Die weit verbreitete Ansicht, Bewegungen seien ein typisches Merkmal der Tiere, trifft sicher nicht zu. Zwar sind die meisten B ereits Wissenschaftler der Antike erlagen dem Phänomen der Pflanzenbewegungen und fragten nach den Gründen. Zum Beispiel der griechische Gelehrte Theophrast von Eresos (371 bis 287 vor Christus). Er beschreibt in seinen gut erhaltenen Schriften das Öffnen und Schliessen von Blüten sowie das Heben und Senken der grünen Laubblätter zu gewissen Tageszeiten. Jedoch: Wie sich diese Bewegungen abspielen und was ihre Auslöser sind, blieb ihm verborgen. Besonders beeindruckend sind seine Aufzeichnungen über das sekundenschnelle Abknicken der Fiederblättchen der Sinnpflanze. Vermutlich handelte es sich dabei um die Nahverwandte der uns bekannten Mimosa pudica (Mimose, Sinnpflanze, wörtl. Schamhafte Mimose), nämlich die Mimosa asperata, welche noch heute in Griechenland, in Italien und Ägypten beheimatet ist. Theophrast von Eresos erklärte sich diese Reaktion mit einer pflanzlichen Seele. Erst im 17. Jahrhundert wandte sich der in der Geschichte fast vergessene geniale Physiker und Erfinder Robert Hooke (1635 bis 1703) der Problematik erneut zu und kam zum Schluss, dass die schnelle Reaktion der Pflanze auf einem nach unten gerichteten Wasserfluss beruhen muss, der durch den Druck des Reizes verursacht wird. Er stellte fest, dass es an der Basis der zarten Fiederblättchen Kugelgelenke gibt, die je nach Wasseraufnahme oder Wasserverlust bewegt werden können. Damit kam er der Lösung des Rätsels schon ziemlich nahe. 22 Natürlich | 7-2005 Bewegtes Pf Wanderung von Futterquelle zu Futterquelle Obschon Pflanzen nicht sprechen können, besitzen sie dennoch Fähigkeiten, mit deren Hilfe sie in der Lage sind, unmissverständlich mitzuteilen, was sie mögen oder ablehnen. Am einfachsten haben es in dieser Hinsicht einzellige Algen. Sie sind wie die Tiere und der Mensch in der Lage, sich selbstständig von Ort zu Ort zu bewegen. Ein bekanntes Beispiel liefert uns eine mikroskopisch kleine Geisselalge mit dem irreführenden Namen Augentierchen (Euglena viridis). Da sie den grünen Farbstoff Chlorophyll besitzt, benötigt sie wie alle ihre komplizierter gebauten höheren Schwestern Licht, um die für sie lebensnotwendigen Stoffe wie Kohlenhydrate, Eiweisse und Fette aus Wasser und Kohlendioxid herzustellen. Daher bewegt sie sich einer Lichtquelle zu und ist umgekehrt der Dunkelheit abgeneigt. Nicht minder faszinierend sind Schleimpilze (Myxomycetes). In einer gewissen Phase ihrer Existenz ähneln sie äusserlich einem Wechseltierchen (Amöbe) und bewegen sich wie dieses mit Hilfe von Ausstülpungen des Plasmas, den so genannten Scheinfüsschen, auf irgendeiner Unterlage. Verspüren sie in der Nähe eine Nahrungsquelle, zum Beispiel Bakterien, kriechen sie auf sie zu und verspeisen sie. Haben sie eine Stelle leer gefressen, suchen sie im Zeitlupentempo – einige Zentimeter pro Stunde – eine neue Futterquelle. Schleimpilze sind nicht selten. Sie leben in unseren Wäldern und Gärten auf moderndem Holz oder Laub. Die Bewegungen, die diese Winzlinge ausführen, werden in der Fachsprache als Taxien bezeichnet. Luftwurzeln nehmen Sauerstoff auf Da jedoch die meisten Gewächse zu keinerlei Ortsveränderungen fähig sind, bedienen sie sich einer andern Sprache, um ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Dabei reagieren die einzelnen Organe der Blütenpflanzen, Sträucher und Bäume völlig unterschiedlich auf äussere Reize. Was dem einen passt, missfällt dem anderen. So fühlen sich beispielsweise die Hauptwurzeln der meisten Pflanzen von der Schwerkraft der Erde derart angezogen, dass sie im Boden ihr entgegenwachsen. Umgekehrt verhalten sich ihre oberirdischen Teile wie Stängel, Stämme, Laub- Garten NATUR Fotos: René Berner Pflanzen fest im Boden verankert, dennoch zeigen sie eine ungleich grössere Vielfalt an Bewegungen als die Tiere. Text: Olga Chudovska lanzenreich blätter, Blüten und interessanterweise auch die Atemwurzeln der Mangrovenvegetation, die in umgekehrter Richtung dem Himmel nacheifern zu scheinen. Dieses Kuriosum entstand aufgrund von einer Anpassung an das stickige Klima in den tropischen Sumpfgebieten, in denen es an lebensnotwendigem Sauerstoff stets mangelte. Um die Existenz der Art zu sichern, haben die Wurzeln eine zusätzliche Funktion, nämlich die der Sauerstoffaufnahme, übernommen. Natürlich spielen sich derartige Anpassungen nicht von einem Tag auf den anderen ab, sondern dauern in der Regel Millionen von Jahren. Definitive Wachstumskrümmungen Andere festsitzende Pflanzen sehnen sich dermassen nach Licht, dass sie sich sogar deutlich in Richtung einer Lichtquelle krümmen. Das kann man mit einem einfachen Versuch veranschaulichen. Man füllt dazu ein Reagenzglas mit etwas Leitungswasser und versenkt in ihm einen Senfkeimling (Sinapis alba), sodass nur seine Wurzelhärchen in die Flüssigkeit ragen. Dann beleuchtet man den Keimling durch einen Spalt lediglich von einer Seite. Nach spätestens 24 Stunden wird sich das Pflänzchen in die Richtung des Lichtstrahls krümmen. Entfernt man anschliessend die Teilverdunkelung, wird der Keimling ab sofort gerade wachsen, wobei die Krümmung erhalten bleibt. Solche Reaktionen bezeichnen die Botaniker als Wachstums- und Krümmungsbewegungen oder Tropismen. Typisch für sie ist das Definitive, Irreversible. Verfolger der Sonne Interessanter für den Beobachter, speziell für den Freizeitbotaniker, sind die so genanten Nastien, die wesentlich schneller, manchmal sogar innert Sekunden verlaufen. Die grosse Zahl der ein- und mehrjährigen Blütenpflanzen reagiert deutlich auf verschiedene physikalische Reize, wie Licht/Dunkel, auf chemische Verbindungen wie Wasser, Giftstoffe oder auf Erschütterungen. Stark vom Sonnenlicht angezogen fühlen sich unter den bekannten Zierpflanzen Tulpen. Sie reagieren bereits auf Temperaturänderungen von 1 Grad mit Öffnungs- und Schliessbewegungen. Stellt man eine Tulpenknospe in einer Vase auf ein sonniges Fensterbrett, wird sie sich vor unseren Augen öffnen. Noch empfindlicher sind Krokusblüten. Sie nehmen bereits Temperaturunterschiede von 0,2 Grad wahr. Am deutlichsten zeigt ihre Sympathien gegenüber dem Himmelskörper jedoch die Sonnenblume (Helianthus annuus), die mit ihren Blütenköpfen dem Lauf der Sonne folgt. Nicht umsonst heisst sie im Französischen «Tournesol». Gänseblümchen als Regenindikator Wie die Sonne, kann auch Wasser bei manchen Pflanzen Abneigung oder Zustimmung auslösen. Dem aufmerksamen Wanderer dürfte mit Sicherheit nicht entgangen sein, dass sich Tannenzapfen bei Trockenheit öffnen und umgekehrt bei Feuchtigkeit schliessen. Das Gänseblümchen (Bellis perennis) reagiert bereits auf die zunehmende Luftfeuchtigkeit und den sinkenden Luftdruck mit dem Schliessen seiner weissen Zungenblätter und kündigt so die nahende Dusche an. Es ist ein zuverlässiger Wetterprophet. Genau umgekehrt verhält sich der in den Wüstengebieten beheimatete Moosfarn, die Rose von Jericho (Selaginella lepidophilla). Diese mit Aberglauben und Mystik umwobene Pflanze, die eigentlich keine Rose ist, kann Monate lang ohne Wasser auskommen, um dann bei genügender Feuchtigkeitszufuhr zu einem neuen Leben zu erwachen. Im trockenen Zustand rollt sie sich zu einem unansehnlichen Knäuel zusammen und lässt sich in der freien Natur vom Wind über den Wüstenboden treiben, bis sie in einer UmNatürlich | 7-2005 23 sae) gehört, ist im subtropischen Teil des amerikanischen Kontinents heimisch. In der Schweiz findet man sie in Gärtnereien oder in botanischen Gärten. Sie besticht wegen ihrer Fähigkeit, ihre Blätter blitzschnell zusammenzulegen und ihre Blattstiele zu senken. Um die Bewegung auszulösen, genügt eine sanfte Berührung oder Schallwellen, zum Beispiel laute Musik. Dabei klappen die Fiederblättchen innerhalb einer Sekunde nach oben zusammen. Dann knickt das gesamte Blatt nach unten ab. War der Reiz stark genug, wird er auf die benachbarten Blätter des Sprosses weitergeleitet. Nach 15 bis 20 Minuten Erholungszeit heben und öffnen sich die Blätter erneut. gebung ankommt, wo sie dank ausreichendem Wasser wieder gedeihen kann. Bei uns ist sie in Gärtnereien und Blumenläden erhältlich. In privaten Haushalten kann man sie in trockener Form über längere Zeit in einer Schachtel aufbewahren. Hält man sie in so einem Zustand unter einen Wasserstrahl und begiesst sie sorgfältig, öffnet sich der vertrocknete Knäuel und ergrünt innert etwa 10 bis 12 Stunden. Laute Musik berührt die Mimose Zu den faszinierenden Erscheinungen des Pflanzenreichs zählt mit Sicherheit die Seismonastie der Mimose oder Sinnpflanze (Mimosa pudica). Die Art, die zu der Familie der Schmetterlingsblütler (Legumino- Venusfliegenfalle klappt sekundenschnell zusammen Lange hat man sich den Kopf zerbrochen, wie dies möglich ist. Heute weiss man, dass derartige Reaktionen mit der Veränderung des Turgors zusammenhängen. Turgor ist der Druck, der in den Pflanzenzellen auf die Zellwände wirkt und der für die Festigkeit krautiger Pflanzen verantwortlich ist. Die Blattstiele der Mimose sind mit Gelenken versehen, die im Ruhezustand prall mit Flüssigkeit gefüllt sind. Bei Berührung des Blattes kommt es zum Turgor-Verlust, wodurch die Gelenke erschlaffen. Für die Weiterleitung des Impulses, die mit einer Geschwindigkeit von 4 bis 100 Millimeter pro Sekunde erfolgen kann, sind elektrisch geladene Partikelchen wie Kalium und Chlor-Ionen verantwortlich. Noch schneller als die Mimose reagiert die Fleisch fressende Venusfliegenfalle (Dionea muscipula). Berührt man eine der Sinnesborsten der Blatthälften, klappen diese schon nach 0,02 Sekunden zusammen. Luftwurzeln: Die Mangrove passte sich dem sauerstoffarmen Boden an. Foto: Andrea Kolb Regenanzeiger: Bei Trockenheit sind Tannenzapfen offen (links), bei Feuchtigkeit schliessen sie sich. 24 Natürlich | 7-2005 Foto: Andrea Kolb Sonnenblumen drehen sich mit der Sonne. Deshalb heissen sie im französischen auch «Tournesol». NATUR Garten Alle erwähnten Bewegungen, die auf Veränderungen des Turgors beruhen, sind generell reversibel, mit anderen Worten, rückkehrbar. Aber nur dann, wenn der Druck in den Zellen wieder absinken kann. Dies ist jedoch nicht immer der Fall. Überschreitet der Druck nämlich gewisse Maximalwerte, wird der Ausgleich durch Reissen des Gewebes erreicht, was explosionsartige Bewegungen als Folge hat. Eindrucksvolle Beispiele liefern alle Arten der Gattung Impatiens (Springkraut oder «Rühr mich nicht an»). Berührt man die reifen Fruchtblätter des Kleinen Springkrauts (Impatiens parviflora) rollen sie sich schlagartig ein und schleudern die an ihnen sitzenden Samen fort. Diese Art der Samenverbreitung hat sich auch die leicht giftige Spritzgurke (Ecballium elaterium) zu Eigen gemacht. Sie schleudert ihre Samen bis zu 13 Meter weit. Den Weltrekord in Sachen Schnelligkeit hält bis heute eine kleine unscheinbare Staude, die in den Feuchtgebieten der kanadischen Tundra beheimatet ist und bei uns lediglich in Gärtnereien gezüchtet wird. Es ist der Kanadische Hartriegel (Cornus canadensis), der seine Pollen innerhalb von 2 millionstel Sekunden herauskatapultiert, sobald sich ein Insekt auf seine Blüten niederlässt. Blütenuhr zeigt die Stunde an Als autonom (endogen) bezeichnet der Botaniker Bewegungen, die einer inneren Steuerung unterliegen. Typisch für sie ist eine gewisse Rhythmik. Das heisst, bestimmte Bewegungen werden innert 24 Stunden, in manchen Fällen sogar im Minutentakt wiederholt. Den meisten unter den Naturliebhabern dürfte bekannt sein, dass der Wald-Sauerklee (Oxalis acetosella) gegen Abend seine Blüten schliesst und seine grünen Blätter zusammenklappt, um sie am nächsten Morgen erneut zu öffnen. Sehr viele Blütenpflanzen machen es ihm nach und öffnen und schliessen ihre Blütenblätter zu gewisser Stunde. Auf dieser Erscheinung beruhen die Blumenuhren. Der Erste, dem es gelungen ist, so eine Uhr aufzubauen, war der im 18. Jahrhundert lebende schwedische Botaniker Carl von Linné. So eine Uhr besteht aus einem Beet, dessen Blumen nach dem Zeitpunkt des Blütenöffnens im Uhrzeigersinn, anstelle der jeweiligen Zahl im Zifferblatt, angeordnet sind. Im schwedischen Original, das zu jener Zeit realisiert wurde, öffnen sich zwischen 6 und 14 Uhr, unter anderem die Wegwarte, die Ackerwinde, das Johanniskraut, die Ringelblume und schliessen sich am Nachmittag zwischen 12 und 18 Uhr der Löwenzahn, die Wegwarte, der Sauerklee. Wann sich die Blüten öffnen oder schliessen, hängt von 2 Faktoren ab. Der eine ist eine genetisch bestimmte innere Uhr, die einem 24-Stunden-Rhythmus folgt. Dieser innere Pendel arbeitet synchron mit dem äusseren Taktgeber, dem Tageslicht. Derartige Bewegungen heissen in der Fachsprache Niktinastien. Bis heute einmalig in der Pflanzenwelt sind die Minutenrhythmen der in Indien beheimateten Telegraphenpflanze (Desmodium gyrans). Ihre zwei kleineren, seitlichen Fiederblättchen heben und senken sich im Sekundentakt. Das etwas grössere Foto: René Berner Garten NATUR Irreversibel: Wachstumsbewegungen. endständige Blättchen vollzieht Drehbewegungen, die mehrere Minuten dauern. Der Mechanismus ist noch völlig unklar und ist Gegenstand von Beobachtungen. Wie man sieht, haben Pflanzen viele Geheimnisse, die sie jedoch preisgeben, wenn man ihnen genügend Aufmerksamkeit schenkt. Es lohnt sich deshalb, wenn man nicht nur durch den Wald rennt, sondern von Zeit zu Zeit stehen bleibt und dem scheinbar Unscheinbaren Aufmerksamkeit schenkt. ■ Fotos: Olga Chudovska Rose von Jericho: Kann monatelang ohne Wasser überdauern, um bei genügend Feuchtigkeit innert Stunden zu ergrünen. Natürlich | 7-2005 25