird das Wetter oft von schnell vorbeiziehenden, stark ausgeprägten Tiefdruckwirbeln beherrscht. Dabei werden Windgeschwindigkeiten bis 200 Kilometer pro Stunde gemessen. In Zukunft dürfte die Windstärke noch zunehmen. Text und Fotos: Andreas Walker D ie kälteste Jahreszeit ist bei uns gleichzeitig die Zeit der starken Winde. Die Winterstürme werden angetrieben durch kräftige Tiefdruckwirbel, die infolge grosser Temperaturunterschiede entstehen. Mit dem astronomischen Herbst beginnt am Nordpol die Polarnacht – für die nächsten sechs Monate 28 Natürlich | 2-2005 scheint dort keine Sonne mehr am Himmel. Deshalb kühlen mit dem herannahenden Winter die polaren nördlichen Breiten immer mehr ab, während am Äquator die Temperaturen mehr oder weniger gleich bleiben. Damit wird der Temperaturunterschied zwischen Pol und Äquator im Winter viel grösser als im Sommer. Luftdruckgefälle erzeugt Sturm Die Erdatmosphäre arbeitet wie eine Wärme-Kraft-Maschine. Sie produziert Bewegungsenergie aus Temperaturunterschieden. Je grösser der Temperaturunterschied zwischen verschiedenen Luftmassen ist, desto mehr Bewegungsenergie wird frei und desto stärker fallen die Winde aus. Deshalb wird im Winterhalbjahr die Grosswetterlage oft beherrscht von ausgeprägten Sturmtiefs, die sich über dem Atlantik zusammenbrauen und Winde von über 200 Kilometern pro Stunde produzieren können. Mit dem Winterbeginn werden jedoch auch weite Gebiete Osteuropas mit einer Schneedecke überzogen. Die Luft über diesen verschneiten Landmassen kühlt sich ab, wird dadurch dichter und schwerer – es entsteht ein kräftiges Hochdruckgebiet, welches sich von Nordrussland langsam Reportage NATUR Übergangszone zwischen Hoch und Tief, wo der Druckunterschied und damit die Windgeschwindigkeit am grössten ist. Seit Ende der 80er-Jahre hat sich in den Niederungen der Winter nach und nach zurückgezogen. In dieser Zeit wurde der Durchschnittswert der Schneebedeckung des 20. Jahrhunderts nie mehr erreicht (eine Ausnahme bildete der Lawinenwinter 1999). Diese aussergewöhnliche Serie von warmen Wintern stellt diesbezüglich für die letzten 700 Jahre alles in den Schatten. Für die Entwicklung von Winterstürmen hat das folgende Bedeutung: Wenn eine geschlossene Schneedecke liegt, wie dies in früheren Wintern normal war, so bildet sich darüber Kaltluft, die eine blockierende Wirkung hat. Wenn jedoch diese blockierende Wirkung fehlt, stossen die atlantischen Stürme auf südlicheren Bahnen nach Mitteleuropa vor und sie können ungehindert mit grosser Stärke weit ins Landesinnere vordringen. Warme Meere treiben die Winde an Einen wichtigen Einfluss übt das Meer auf das Wettergeschehen aus. Ein anschauliches Beispiel dafür lieferte der überdurchschnittlich warme Winter 1989/90, Oft verursachen Winterstürme grosse Schäden an Wäldern. Das Bild wurde anfangs März 1990 aufgenommen, nachdem die Orkane Vivian und Wiebke unzählige Bäume gefällt hatten. Wald ob Linthal GL. nft in Richtung Mitteleuropa ausdehnt. Zwischen dem kräftigen atlantischen Tiefdruckwirbel und dem gut ausgeprägten osteuropäischen Hochdruckgebiet entsteht ein grosses Luftdruckgefälle, welches starke Winde erzeugt. Kältehoch als Sturmblockade Stösst dieses winterliche Kältehoch in Richtung Europa vor, fliesst ausgekühlte Luft von Nordosten zu uns, die zum Teil eine Wanderschaft von Sibirien bis in unser Land hinter sich hat. Solche Wetterlagen bringen bei uns stabile winterliche Verhältnisse. Gleichzeitig jedoch hält dieses Kältehoch uns auch die Winterstürme vom Leib, weil es sich wie ein Schutzwall zwischen Europa und den Atlantik schiebt und damit die von Westen kommenden Luftmassen und die Sturmtiefs blockiert und ablenkt. Wenn sich jedoch dieses Hoch zurückzieht, befinden wir uns plötzlich in einer Chronik der stärksten Winterstürme 2. bis 4. Januar 1976 Der so genannte Capella-Wintersturm zieht einen drei Millionen Quadratkilometer grossen Pfad der Verwüstung durch ganz Westeuropa. Allein in Deutschland müssen 10 000 Menschen evakuiert werden, mehr als 600 werden obdachlos. Die Windböen von bis zu 180 Stundenkilometern und eine Sturmflut mit 17 Metern hohen Wellen lassen 20 Deiche brechen, zerstören Strassen und Hafenanlagen und beschädigen mehr als 45 000 Gebäude. 25. bis 26. Januar 1990 Wintersturm Daria eröffnet eine ganze Serie von Orkantiefs, die Europa im Winter 1990 heimsuchen. Mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 180 Stundenkilometern und Starkregen lässt er Flüsse über die Ufer treten, Deiche brechen und zerstört zahlreiche Gebäude. Er gehört bis heute zu den teuersten Stürmen Deutschlands. der in unseren Breiten für ungewöhnlich warme Temperaturen sorgte. Als Folge davon entwickelte sich ein aussergewöhnliches Sturmtief, welches am 1. März 1990 den Orkan Wiebke verursachte, der mit ungewöhnlicher Stärke über West- und Mitteleuropa hinwegbrauste. So wurde auf dem Feldberg im Schwarzwald erstmals seit Beobachtung eine Windgeschwindigkeit von 200,1 Kilometern in der Stunde gemessen – danach wurde das Messgerät vom Blitz zerstört. Meistens folgt den winterlichen Stürmen ein starker Kaltlufteinbruch. Wenn auf der Rückseite des Sturmtiefs polare Luft einfliesst, ist kaltes Wetter und manchmal sogar der Einbruch des Winters zu erwarten. Auf der Südhalbkugel ist das Temperaturgefälle zwischen Äquator und Südpol noch grösser und die Winde dementsprechend extremer. Diese Verhältnisse sorgen dafür, dass dort die Westwinde noch viel stärker ausgeprägt sind als auf der Nordhalbkugel. So entstanden über verschiedenen Breitengraden verschiedene Namen, übereinstimmend mit den blasenden Winden in diesen Gebieten: «Roaring Fourties» (Brüllende Vierziger), «Furious Fifties» (Wütende Fünfziger) und «Shrieking Sixties» (Kreischende Sechziger). 30 Natürlich | 2-2005 27. Februar bis 1. März 1990 Die Stürme Vivian und Wiebke suchen Europa heim. Starke Regenfälle lassen Flüsse über die Ufer treten, die bis zu 150 Stundenkilometer schnellen Winde hinterlassen vor allem in Süddeutschland mehr als 10 Millionen Kubikmeter Bruchholz. 300 000 Haushalte sind betroffen. 4. bis 5. November 1995 Mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 100 Stundenkilometern löst der Wintersturm Grace an der deutschen Ostseeküste die schwerste Sturmflut seit 40 Jahren aus. 3. bis 4. Dezember 1999 Wintersturm Anatol rast mit Böen bis zu 200 Stundenkilometern über Nordeuropa hinweg und löst Sturmfluten an Nord- und Ostsee aus. In Dänemark gilt er als Jahrhundertsturm, 20 Menschen sterben. 26. Dezember 1999 Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage wird Westeuropa von einem starken Tiefdruckgebiet heimgesucht. Mit Windböen von über 200 Stundenkilometern rast der Sturm Lothar durch weite Teile Frankreichs, Spaniens und auch über Gebiete in Deutschland und der Schweiz. In Frankreich sind Hunderttausende von Haushalten noch Wochen später ohne Strom, stellenweise sind 40 Prozent des Baumbestands zerstört. 27./28. Oktober 2002 Orkan Jeanette fegt mit Winden von bis zu 150 Kilometern pro Stunde über Grossbritannien und Deutschland hinweg. 24 Menschen sterben. 8. Januar 2005 Sturm Erwin fegte mit bis zu 180 Stundenkilometern über Nordosteuropa hinweg. In Grossbritannien, Dänemark und Schweden kostete er mindestens 14 Menschen das Leben und hunderttausende von Haushalten waren tagelang ohne Strom. Winterstürme und Wärme gehen Hand in Hand Oft treten gleich mehrere Winterstürme nacheinander auf. Im Jahr 1990 richteten die Stürme Daria, Vivian und Wiebke europaweit riesige Schäden an. Im Dezember 1999 schien sich die Geschichte zu wiederholen. Am 3. Dezember 1999 bildete Anatol den Auftakt zu einer Serie von Winterstürmen, die am 26. und 27. Dezember mit Lothar und Martin einen neuen Schadensrekord verursachten. Auffällig ist, dass beide Sturmjahre – 1990 und 1999 – ungewöhnlich warm waren. Im Vergleich zur Zeitspanne von 1960 bis 1990 lag die Jahresdurchschnittstemperatur um über ein Grad höher. Die Meteorologen rechnen die beiden Jahre zu den drittwärmsten des letzten Jahrhunderts in Europa. In den Niederungen herrschte ein mildes und schneefreies Klima bis in den Dezember vor. Am 25. Dezember 1999 hatte sich über dem Nordostatlantik ein Tiefdruckgebiet gebildet mit einem Kerndruck von 995 Hektopascal – ein für die Winterzeit absolut harmloses Gebilde. Innerhalb von nur Mit Böenspitzen von über 200 Kilometern pro Stunde rast der Sturm Lothar durch weite Teile Frankreichs, Spaniens und auch über Gebiete in Deutschland und der Schweiz und hinterlässt eine Spur der Zerstörung. Abgeknickter Betonmast bei Stans NW. Reportage NATUR drei Stunden registrierten die überraschten Meteorologen der Wetterstation Caen an der französischen Kanalküste einen extremen Druckabfall von 28 Hektopascal. In Europa hatte es einen vergleichbaren Absturz des Luftdrucks seit 30 Jahren nicht mehr gegeben. Die Meteorologen hatten die Zeichen des Sturms zu spät erkannt und deshalb blieb eine Sturmwarnung bis auf wenige Ausnahmen aus, während der Sturm Lothar bereits mit elementarer Wucht ins Zentrum von Europa brauste. Am Pariser Flughafen Orly wurden Windgeschwindigkeiten von bis zu 173 Stundenkilometern registriert. Auf dem Feldberg im Schwarzwald erreichten die Böen 212 Kilometer pro Stunde, auf dem Wendelstein sogar 259 Stundenkilometer und auf dem Üetliberg bei Zürich 240 Stundenkilometer. Die Folgen waren dramatisch. 122 Menschen starben durch herabstürzende Baumteile oder Gebäude- trümmer. In Westfrankreich mussten Hunderttausende mitten im Winter wochenlang ohne Strom und Telefon auskommen. Im Pariser Bois de Bologne knickte Lothar mehr als 140 000 Bäume um wie Streichhölzer und rasierte im Schwarzwald ganze Hänge kahl. Der Sturm hinterliess in Europa Schäden in der Höhe von rund 10 Milliarden Franken. Lothar fällte gesamtschweizerisch gesehen etwa 5 Jahresernten an Wald. Als Folge brach der Holzpreis dramatisch ein. Noch heute sind die Schneisen in den Wäldern deutlich zu sehen. Immer mehr Energie und immer grössere Aktivitäten In den letzten 100 Jahren ist die globale Temperatur um 0,7 Grad gestiegen. Als Folge davon verdunstet mehr Wasser als bisher und der Wasserdampfgehalt der Atmosphäre steigt. Eine höhere Verduns- tung und deshalb ein höherer Wasserdampfgehalt führten auch zu einem grösseren Energietransport. Der Bonner Meteorologe Hermann Flohn zeigte, dass vor allem über den Ozeanen der Nordhalbkugel in den letzten Jahrzehnten eine Zunahme der Häufigkeit von Sturmtiefs sowie eine Verstärkung der atmosphärischen Zirkulation beobachtet werden konnten. Sie konzentrierte sich vor allem auf das Winterhalbjahr. Als Folgen der globalen Erwärmung könnten deshalb die Hoch- und Tiefdruckzellen stärker ausgeprägt sein als heute, was zu noch grösseren Druckunterschieden führt. Dies würde bedeuten, dass die Stärke der Winde weiter zunimmt. Für die Zukunft erwarten die Klimaforscher, dass in Bodennähe eine Wärmezunahme und ein Abbau der Temperaturunterschiede stattfinden. Da jedoch auch die mittleren Breiten stärker erwärmt werden, wird von der aufsteigenden Warmluft mehr Wasserdampf in die oberen Atmosphärenschichten transportiert. Deshalb könnte sich die globale Erwärmung in einer Höhe von 8 bis 10 Kilometern bemerkbar machen. Mehr starke Winterstürme Der Jetstream – ein Starkwindband in der hohen Atmosphäre mit einer Geschwindigkeit von bis zu 600 Stundenkilometern, welches sich um den ganzen Globus spannt – könnte noch schneller werden. Mit einem verstärkten Jetstream rechnen die Forscher zwar mit insgesamt weniger Winterstürmen, doch die verbleibenden Stürme dürften dafür stärker ausfallen. Wissenschaftler des britischen Hadley Center haben das Klima der nahen Zukunft simuliert unter der Annahme, dass die Treibhausgase (ab 1990) jedes Jahr um ein Prozent zunehmen. Nach dieser Simulation würde uns Folgendes erwarten: Die Gesamtzahl der Winterstürme nimmt bis Ende dieses Jahrhunderts von 165 auf 153 ab. Gleichzeitig jedoch nimmt die Zahl der starken Stürme von heute durchschnittlich 21 bis auf 28 pro Jahr gegen Ende des Jahrhunderts zu. Zudem weisen neue Klimamodelle darauf hin, dass sich die Zugbahnen der Stürme immer weiter Richtung Osten, also näher zum europäischen Festland verlagern. Sollten diese Voraussagen zutreffen, können wir uns auf eine stürmische Zukunft gefasst machen. ■ Natürlich | 2-2005 31