22-25 Bewegung

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Die weit verbreitete Ansicht, Bewegungen
seien ein typisches Merkmal der Tiere,
trifft sicher nicht zu. Zwar sind die meisten
B
ereits Wissenschaftler der Antike erlagen dem Phänomen der Pflanzenbewegungen und fragten nach den
Gründen. Zum Beispiel der griechische Gelehrte Theophrast von Eresos
(371 bis 287 vor Christus). Er beschreibt
in seinen gut erhaltenen Schriften das
Öffnen und Schliessen von Blüten sowie
das Heben und Senken der grünen Laubblätter zu gewissen Tageszeiten. Jedoch:
Wie sich diese Bewegungen abspielen und
was ihre Auslöser sind, blieb ihm verborgen. Besonders beeindruckend sind seine
Aufzeichnungen über das sekundenschnelle Abknicken der Fiederblättchen
der Sinnpflanze. Vermutlich handelte es
sich dabei um die Nahverwandte der uns
bekannten Mimosa pudica (Mimose, Sinnpflanze, wörtl. Schamhafte Mimose), nämlich die Mimosa asperata, welche noch
heute in Griechenland, in Italien und
Ägypten beheimatet ist. Theophrast von
Eresos erklärte sich diese Reaktion mit
einer pflanzlichen Seele.
Erst im 17. Jahrhundert wandte sich
der in der Geschichte fast vergessene geniale Physiker und Erfinder Robert Hooke
(1635 bis 1703) der Problematik erneut zu
und kam zum Schluss, dass die schnelle
Reaktion der Pflanze auf einem nach unten
gerichteten Wasserfluss beruhen muss, der
durch den Druck des Reizes verursacht
wird. Er stellte fest, dass es an der Basis
der zarten Fiederblättchen Kugelgelenke
gibt, die je nach Wasseraufnahme oder
Wasserverlust bewegt werden können. Damit kam er der Lösung des Rätsels schon
ziemlich nahe.
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Bewegtes Pf
Wanderung von Futterquelle
zu Futterquelle
Obschon Pflanzen nicht sprechen können,
besitzen sie dennoch Fähigkeiten, mit
deren Hilfe sie in der Lage sind, unmissverständlich mitzuteilen, was sie mögen
oder ablehnen. Am einfachsten haben es
in dieser Hinsicht einzellige Algen. Sie
sind wie die Tiere und der Mensch in der
Lage, sich selbstständig von Ort zu Ort
zu bewegen. Ein bekanntes Beispiel liefert
uns eine mikroskopisch kleine Geisselalge
mit dem irreführenden Namen Augentierchen (Euglena viridis). Da sie den grünen
Farbstoff Chlorophyll besitzt, benötigt
sie wie alle ihre komplizierter gebauten
höheren Schwestern Licht, um die für
sie lebensnotwendigen Stoffe wie Kohlenhydrate, Eiweisse und Fette aus Wasser
und Kohlendioxid herzustellen. Daher bewegt sie sich einer Lichtquelle zu und ist
umgekehrt der Dunkelheit abgeneigt.
Nicht minder faszinierend sind
Schleimpilze (Myxomycetes). In einer
gewissen Phase ihrer Existenz ähneln
sie äusserlich einem Wechseltierchen
(Amöbe) und bewegen sich wie dieses mit
Hilfe von Ausstülpungen des Plasmas,
den so genannten Scheinfüsschen, auf
irgendeiner Unterlage. Verspüren sie in
der Nähe eine Nahrungsquelle, zum Beispiel Bakterien, kriechen sie auf sie zu
und verspeisen sie. Haben sie eine Stelle
leer gefressen, suchen sie im Zeitlupentempo – einige Zentimeter pro Stunde –
eine neue Futterquelle.
Schleimpilze sind nicht selten. Sie
leben in unseren Wäldern und Gärten auf
moderndem Holz oder Laub. Die Bewegungen, die diese Winzlinge ausführen,
werden in der Fachsprache als Taxien
bezeichnet.
Luftwurzeln
nehmen Sauerstoff auf
Da jedoch die meisten Gewächse zu keinerlei Ortsveränderungen fähig sind, bedienen
sie sich einer andern Sprache, um ihre
Bedürfnisse mitzuteilen. Dabei reagieren
die einzelnen Organe der Blütenpflanzen,
Sträucher und Bäume völlig unterschiedlich auf äussere Reize. Was dem einen
passt, missfällt dem anderen.
So fühlen sich beispielsweise die
Hauptwurzeln der meisten Pflanzen von
der Schwerkraft der Erde derart angezogen, dass sie im Boden ihr entgegenwachsen. Umgekehrt verhalten sich ihre oberirdischen Teile wie Stängel, Stämme, Laub-
Garten NATUR
Fotos: René Berner
Pflanzen fest im Boden verankert, dennoch
zeigen sie eine ungleich grössere Vielfalt an
Bewegungen als die Tiere.
Text: Olga Chudovska
lanzenreich
blätter, Blüten und interessanterweise auch
die Atemwurzeln der Mangrovenvegetation, die in umgekehrter Richtung dem
Himmel nacheifern zu scheinen. Dieses
Kuriosum entstand aufgrund von einer
Anpassung an das stickige Klima in den
tropischen Sumpfgebieten, in denen es an
lebensnotwendigem Sauerstoff stets mangelte. Um die Existenz der Art zu sichern,
haben die Wurzeln eine zusätzliche Funktion, nämlich die der Sauerstoffaufnahme,
übernommen. Natürlich spielen sich derartige Anpassungen nicht von einem Tag
auf den anderen ab, sondern dauern in
der Regel Millionen von Jahren.
Definitive
Wachstumskrümmungen
Andere festsitzende Pflanzen sehnen sich
dermassen nach Licht, dass sie sich sogar
deutlich in Richtung einer Lichtquelle
krümmen. Das kann man mit einem einfachen Versuch veranschaulichen. Man
füllt dazu ein Reagenzglas mit etwas Leitungswasser und versenkt in ihm einen
Senfkeimling (Sinapis alba), sodass nur
seine Wurzelhärchen in die Flüssigkeit
ragen. Dann beleuchtet man den Keimling
durch einen Spalt lediglich von einer Seite.
Nach spätestens 24 Stunden wird sich
das Pflänzchen in die Richtung des Lichtstrahls krümmen. Entfernt man anschliessend die Teilverdunkelung, wird der
Keimling ab sofort gerade wachsen, wobei
die Krümmung erhalten bleibt. Solche
Reaktionen bezeichnen die Botaniker als
Wachstums- und Krümmungsbewegungen oder Tropismen. Typisch für sie ist
das Definitive, Irreversible.
Verfolger der Sonne
Interessanter für den Beobachter, speziell
für den Freizeitbotaniker, sind die so genanten Nastien, die wesentlich schneller,
manchmal sogar innert Sekunden verlaufen. Die grosse Zahl der ein- und mehrjährigen Blütenpflanzen reagiert deutlich
auf verschiedene physikalische Reize, wie
Licht/Dunkel, auf chemische Verbindungen wie Wasser, Giftstoffe oder auf Erschütterungen. Stark vom Sonnenlicht angezogen fühlen sich unter den bekannten
Zierpflanzen Tulpen. Sie reagieren bereits
auf Temperaturänderungen von 1 Grad
mit Öffnungs- und Schliessbewegungen.
Stellt man eine Tulpenknospe in einer
Vase auf ein sonniges Fensterbrett, wird
sie sich vor unseren Augen öffnen.
Noch empfindlicher sind Krokusblüten. Sie nehmen bereits Temperaturunterschiede von 0,2 Grad wahr.
Am deutlichsten zeigt ihre Sympathien
gegenüber dem Himmelskörper jedoch
die Sonnenblume (Helianthus annuus),
die mit ihren Blütenköpfen dem Lauf
der Sonne folgt. Nicht umsonst heisst
sie im Französischen «Tournesol».
Gänseblümchen
als Regenindikator
Wie die Sonne, kann auch Wasser bei
manchen Pflanzen Abneigung oder Zustimmung auslösen. Dem aufmerksamen
Wanderer dürfte mit Sicherheit nicht
entgangen sein, dass sich Tannenzapfen
bei Trockenheit öffnen und umgekehrt
bei Feuchtigkeit schliessen. Das Gänseblümchen (Bellis perennis) reagiert bereits
auf die zunehmende Luftfeuchtigkeit und
den sinkenden Luftdruck mit dem Schliessen seiner weissen Zungenblätter und
kündigt so die nahende Dusche an. Es
ist ein zuverlässiger Wetterprophet.
Genau umgekehrt verhält sich der in
den Wüstengebieten beheimatete Moosfarn, die Rose von Jericho (Selaginella lepidophilla). Diese mit Aberglauben und
Mystik umwobene Pflanze, die eigentlich
keine Rose ist, kann Monate lang ohne
Wasser auskommen, um dann bei genügender Feuchtigkeitszufuhr zu einem
neuen Leben zu erwachen. Im trockenen
Zustand rollt sie sich zu einem unansehnlichen Knäuel zusammen und lässt sich
in der freien Natur vom Wind über den
Wüstenboden treiben, bis sie in einer UmNatürlich | 7-2005 23
sae) gehört, ist im subtropischen Teil des
amerikanischen Kontinents heimisch. In
der Schweiz findet man sie in Gärtnereien
oder in botanischen Gärten. Sie besticht
wegen ihrer Fähigkeit, ihre Blätter blitzschnell zusammenzulegen und ihre Blattstiele zu senken. Um die Bewegung auszulösen, genügt eine sanfte Berührung oder
Schallwellen, zum Beispiel laute Musik.
Dabei klappen die Fiederblättchen innerhalb einer Sekunde nach oben zusammen.
Dann knickt das gesamte Blatt nach unten
ab. War der Reiz stark genug, wird er auf
die benachbarten Blätter des Sprosses
weitergeleitet. Nach 15 bis 20 Minuten
Erholungszeit heben und öffnen sich die
Blätter erneut.
gebung ankommt, wo sie dank ausreichendem Wasser wieder gedeihen kann. Bei
uns ist sie in Gärtnereien und Blumenläden
erhältlich. In privaten Haushalten kann
man sie in trockener Form über längere
Zeit in einer Schachtel aufbewahren. Hält
man sie in so einem Zustand unter einen
Wasserstrahl und begiesst sie sorgfältig,
öffnet sich der vertrocknete Knäuel und
ergrünt innert etwa 10 bis 12 Stunden.
Laute Musik
berührt die Mimose
Zu den faszinierenden Erscheinungen des
Pflanzenreichs zählt mit Sicherheit die Seismonastie der Mimose oder Sinnpflanze
(Mimosa pudica). Die Art, die zu der Familie der Schmetterlingsblütler (Legumino-
Venusfliegenfalle klappt
sekundenschnell zusammen
Lange hat man sich den Kopf zerbrochen,
wie dies möglich ist. Heute weiss man, dass
derartige Reaktionen mit der Veränderung
des Turgors zusammenhängen. Turgor ist
der Druck, der in den Pflanzenzellen auf
die Zellwände wirkt und der für die Festigkeit krautiger Pflanzen verantwortlich ist.
Die Blattstiele der Mimose sind mit Gelenken versehen, die im Ruhezustand prall
mit Flüssigkeit gefüllt sind. Bei Berührung
des Blattes kommt es zum Turgor-Verlust,
wodurch die Gelenke erschlaffen. Für die
Weiterleitung des Impulses, die mit einer
Geschwindigkeit von 4 bis 100 Millimeter
pro Sekunde erfolgen kann, sind elektrisch
geladene Partikelchen wie Kalium und
Chlor-Ionen verantwortlich.
Noch schneller als die Mimose reagiert die Fleisch fressende Venusfliegenfalle (Dionea muscipula). Berührt man
eine der Sinnesborsten der Blatthälften,
klappen diese schon nach 0,02 Sekunden
zusammen.
Luftwurzeln: Die Mangrove passte sich
dem sauerstoffarmen Boden an.
Foto: Andrea Kolb
Regenanzeiger:
Bei Trockenheit sind Tannenzapfen
offen (links), bei Feuchtigkeit
schliessen sie sich.
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Foto: Andrea Kolb
Sonnenblumen drehen sich
mit der Sonne. Deshalb heissen
sie im französischen auch
«Tournesol».
NATUR Garten
Alle erwähnten Bewegungen, die auf
Veränderungen des Turgors beruhen, sind
generell reversibel, mit anderen Worten,
rückkehrbar. Aber nur dann, wenn der
Druck in den Zellen wieder absinken
kann. Dies ist jedoch nicht immer der Fall.
Überschreitet der Druck nämlich gewisse
Maximalwerte, wird der Ausgleich durch
Reissen des Gewebes erreicht, was explosionsartige Bewegungen als Folge hat. Eindrucksvolle Beispiele liefern alle Arten der
Gattung Impatiens (Springkraut oder
«Rühr mich nicht an»). Berührt man
die reifen Fruchtblätter des Kleinen
Springkrauts (Impatiens parviflora) rollen
sie sich schlagartig ein und schleudern
die an ihnen sitzenden Samen fort. Diese
Art der Samenverbreitung hat sich auch
die leicht giftige Spritzgurke (Ecballium
elaterium) zu Eigen gemacht. Sie schleudert ihre Samen bis zu 13 Meter weit.
Den Weltrekord in Sachen Schnelligkeit
hält bis heute eine kleine unscheinbare
Staude, die in den Feuchtgebieten der
kanadischen Tundra beheimatet ist und
bei uns lediglich in Gärtnereien gezüchtet
wird. Es ist der Kanadische Hartriegel
(Cornus canadensis), der seine Pollen
innerhalb von 2 millionstel Sekunden
herauskatapultiert, sobald sich ein Insekt auf seine Blüten niederlässt.
Blütenuhr zeigt die Stunde an
Als autonom (endogen) bezeichnet der
Botaniker Bewegungen, die einer inneren
Steuerung unterliegen. Typisch für sie
ist eine gewisse Rhythmik. Das heisst,
bestimmte Bewegungen werden innert
24 Stunden, in manchen Fällen sogar
im Minutentakt wiederholt. Den meisten
unter den Naturliebhabern dürfte bekannt sein, dass der Wald-Sauerklee
(Oxalis acetosella) gegen Abend seine
Blüten schliesst und seine grünen Blätter
zusammenklappt, um sie am nächsten
Morgen erneut zu öffnen. Sehr viele
Blütenpflanzen machen es ihm nach und
öffnen und schliessen ihre Blütenblätter
zu gewisser Stunde. Auf dieser Erscheinung beruhen die Blumenuhren. Der
Erste, dem es gelungen ist, so eine Uhr
aufzubauen, war der im 18. Jahrhundert
lebende schwedische Botaniker Carl von
Linné. So eine Uhr besteht aus einem
Beet, dessen Blumen nach dem Zeitpunkt des Blütenöffnens im Uhrzeigersinn, anstelle der jeweiligen Zahl im
Zifferblatt, angeordnet sind. Im schwedischen Original, das zu jener Zeit realisiert wurde, öffnen sich zwischen 6
und 14 Uhr, unter anderem die Wegwarte, die Ackerwinde, das Johanniskraut, die Ringelblume und schliessen
sich am Nachmittag zwischen 12 und
18 Uhr der Löwenzahn, die Wegwarte,
der Sauerklee.
Wann sich die Blüten öffnen oder
schliessen, hängt von 2 Faktoren ab. Der
eine ist eine genetisch bestimmte innere
Uhr, die einem 24-Stunden-Rhythmus
folgt. Dieser innere Pendel arbeitet synchron mit dem äusseren Taktgeber, dem
Tageslicht. Derartige Bewegungen heissen in der Fachsprache Niktinastien.
Bis heute einmalig in der Pflanzenwelt
sind die Minutenrhythmen der in Indien
beheimateten Telegraphenpflanze (Desmodium gyrans). Ihre zwei kleineren, seitlichen Fiederblättchen heben und senken
sich im Sekundentakt. Das etwas grössere
Foto: René Berner
Garten NATUR
Irreversibel: Wachstumsbewegungen.
endständige Blättchen vollzieht Drehbewegungen, die mehrere Minuten dauern.
Der Mechanismus ist noch völlig unklar
und ist Gegenstand von Beobachtungen.
Wie man sieht, haben Pflanzen viele
Geheimnisse, die sie jedoch preisgeben,
wenn man ihnen genügend Aufmerksamkeit schenkt. Es lohnt sich deshalb, wenn
man nicht nur durch den Wald rennt,
sondern von Zeit zu Zeit stehen bleibt
und dem scheinbar Unscheinbaren Aufmerksamkeit schenkt.
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Fotos: Olga Chudovska
Rose von Jericho: Kann monatelang ohne Wasser überdauern, um bei genügend Feuchtigkeit innert Stunden zu ergrünen.
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